Der tiefste Mensch der Welt

Gesellschaft EXTREMSPORT Der tiefste Mensch der Welt Sind sie verrückt? Haben sie Fähigkeiten, die normale Menschen nicht haben? Apnoe-Taucher sind ...
Author: Georg Michel
157 downloads 2 Views 282KB Size
Gesellschaft

EXTREMSPORT

Der tiefste Mensch der Welt Sind sie verrückt? Haben sie Fähigkeiten, die normale Menschen nicht haben? Apnoe-Taucher sind ohne Pressluftflasche unterwegs und riskieren ihr Leben für den Traum von der Tiefe. Tanya Streeter schaffte 160 Meter, Benjamin Franz kam gelähmt wieder nach oben. Von Klaus Brinkbäumer

S

* Auf ihrem Tauchschlitten beim Weltrekord-Tauchgang am 17. August.

164

CHRISTOPH GERIGK ( O.); TIM AYLEN / AP (U.)

ie geht nicht auf die Straße, wenn es dunkel ist. Sie speist allein in ihrem Hotelzimmer, wenn ihr Mann nicht da ist und sie beschützt. Sie fährt sehr langsam Auto. Sie ist „a complete chicken“, sagt sie, feige wie ein Hühnchen, und die Frage ist, warum sie nun tut, was sie tut. Tanya Streeter, 29 Jahre alt, grünäugig, sommersprossig, blond, sitzt in ihrem silbernen Taucheranzug und mit ihren schmalen Flossen auf einer Plattform, und die Plattform liegt auf dem Wasser. Sehr blaues, sehr tiefes Wasser ist das. Es sind noch zehn Minuten bis zum Weltrekord, senkrechte 160 Meter. Tanya Streeter hat gemacht, was sie immer macht, wenn sie sich vorbereitet. Sie ist für 45 Sekunden auf 10 Meter abgetaucht, mit wenig Luft in der Lunge; das war der Reiz, diese E-Mail an ihren Körper, wie Tanya das nennt: „Sei bereit, Körper, gleich wird es tief. Verdammt tief.“ Sie ist ein zweites Mal abgetaucht, für 90 Sekunden auf 20 Meter, wo sie wie schwerelos schwebte und sich auf den Rücken drehte. Sie hat die Sonnenstrahlen gesehen und das Boot, die Fische und die Korallen am Riff, all diese Farben hat sie gesehen, und dies war der Moment, in dem sie fühlte, was sie fühlen muss, bevor es hinabgeht: „Dass dies mein Element ist, dass ich meine Unsicherheit oben lasse, dass Tauchen das ist, was ich besser kann als alles andere im Leben.“ Man kann das nüchterner formulieren. In Tanya Streeters Körper hatte der so genannte Tauchreflex eingesetzt, und der Tauchreflex ist das Gegenteil dessen, was Anfänger erleben, die in ein paar Minuten eine ganze Flasche leer atmen. Tanya Streeters Körper wurde ruhig, sehr ruhig, da ihr Körper im Wasser auf Energiesparen schaltet. Die Herzfrequenz sank. Acht, sieben, sechs Minuten, Tanya Streeter ist bereit. Sie hält sich an dem Schlitten fest, der sie gleich hinabziehen wird und deshalb an einem Seil hängt, das zu einer Winde oben auf dem Boot führt; gleichzeitig ist der Schlitten über Rollen mit jenem Seil verbunden, das in die Tiefe führt. Fünf, vier, drei, zwei Minuten, Tanya Streeter schaut zu ihrer Mutter, die auf Apnoe-Taucherin Streeter*

160 Meter in die Tiefe, mit einem Atemzug d e r

s p i e g e l

4 5 / 2 0 0 2

dem Boot kauert, und sieht „Angst und Terror“. Sie nimmt ihre Maske ab, denn sie muss blind tauchen; wegen des steigenden Drucks würde sich die Maske dort unten in ihr Gesicht fressen. Dann klammert sich Tanya an den Schlitten und setzt ihre Nasenklemme auf. 60, 45, 30, 15 Sekunden, Tanya Streeter nimmt den letzten Atemzug und packt; so nennen Taucher das, wenn sie durch Luftschnappen und Muskelkraft einen Liter oder zwei in ihre längst gefüllte Lunge pressen. Packen ist nicht gesund, aber ohne Luft wäre es nicht gesünder dort unten. 15, 10, 5, „go“, Tanya Streeter schaut ihren Ehemann und Manager Paul an und der lässt eine Hand fallen, und der Kapitän löst die Winde. Der Schlitten klatscht ins Wasser, hart und wackelig. Apnoe-Tauchen heißt dieser Sport; „Apnoe“ ist griechisch und heißt „ohne Atmung“. Apnoe-Taucher, Freitaucher, sind Puristen wie jene Bergsteiger, für die nur eine Everest-Besteigung ohne Sauerstoffgeräte eine wahre Everest-Besteigung ist. Apnoe-Taucher können nur lächeln über die Millionen von Sporttauchern, die sich mit Pressluftflaschen an den halb toten Korallenriffen der Weltmeere entlanghangeln und niemals mit Delfinen schwimmen werden, weil sie zu schwerfällig sind und zu laut. Apnoe-Taucher brauchen nichts als Flossen, Maske und Schnorchel, sie liegen oben auf dem Wasser und schießen hinab, wenn es unten etwas zu sehen gibt. Oder sie setzen sich auf den Grund des Meeres und warten. Auf Delfine, Schildkröten, Haie. Es gibt eine Menge Rekorde und viele Disziplinen in der Sekte der Freitaucher. Mal müssen sie mit dem Bleigürtel, der sie hinabzieht, auch wieder hinauf („constant weight“). Mal dürfen sie sich von einem Gewicht hinabziehen und dieses in der Tiefe zurück lassen („variable weight“). Aber es gibt nur eine Königsdisziplin, und Tanya Streeter ist die Königin. „No Limits“ heißt die Übung mit dem Schlitten, die die Taucher am tiefsten hinabführt, ehe sie per Ballon oder Hebesack wieder emporsteigen; die Arbeit machen die Geräte, denn „No Limits“ ist Höchstleistungssport ohne Bewegung, Folter für menschliche Innereien, eine Quälerei, die viele nur verwundet überstehen und eini-

ge gar nicht. Es gibt Tote bei dieser Rekordjagd, aber es gibt eben auch diesen Rausch in der Welt der Delfine und natürlich den Ruhm: Wer ist der tiefste Mensch der Welt? Es ruckelt, Tanya Streeter schließt die Augen, es geht hinab. Tiefer. Tiefer als jemals eine Frau getaucht ist und jemals ein Mann. 160 Meter, mit einem Atemzug. Es ist 11 Uhr am 17. August vor der Küste der Turks- und Caicos-Inseln in der Karibik, und die Frage ist: Warum tut ein feiges Hühnchen das?

Streeter beim Training

CHRISTOPH GERIGK

T

anya Streeter, geboren auf den Cayman Islands, amerikanische Staatsbürgerin, weil ihr Vater Amerikaner ist, konnte schwimmen, bevor sie laufen konnte. Ihr Vater hatte eine Tauchschule, und deshalb war die Tochter Apnoe-Taucherin, bevor sie wusste, was das ist. Damals ließ sie sich von ihrem Labrador Tarka durchs Wasser ziehen; Tarka jagte Fische, und Tanya hielt sich am Schwanz fest. Tanya wurde dann aufs Internat in Brighton (England) geschickt, blieb bis nach dem Studium, lebt heute in Austin (Texas), und was hat sie in all den Jahren vermisst? „Den Ozean, die Klippen, die Delfine“, sagt sie. Benjamin Franz, 31, war Holzbildhauer in Willmering im Bayerischen Wald. Als Kind war er Fußballer und später Sportschütze, aber kicken konnte er nicht, und schießen war ziemlich stupide. Benjamin Franz sah die Unterwasserfilme von Jacques-Yves Cousteau, kaufte sich eine Taucherbrille im Supermarkt, fuhr zum Satzdorfer See und blickte in eine andere Welt. Dann, 1988, sah er „The Big Blue“ (deutsch: „Im Rausch der Tiefe“), einmal, 30-mal, und das war’s. So geht es allen Tauchern. Natürlich liebte auch Benjamin den stillen Franzosen Jacques, der die Delfine liebt, aber noch mehr liebte er Enzo, den verrückten Italiener, denn der liebt das Leben und die Frauen. Man kann „The Big Blue“, Luc Bessons Werk über ein Duell in der Tiefsee, für kitschig halten, aber für Taucher ist es der Film. So wie Enzo und Jacques wollen sie sich bewegen im Wasser, und Benjamin Franz wollte mehr – er wollte leben wie Enzo und Jacques. Benjamin Franz ist ein Kerl mit Dreitagebart, ein Kerl, der eine goldene Schwanzflosse an einem Lederband um den Hals trägt, einer, auf dessen rechtem Oberarm drei Delfine um eine Sonne kreisen. Benjamin Franz hält zwei Weltrekorde, ist seit zwei Jahren Tauchprofi, als er am 15. Juli in den Condor-Flieger steigt, der ihn nach Ägypten bringt, ans Rote Meer. Warum tut einer wie er, was er tut? „Wer einmal mit Delfinen geschwommen ist, fragt nicht mehr“, sagt er und guckt wie 165

PETER SCHINZLER (L.); MANFRED FÜHRMANN / DPA (R.)

Taucher Franz beim Training, beim Tauchgang

Eine Folter für menschliche Innereien

bekifft. Wie Taucher gucken, wenn sie zurückkommen an die Oberfläche. Der Sommer 2002 ist ein heißer Sommer für Freitaucher, denn Tanya und Benjamin trainieren gleichzeitig, er vor Safaga im Roten Meer, sie vor den Turks- und CaicosInseln. Beide wissen voneinander und auch, dass im Oktober vor Nizza der Franzose Loïc Leferme antreten wird und vor Santo Domingo noch eine Vierte: Audrey Mestre, 28, eine Französin, eine Journalistin, die sich in ihr Thema verliebt hat. Ihr Thema war der kubanische Freitaucher Francisco „Pipin“ Ferreras, der behauptet, er habe schon 162 Meter geschafft, leider nach seinen eigenen Regeln. Nun will Audrey selbst

ruhiger Mann, einer, der viel liest über seinen Sport, aber er ist auch ein ehrgeiziger Mann, und obwohl er weiß, was er tut, glaubt er, „mir kann nichts passieren“. Benjamin steigert sich in den ersten vier Tagen von 126 auf 137 Meter und meint, nun könnte er einen Tag Pause gebrauchen. Aber das Wetter ist gut, das muss man nutzen. Tanya Streeter taucht in der Karibik alle zwei Tage einmal. DAS HERZ SCHLÄGT NUR NOCH Niemand weiß wirklich, was im Körper in 160 Meter Tiefe pas40-MAL PRO MINUTE. DIE LUNGE IST siert, weil niemand jemals dort SO GROSS WIE EIN APFEL. unten war, aber dass durch die Quetschung der Lunge beim Abhinab; „um Audrey sorge ich mich“, sagt stieg oder durch die Ausdehnung der LunTanya eines Abends ziemlich beiläufig, „sie ge beim Aufstieg oder durch Stickstoffbläsmacht zu viele Tauchgänge an einem Tag.“ chen im Blut oder wodurch auch immer Man kennt sich, und man duzt sich in Embolien entstehen können, das weiß der Sekte der Freitaucher, denn die Sekte Tanya. „Alle zwei Tage einmal tiefer als ist klein. „Eine Nette“, sagt Benjamin über 100 Meter, mehr geht nicht“, sagt sie. Benjamin weiß das nicht. Tanya, „a nice guy“, sagt Tanya über BenBenjamin will Ende August 165 Meter jamin. Ihn nimmt die Sekte ernst, obwohl auch Tanya zwei Rekorde hält; Apnoe-Tau- tief tauchen, Tanya 160, und Tanyas Plan chen ist ein europäischer Sport und ein halten die Männer für wahnwitzig – der Sport für Männer. „Das Mädchen aus Te- Frauen-Rekord liegt bei 136 Metern. xas fickt die Juroren“, heißt es bei den ie ersten 80 Meter sind Kinderkram. Männern. Tanya Streeter steht in ihrem Korb Die beiden Rivalen trainieren sehr unund hört den Schlitten in die Tiefe rauterschiedlich. Benjamin Franz taucht in Ägypten mor- schen. Es summt. Laut. gens viermal und viermal am Nachmittag, Sie lässt ihre Augen geschlossen, denn und zwischen den Tauchgängen macht er ein paar Minuten Pause. Benjamin ist ein was sie sehen würde, würde sie täuschen:

D

166

d e r

s p i e g e l

4 5 / 2 0 0 2

Wenn sich oben eine Wolke vor die Sonne schiebt, wirken 70 Meter hier unten wie 100. Tanya orientiert sich am Summen des Schlittens, an den Schmerzen in ihren Gehörgängen, sie lauscht in sich hinein. Ihr Körper ist anders hier unten. Das Herz schlägt nur noch 40-mal pro Minute, mit Sauerstoff werden fast nur noch Herz und Gehirn versorgt. Und alles, was mit Luft gefüllt ist, wird gequetscht. Weil alle zehn Meter der Druck um ein Bar steigt, hat sich die Lunge längst auf die Größe eines Apfels zusammengezogen. „Es fühlt sich an wie ein Lastwagen auf der Brust“, sagt Tanya. Und weil die Luft komprimiert ist, wird der Auftrieb geringer und die Schussfahrt rasanter; Tanya Streeter muss den Schlitten bremsen. Der Druckausgleich funktioniert noch, denn noch kann sie Luft in die Ohrtuben pressen. Die Schmerzen vergehen, auf 80 Metern geben die ersten ihrer Sicherungstaucher Klopfzeichen. Und Tanya blinzelt und führt Daumen und Zeigefinger zusammen – das Okay-Zeichen der Taucher. Tiefer. 100 Meter. Sie darf die Konzentration nicht verlieren, weil jeder Fehler tödlich sein kann. Es gibt ja wirklich so etwas wie Tiefenrausch; man denkt ziemlich langsam da unten. Dass Jacques, der Franzose in „The Big Blue“, am Ende des Films einem Delfin in die Nacht folgt, finden die wenigsten Freitaucher absurd. 130 Meter. Tanya Streeter kann sechs Minuten lang die Luft anhalten, das ist nicht das Problem. Das Problem ist der Druck. Es presst, es reißt, es schmerzt, und wo die Grenze ist, an der ihr Trommelfell platzt, weiß Tanya nicht; das wissen Freitaucher erst hinterher. Tanya weiß nur, dass dieser Druckausgleich der letzte sein wird, da sie von nun an nicht mehr genug Luft hat, um irgendeinen Hohlraum zu füllen. Sie rauscht an Dave vorbei, dem australischen Sicherungstaucher, der auch hier unten nur Shorts und natürlich die Flasche mit dem Gasgemisch der Tiefseetaucher trägt, und Dave folgt ihr bis 150 Meter und brabbelt etwas ins Salzwasser, und das klingt wie: „Weiter, Tanya, du bist fast da!“ 160. Metall schlägt auf Metall, der Schlitten stoppt. Das Seil ist geeicht, die Juroren haben es überprüft. Die Kamera, die am Schlitten hängt, ist versiegelt, Betrug unmöglich. 160 Meter. Sehr langsam legt Tanya ihre linke Hand um den Haltegriff des Ballons, der sie wieder emportragen wird; sehr langsam öffnet ihre rechte das Ventil. Aber Tanya Streeter wartet. Haucht einen Kuss ins Meer. Öffnet die Augen und sieht schwarzes Wasser. Denkt, dass sie gerade die gewaltigste Leistung ihres Lebens vollbracht hat. Denkt, dass kein Mensch jemals so tief war. „Ich hatte mir vorgenommen, es nicht zu schnell vorbei-

Gesellschaft gehen zu lassen“, sagt sie, „ich wollte mich hinterher erinnern können.“ Sie bleibt 17 Sekunden lang dort unten, fühlt die Kälte nicht, aber sehr langsam wird ihr klar, dass sie jetzt vor einer Wand aus Wasser steht, und die Wand ist 160 Meter hoch. Es wird Zeit. Sie startet den Ballon.

AUS DEM BUCH: HOMO DELPHINUS / VERLAG IDELSON-GNOCCHI

as Apnoe-Tauchen ist so alt wie die Menschheit. Archäologen haben in Mesopotamien 4500 Jahre alte Perlen gefunden, die vom Meeresgrund stammen und natürlich von Freitauchern heraufgeholt wurden, von wem sonst? Phönizier und Karthager setzten auf ihren Flotten Apnoe-Taucher ein. Und an den Küsten Japans tauchen noch heute rund 10 000 Ama, jene Frauen, die ihre Dörfer mit Meeresgetier versorgen, Frauen, die zum Mythos in der Sekte der Freitaucher wurden, weil viele von ihnen, so verlangt es die Tra- Unterwasser-Film „Im Rausch der Tiefe“ (1988): Mythisches Duell, von dem Taucher träumen dition, im Wasser nichts als Tanga und Kopftuch tragen. Enzo Maiorca schaffte 46 Meter, dann te Sizilianerin abgebildet wurde. Deshalb Der Sport Apnoe-Tauchen wurde 1949 49, er war der beste Taucher der sechziger hatte Maiorca den Film in Italien jahrelang erfunden, als der Italiener Raimondo Bu- Jahre. Die Ärzte sagten ihm, 50 Meter verbieten lassen. Aber auch Jacques gab es wirklich: Der cher, ein Pilot, in einer Bar auf Capri er- würde er nicht überleben, aber Enzo zählte, er habe ohne Pressluft und in 30 schaffte 90, 94 und 101 Meter. Und darum Franzose Jacques Mayol war in den späten Meter Tiefe einen Zackenbarsch gefangen. wurde der echte Enzo Maiorca zum fikti- Sechzigern zu Enzo Maiorcas Gegenspieler „Niemals“, sagte sein Gegenüber. ven „Enzo Molinari“, jenem Italiener, der geworden. Voriges Jahr, kurz vor WeihDie Wette galt. Und am nächsten Mor- das Leben liebt und die Frauen, gen tauchte der andere mit Pressluft 30 dem Helden von „The Big MAN DENKT ZIEMLICH LANGSAM Meter tief und hielt eine Dose mit 20 000 Blue“. Lire in der Hand; dann kam Bucher und Dieser Spielfilm ist die Ge- DA UNTEN. UND JEDER nahm ihm den Wetteinsatz ab. schichte des Zweikampfes zwi30 Meter, der erste Weltrekord. schen Enzo und Jacques. Im FEHLER KANN TÖDLICH SEIN. Enzo Maiorca, heute 71, hörte diese Film übernimmt sich Enzo, verGeschichte in einer Bar in Syrakus im Süd- letzt sich, und als er sterbend in Jacques nachten, erhängte sich der wahre Jacques osten Siziliens und beschloss, so etwas Armen liegt, sagt er: „Ich muss dahin, Mayol in seinem Haus auf Elba. Und Enzo Maiorca, ein Herr mit kurzen könne er auch. Er war Pharma-Vertreter wo ich hingehöre, bitte.“ Und Jacques für Boehringer damals, aber er war auch ei- bringt ihn hinab und lässt ihn ins Weite weißen Haaren und riesigen Ohren, mit Octopus-Tätowierung auf dem Oberarm ner der besten Speerfischer Siziliens. schweben. Enzo hatte mit der Taucherei angefanEnzo Maiorca hat seinen Filmtod gehasst, und Taucheruhr am Handgelenk, blickt aus gen, als er zwölf Jahre alt war. Da fand er aber noch viel mehr hat er gehasst, dass seinem Fenster auf die Bucht von Syrakus am Strand eine Gasmaske, die die Eng- seine Mutter, in Wirklichkeit eine Signora und spricht von Verrat. „Jacques Selbstländer oder die Amerikaner verloren aus Florenz, von Regisseur Besson als fet- mord war Verrat“, sagt Maiorca, „das Meer war doch unsere Schule. Das Meer hat uns hatten, und damit blickte er zum doch beigebracht, dass es im Leben darum ersten Mal hinab ins Mittelmeer. geht zu kämpfen.“ Nach ein paar Sekunden war das Aber vielleicht, sagt Maiorca dann, war Ding voll wie ein Aquarium, aber der Franzose ja wirklich zu weich. Das dieser Blick reichte, sagt Enzo. Meer heißt „la mer“ auf Französisch, und Es war „amore fisico“, körper„la mer“ ist weiblich. liche Liebe, das zwischen Enzo Im Italienischen heißt es „il mare“. Das und dem Meer. Meer, sagt Enzo Maiorca, ist ein Mann. Enzo hörte auf mit der Jagd, nachdem er tief unten einen Zackenbarsch in der Hand gehabt s ist 15.45 Uhr am 21. Juli, als Benjamin und das Herz des Fisches gefühlt Franz aus dem bayerischen Willmering hatte; „es war falsch zu töten“, in der Tiefe des Roten Meeres zum siebten sagt er heute. Enzo begann mit Mal an diesem Tag den Ballon mit Luft dem Training, und er trainierte, füllt, der ihn wieder nach oben bringen indem er die 50 Stufen zu seiner soll. Der Aufstieg ist die Kunst beim No-LiWohnung in der Altstadt von Symits-Tauchen. Weil sich die Luft nun wierakus hinauf- und hinabrannte, der ausdehnt, schießt der Ballon immer zehnmal, ohne Luft zu holen. schneller nach oben. Und weil während „Dort auf den Stufen, mit Luft dider letzten zehn Meter der Druck von zwei rekt vor meiner Nase, wurde ich auf ein Bar, also um die Hälfte sinkt, verstark“, sagt er, „das war wie Hundoppelt sich nun in wenigen Sekunden die gern vor dem gedeckten Tisch.“ Film-Vorbilder Mayol, Maiorca (1969): Die Schule Meer Größe der Lunge, und der Sauerstoffdruck

168

d e r

s p i e g e l

4 5 / 2 0 0 2

E

DEFD

D

E

PETER SCHINZLER

LISTIN DIARIO / AP

s ist wenige Minuten nach rapie, Laufband, Schwimmen, jeden Tag, elf Uhr am 17. August, als vermutlich geht das noch eineinhalb Jahre Tanya Streeter aus Austin (Te- lang so. „Zum Wiedererlernen von Bewexas) vor den Turks- und Caicos- gungsmustern sind 10 000 Wiederholungen Inseln die Oberfläche erreicht. nötig“, sagt sein Therapeut. Es sind lange Tage in der Klinik. BenjaDrei Minuten und 26 Sekunden hat ihr Tauchgang gedauert, und min Franz liegt in seinem Zimmer, als ihn 20 Meter unter der Oberfläche die Nachrichten erreichen. Tanya Streeter schreibt Autogramme hat wie immer ihr Ehemann und Manager Paul auf sie gewartet. in der Karibik, als sie die Nachrichten erreichen. Nase an Nase tauchen sie auf. Diese Nachricht: Der Franzose Loïc Le„It’s a new world record“, ruferme hat vor Nizza 162 Meter geschafft. fen die Männer an Bord. „Freitauchen ist der einzige Und überlebt. Und diese Nachricht: Beim Versuch, Sport, in dem eine Frau den Weltrekord der Männer gebro- 171 Meter zu tauchen und damit Tanya chen hat“, sagt Tanya Streeter. Streeters Weltrekord zu brechen, ist die Sie sei zwei Köpfe kleiner als Französin Audrey Mestre, jene Journalisdie Kerle, und ihre Lunge fasse tin, die sich in ihr Thema verliebt hatte, am Taucherin Mestre: Den Rekordversuch nicht überlebt fünf Liter weniger Luft, „aber 12. Oktober vor der Küste der Dominikaim Blut stürzt ab. Daran liegt es, dass vie- sie taucht ruhiger auf als jeder Mann“, sag- nischen Republik tödlich verunglückt. Nach 1:42 Minuten ruckelte es am Seil. le Taucher ohnmächtig an die Oberfläche te Luigi Magno, der Arzt. Es ist Mitte Oktober, und Benjamin Franz Audrey war unten, auf 171 Metern, auf Weltkommen. Es war ein guter Tag, am Morgen ist er liegt im Klinikum Maximilian von Kötzting rekordtiefe, aber Rekorde gelten nur, wenn viermal hinuntergeschossen, 70, 100, 127 in der Oberpfalz. Er spricht wieder, langsa- die Taucher lebend auftauchen. Audrey, daund 137 Meter tief, dann hatte er dreiein- mer zwar, aber klar und konzenhalb Stunden Pause. Und dies war nun der triert. Er fährt mit dem Rollstuhl DER SIEBTE TAUCHGANG AN dritte von den geplanten vier 100-Meter- durch die Gänge, und ganz langDIESEM TAG? „DAS IST DOCH SELBSTTauchgängen am Nachmittag, und es war sam kommt die Kraft zurück. Benjamin Franz sagt, er sei ein guter Tauchgang, sehr entspannt, das Wasser sehr warm, Benjamin konnte die froh, dass es vorbei ist. Dieser MORD“, SAGTE DER ARZT. Stress. Diese Jagd nach dem ReFische am Riff beobachten. Er kommt oben an, aber er kann sich kord. Er sagt, er wolle nie wieder tauchen. mit begann das Drama, brauchte dort unten nicht mehr bewegen. Er will schreien, aber Er sagt, er habe verstanden, was wichtig ist 25 Sekunden, um den Ballon zu füllen. Sie er kann nicht mehr sprechen. Er liegt ein- im Leben, seine Frau Birgit, sein Sohn kam nur 7 Meter hoch und blieb dann für fach da, und seine Leute ziehen ihn aus Noah, zwei Jahre alt, und man wünscht 30 Sekunden auf 164 Metern hängen. Wieso? Erst nach 3:50 Minuten erreichte sie ihm, dass er das ernst meint. dem Wasser. Sein Trainingsplan ist so voll wie früher 120 Meter, dort wurde sie ohnmächtig, ließ Es dauert eine Stunde, bis das Boot zurück ist an der Küste; es dauert weite- und trotzdem anders: Sprechen, Neuro- die Geräte los, sackte in die Tiefe. Audrey re eineinhalb Stunden, bis der Kranken- physiologie, Krankengymnastik, Ergothe- trug kein Sicherungsseil, mit dem ihr Team sie hätte hinaufziehen können. Der wagen in der Klinik ist, und noch eine Sicherungstaucher Paul griff sie Stunde, bis Benjamin Franz in der Druckund brachte sie auf 90 Meter, wo er kammer liegt. Die Ärzte simulieren erst warten musste, weil ein zu schnel20 Meter Tiefe, dann 9 Meter, und das ler Aufstieg ihn selbst gefährdet ist vermutlich eine gute Idee, aber sehr hätte. Von oben kam Pipin, Auspät. dreys Thema und Ehemann, mit Benjamin Franz, 31 Jahre jung, hatte eiSauerstoff herab. Pipin brauchte nen Schlaganfall. Der Rechtshänder, der 90 Sekunden für den Abstieg; er früher mal Holzbildhauer war, ist halbseitrug Audrey nach oben. Nach 8:38 tig gelähmt, und es ist die rechte Seite. Minuten war Audrey Mestre an „Wir haben mit allem gerechnet“, sagt er, der Oberfläche. Tot. „aber nicht mit einem Schlaganfall.“ Wo ist das Limit der No-LimitsLuigi Magno, Arzt der italienischen TauTaucher? cher-Nationalmannschaft, sagt, durch den „Es muss eine Grenze geben, schnellen Aufstieg und die schnelle Ausirgendwo, aber wir sind ihr noch dehnung der Lunge „entstehen Bläschen, nicht einmal nahe“, sagt Tanya die direkt in die Arterien und Sekunden Streeter. später ins Hirn gelangen“. Ein Schlaganfall „Man kann sich perfekt vorbesei erstens zu verhindern, indem Taucher reiten“, sagt Benjamin Franz, „der nicht zu viele Tauchgänge machen, und Haken ist, dass man nicht weiß, zweitens zu kurieren, indem sie sofort in was man nicht weiß.“ die Druckkammer gelegt werden und dort Er wohnt jetzt in Zimmer 290 in Sauerstoff atmen: „So kannst du die BläsKötzting, und in seinem Regal stechen ersticken.“ hen Delfine. Delfine aus Holz, aus Entschuldigung, sagt Dottore Magno Glas, aus Stoff, Geschenke von dann, der wievielte Tauchgang des jungen Fans und Freunden. „Ich kann die Deutschen war das an diesem Tag? Der Scheiß-Viecher nicht mehr sehen“, siebte? „Das ist doch Selbstmord, dann hat sagt Benjamin Franz. ™ er Glück, dass er noch lebt.“ Tauchopfer Franz: Nie wieder in die Tiefe? 170

d e r

s p i e g e l

4 5 / 2 0 0 2