Deutsch-Russische Wirtschaftsbeziehungen

Note du Cerfa 73 ______________________________________________________________________ Deutsch-Russische Wirtschaftsbeziehungen 2005-2010 Bestimmun...
Author: Karlheinz Becke
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Note du Cerfa 73

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Deutsch-Russische Wirtschaftsbeziehungen 2005-2010 Bestimmungsfaktoren, Praxis und Perspektiven ______________________________________________________________________

Christian Meier April 2010

Comité d’études des relations franco-allemandes

Das Französische Institut für Internationale Beziehungen (IFRI) ist in Frankreich das wichtigste unabhängige Forschungszentrum, das über gro βe internationale Fragen informiert und diskutiert. Von Thierry de Montbrial im Jahr 1979 gegründet, ist das IFRI als gemeinnütziger Verein anerkannt (Gesetz des Jahres 1901). Es ordnet sich keiner Amtsvormundschaft unter, legt nach eigenem Ermessen seine Aktivitäten fest und publiziert regelmäßig seine Berichte. Durch seine Studien und Debatten, die interdisziplinär angelegt sind, bringt das IFRI Politiker, Wirtschaftswissenschaftler, Forscher und Experten auf internationaler Ebene zusammen. Mit seinem zweiten Büro in Brüssel (IFRI-Bruxelles) positioniert sich das IFRI als eines der wenigen französischen think tanks im Kern der europäischen Debatte.

Die Verantwortung für die im weiteren Text geäußerten Standpunkte trägt der Autor.

Die „Notes du Cerfa“ werden von der Robert-Bosch-Stiftung im Rahmen des „deutsch-französiches Zukunftsdialogs“ gefördert.

Herausgeber: Louis-Marie Clouet, Hans Stark

ISBN : 978-2-86592-701-2 © Ifri – 2010 – Tous droits réservés

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Site Internet : Ifri.org

Die Reihe „Notes du Cerfa”

Die Reihe „Notes du Cerfa“ erscheint seit 2003 in monatlichem Rhythmus und analysiert die politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung des heutigen Deutschlands: Außen- und Innenpolitik, Wirtschaftspolitik und Gesellschaftsthemen. Die Notes du Cerfa bieten kurze wissenschaftliche Analysen mit einer klaren policyOrientierung. Die Publikation wird in elektronischer Form kostenlos an etwa 2.000 Abonnenten versandt, ebenso wie die Visions francoallemandes, und ist zudem auf der Internetseite des Cerfa verfügbar, von der die Beiträge ebenfalls kostenlos heruntergeladen werden können.

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Autor

Christian Meier ist Diplom-Politologe und wissenschaftlicher Oberrat a.D. Von 1961 bis 1966 studierte er am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin Politikwissenschaft mit den Schwerpunkten Außenpolitik und Sowjetunion. Seit 1966 ist er Diplom-Politologe. Von 1966 bis 1969 absolvierte er ein Sonderstudium „Sowjetologie“ am OsteuropaInstitut der Freien Universität und erwarb das Diplom dafür. Von 1969 bis 2000 arbeitete er am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien (BIOST) in Köln und war als Wissenschaftlicher Oberrat Mitglied der Forschungsgruppen „Außenpolitik“ bzw. „Wirtschaft“. Nach der Auflösung des BIOST Ende 2000 war er von 2001 bis 2004 in der Forschungsgruppe „Rußland und Neue Unabhängige Staaten“ der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin mit den gleichen Forschungsschwerpunkten – Deutsch-Sowjetische/Russische Beziehungen; Sowjetische/Russische Außenwirtschaftspolitik sowíe das Verhältnis UdSSR/Russische Föderation und internationale Organisationen (EU, WTO, OECD, G7/G8) – tätig.

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Zusammenfassung

2005 war Deutschland Russlands bedeutendster Handelspartner, der wichtigste ausländische Investor und der größte internationale Gläubiger. Für Putin war die damalige Bundesregierung außerdem der maßgebliche Gesprächspartner in allen Fragen, die das Verhältnis Russlands zur Europäischen Union (EU) betrafen. Abgesehen von den neuen Akzenten, die die große Koalition und schließlich die schwarz-gelbe Koalition in den Beziehungen setzten, waren beide Koalitionen bisher dazu bereit, eine strategische Wirtschaftspartnerschaft als enge Verflechtung von Werten und gemeinsamen Interessen beizubehalten. Ende 2007 hat Deutschland dennoch den Spitzenplatz unter den wichtigsten Lieferländern Russlands an China verloren. In der Rangfolge der Länder mit den höchsten unmittelbaren Direktinvestitionen im Produktionsbereich nimmt Deutschland hinter den Niederlanden und Zypern den dritten Platz ein. Die Auswirkungen der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise haben zu einem empfindlichen Rückschlag im bilateralen Warenverkehr geführt. Die beiden Länder versuchen nun den gemeinsamen Wirtschaftsprojekten Finanzhilfen zukommen zu lassen und in Antwort auf den Medwedew-Aufruf zum Aufbau einer intelligenten russischen Wirtschaft die Wirtschaftskooperationen als „Innovationspartnerschaft“ neu zu definieren. Die Praxis der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen orientiert sich immer mehr in Richtung des gegenseitigen Austausches. Dennoch müssen die Entscheidungsträger in Berlin mehr als gewünscht das Scheitern des Verkaufs von Opel an das Konsortium Magna/Sberbank/Gaz und das Projekt der Ostseeipeline rechtfertigen. Das Projekt „Nord Stream“ ist, über die Polemik hinaus, die es auslöst, der Kern der deutsch-russischen Energiekooperation. Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Russland entwickeln sich also mittelfristig fort, stoßen jedoch auf beiden Seiten auf Vorsicht. Eine pragmatische Verdichtung der Kooperation ist absehbar, ohne dass diese jedoch als strategische Partnerschaft bezeichnet werden sollte. Sie stellt dennoch einen politischen Zugewinn für beide Partner da und lässt Entwicklungsmöglichkeiten für die Zukunft offen.

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Inhaltsverzeichnis

VORBEMERKUNG .............................................................................................. 4 BESTIMMUNGSFAKTOREN DER BILATERALEN WIRTSCHAFTSBEZIEHUNGEN ......... 7 PRAXIS DER BILATERALEN WIRTSCHAFTSBEZIEHUNGEN .................................. 16 PERSPEKTIVEN DER BILATERALEN WIRTSCHAFTSBEZIEHUNGEN....................... 29

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Vorbemerkung

Zum Zeitpunkt der vorzeitigen Beendigung der zweiten Amtsperiode der rot-grünen Koalition unter Bundeskanzler Schröder und Vizekanzler Fischer im Sommer 2005 war Deutschland Russlands bedeutendster Handelspartner, der wichtigste ausländische Investor und der größte internationale Gläubiger. 1 Für Putin war die damalige Bundesregierung außerdem noch der maßgebliche Gesprächspartner in allen Fragen, die das Verhältnis Russlands zur Europäischen Union (EU) betrafen. Zu Beginn des Jahres 2010 – nach dem Ende der Großen Koalition (2005-2009) unter Bundeskanzlerin Merkel (CDU/CSU) und Vizekanzler Steinmeier (SPD) und seit der Arbeitsaufnahme der schwarz-gelben Koalition unter Bundeskanzlerin Merkel und Vizekanzler Westerwelle (FDP) – sind wichtige Veränderungen nicht zu übersehen. Nach den vorliegenden Strukturdaten ist China vor Deutschland wichtigster Warenlieferant Russlands. Unter den Hauptabnehmern für russische Produkte rangiert Deutschland auf Rang drei hinter den Niederlanden und Italien. In der Rangfolge der Länder mit den höchsten unmittelbaren Direktinvestitionen im Produktionsbereich nimmt Deutschland hinter den Niederlanden und Zypern auch den dritten Platz ein. Weil die russische Regierung 2006 Transferrubel- und Altschulden der vormaligen Sowjetunion vorfristig zurückgezahlt hat, ist Deutschland nicht mehr der größte internationale Gläubiger. Doch damit nicht genug. Die Auswirkungen der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise haben zu einem empfindlichen Rückschlag im bilateralen Warenverkehr geführt. Mehr als es den Entscheidungsträgern in Berlin genehm ist, stehen sie außerdem bei der Wirtschaftskooperation mit Russland – Stichwort: Ostseepipeline – unter politischem Rechtfertigungszwang. Aus diesem Kurzbefund ergeben sich für die Untersuchung der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen im Zeitraum von 2005 bis 2010 drei eng miteinander verknüpfte Fragestellungen:  Welche politischen und wirtschaftlichen Faktoren haben die Entwicklung der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen maßgeblich geprägt? 1

Christian Meier, Deutsch-Russische Wirtschaftskooperation unter Putin: Praxis – Probleme – Perspektiven, in: SWP-Studien, S 42, November 2004, S. 5.

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 Welche Ergebnisse zeigt die Kooperationspraxis und wie werden die dabei aufgetretenen Probleme von den Partnern angegangen?  Welche Entwicklungsvarianten sind aus der Zusammenschau von Bestimmungsfaktoren und bisheriger Praxis der Kooperation für die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen zu erwarten?  Die Erörterung dieser Fragen macht deutlich, dass Deutschland und Russland füreinander strategische Wirtschaftspartner in einem ausgewogenen Interdependenzverhältnis sind und weiterhin bleiben wollen.

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Bestimmungsfaktoren der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen

Unter den für die Entwicklung der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen im Untersuchungszeitraum maßgeblichen Bestimmungsfaktoren sind drei besonders hervorzuheben und wie folgt zu benennen:  Strategische Wirtschaftspartnerschaft: gemeinsame Werte, Interessen und Ziele;  Finanz- und Wirtschaftskrise in Russland seit Herbst 2008;  Medwedew-Aufruf zum Aufbau einer intelligenten russischen Wirtschaft. Diese Faktoren vermitteln Aufschlüsse über das Verhältnis von Kontinuität und Wandel in der bilateralen Wirtschaftskooperation.

Strategische Wirtschaftspartnerschaft: Gemeinsame Werte, Interessen und Ziele „Wir setzen uns gemeinsam mit unseren europäischen Partnern für eine strategische Partnerschaft mit Russland ein, die wir auf der Ebene der bilateralen Beziehungen und auf der Ebene der EU in allen Bereichen vorantreiben.“ Dieser Passus aus dem Unterkapitel 4 des Hauptkapitel IX des Koalitionsvertrages, den CDU/CSU und SPD am 11. November 2005 2 unterzeichneten, bedeutete Kontinuität in der Programmatik, bot aber auch Spielraum für neue Akzente. Die Stichworte dafür lauteten:  Neuer Umgangsstil mit der Führung in Moskau;

2

Der Koalitionsvertrag CDU/CSU/SPD vom 11. November 2005 „Gemeinsam für Deutschland. Mit Mut und Menschlichkeit“ in: http://www.spd.de/service/PB/show/1589444/111105_Koalitionsvertrag.pdf

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 Strategische Wirtschaftspartnerschaft als enge Verflechtung von Werten, Interessen und Zielen. Eine enge Duzfreundschaft, die Ex-Kanzler Schröder mit Präsident Putin durch eine Verdichtung der Kontakte unter Einschluss ihrer Familien seit ihrer ersten Begegnung Mitte Juni 2000 in Berlin aufgebaut hatten, war von der deutschen Regierungsspitze Merkel/Steinmeier nicht zu erwarten. Den neuen Umgangsstil auf der Akteursebene, der ein „geschäftsmäßiges Du“ auf Arbeitsebene mit einbezog, umriss der sozialdemokratische Außenminister kurz und knapp wie folgt: „Nüchternheit ist angesagt. Aber Nüchternheit bedeutet nicht Routine und Resignation. Sie bedeutet:  Ein klarer Blick für die strategischen Chancen deutsch-russischer – oder sollten wir heute besser sagen – europäisch-russischer Zusammenarbeit;  Ein offenes, freundschaftliches Wort bei Entwicklungen, die uns Sorgen bereiten;  Geduldige Arbeit an einer Beziehung, die reich ist an Geschichte, reich an gegenseitiger Befruchtung und – lassen sie mich bei aller gebotenen Nüchternheit sagen – reich an gemeinsamer Zukunft.“ 3 Zustimmung erhielt der Außenminister vom Vorsitzenden des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, Klaus Mangold. Gestützt auf seine langjährige Erfahrung im Umgang mit russischen Führungskräften in Politik und Wirtschaft verwies er darauf, dass man in schwierigen Situationen nur durch konstruktiven und fallbezogenen Rat, aber niemals mit dem erhobenen Zeigefinger in der Öffentlichkeit positive Veränderungen erreichen könne. 4 Auch in Sachen „Strategische Wirtschaftspartnerschaft“ wurden die Schlüsselelemente, wenn schon nicht grundsätzlich neu, so doch zumindest deutlicher als bisher akzentuiert. Unter der Kanzlerschaft Schröders, so der vorherrschende Eindruck, war strategische Partnerschaft vorrangig ein langfristig angelegtes, zum gegenseitigen Vorteil und Nutzen gereichendes Zusammenwirken gleichberechtigter Partner beim Aufbau einer

3

„Deutschland, die Europäische Union und Rußland: Partnerschaft für die Zukunft“, in: http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/infoservice/index_html 4 Klaus Mangold, Unser Markt in Moskau – Handel durch Annäherung: DeutschRussische Wirtschaftskooperation, in: Internationale Politik (IP), März 2007, S. 71.

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leistungsfähigen Marktwirtschaft in Russland. 5 Dass die Verwirklichung dieses Großvorhabens vom damaligen Präsidenten Putin mit den Methoden eines rechtlich und politisch ungehemmten bürokratischen Autoritarismus vorangetrieben wurde, war für die Spitzen der Wirtschaft und für die vorherige Bundesregierung kein Anlass zu unmittelbarer Besorgnis. Mehr noch: Man signalisierte sogar im Blick auf das Durcheinander unter Jelzin ein gewisses Verständnis für diese Moskauer Vorgehensweise zur Sicherung von Stabilität und Ordnung. Offensichtlich ging man auch in Berliner Regierungskreisen davon aus, dass die autoritäre Modernisierung letztlich nur eine bewusst gewollte, aber zeitlich begrenzte Zwischenphase auf dem steinigen Weg zum Endziel eines demokratisch und marktwirtschaftlich verfassten Russlands sein werde. In diesem Kontext wollte offenbar Bundeskanzler Schröder seine Feststellung verstanden wissen, dass Putin für ihn ein lupenreiner Demokrat sei. Dagegen versuchte die Große Koalition deutlich zu machen, dass die strategische Wirtschaftspartnerschaft gleichermaßen auf gemeinsame Werte, Interessen und Ziele gestützt sein müsste. Ohne die russische Verpflichtung auf gemeinsame Werte und Prinzipien, wie z.B. Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Transparenz seien Reichweite und Tiefe der bilateralen Zusammenarbeit begrenzt sowie der Aufbau einer marktwirtschaftlichen Ordnung nicht gewährleistet. Klar war man sich darüber, dass die gemeinsame Wertebasis kein deutsches Ausfuhrprodukt sein könne, das nach Durchsicht der Betriebsanleitung in Russland auf Knopfdruck funktionieren werde. Eine volle Übereinstimmung in den Werten dürfe nicht die Vorbedingung der Zusammenarbeit sein. Die Werte müssten vielmehr in einem langfristigen Prozess gemeinsam erarbeitet werden. Hilfreich könnte dabei sein ein stiller Wertetransfer im Zuge einer fortschreitenden Einbindung Russlands in die Prozesse der Globalisierung und eines Ausbaus von zivilgesellschaftlichen Kontakten sowie von kommunalen und regionalen Partnerschaften. 6 Weil die gemeinsamen Werte nur verwirklicht werden können, wenn sie auf gemeinsamen Interessen beruhen, wurde im Planungsstab des Auswärtigen Amtes das Konzept „Annäherung durch Verflechtung“ entworfen und im Hinblick auf den Präsidentenwechsel von Putin zu Medwedew in Russland zum umfassenden Projekt einer „Modernisierungspartnerschaft“ weiterentwickelt, die Steinmeier am 13. Mai 2008 in seiner programmatischen Rede in Jekaterinenburg vorstellte. 7 Als mögliche 5

Hannes Adomeit, Deutsche Rußlandpolitik: Ende des „Schmusekurses“?, in: Ifri-Programm Russland/GUS, September 2005, S. 11-12. 6 Christian Meier, Ergebnisse des zweiten Treffens des Gesprächskreises „Partnerschaft mit Russland in Europa“ am 23. und 24. Mai 2005 in Moskau – „EU-Russland-Partnerschaft: Ehrgeizige Ziele – Bescheidene Resultate? in: Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), Berlin-Moskau/Stiftung Einheit für Rußland (SER), Moskau, Gesprächskreis Partnerschaft mit Rußland in Europa, 2005, S. 3-12. 7 Rede des Außenministers Frank-Walter Steinmeier am Institut für internationale Beziehungen der Ural-Universität in Jekaterinburg, in: http://www.auswaertigesamt.de/diplo/de/infoservice/Presse/Reden/2008/080513-BM....

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Kooperationsfelder nannte er die Energie- und Klimapolitik, das Gesundheitswesen, den Umgang mit der demographischen Entwicklung. Auch die Bereiche Bildung und Wissenschaft sowie Infrastruktur und öffentliche Verwaltung sollten einbezogen sein. Bundeskanzlerin Merkel ließ es sich bei den Deutsch-Russischen Regierungskonsultationen Anfang Oktober 2008 in Sankt Petersburg angelegen sein, diese breit gefächerte Zusammenarbeit als „Innovationspartnerschaft“ zu etikettieren. 8 Die Ausdifferenzierung dieser Kooperation in einer Fülle von Einzelprojekten nebst garantierter Umsetzung würde die gesicherte Zukunftsfähigkeit beider Länder im globalen Wettbewerb als gemeinsames Ziel der strategischen Wirtschaftspartnerschaft ausweisen. Damit einhergehen müsste die Einbettung der deutsch-russischen Partnerschaft in eine strategische europäisch-russische Partnerschaft. Weil die Neuausrichtung der strategischen Wirtschaftspartnerschaft von Merkel und Steinmeier auch im praktischen Verhalten gegenüber der russischen Führung augenfällig demonstriert und von den Spitzen der Wirtschaft unterstützt wurde, kann, wie von Jochen Franzke 9 in WeltTrends behauptet wird, vom Nebeneinander eines realpolitischen Konzepts (Schweigen für Gas), vertreten von Steinmeier, und eines wertepolitischen Konzepts (Reden und Gas), vertreten von Merkel, in der deutschen Rußlandpolitik nicht gesprochen werden. Mehr noch: Die bisherige Linie verfolgt auch die neue schwarz-gelbe Bundesregierung. Zwar haben Merkel und Westerwelle im Koalitionsvertrag vom 26. Oktober 2009 den Terminus „Strategische Partnerschaft mit Russland“ vermieden. 10 Doch beim Antrittsbesuch in Moskau am 20. November hat der Außenminister dem russischen Präsidenten Medwedew versichert: „Wir betrachten Russland als strategischen Partner Deutschlands und der EU. Wir sind überzeugt, dass unsere bilateralen Beziehungen nicht allein auf Handel und Kooperation basieren. Unsere Bindungen auf den Gebieten von Kultur und Bildung sind genauso wichtig. Wir haben einen intensiven Dialog über Themen begonnen, die von der Herrschaft des Rechts bis zum Jugendaustausch reichen.“ 11

8

Eckart von Klaeden-Interview „Deutsche Rußlandpolitik: „Rußland wird im Westen zu milde beurteilt“, in: Süddeutsche Zeitung, 30.10.2008. 9 Jochen Franzke, Russland-Politik der Großen Koalition, in: WeltTrends, Nr. 67/Juli-August 2009, S. 92 10 Für ein „starkes Atlantisches Bündnis und ein handlungsfähiges Europa“ – CDU, CSU und FDP verabschieden Koalitionsvertrag. Im Wortlaut Kapitel V: „Sicherer Frieden“, in: http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/Deutschland/koalition2009.html 11 President of Russia – Official Web Portal, November 20, 2009: Beginning of Meeting with German Vice Chancellor and Foreign Minister Guido Westerwelle, in: http.//eng.kremlin.ru/text/speeches/2009/11/20/1318_type82914_222929.shtml – Übersetzung des Verfassers.

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Finanz- und Wirtschaftskrise in Russland seit Herbst 2008 Als am 16. September 2008 Russland den großen Börsencrash in Moskau erlebte und der Handel mit Wertpapieren vorübergehend ausgesetzt wurde, war dieses Ereignis den Managern, die zur selben Zeit in Dresden beim „Industrietag Russland“ über die deutsch-russischen Kooperationsmöglichkeiten referierten, nicht einmal einen Halbsatz Wert. Auf Nachfrage beschied man nur kurz, dass sich „die Basics nicht verändert“ hätten. 12 Unmittelbar nach dem Börsencrash, als der russische Staat eine breit gefächerte Rettungsaktion zur Stützung des Finanz- und Wirtschaftssektors eingeleitet hatte, informierten die Deutsche Bank und UFG Asset Management über einen Vertrag zum Ausbau ihrer strategischen Partnerschaft. Der Baustoffhersteller HeidelbergCement vermeldete die Übernahme von 75,1 Prozent der Anteile am russischen Unternehmen OAO Voronezh Rudoupravlenie. Knorr Bremse gab die Absicht bekannt, ein Joint Venture mit der Russischen Eisenbahn RZD zur Herstellung von Bremssystemen zu gründen. ThyssenKrupp Elevators konnte einen riesigen Auftrag zur Lieferung von Aufzügen und Fahrtreppen für die 380 Meter hohen Mercury City Towers verbuchen. Das Berliner Softwarehouse PSI zeigte an, dass sein russisches Joint Venture PSI Energo das neue Leitsystem für das Hochspannungsnetz in der Region Nordwest im Wert von 17 Millionen EURO liefern werde. Und schließlich verkündete das Tochterunternehmen der Wintershall, ZAO Achimgaz, die Aufnahme der Erdgasförderung in Sibirien. Doch in den vergangenen fünfzehn Monaten hat sich der vorherrschende Kooperationsoptimismus sichtlich eingetrübt, weil die Auswirkungen der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise nicht nur Deutschland, sondern auch Russland voll erfassten. Nach einer zu Jahresbeginn 2010 vorgelegten Umfrage des OstAusschusses der Deutschen Wirtschaft 13, an der sich über 200 namhafte deutsche Unternehmen beteiligten, die in Schlüsselbereichen der russischen Wirtschaft und überdies nicht nur in den Großräumen von Moskau und Sankt Petersburg, sondern auch in den maßgeblichen Regionen Russlands tätig sind, registrierten 73 Prozent eine deutliche Verschlechterung des Geschäftsklimas. Aber bereits 17 Prozent der befragten Unternehmen spüren eine Erholung der russischen Wirtschaft. Weitere 40 Prozent rechnen mit einem Aufwind im Laufe des Jahres 2010. Hingegen erwarten 43 Prozent die Trendwende erst 2011 oder später. Die größte 12

Jutta Falkner, Gute Nachrichten in schlechten Zeiten, in: Ost-West-Contact, 10/2008, S. 4. 13 Eduard Kinsbruner, Stimmungsaufhellung unter deutschen Unternehmen in Russland – Aktuelle Umfrage des Ost-Ausschusses und der Deutsch-Russischen Außenhandelskammer zum Geschäftsklima in Rußland, in: Ost-AusschssInformationen – Ausgabe 1-2/2010, S. 8-10.

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Dynamik in der russischen Wirtschaft sehen die Unternehmen in der traditionell starken Rohstoff- und Energiebranche, gefolgt von der Logistik, der Landwirtschaft und dem Einzelhandel. Alle deutschen Unternehmen in Russland setzen auf ein langfristiges Engagement. 14 Deshalb schrecken sie auch in der Krise vor Neueinstellung von Arbeitskräften und vor Investitionen nicht zurück. Rund die Hälfte der befragten Unternehmen nennt konkrete Zahlen, die sich auf 780 Millionen Euro summieren. Es ist anzunehmen, dass die Gesamtinvestitionen im Jahre 2010 die Milliardengrenze überschreiten werden. All dies ändert aber nichts an dem Befund, dass die Auftragslage der deutschen Unternehmen immer noch stark unter der schlechten Finanzlage der russischen Partner leidet. Fast jedes zweite der an der Umfrage beteiligten Unternehmen gibt an, infolge der Finanzkrise Aufträge verloren zu haben oder dass Aufträge fraglich geworden sind. Die Summe der entweder schon stornierten oder verschobenen Aufträge beziffert sich bei den befragten Unternehmen auf eine Höhe von über 400 Millionen Euro. Gefragt nach den Vorteilen des russischen Marktes, verweisen deutsche Unternehmen auf nach wie vor hohe Wachstums- und Gewinnaussichten, günstige Kostenstrukturen und ein starken, weil nachholenden Konsum. Als positiv wird außerdem der relativ geringe Konkurrenzdruck empfunden. Ein entscheidender Wettbewerbsvorteil zugunsten der deutschen Wirtschaft ist schließlich ihr ausgezeichneter Ruf als verlässlicher Geschäftspartner. Die deutschen Unternehmen hoffen, dass die Wirtschafts- und Finanzkrise das lang ersehnte Signal ist, die Führung des Landes davon überzeugen, dass die bislang versäumte Umstrukturierung der russischen Wirtschaft jetzt konsequent angegangen wird.

Medwedew-Aufruf zum Aufbau einer intelligenten russischen Wirtschaft Nach seinem Artikel „Russland, Vorwärts“ 15, der am 10. September 2009 auf der Website von gazeta.ru erschien, legte der russische Präsident Medwedew in seiner Rede zur Lage der Nation am 12. November vor dem Föderationsrat eine deprimierende Bestandsaufnahme von Politik und Wirtschaft des Landes vor. 16 Die schlimmsten Missstände beschrieb er stichwortartig wie folgt:

14

Michael Harms, Die Krise als Chance, in: Ost-West-Contact, 3/2009, S. 10-15. President of Russia – Official Web Portal, September 10,2009, Dmitry Medvedev’s Article, Go Russia!, in: http://eng.kremlin.ru/text/speeches/2009/09/10/1534_type104017_221527.shtml 16 Hans-Henning Schröder, Modernisierung „von oben“ – Medwedew’s zweiter Bericht zur Lage der Nation – Analyse, in: Russland-Analysen, 192/09, S. 2-6. 15

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 Primitive Rohstoffwirtschaft, die international nicht konkurrenzfähig ist;  Unternehmer, die an den Bedürfnissen der Menschen völlig vorbei produzieren;  niedrige Arbeitsproduktivität und geringer Energienutzungsgrad; 

chronische Korruption;

 politische Institutionen, die vom Ideal der Demokratie weit entfernt sind; 

Schwache Bürgergesellschaft;

 Hohe Sterblichkeit infolge Alkoholmissbrauchs, unzureichender Gesundheitsversorgung und ökologischer Belastung. Zur Überwindung der Missstände fordert Medwedew den Aufbau einer „intelligenten Ökonomie“. Mit einer umfassenden Modernisierung und technologischen Innovation soll die russische Wirtschaft wieder auf einen Wachstumspfad geführt werden. Diese Innovationsoffensive ist, so mittlerweile auch das Eingeständnis russischer Experten, aber nur mit der Förderung von kleinen und mittelständischen Unternehmen zu bewerkstelligen, weil sie sich in Krisenzeiten schneller als Großbetriebe auf veränderte Bedingungen einstellen können. Doch während in Deutschland kleine und mittelständische Unternehmen etwa 60 Prozent des Bruttoinlandprodukts erwirtschaften und damit das Rückgrat der Wirtschaft bilden, liegt dieser Anteil in Russland bei gerade einmal 17 Prozent. Hier besteht ein Entwicklungspotential, das bei entsprechenden rechtlichen Rahmenbedingungen in Russland für deutsche Interessenten gute Kooperationsmöglichkeiten bietet. Aus diesem Grunde wird der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft im Jahre 2010 auf der 4. Mittelstandskonferenz in Russland deutsche und russische Betriebe zur Kontaktaufnahme und zur Entwicklung gemeinsamer Projekte zusammenführen. Von den mehr als 6000 in allen Regionen Russlands tätigen Unternehmen mit deutscher Beteiligung oder als deutsche Niederlassung sind über 90 Prozent kleine und mittelständische Unternehmen. Bei der Installierung einer „intelligenten Wirtschaft“ setzt der Präsident auf die fünf Schwerpunktbereiche Medizintechnik/Pharmazie, Energieeffizienz, Atomenergie, Raumfahrt, Telekommunikation nebst Informationstechnologien (IT). Die Chancen für eine deutsch-russische Zusammenarbeit in diesen Zukunftsbereichen sind beträchtlich. Was den Bereich Medizintechnik/Pharmazie betrifft, so ist von deutscher Seite im Rahmen der Strategischen Arbeitsgruppe (SAG) vorgeschlagen worden, an Projekten zur Restrukturierung 13 © Ifri

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von Krankenhäusern, am Technologietransfer für Zentren der medizinischen Hochtechnologie und an der Aus- und Weiterbildung von Fachkräften mitzuwirken. Im zweiten Bereich ergänzen sich die Interessen Deutschlands und Russlands wechselseitig. Eine höhere Energieeffizienz in Russland kommt Deutschland nicht nur als Lieferant von Technologie und Ausrüstungen zugute. Je weniger Energie in Russland verbraucht wird, desto mehr Energie kann Russland langfristig für den Export auch nach Deutschland bereitgestellt werden. Was den Bereich Atomenergie angeht, so ergeben sich aus dem zwischen Rosatom und der Siemens AG geplanten Joint Venture, dessen Gründung vom positiven Ausgang des Schiedsgerichtsverfahrens zwischen Siemens und dem französischen Atomkraftwerkbauer Areva Nuclear Power abhängig ist, eine Fülle von Marktchancen beim Bau und der Modernisierung von Kernkraftwerken russischer Bauart in Russland und in der GUS. Das Gemeinschaftsunternehmen soll nicht nur bestehende Kernkraftwerke modernisieren und ihre Leistung steigern sowie alte Anlagen stilllegen. Es soll auch neue Kernkraftwerke bauen. Denn die russische Regierung plant, bis 2015 mindestens zehn neue Atomkraftwerke an das Netz zu bringen und außerdem pro Jahr mindestens zwei Kraftwerke zu exportieren. Bekanntlich arbeitet Siemens bereits seit mehr als 20 Jahren in Projekten mit Rosatom zusammen. Beispielsweise wurden die slowakischen Kernkraftwerke russischer Bauart in Mochovce und Bohunice mit der Sicherheits- und Betriebsleittechnik von Siemens ausgerüstet. Über den Unternehmenszweig der Rosatom, Atomstroyexport, sind beide Unternehmen an der Errichtung des Kernkraftwerks Belene in Bulgarien beteiligt. Die geplante strategische Allianz zwischen Siemens und Rosatom wertet die gegenwärtige atomare Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland erheblich auf. Das öffentliche Interesse daran war bislang hauptsächlich auf die Entsorgung deutschen Atommülls nach Russland, die Verschrottung atomgetriebener russischer Unterseeschiffe und den Erwerb der deutschen Nukem Technologies GmbH durch Rosatom fokussiert. Beim Zukunftsbereich Raumfahrt besteht eine gute Zusammenarbeit nicht nur in der Wissenschaft z.B. durch einen abgestimmten Einsatz des Röntgenteleskops „eROSITA“, sondern auch in der Wirtschaft z.B. durch die Minderheitsbeteiligung der russischen staatlichen Vneshtorgbank (VTB) am führen den europäischen Luft- und Raumfahrtkonzern EADS. Im IT-Bereich passen Angebot und Nachfrage in beiden Ländern gut zusammen. Deutsche Unternehmen sind beim Absatz von IT- und Telekommunikationsgeräten sowie Unterhaltungselektronik in Russland sehr erfolgreich. Russische Hightech-Unternehmen haben sich bei deutschen Kunden als Dienstleister und SoftwareAuftragsentwickler etabliert.

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Auch die geplante Privatisierung von bis zu 5.500 russischen Staatsbetrieben, bei der ausdrücklich auch unter Beteiligung westlicher Unternehmen durch Technologietransfer die russische Wirtschaft modernisiert werden soll, bietet gute Möglichkeit zur Fortentwicklung der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen. In Beratungen der Strategischen Arbeitsgruppe (SAG) hat der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft angeregt, die hohe Zahl der Privatisierungsvorhaben auf ca. 30 Pilotprojekte der deutsch-russischen Zusammenarbeit einzugrenzen. Die deutsche Wirtschaft unterstützt außerdem die Forderung von Medwedew, der jungen Generation mehr Verantwortung für die Entwicklung von Gesellschaft und Wirtschaft zuzuweisen. Deshalb ist der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft Gründungsgesellschafter der im Rahmen einer innovativen Public Private Partnership gegründeten Stiftung DeutschRussischer Jugendaustausch. Zusätzlich hat der Ost-Ausschuss mit den Deutsch-Russischen Gesprächen Baden-Baden ein jährlich stattfindendes, mit hochkarätigen Referenten besetztes Intensivseminar für junge deutsche und russische Führungskräfte eingerichtet, um die Fach- und Führungskompetenzen junger Führungskräfte aus beiden Ländern zu stärken und den Dialog zwischen ihnen zu fördern. 17

17

Rainer Lindner, Mit Wirtschaftsreformen und Innovationen gestärkt aus der Krise, in: Das Jahrbuch für die deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen, Edition 2010, S. 43-45.

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Praxis der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen

Mit Blick auf diese Bestimmungsfaktoren hat sich das öffentliche Interesse an der Praxis der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen vorrangig auf drei Schwerpunkte gerichtet: 

Bilateraler Warenverkehr und Finanzierung;



Wechselseitige Direktinvestitionen;

 Deutsch-Russische Energiepartnerschaft: Das Projekt Ostsee-Gaspipeline. Dabei zeigt sich, dass Handel und Wirtschaftskooperation immer noch der starken Flankierung durch politische und staatliche Unterstützung bedürfen.

Bilateraler Warenverkehr und Finanzierung Der deutsch-russische Warenverkehr, von dem in Deutschland 70.000 Arbeitsplätze abhängig sind, hat im Untersuchungszeitraum 2005-2010 zwei unterschiedliche Entwicklungsphasen durchlaufen. In den Jahren von 2005 bis 2008 war ein außerordentlicher Wachstumsschub zu registrieren. Der Gesamtumsatz erhöhte sich um 75,2 Prozent von 38,9 auf 68,2 Milliarden Euro. Die deutschen Exporte nach Russland stiegen von 17,3 Milliarden Euro um 87,1 Prozent auf 32,3 Milliarden Euro (Anlage 1). Bis Ende 2007 behauptete Deutschland mit einem Anteil von 13,5 Prozent vor China (12,2 Prozent) den Spitzenplatz unter den wichtigsten Lieferländern Russlands. Ende 2008 rangierte aber China (13 Prozent) erstmals vor Deutschland (12,8 Prozent). Im Unterschied zu den Ausfuhren stiegen die Einfuhren aus Russland leicht schwächer, und zwar nur um 66,1 Prozent von 21,6 auf 35,9 Milliarden Euro (Anlage 2). Wie schon ein Jahr zuvor, lag Deutschland auch 2008 in der amtlichen Statistik der Hauptabnehmerländer für russische Produkte mit einem Anteil von 7,1 Prozent hinter den Niederlanden (12,2 Prozent) und Italien (9 Prozent) allerdings nur auf Platz drei. Die Entwicklung des deutschen Handelsbilanzdefizits machte eine Berg- und Talfahrt durch. 2005 bezifferte sich der Passivsaldo auf 4,3 Milliarden Euro. Im Jahr darauf stieg er auf 6,6

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Milliarden Euro. Anschließend, in 2007, ging er auf beeindruckende 0,6 Milliarden Euro herunter und erreichte am Ende 2008 schon wieder einen Wert von 3,6 Milliarden Euro. Anlage 1: Ausfuhr der Bundesrepublik Deutschland in die Russische Föderation (in Mio. Euro)

SITC-Pos.

Warenbenennung

0 bis 9 0 5 51 plus 52

Insgesamt Nahrungsmittel

54 57 plus 58 64 65 plus 84 67 68 69 71 bis 74 75 plus 76 plus 776 77 minus 776 78 87 88

2005

17 277,5 690,6 Chemische Erzeugnisse 2 471,8 Chemikalien 180,9 Arzneimittel u. ähnliche Erz. 559,2 Kunststoffe und Gummi 714,2 Papier, Pappe 402,0 Textilien u. Bekleidung 578,6 Eisen und Stahl 176,4 NE-Metalle 215,4 Metallwaren 525,8 Maschinen 3 915,2 Elektronik Elektrotechnik Kfz und -Teile Mess- und Regeltechnik Optik

2006 23 371, 8 937,9 3 270,1 2 841,9

2007

2008

28 161,7 32 341,1 1 027,9 1 222,7 ** 3 710,0 3 655,6 280,3 312,4

1. Hj. Ver2009 änderungen(*) 9 637,5 446,6 880,5 105,3

- 38,9 - 24,6 ** - 31,4 - 33,4

** 770,0 930,3 502,9 785,6 316,5 310,1 756,6 5 420,7

821,0 1 087,2 536,2 974,1 407,9 311,4 899,3 6 614,5

1 075, 1 123,7 542,4 1 047,5 407,7 340,6 1 081,2 8 068,2

444.0 298,8 179,3 382,0 193,9 78,1 269,0 2 432,8

- 11,6 - 48,3 - 32,3 - 22,6 - 14,6 - 52,4 - 49,8 - 39,3

2 360,9

2 484,9

2 219,5

1 736,6

495,3

- 39,5

1 305,3 1 884,8 497,7 89,6

1 769,5 3 209,5 689,2 113,2

2 179,7 4 827,9 884,5 142,0

2 573,6 5 595,6 1 035,5 132,5

676,6 1 049,0 286,6 44,8

- 40,2 - 66,3 - 34,4 - 32,4

(*) Veränderung im Vergleich zur Vorjahresperiode in Prozent Quellen: DeStatis; Berechnung von Germany Trade & Invest; eigene Berechnungen **

Für die aus deutscher Sicht gleichwohl positive Entwicklung des bilateralen Warenverkehrs waren in erster Linie zwei Gründe maßgeblich. Zum einen profitierte die deutsche Seite vom gestiegenen Kurswert des Euro gegenüber dem des US-Dollar, der die in amerikanischer Währung zu bezahlende Summe für Ölund Gaslieferungen aus Russland trotz steigender Energiepreise auf dem Weltmarkt in erträglichen Grenzen hielt. Zum anderen konnten die deutschen Unternehmen wegen der guten russischen Wirtschafts- und Finanzlage mehr Auftragseingänge registrieren. Das galt für Maschinen und Anlagen, Fahrzeuge und Fahrzeugteile, chemische und pharmazeutische Erzeugnisse, Nahrungs- und Konsumgüter, deren Ausfuhr sich entweder mehr als verdoppelte oder nur knapp darunter blieb. Die Einfuhren aus Russland im Zeitraum 2005-2008 waren wie in allen Entwicklungsabschnitten zuvor von den Güterkategorien Energie, Rohstoffe, Chemikalien, Eisen und Stahl sowie NE-Metalle dominiert, die insgesamt einen Anteil von mehr als 75 Prozent an der Gesamteinfuhr ausmachten. Russland ist als

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größter Zulieferer von Erdöl und Gas ein strategischer Partner Deutschlands. Die Bundesrepublik bezieht 37 Prozent ihres jährlichen Gasbedarfs und 31 Prozent ihres Rohölbedarfs aus Russland. Die Steigerungsquoten bei diesen Importen basierten weitestgehend auf einem anhaltend hohen internationalen Preisniveau, obwohl ein größerer Produktionsausstoß auch eine mäßig erhöhte Mengenzufuhr erforderlich machte. Anhage 2: Einfuhr der Bundesrepublik Deutschland aus der Russischen Föderation (in Mio. Euro)

SITC-Pos. Warenbenennung

2005

0 bis 9 Insgesamt 0 Nahhrungsmittel 2 Rohstoffe 5 Chemische Erzeugnisse 51 plus 52 Chemikalien Arzneimittel 54 u.ähnl.Erzeug.

57 plus 58 Kunststoffe und Gummi 64 Papier, Pappe 65 plus 84 Textilien u. Bekleidung 67 Eisen und Stahl 68 NE-Metalle 69 Metallwaren 71 bis 74 Maschinen 75 plus 76 Elektronik plus 776 77 minus Elektrotechnik 776 78 Kfz und -Teile 87 Mess- und Regeltechnik 33 Erdöl (*) Veränderung Quellen: DeStatis; Berechnungen

2006

2007

2008

22 283,9 30 181,8 28 890,7 35 908,9

1. 2009

VerHj. änderungen (*)

11 143,3

- 33,5

124,9

135,9

64,1

- 2,5

581,0

462,4

439,5

115,6

- 49,6

566,6

** 722,2

575,8

332,9

** - 15,4

481,7

568,5

485,1

221,5

- 0,9

103,2

140,0

399,5 545,7 409,6 0,8

(-)

** 0,9

** 0,9

1,1

- 0,0

31,7

12,3

32,8

46,1

10,0

- 60,8

98,4

102,2

117,6

107,0

61,7

+16,5

55,3

45,1

30,2

17,2

7,4

- 31,3

700,3

713,9

908,8 1 109,0

217,4

- 61,0

1 833,8

2 944,1

3 297,7 2 683,7

654,6

- 56,4

49,2

52,6

60,1

54,7

23,0

- 14,5

97,2

110,1

110,1

125,9

45,8

+ 3,0

17,6

22,6

22,0

23,8

10,2

- 11, 4

38,9

31,5

36,3

48,5

20,3

- 14,7

23,5

21,1

22,1

22,0

11,7

+ 6,9

16,2

28,2

32,5

41,3

17,2

- 1,5

11 818,5 15 152,9 13 954,1 18 631,6

5 180,6

- 41,9

im Vergleich zur Vorjahreseriode in Prozent Berechnung von Germany Trade & Invest; eigene **

Seit 2009 ist der deutsche Warenverkehr mit Russland der krisenhaften Wirtschaftsentwicklung in beiden Ländern folgend drastisch zurückgegangen. Vor Aufnahme der deutsch-russischen Wirtschaftskonsultationen am 18. und 19. Februar 2010 in Moskau gab Bundeswirtschaftsminister Brüderle bekannt, dass sich der bilaterale Handelsumsatz in den elf Monaten des Jahres 2009 nur noch auf 41,2 Milliarden Euro bezifferte. Gegenüber dem Vorjahreszeitraum bedeutete dies einen Rückgang um 36,3 Prozent. Dabei verminderte sich der Export nach Russland um

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37,6 Prozent, der Import von dort um 35,1 Prozent. 18 Unter den Hauptlieferländern für Russland liegt Deutschland mit einem Anteil von 12,6 Prozent (I-10/2009) wiederum auf Platz zwei hinter China (13,4 Prozent). Unter den Hauptabnehmerländern für russische Produkte rangiert Deutschland mit einem Anteil von 6,04 Prozent hinter den Niederlanden (12,1 Prozent) und Italien (8,5 Prozent) wie bisher auf Platz drei vor den USA (5,41 Prozent) und China (5,36 Prozent). 19 Mehr als je zuvor musste sich das politische Augenmerk in 2009 auf Fragen der Handelsfinanzierung konzentrieren. Bekanntlich ermöglicht und erleichtert die Bundesregierung mit Exportgarantien, den sogenannten Hermes-Deckungen, deutschen Exporteuren den Zugang zu wachstumsstarken, aber risikoreichen Auslandsmärkten und schützt sie – gegen Zahlung risikogerechter Prämien – vor dem Ausfall ihrer Auslandsforderungen. Unter den Ländern mit dem höchsten hermesgedeckten Exportvolumen im Jahre 2009 nahm Russland mit 1,99 Milliarden Euro hinter Südkorea (2,09 Milliarden Euro) und den USA (2,07 Milliarden Euro) den dritten Platz ein. 20 Gegenüber 2008, wo sich das Deckungsvolumen noch auf 2,9 Milliarden Euro bezifferte, war dies ein Rückgang um 68,6 Prozent. Doch der Ruf nach neuen Finanzierungsinitiativen wurde in vermehrtem Maße laut, weil bei deutschen Unternehmen eine Stornierung russischer Bestellungen von Maschinen und Anlagen einsetzte, unabhängig davon, ob darauf bereits eine Anzahlung geleistet worden war oder nicht. Ursache dafür ist der Mangel an verfügbarem Kapital, an kurzfristigen Kreditlinien für das operative Geschäft. Nach einer gemeinsamen Erhebung von Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft und Deutsch-Russischer Handelskammer waren davon 80 deutsch-russische Projekte mit einem Auftragsvolumen von mehr als 2,5 Milliarden Euro betroffen. Einer raschen Verständigung auf höchster Ebene war es offensichtlich zu verdanken, dass bei den deutsch-russischen Regierungskonsultationen am 16. Juli 2009 in München eine Vereinbarung über einen Rahmenkredit in Höhe von 500 Millionen Euro zwischen der KfW IPEX-Bank und der russischen Vneshekonombank (VEB) abgeschlossen wurde. Die deutschrussische Strategische Arbeitsgruppe Wirtschaft und Finanzen (SAG) erhielt den Auftrag, eine Übersicht förderungswürdiger Projekte einschließlich ihrer Bewertung zu erstellen. Unterstützt werden sollen laufende Projekte, die eine nachhaltige Bedeutung für die Modernisierung der russischen Wirtschaft haben, aber deren Finanzierung in Gefahr geraten ist. Die Mindestsumme des deutschen Projektanteils liegt laut Rahmenvereinbarung von VEB und KfW IPEX-Bank bei fünf Millionen Euro. Eine Anzahlung von 18

BMWI-Tagesnachrichten, Nr. 12058, 18. Februar 2010. German Trade & Invest, Wirtschaftsdaten Russische Föderation, Stand: Dezember 2009. 20 BMWI-Tagesnachrichten, Nr. 12057, 17. Februar 2010. 19

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15 Prozent des Lieferungsbetrages hat der russische Projektpartner zu leisten. Die Kreditlaufzeit reicht bis zum 1. Juli 2013 und kann im Einzelfall sogar verlängert werden. 21 Außerdem ist es der KfW IPEX-Bank gelungen, für kleinere Exporte eine ausreichende Versorgung mit Finanzierungsangeboten sicherzustellen, die in der gegenwärtigen Krise von Nutzen sein dürfte. Dafür steht eine Kooperationsvereinbarung, die mit der Northstar Trade Finance Mitte Dezember 2009 getroffen worden ist. Über deren Tochter Northstar Europe übernimmt sie für die KfW IPEX-Bank die Finanzierung von Exportgeschäften mit russischen Partnern ab einer Größenordnung von bereits 0,5 Millionen Euro bis fünf Millionen Euro und mit einer Laufzeit von bis zu fünf Jahren. Voraussetzung ist, dass die Geschäfte mit der Deckung einer Exportkreditversicherung versehen sind. 22 Wegen fehlender Geldmittel werden aber nicht nur neue Formen der Handelsfinanzierung erdacht. Zunehmend wird die Bereitschaft der Unternehmen registriert, auf früher weitverbreitete Handelsformen wie Barter und Gegengeschäfte (Commodity Trade) zurückzugreifen, für die es auch bereits Clearingstellen gibt. Doch bislang ist ihr Anteil am Gesamthandelsvolumen noch sehr marginal.

Wechselseitige Direktinvestitionen Unter dem Begriff „kumulierter Gesamtbestand ausländischer Investitionen“ fasst die russische Statistik drei Kategorien von Investitionen zusammen: Direktinvestitionen, Portfolioinvestitionen und die sogenannten sonstigen Investitionen, darunter Darlehen diverser internationaler Geldgeber, Handelskredite und Finanzmittel mit einer Frist von weniger als 120 Tagen. Nach Angaben des Föderalen Amtes für Staatsstatistik bezifferte sich der kumulierte Gesamtbestand ausländischer Investitionen in Russland Ende 2008 auf mehr als 264 Milliarden US-Dollar. An diesem Betrag war Deutschland mit einem Wert von 17,425 Milliarden US-Dollar beteiligt und rangierte damit hinter Zypern (59,902 Milliarden US-Dollar), den Niederlanden (46.346 Milliarden US-Dollar), Luxemburg (34,402 Milliarden US-Dollar) und Großbritannien (30,811 Milliarden US-Dollar) auf Platz fünf unter den Herkunftsländern (Anlage 3).

21

Martin Hoffmann, Deutsch-Russische Finanzierungsinitiative – Sicherung der Modernisierung der russischen Wirtschaft, in: Ost-Ausschuss-Informationen, Ausgabe 9/2009, S. 12. 22 Ost-West-Contact, 1/2010, S. 54.

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Anlage 3: Bestand der Auslandsinvestitionen in Russland ; Stand: Ende 2008 Auslandsinvestitionen in Russland Herkunftsländern

nach

Anteil in % in Mio. US Dollars (*)

Insgesamt

264 000 $

100,0%

Zypern

59 902 $

22,7%

Niederlande

46 346 $

17,6%

Luxemburg

34 402 $

13,0%

Großbritanien

30 811 $

11,7%

Deutschland

17 425 $

6,6%

Irland

9 662 $

3,7%

Frankreich

9 542 $

3,6%

USA

8 768 $

3,3%

Britisch Jungferninseln

8 267 $

3,1%

Japan

4 077 $

1,5%

34 800 $

13,2%

Sonstige Länder

Quellen: http://de.rian.ru/img/120515223_free.html; eigene Berechnungen (*).

Bei den auf Dauer angelegten und für die Entwicklung des Landes entscheidenden Direktinvestitionen, die nach der russischen Statistik Ende Juni 2009 einen Gesamtwert von 95,023 Milliarden US-Dollar erreichten, nahm Deutschland mit einem Wert von 6,84 Milliarden US-Dollar den dritten Platz hinter den Niederlanden (29,09 Milliarden US-Dollar) und Zypern (25,65 Milliarden US-Dollar) ein. Da viele Investitionen über ausländische Tochterfirmen deutscher Unternehmen getätigt werden, dürfte der eigentliche Wert wesentlich höher liegen (Anlage 4). Anlage 4: Direktinvestitionen in die Wirtschaft Rußlands nach Ländern (Stand: 1. Halbjahr 2009) Direkte Investitionen

in Mrd USD

Anteil in % (**)

Insgesamt

95,023$

100,0%

Niederlande

29,09 $

30,6%

Zypern

25,65 $

27,0%

Deutschland

6,84 $

7,2%

Britisch Virgin Islands

3,99 $

4,2%

Großbritanien

3,70 $

3,9%

USA

2,75 $

2,9%

Frankreich

1,99 $

2,1%

Luxemburg

0,95 $

1,5%

20,40 $

21,1%

Sonstige

Quellen: http://de.rian.ru/img/122615431_free.html; eigene Berechnungen (**)

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Zu den größten deutschen Investoren in Russland gehörten in den vergangenen Jahren Firmen wie E.ON, Wintershall, Volkswagen, Siemens, Metro, ThyssenKrupp und Deutsche Bank. Das Rückgrat der Investitionstätigkeit bilden erfolgreiche Mittelständler wie Knorr Bremse, Knauf, Herrenknecht, Claas, Digitech und viele andere mehr. Durch Investitionsgarantien bietet die Bundesregierung deutschen Unternehmen einen umfassenden Schutz vor Verlusten infolge von Verstaatlichung und enteignungsgleichen Eingriffen sowie vor Zahlungsmoratorien. Für Investitionen in Russland bestehen gegenwärtig Garantien mit einem Gesamtvolumen von 8,3 Milliarden Euro. In der Finanz- und Wirtschaftskrise ist die Nachfrage nach Investitionsgarantien hoch. Zahlreiche Projekte konnten auch in 2009 nur noch mit Einbindung dieser Garantien finanziert werden. 23 Für die künftige Investitionstätigkeit deutscher Unternehmen in Russland wird die Verbesserung der Rahmenbedingungen eine wichtige Rolle spielen. Sie haben sich unter dem Eindruck der Krise noch einmal verschlechtert: Besonders kritikwürdig erscheinen den Unternehmen die zunehmende Bürokratie, d.h. die Kreativität und Phantasie der Behörden bei der Aufstellung immer neuer kostspieliger Forderungen. Nicht minder kritisch beurteilen die Firmen die Bereiche Zoll, Zertifizierung, Steuern, Genehmigungsverfahren und das Regelwerk für die Arbeitsaufnahme von ausländischen Arbeitskräften in Russland. Außerdem verlangt die deutsche Wirtschaft ein höheres Maß an Rechtssicherheit, eine aktivere Korruptionsbekämpfung, mehr Marktliberalisierung, eine engere Fassung des Gesetzes zur Beschränkung ausländischer Investitionen in den sogenannten strategischen Wirtschaftsbereichen und weniger Protektionismus. Schon seit Jahren zeigt die laufende Kooperationspraxis, dass Direktinvestitionen keine Einbahnstraße von Deutschland nach Russland sind, sondern auch eine Gegenspur von Russland nach Deutschland haben. Stammten 2005 mit 791 Millionen Euro gerade einmal 0,2 Prozent aller ausländischen Direktinvestitionen in Deutschland aus Russland, so beträgt inklusive der Finanzbeteiligungen das Volumen russischer Direktinvestitionen in der Bundesrepublik heute vermutlich mehr als vier Milliarden Euro. Nach Angaben des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft sind etwa 1.300 russische Firmen in Deutschland präsent. 24 Allein in Bayern sind 40 russische Firmen tätig, und zwar hauptsächlich in den Bereichen IT/Softwareentwicklung, Transport und Logistik sowie Immobilienwirtschaft. Unter den Firmen aus Russland nimmt der Gasmonopolist Gazprom seit Jahren die Spitzenstellung ein, 23

Johanna Driver/Ruth Bartonek, Die Exportkredit- und Investitionsgarantien der Bundesrepublik Deutschland in Rußland, in: Das Jahrbuch für die deutschrussischen Wirtschaftsbeziehungen, Edition 2010, S. 178-180. 24 Deutschland und Rußland: Strategische Partner mit Zukunft, Positionspapier des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, Berlin 2009, S. 15

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und zwar als Sponsor des Fußball-Erstligisten Schalke 04, als Partner mit Wintershall im Joint Venture Wingas, als Anteilseigner bei der Leipziger Verbundnetz Gas AG (VNG) sowie schließlich als Promoter der geplanten Ostseepipeline. Außer Gazprom traten auch andere russische Investoren in Erscheinung, allerdings mit unterschiedlichem Erfolg. Im Jahre 2007 erwarb BasEI, das dem Wirtschaftsoligarchen Deripaska gehörte, einen Anteil von 10 Prozent an dem Bauriesen Hochtief. Weil das Unternehmen und sein Hauptbesitzer in eine finanzielle Krise gerieten, wurde dieser Anteil ein Jahr später wieder verkauft. Das Fahrzeugtechnikwerk Dessau ging zwei Jahre nach der Übernahme durch den russischen Schienenfahrzeughersteller Transmash pleite. Auch die Modefirma Escada, an der der russische Unternehmer Aksenenko mit 20 Prozent beteiligt war, musste im Sommer 2009 Konkurs anmelden. Erfolgreich operiert der russische Unternehmer Mordaschow, der mit einem Anteil von 15 Prozent einer der größten Aktionäre des deutschen Touristikunternehmens TUI ist. Durch den Einstieg der russischen Beteiligungsgesellschaft Pamplona Capital Management, die sich auf Kapital der Finanzund Industriegruppe Alfa stützt, konnten im April 2009 bei TMD Friction, dem weltgrößten Hersteller von Bremsbelägen, kurzfristig über 1.700 Arbeitsplätze in den Werken Essen, Hamm und Coswig gesichert werden. 25 Im Verlaufe ihres Krim-Treffens am 14. August 2009 bekräftigten Präsident Medwedew und Bundeskanzlerin Merkel ihre Unterstützung für zwei wichtige Investitionsprojekte unter Beteiligung russischen Kapitals. Genannt wurden die WadanWerften und Opel-Deutschland. Bei den Wadan-Werften in Wismar und RostockWarnemünde, die seit Anfang 2008 zu 70 Prozent im Besitz der russischen Beteiligungsgesellschaft FLC West waren und am 5. Juni 2009 Insolvenz angemeldet hatten, stiegen auf Vermittlung von Medwedew der vormalige Energieminister Jussupow und sein Sohn Witalij als neue Eigentümer ein. Mit der von beiden Investoren geplanten Investitionssumme in Höhe von 40,5 Millionen Euro sollen bis zu 1600 der rund 2500 Arbeitsplätze erhalten bleiben. 26 Auf Wunsch der Bundesregierung sollte der kanadischösterreichische Autozulieferer Magna gemeinsam mit der russischen Sberbank und dem russischen Automobilproduzenten GAZ die Kontrolle über den angeschlagenen deutschen Automobilhersteller Opel vom amerikanischen Mutterkonzern General Motors (GM) übernehmen. Diesem Vorschlag stimmte der GM-

25

Klaus Mangold, Gemeinsam zu neuem Wachstum – Die deutsche und die russische Wirtschaft sind im schwierigen Jahr 2009 noch enger zusammengerückt, in: Ost-West-Contact, Deutsch-Russisches Wirtschaftsjahrbuch 2010, S. 10-11. 26 http://www.zeit.de/online/2009/34/wadan-werften-russe?page=all; siehe auch: Junge Welt, 19. August 2009

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Verwaltungsrat am 10. September 2009 zu. In dem entsprechenden Memorandum of Understanding der beteiligten Partner erklärte sich Magna bereit, einen Anteil von 55 Prozent an Opel zu übernehmen, von dem wiederum 27,5 Prozent zum Schnäppchenpreis von 500 Millionen Euro durch die Sberbank finanziert werden sollte. Die Bundesregierung stellte Staatsbürgschaften, gemeint waren wohl Staatskredite, in Höhe von 4,5 Milliarden Euro in Aussicht, von denen Magna 600 Millionen Euro für die Modernisierung der russischen Autoindustrie abzweigen wollte. Die Überführung des „Memorandums of Understanding“ in einen ordentlichen Vertrag scheiterte, weil sich der Verwaltungsrat des GM-Konzerns am 3. November 2009 gegen einen Verkauf der deutschen Tochter Opel an Magna/Sberbank/Gaz entschied. Gründe für diese GM-Entscheidung waren vermutlich die wiedererstarkte wirtschaftliche Position des US-Konzerns, die gute Positionierung von Opel-Deutschland im Segment der Kleinwagen und Fahrzeuge mittlerer Größe sowie die Angst vor einem umfassenden Know-how-Transfer nach Russland. Die Empörung der Bundesregierung über diesen GM-Kursschwenk konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass das größte Vorzeigeprojekt der von Medwedew und Merkel/Steinmeier angestrebten deutschrussischen Modernisierungspartnerschaft gescheitert war. 27

Deutsch-Russische Energiepartnerschaft: Das Projekt Ostsee-Gaspipeline Nach dem Scheitern des Verkaufs von Opel-Deutschland an Magna/Sberbank/Gaz wurde noch vor dem Jahreswechsel ein wichtiges Signal für die Verwirklichung der deutsch-russischen Energiepartnerschaft gesetzt. Am 21. Dezember 2009 erteilte das Bergamt Stralsund die bergrechtliche Genehmigung zum Bau der Ostsee-Gaspipeline. Die Genehmigung des Bundesamtes für Seeschifffahrt und Hydrographie für die deutsche „Ausschließliche Wirtschaftszone“ wurde für unmittelbar danach angekündigt. 28 Damit lagen alle notwendigen Genehmigungen der Ostsee-Anrainerstaaten vor, die für die Aufnahme der Bauarbeiten erforderlich waren. Dänemark, Schweden, Finnland und Russland, durch deren ausschließliche Wirtschaftszonen die Pipeline verläuft, hatten schon zuvor ihre Zustimmung erteilt. Die Ostsee-Gaspipeline ist ein Schlüsselprojekt der deutsch-russischen Energiepartnerschaft. Auf einer Länge von mehr als 1200 Kilometern sollen zwischen der heute russischen Stadt Wyborg und dem deutschen Greifswald zwei Pipelines von 27

Spiegel-Interview mit Klaus Mangold am 5.11.2009, in:

http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/0,1518,659488,00 html. 28

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.12.2009.

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je 2,09 bis 2,73 Metern äußerem Durchmesser auf dem Boden der Ostsee verlegt werden. Jede Pipeline hat einen Innendurchmesser von 1,22 Meter und eine Transportkapazität von 27,5 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr. Mit den 55 Milliarden Kubikmetern dieser Pipeline können rechnerisch mehr als 25 Millionen europäische Haushalte mit Energie versorgt werden. 29 Grundlage für diese Berechnung ist die Prognose der Projektträger, dass der europäische Gasimport bis zum Jahre 2015 von jetzt 336 auf 536 Milliarden Kubikmeter pro Jahr ansteigen werde. Nach Abschluss des Genehmigungsverfahrens sollen die Bauarbeiten jetzt im Frühjahr 2010 aufgenommen. Die Inbetriebnahme des ersten Stranges ist für 2011, die des zweiten Stranges für 2012 vorgesehen. Die Lebensdauer der Leitung wird auf 50 Jahre geschätzt. An dem Projekt mit Namen Nord Stream AG beteiligt sind Gazprom mit 51 Prozent, die deutschen Energieversorger Wintershall, eine 100-prozentige Tochtergesellschaft der BASF, und E.ON mit jeweils 20 Prozent sowie die Niederländische Gasunie mit 9 Prozent. Gasunie betreibt die BBL-Gaspipeline (Balgzand Bacton Line), die Großbritannien mit dem Festland verbindet und das Vereinigte Königreich künftig mit russischem Gas versorgen könnte. Die geplante Ostsee-Gaspipeline hat fast fünf Jahre in einem sehr harten, auch grenzüberschreitenden politischen Sperrfeuer gestanden. Ausgelöst wurde es durch Besonderheiten der Initiierung dieses deutsch-russischen Großvorhabens. Der Vertrag über die Pipeline zwischen Gazprom und den deutschen Konzernen E.ON und BASF/Wintershall wurde am 8. September 2005, zehn Tage vor der Bundestagswahl, im Beisein von Bundeskanzler Schröder und Präsident Putin unterzeichnet. Wohl in Vorahnung einer Wahlniederlage wollte Schröder dieses Vorhaben als sein großes außenpolitisches Vermächtnis noch rechtzeitig unter Dach und Fach bringen. Doch damit nicht genug. Nach der verlorenen Wahl bewilligte die jetzt bloß geschäftsführende rot-grüne Bundesregierung sogar eine kurzfristig von Gazprom beantragte Ausfallbürgschaft von 900 Millionen Euro für den Bau einer Gasleitung in Russland, die aber nicht in Anspruch genommen wurde. Zum größten Erstaunen der politischen Öffentlichkeit mutierte Ex-Kanzler Schröder Anfang 2006 vom Elder Statesman zum Elder Salesman. Er wurde bezahlter Lobbyist und amtiert als Vorsitzender des Aktionärsausschusses der Nord Stream AG mit Sitz im steuerrechtlich günstigen Schweizer Kanton Zug. 30 Sein engster Mitarbeiter und operativer Kopf ist dort Matthias Warnig, der einst als hauptamtlicher Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes der DDR tätig war.

29

Die Pipeline-Nord Stream AG, in: http://www.nord-stream.com/de/thepipeline.html 30 Ralf Neukirch, Lobbyismus: Wie die einstigen Regierungspartner Joschka Fischer und Gerhard Schröder für konkurrierende Gas-Unternehmen werben, in: Der Spiegel, 7/2010, S. 28-30.

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Dessen ungeachtet hat nicht nur die Bundesregierung Merkel/Steinmeier, sondern auch die neue Bundesregierung Merkel/Westerwelle am Projekt einer Ostsee-Gaspipeline unbeirrt festgehalten. Umso härter wurde die öffentliche Auseinandersetzung im In- und Ausland zwischen Kritikern und Befürwortern dieses Großvorhabens geführt. Sie wurde an drei Fragen festgemacht:  Wie hoch sind die Kosten für die OstseeGaspipeline zu veranschlagen?  Erhöht die Ostsee-Gaspipeline die Abhängigkeit von Russland und damit die Verwundbarkeit Deutschlands und bietet Diversifizierung einen Ausweg?  Ist die Ostsee-Gaspipeline ein Projekt mit oder ohne europäische Dimension? Was die erste Frage betrifft, so behaupten Kritiker, insbesondere in Polen 31, dass die Ostsee-Gaspipeline ein politisches Projekt sei, das sich ökonomisch nicht begründen lasse. Eine Landpipeline durch die baltischen Staaten und Polen wäre preisgünstiger und einfacher zu verwirklichen gewesen und trüge auch den Interessen der östlichen EU-Partner Rechnung. Nord Stream AG beziffert die Kosten der Pipelineführung durch die Ostsee auf 7,4 Milliarden Euro und macht eine Gegenrechnung auf. Bei einer Verlegung über Land wären die Ausgaben um mindestens 15 Prozent höher und vor allem die Bauzeit länger, weil im Unterschied zur Unterwasserlösung nur 0,5 Kilometer an Leitung statt drei Kilometer pro Tag verlegt werden könnten. Hinzu kämen die jährlichen Durchleitungsgebühren der Transitstaaten und die Errichtung notwendiger Kompressorstationen. Die Bundesregierung hat auf Antrag der Nord Stream AG noch vor Weihnachten 2009 eine zweiteilige Bürgschaft für von Banken auszureichende Kredite im Gesamtumfang von 2,77 Milliarden übernommen. Der erste Teil der Bürgschaft bezieht sich auf einen Kreditbetrag von 1,77 Milliarden Euro, von dem allein mehr als eine Milliarde Euro für den Ankauf von Röhren des Mühlheimer Hersteller Europipe benötigt würden. Der zweite Teil der Bürgschaft bezieht sich auf einen ungebundenen Finanzkredit in Höhe von 1 Milliarde Euro. Die gesamte Bürgschaft soll den 27 Banken unter Führung der Commerzbank helfen, die Kredittranche von 3,9 Milliarden Euro für den Pipelinebau aufzubringen. Als Sicherheit dienen der Bundesregierung die Erlöse, die das Konsortium mit dem Gastransport von Russland nach Deutschland erzielen will. 32

31

Stephan Raabe, Der Streit um die Ostsee-Gaspipeline. Bedrohung oder notwendiges Versorgungsprojekt?, in:KAS-Auslandsinformationen, 2/09, S. 76-77. 32 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.12.2009.

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Was die zweite Frage betrifft, so weisen Kritiker immer wieder darauf hin, dass durch die Ostsee-Gaspipeline die bereits bestehende Abhängigkeit Deutschlands bzw. der EU von russischen Gaslieferungen vergrößert und damit ihre Verwundbarkeit erhöht würde. Das politische Augenmerk müsste mehr auf eine räumliche Diversifizierung der Erdgasbezüge gerichtet werden. Die Gasabhängigkeit von Russland ist innerhalb der EU-27 sehr unterschiedlich groß. Während Finnland, die Slowakei, die baltischen Staaten, Griechenland, Tschechien und Bulgarien zu 80 bis 100 Prozent auf russische Lieferungen angewiesen sind, decken die Niederlande, Belgien, Italien und Frankreich ihren Bedarf nur zwischen 10 und 30 Prozent, Deutschland zu 36 Prozent und Polen zu 55 Prozent aus Russland. Aus der Abhängigkeit von russischen Lieferungen eine Bedrohung der Energiesicherheit Deutschlands abzuleiten, hält der Rußlandexperte Roland Götz aus drei Gründen für verfehlt.33 Erstens seien Lieferbeziehungen keine einseitige Angelegenheit, weil russische Unternehmen ihrerseits auf stabile Absatzmärkte mit zahlungskräftigen Kunden angewiesen seien. Zweitens seien die meisten Abnehmerstaaten für russische Energieexporte auch Transitländer und besäßen dadurch ein Druckmittel gegenüber Russland, wie der Verlauf der Gasstreitigkeiten zwischen Russland und der Ukraine jeweils zu Jahresbeginn 2006 und 2009 gezeigt habe. Drittens seien an den Energieexporten mehrere Akteure – große und kleine Unternehmen, Pipeline- und Transportgesellschaften sowie in- und ausländische Eigentümer – beteiligt, die die Durchsetzung einer einheitlichen staatlichen Strategie gegenüber einem bestimmten Land erschwerten. Entscheidend für die Beurteilung des russischen Spielraums seien die vorhandenen Wahlmöglichkeiten. Russland habe zum Energieträgerexport grundsätzlich keine Alternative und sei auch in der Wahl seiner Partner keineswegs frei, weil 90 Prozent seines Energieträgerexports nach Europa gingen. Energieträgerexporte bzw. deren Unterbrechung sind, so Götz, als außenpolitische Druckmittel nur dann geeignet, wenn erstens die Menge gering ist, damit sie für die eigene Exportwirtschaft nicht sehr ins Gewicht fällt, zweitens das Abnehmerland aus geographischen Gründen keine oder nur geringe alternative Bezugsmöglichkeiten hat und drittens als Transitland entbehrlich ist. Damit eröffnen sich Möglichkeiten der Druckausübung für Russland nicht gegenüber Deutschland, sondern nur gegenüber den baltischen EU-Staaten. Diese könnten aber im Rahmen eines Verbundsystems auch durch noch zu bauende Ölund Gaspipelines aus Polen versorgt werden. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich die vielfach beklagte Verwundbarkeit der EU-Staaten als ein wenig beeindruckendes politisches Schreckgespenst. 34

33

Roland Götz, Russland als Energieversorger Europas und Deutschlands, in: WeltTrends, Nr. 66/Mai-Juni 2009, S. 34 34 Roland Götz, a.a.O., S. 38-39.

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Zweifelsfrei erhöht eine fortschreitende räumliche Diversifizierung der Erdgasbezüge die Versorgungssicherheit. Doch stellt sich auch hier die Frage nach der Zuverlässigkeit der neuen Anbieter. Sie gilt ohne Einschränkung nur für Norwegen, das aber den Zusatzbedarf an Gas nicht voll zu befriedigen vermag. Russlands langfristige Lieferfähigkeit steht unter dem Vorbehalt der zügigen Erschließung der riesigen Gasvorkommen auf der Jamal-Halbinsel und in der Barentssee. Das als Alternative zu Erdgaslieferungen aus Russland von der EU herausgestellte Projekt eines südlichen Gastransportkorridors (Nabucco-Pipeline) ist für diesen Zweck nicht geeignet, weil es mit 30 Milliarden Kubikmeter keine entsprechend große Kapazität aufweist, um Gasimporte aus Russland in der Größenordnung von 150 bis 200 Milliarden Kubikmeter pro Jahr zu ersetzen. Ungeklärt ist neben der Frage der Belieferung dieser Pipeline auch noch die Rolle der Türkei, die nicht nur als Transitland, sondern auch als selbständiges Verteilerzentrum fungieren möchte. Was die dritte Frage betrifft, so behaupten Kritiker nicht nur in Polen, dass Nord Stream Teil eines „deutschen Sonderweges“ bilateraler Beziehungen mit Russland und an der EU bzw. ihren Partnern vorbeigeführt worden sei. Diese Behauptung ist unzutreffend, weil die EU-Kommission schon Anfang 2000 das damals noch finnisch-russische Projekt einer Ostsee-Gaspipeline in ihre transeuropäische Netzplanung (TEN-E) aufnahm. Damit wurde es als ein Vorhaben eingestuft, das im europäischen Interesse liegt. In den Jahren 2003 und 2006, als die Ostsee-Gaspipeline bereits zu einem deutsch-russischen Projekt geworden war, erfolgte eine nochmalige Bestätigung auf der Grundlage der geltenden EU-Leitlinien. Die Ostsee-Gaspipeline hat gleichberechtigt mit anderen Projekten eine klare europäische Dimension und Priorität. Weitere Bestätigungen später wurden mit dem Hinweis versehen, dass die EU-Kommission von den Pipeline-Projekten unbeschadet weiterer Benennungen nicht allein die Nabucco-Erdgaspipeline vom Kaspischen Meer nach Mitteleuropa in Betracht ziehe. 35

35

Stephan Raabe, a.a.O., S. 78-79.

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Perspektiven der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen

Aus der Zusammenschau von Bestimmungsfaktoren und Praxis der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen stellt sich die Frage nach ihren möglichen Entwicklungsvarianten in einem mittelfristigen Zeitrahmen.

Entwicklungsvarianten der deutschrussischen Wirtschaftskooperation Unter der Voraussetzung, dass die oben erörterten Bestimmungsfaktoren für eine breit gefächerte wirtschaftliche Kooperation fortwirken und die Maßnahmen greifen, die zur Lösung der in der Finanz- und Wirtschaftskrise aufgetretenen Probleme getroffen wurden, sind zwei Entwicklungsvarianten für die deutschrussischen Wirtschaftsbeziehungen denkbar. Eine dynamische Variante geht davon aus, dass die Partner als Folge der Krise künftig auf eine nachhaltige Entwicklung setzen. Das würde für deutsche Politik und Wirtschaft bedeuten, Russland mit einem umfangreichen Know-how- und Technologietransfer beim Aufbau einer von Präsident Medwedew geforderten intelligenten Ökonomie in den genannten fünf Schwerpunktbereichen Medizintechnik/Pharmazie, Energieeffizienz, Atomenergie, Raumfahrt, Telekommunikation sowie Informationstechnologien (IT) noch stärker als bisher zu helfen und die erkennbar gewordenen Kooperationsansätze auszubauen. Von der russischen Regierung unter Premier Putin würde dies verlangen, strategische Bereiche der russischen Wirtschaft zu öffnen und deutschen Partnern Zugriffs- und Mitgestaltungsrechte insbesondere bei der Privatisierung der Staatsbetriebe einzuräumen. Falls sich beide Partner dazu entschlössen, könnten sie den Weg ebnen für einen neuen Wachstumsschub der bilateralen Zusammenarbeit nach dem Einbruch in 2009 und für eine schrittweise zu vollziehende Vernetzung der beiden Volkswirtschaften in ausgewählten Bereichen. Nach und nach würde ihre Kooperation dem Bild einer tragfähigen strategischen Wirtschaftspartnerschaft entsprechen. In Anbetracht des erheblichen Zeitbedarfs, der für diese strukturellen Veränderungen auf russischer Seite zu veranschlagen ist, dürfte eher mit einer moderaten Entwicklungs-

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variante zu rechnen sein. Dabei wird unterstellt, dass die Zusammenarbeit auch künftig überwiegend in den traditionellen Strukturen erfolgt. Trotz bestehender Hemmnisse und Vorbehalte auf beiden Seiten ist ungeachtet dessen eine Erschließung neuer Kooperationsfelder mit neuen Einrichtungen der Kooperation, wie sie zum Beispiel mit der Deutsch-Russischen Energieagentur und dem Deutsch-Russischen Rohstoffforum 36 geschaffen wurden, durchaus möglich. Eine solche Verdichtung pragmatischer Kooperationsbeziehungen bliebe zwar noch unterhalb der strategischen Partnerschaft. Sie wäre aber in jedem Fall ein politischer Gewinn für beide Seiten und würde ihnen weitergehende Optionen offenhalten.

36

Edmund Stoiber, Kooperation mit mehr Energie – Plädoyer für eine europäischrussische Rohstoff-Partnerschaft, in: Internationale Politik (IP), Januar/Februar 2010, S. 94-96; Klaus Töpfer, Das Deutsch-Russische Rohstoff-Forum: Hintergründe-Aktivitäten-Ziele, in: Das Jahrbuch für Deutsch-Russische Wirtschaftsbeziehungen, Edition 2010, S. 50-51.

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Das Cerfa

Das „Comité d’études des relations franco-allemandes“ (Forschungskomitee für deutsch-französische Beziehungen, Cerfa) wurde 1954 durch ein Regierungsabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich gegründet. Die Amtsvormundschaft des Cerfa kommt seitens Frankreich dem Ifri und seitens Deutschland dem DGAP zu. Das Cerfa wird paritätisch durch den Quai d’Orsay und das Auswärtigen Amt finanziert. Des Weiteren besteht der Verwaltungsrat aus einer gleichen Anzahl an deutschen und französischen Persönlichkeiten. Das Cerfa setzt sich das Ziel, Prinzipien, Bedingungen und Lage der deutsch-französischen Beziehungen auf politischer, wirtschaftlicher und internationaler Ebene zu analysieren ; Fragen und konkrete Probleme, die diese Beziehungen auf Regierungsebene stellen, zu definieren; Vorschläge und praktische Anregungen zu finden und vorzustellen, um die Beziehungen zwischen den beiden Ländern zu vertiefen und zu harmonisieren. Dieses Ziel wird durch regelmäßige Veranstaltungen und Seminare, die hohe Beamte, Experten und Journalisten versammeln sowie durch Studien in Bereichen gemeinsamen Interesses verwirklicht. Hans Stark leitet das Generalsekretariat des Cerfa seit 1991. Louis-Marie Clouet arbeitet dort als Forscher und ist für die „Notes du Cerfa“ und die „Visions franco-allemandes“ zuständig. Nele Wissmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und für das Projekt „Deutsch-französischer Zukunftsdialog“ zuständig.

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