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Reihe Hanser

Auf den ersten Blick haben Alice, Reena und Molly nicht viel gemeinsam, als sie am berühmten McKinsey-Internat eintreffen: Alice ist die schöne Tochter eines New Yorker Schriftstellerpaars, Reena ein verwöhntes Beverly-Hills-Girl und Molly eine zurückhaltende Schülerin aus der Provinz, die ein Begabten-Stipendium an das kostspielige Internat gebracht hat. Die drei Mädchen bekämpfen sich verbissen, bis sie herausfinden, dass sie etwas gemeinsam haben: Stiefmütter nämlich, die schuld daran sind, dass man sie überhaupt ins Internat gesteckt hat – davon sind die drei jedenfalls felsenfest überzeugt. Und sie glauben auch, dass sie es ihren Stiefmüttern heimzahlen müssen. Im SchneewittchenClub, den sie eigens gründen, schmieden sie Rachepläne gegen Bevormundung und Unterdrückung, Lieblosigkeit und Ignoranz. Auf Überraschungen sind sie dabei nicht gefasst. Vielleicht sollten sie’s besser sein …

Lily Archer, 1963 geboren, lebt in New York. Sie beschreibt sich selbst als eine Mischung aus ihren Protagonistinnen: Als Schülerin glich sie der schüchternen Leseratte Molly, verwandelte sich als Teenager unmerklich in die schöne, aber zickige Alice und träumt bis heute davon, so zu werden wie die selbstbewusste, witzige Reena. Der Schneewittchen-Club ist ihr Debüt als Schriftstellerin.

Lily Archer

Der SchneewittchenClub Aus dem Englischen von Sophie Zeitz

Deutscher Taschenbuch Verlag

Das gesamte lieferbare Programm der Reihe Hanser und viele andere Informationen finden Sie unter www.reihehanser.de

2. Auflage 2011 2010 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München © 2006 by Lily Archer Alle Rechte der deutschen Ausgabe: © Carl Hanser Verlag München 2009 Originaltitel: ›The Poison Apples‹ (Feiwel and Friends, New York) Umschlagillustration: Eva Schöffmann-Davidov . Gesetzt aus der Janson 11/14 Gesamtherstellung: Druckerei C. H. Beck, Nördlingen Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany · ISBN 978-3-423-62465-7

Für meine Mutter, die auch meine beste Freundin ist, und für meine besten Freundinnen, die auch meine Familie sind.

Vorwort

Liebe Stiefmütter in aller Welt, wie Ihr vermutlich wisst, werden mehr als fünfzig Prozent aller Ehen in Amerika geschieden. Und mehr als fünfundsiebzig Prozent der geschiedenen Ehemänner heiraten wieder. Das bedeutet, es gibt Tausende – Millionen! – von Stiefmüttern. Stiefmütter in North Dakota. Stiefmütter in Florida. Dünne Stiefmütter und dicke Stiefmütter. Schöne Stiefmütter und hässliche Stiefmütter. Gute Stiefmütter und böse Stiefmütter. In diesem Buch geht es nicht um die guten Stiefmütter. Wir behaupten nicht, dass es sie nicht gebe. Wir wissen, dass es gute Stiefmütter gibt. Wir verlassen uns darauf. Wir wissen, dass irgendwo da draußen jede Menge Stiefmütter herumlaufen, die ihre Stieftöchter liebevoll umsorgen – Stiefmütter, die stets Rat wissen, lustige Witze machen, Monopoly spielen, Slapstickkomödien aus der Videothek ausleihen und mit ihren Stieftöchtern in äthiopischen Restaurants essen gehen. Wahrscheinlich gibt es Tausende von Mädchen, die geradezu galaktisch gute Stief7

mütter haben. Diese Mädchen können gerne ein Buch darüber schreiben, wie fantastisch ihre Stiefmütter sind. Doch wir sind nicht diese Mädchen. Wir sind der Schneewittchen-Club. Wir haben zufälligerweise unfassbar böse Stiefmütter erwischt. So. An alle Stiefmütter, die einwenden wollen, dass die Gesamtheit der Stiefmütter in diesem Buch unfair repräsentiert ist: Wir wissen nicht, was wir Euch sagen sollen. Es tut uns leid? Ganz ehrlich, wir haben auch keine Ahnung, warum wir so grauenhafte Stiefmütter abbekommen haben. Pech? Schlechtes Karma? Schicksal? Wenigstens hat es das Schicksal gut mit uns gemeint, als wir uns im Internat begegnet sind und uns zu einer Familie zusammengeschlossen haben. Denn durch die Gründung des Schneewittchen-Clubs sind wir zu einer Erkenntnis gelangt: Wir müssen unser Glück/Karma/Schicksal selbst in die Hand nehmen. Wir dürfen das Zepter nicht unseren bösen Stiefmüttern überlassen. Das ist unsere Geschichte. An die guten Stiefmütter: Bleibt so gut, wie Ihr seid! Hoffentlich dürfen wir Euch eines Tages kennenlernen. An die bösen Stiefmütter: Seid gewarnt. Unterzeichnet: Der Schneewittchen-Club 8

TEIL E INS

KAPITEL 1

Alice Bingley-Beckerman

Am Anfang schien R. ganz nett zu sein. Sie lud mich und

Paps zu sich nach Hause zum Essen ein, und den Großteil des Abends standen wir in ihrer Wohnung an der Upper West Side herum und sahen ihr beim Kochen zu. R. war rundum bezaubernd, wie sie in ihrem Seidenkleid und lila Lidschatten durch die Küche schwebte, in blubbernden Töpfen MarinaraSoße rührte und sich alle paar Sekunden bückte, um ihren Yorkshire-Terrier Godot zu küssen. Ich sah Paps an, dass er sie hinreißend fand. Sie war schön und lustig und sang die ganze Zeit Melodien aus verschiedenen Musicals. Paps rief: »Cats?«, und sie flötete: »JA, GENAU!«, und dann nippte er an seinem Bier, mit sich und der Welt zufrieden. Und es war ja auch nett, dass sie mich mit eingeladen hatte. Ich schätze, es war ihr erstes Rendezvous, und da war es ziemlich cool von ihr zu sagen: »Warum bringst du nicht deine Tochter mit?« Sie wirkte echt locker, nett und kinderlieb. Nicht gerade wie eine durchgeknallte eifersüchtige Psychopathin, oder? Falsch. Paps und ich waren so unschuldig und naiv. Viel11

leicht weil es sein erstes Rendezvous nach Mamas Tod war. Wir hatten wirklich keine Ahnung, dass R. Klausenhook – preisgekrönte Schauspielerin und Liebling der New Yorker Theaterwelt – sich als waschechte böse Hexe entpuppen würde. Ehrlich gesagt glaube ich, Paps hat bis heute keine Ahnung, dass R. eine waschechte böse Hexe ist. Das ist die Tragik meiner Geschichte. Der ganze, nicht enden wollende Horrortrip (wie meine Freundin Reena es sieht, doch mehr von ihr später) begann vor zwei Jahren, als ich dreizehn war und meine Mutter starb. Sie hatte Krebs. Es war so ziemlich das schlimmste Jahr meines Lebens. Als es passiert war, musste ich mir von meinen Klassenkameraden Sachen anhören wie: »O Gott, es tut mir sooo leid. Letztes Jahr ist meine Urgroßmutter gestorben, und das war echt schrecklich. Ich weiß genau, wie du dich fühlst.« Ich wollte schreien: Deine Urgroßmutter war fünfundneunzig und im Altersheim, und du hast sie nur dreimal im Jahr gesehen, woher willst du im Entferntesten wissen, wie ich mich fühle? Meine MUTTER ist gestorben, du blöde Kuh. Doch ich lächelte nur und nickte. Weil ich aus Prinzip keinen Streit anfange. Ich bin Alice. Ich bin das stille Mädchen mit den coolen Klamotten. Alle mögen mich. Irgendwie. Ich bin die drittbeste Freundin. Meine Mitschülerinnen schrieben mir nach der achten Klasse ins Jahrbuch: »Schön, dass es dich gibt. Du bist echt nett!« Oder: »Du scheinst ein 12

echt netter Mensch zu sein! Schöne Sommerferien!« Oder: »Danke, dass du immer so nett bist! Bleib so!« Irgendwann begriff ich, was »nett« eigentlich hieß: Niemand kannte mich, und ich war (bis jetzt) noch niemandem auf die Füße getreten. Dabei hatte ich es in den ersten dreizehn Jahren meines Lebens ziemlich gut gehabt. Ich war ein Einzelkind und wohnte mit meiner Mutter und meinem Vater in einem wunderschönen alten Sandsteinhaus in Brooklyn. Meine Eltern waren beide Schriftsteller. Ziemlich bekannte Schriftsteller sogar. Mein Vater ist Nelson Bingley, und meine Mutter ist (war) Susan Beckerman. Vielleicht habt ihr schon mal von ihnen gehört. Vor meiner Geburt haben beide Romane geschrieben, die viel Aufsehen erregt haben. Einmal habe ich versucht, eins der Bücher meiner Mutter zu lesen, aber es war mir viel zu kompliziert. Schon im ersten Satz kamen mindestens drei Wörter vor, von denen ich noch nie gehört hatte. Trotzdem war es eine feine Sache, zwei Schriftsteller als Eltern zu haben. Sie waren viel zu Hause und tippten an ihren Schreibtischen vor sich hin, und es kamen ständig irgendwelche ihrer verrückten Freunde zu Besuch und wohnten bei uns, berühmte Maler zum Beispiel und Musiker und Filmemacher. Ich bewahre immer noch das echte Glasauge auf, das mir ein italienischer Bildhauer zum Geburtstag geschenkt hatte. Wenn andere Kinder mich besuchen kamen, schüttelten sie neidisch den Kopf und sag13

ten: »Deine Eltern sind echt toll.« Ja, das war ich. Die mit den tollen Eltern. Aber dann hatte ich plötzlich nur noch einen Vater. Eine Weile war es sehr, sehr hart. Unser Haus fühlte sich zu groß und zu leer an, und mein Vater und ich saßen jeden Abend schweigend im dunklen Wohnzimmer und sahen stumpfsinnige Fernsehsendungen, die meine Mutter nie geduldet hätte. Ich brauchte ein ganzes Jahr, um mir, wenn etwas Interessantes oder Aufregendes passiert war, den Gedanken abzugewöhnen: Mal sehen, was Mama dazu sagt. Doch dann kam der Tag, als ich aufhörte, Mal sehen, was Mama dazu sagt zu denken, und danach wurde es erst recht grauenhaft. Zuerst vergisst du ständig, dass deine Mutter tot ist, und dann merkst du irgendwann, dass du dich daran gewöhnt hast, dass deine Mutter tot ist. Das zweite Gefühl ist sogar noch schlimmer. So ging es vielleicht eineinhalb Jahre, bis mein Vater ein Theaterstück schrieb. Es war sein erstes Theaterstück, und es handelte von einer Frau, die an Krebs starb. Große Überraschung, oder? Alle fanden das Stück großartig. Papas Agentin rief mitten in der Nacht an und sagte, sie konnte nicht zu Ende lesen, weil sie so heulen musste. Drei Wochen später wollte ein Theater am Broadway das Stück auf die Bühne bringen, und R. Klausenhook – die beste Schauspielerin der Stadt, der Star, der ausver14

kaufte Häuser und Auszeichnungen garantierte – wollte die Hauptrolle übernehmen. Sechs Wochen später war Premiere, und in der New York Times erschien eine begeisterte Rezension, und Paps lächelte, wie er seit … also, seit Mama nicht mehr gelächelt hatte, und drei Wochen später lud R. Klausenhook uns beide zu sich nach Hause zum Essen ein. Und das alles gönnte ich Paps. Wirklich. Ich dachte, wenn er nicht mehr die ganze Zeit so traurig wäre, würde ich vielleicht auch nicht mehr die ganze Zeit so traurig sein. Dumme Theorie. Jedenfalls legte R. sich am ersten Abend mächtig ins Zeug. Und sie ist echt eine unglaubliche Köchin. Sie machte Endiviensalat und Knoblauchhähnchen und gebackene Eier mit Tomatensoße und Basilikum und eine göttliche Himbeertorte mit Schokoladenstreuseln. Papa und ich aßen wie die Weltmeister. »Mmhh«, sagte Papa und wischte sich mit der Serviette den Mund ab. »Das war das Beste, das ich seit weiß Gott wie lange gegessen habe. Normalerweise ernähren Alice und ich uns von Fischstäbchen aus der Mikrowelle.« Das stimmte. Papa und ich aßen dauernd Fischstäbchen. Doch irgendwas an der Art, wie er R. Klausenhook davon erzählte, verletzte mich ein bisschen. Wir versuchten eben, irgendwie zurechtzukommen. Und bis jetzt hatte es uns beiden gereicht. 15

»Ach du liebe Zeit«, tönte R. »Das ist ja grauenhaft. Für mich ist Essen unglaublich wichtig. Ich finde, jede Mahlzeit sollte eine sinnliche Erfahrung sein.« Ich hatte keine Ahnung, wovon sie redete, aber Paps hörte andächtig zu und nickte mindestens dreimal hintereinander. R. streckte die Hand über den Tisch aus und legte ihre juwelenbesetzten Finger auf meine. »Und du, Alice?«, fragte sie. »Was sind deine Leidenschaften?« »Ich …«, sagte ich. Hilfe suchend sah ich Paps an. Doch der lächelte nur mit leerem Blick zurück. »Weißt du«, erklärte R., »meine Leidenschaften sind die Schauspielerei und Essen. Und Sex natürlich. Und deine?« Beinahe hätte ich mich an dem gebackenen Ei verschluckt, das ich im Mund hatte. Glücklicherweise sprang Paps ein. »Alice fährt gerne Snowboard. Stimmt doch, oder, Alice?« Ich nickte erleichtert. »Ja. Genau. Snowboarden ist toll.« In Wahrheit war ich in meinem ganzen Leben vielleicht zweimal Snowboarden gewesen. Aber, na gut. Damit war es eben zu meiner Leidenschaft geworden. Was soll’s. Ich hätte auch gerne Sex dazugezählt, aber bis jetzt hatte ich noch keine Gelegenheit gehabt. Irgendwann hatte ich mal auf einer Party in Manhattan mit Keaton Church rumgeknutscht (so 16

ein Fiesling aus der Zwölften), aber er hatte mich nur benutzt, um seine Exfreundin eifersüchtig zu machen (am nächsten Tag waren die beiden wieder zusammen). Das war die ganze Bandbreite meiner sexuellen Erfahrungen. Der einzige Mensch, der körperlich an mir interessiert zu sein schien, war mein Cousin zweiten Grades Joey Wasserman. Joey wohnte in Philadelphia, hatte einen Bart, rauchte sechs Joints am Tag und versuchte bei jedem Familienfest, mich aufzureißen. Wie Reena sagen würde, mein Leben war ein echter Horrortrip. Ich war fünfzehn, meine Mutter war seit fast zwei Jahren tot, und ich hatte noch nie einen richtigen Freund gehabt. Aber es sollte alles noch viel schlimmer kommen. Im Taxi nach dem Abendessen bei R. grinste Paps in einem fort. Wir schwiegen eine Weile, während das Taxi die Madison Avenue hinunterrauschte, vorbei an all den schicken Läden mit den leuchtenden Fassaden. Ich hauchte das Fenster an und malte geistesabwesend ein kleines R auf die beschlagene Scheibe. »Wofür steht R.?«, fragte ich. »Für Rachel«, sagte Paps, immer noch mit dem verträumten Grinsen auf dem Gesicht. »Und warum nennt sie sich dann nicht einfach Rachel?« Er legte den Arm um mich und gab mir einen Kuss auf den Scheitel. »Ich mag sie wirklich, Alice. 17

Sie ist nicht nur eine unglaublich talentierte Schauspielerin, sondern auch ein sehr liebevoller und großzügiger Mensch. Sie ist nicht so ein verrücktes Huhn wie all die anderen Schauspielerinnen, die ich kenne.« Ich nickte. Eine unangenehme Pause entstand. Dann räusperte sich Paps. »Magst du sie auch?«, fragte er. Im Nachhinein denke ich, es hätte wahrscheinlich überhaupt keine Rolle gespielt, wenn ich gesagt hätte: »Nein, Papa. Ich mag sie nicht.« Wahrscheinlich wäre trotzdem alles genauso gekommen, wie es gekommen ist. Aber ich denke viel darüber nach. Denn damals wollte ich nur, dass Papa glücklich ist und nicht mehr so traurig, wie er seit Mamas Tod war, und außerdem wollte ich eine gute Tochter sein, und R. war ja auch ganz nett, selbst wenn sie mir ein bisschen … exzentrisch erschien. Also sah ich Papa in die Augen und sagte: »Sie ist toll.« Und ganz ehrlich, er sah so froh und erleichtert aus, dass ich das Gefühl hatte, jede andere Antwort wäre grausam gewesen. Wenig später waren die beiden offiziell ein Paar. Es fing damit an, dass Papa ein paarmal die Woche spätabends mit einer Rotweinfahne nach Hause kam und Melodien aus verschiedenen Musicals vor sich hin summte. Dann stieg ich eines Samstagmorgens verschlafen aus dem Bett, ging in die Küche und 18

fand R. in einem lila Seidenkimono am Herd, wo sie Pfannkuchen machte. »Hallo, Schätzchen!«, flötete sie und hauchte mir einen parfümierten Kuss auf die Wange. Ich möchte daran erinnern, dass die letzte Frau, die an unserem Herd stand und Pfannkuchen machte, meine Mutter Susan Beckerman gewesen war. Und Susan Beckerman ist – war – nicht die Art Frau, die Seidenkimonos trug und Leute »Schätzchen« nannte. Mama trug gerne Jogginghosen, und ihr Kosename für mich war »Runzel«. Meinen Vater nannte sie »Gurke«. Paps kam in die Küche, setzte sich im Pyjama an den Küchentisch und strahlte wie ein Honigkuchenpferd. Auf einmal wirkte es, als wären wir drei eine Familie. Dabei kannte ich R. gar nicht. Ich wusste nur, dass ihre Leidenschaften Essen, Schauspielen und Sex waren und dass sie im Stück meines Vaters am Broadway eine Krebspatientin spielte. Und dass sie schon morgens jede Menge Parfum trug. Aber was sollte ich tun? Das Ganze entzog sich meiner Kontrolle. »Die Pfannkuchen riechen toll«, sagte ich und setzte mich an den Tisch. Paps griff nach meiner Hand und drückte sie. Ein paar Monate vergingen. Es war Frühling, und ich ging in die neunte Klasse. Ich hätte gerne einen Freund gehabt, doch ich bekam keinen, und ich hätte gerne eine beste Freundin gehabt, doch 19

die bekam ich auch nicht (ich hatte nur beinahebeste Freundinnen – Mädchen, die mich als zweitoder drittbeste Freundin ansahen, nach ihrer eigentlichen besten oder zweitbesten Freundin), und ich wurde auch nicht ausgewählt, das Solo-Stück im Chorkonzert unserer Schule zu singen. Paps und R. sahen einander immer häufiger, und ich durfte immer seltener dabei sein. Manchmal besuchte R. uns zu Hause und kochte, aber öfter fand ich, wenn ich von der Schule kam, einen Zettel an der Mikrowelle, auf dem stand: »Bin mit R. im Kino. Komme vor elf zurück.« Manchmal hörte ich sie nachts im Schlafzimmer kichern. Einmal hörte ich sogar die Matratze quietschen, worauf ich mir die Finger in die Ohren steckte, den Kopf unter fünf Kissen begrub und die Nationalhymne vor mich hin sang. Aber Paps war glücklich, und ich war froh, dass er glücklich war. Dann folgte die Bekanntmachung. Eines Nachmittags kam ich von der Schule, und auf dem Couchtisch im Wohnzimmer stand eine Flasche Champagner. R. kam aus der Küche getänzelt und umarmte mich noch stürmischer als sonst. »HALLO, MEIN SCHÄTZCHEN«, gurrte sie. »Hallo, R.«, sagte ich. »Was gibt’s zu feiern?« Ihre Augen wurden groß, und ihre spitzen Wimpern berührten beinahe die Augenbrauen, als sie den Finger an die Lippen legte. »Warte, bis dein Vater kommt«, flüsterte sie. 20