Der Reichtum der Dritten Welt

C. K. Prahalad Der Reichtum der Dritten Welt FinanzBuch Verlag 21 KAPITEL 1 Der Markt am Fuße der Wohlstandspyramide Schalten Sie den Fernseher ...
Author: Benjamin Straub
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C. K. Prahalad

Der Reichtum der Dritten Welt

FinanzBuch Verlag

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KAPITEL 1

Der Markt am Fuße der Wohlstandspyramide Schalten Sie den Fernseher ein, und Sie sehen Spendenaufrufe für die vier Milliarden Ärmsten der Welt, für Menschen, die von weniger als zwei US-Dollar am Tag leben müssen. Der mediale Hilferuf ist so allgegenwärtig und die Not so chronisch, dass die meisten Menschen damit reagieren, die Bilder und auch die dazugehörige Botschaft einfach auszublenden. Selbst diejenigen, die hinhören und aktiv werden, sind sehr beschränkt in dem, was sie erreichen können. Seit mehr als 50 Jahren haben die Weltbank, Geberländer, zahlreiche Hilfsorganisationen, nationale Regierungen und in letzter Zeit auch private Verbände und Organisationen für die gute Sache gekämpft, aber die Armut letztlich nicht besiegt. Die Verabschiedung der Entwicklungsziele für das nächste Jahrtausend (Millennium Development Goals, MDG) durch die Vereinten Nationen unterstreicht diese Tatsachen. Während wir ins 21. Jahrhundert schauen, dann bleibt die Armut – und die Entrechtung, die sie begleitet – eines der größten Probleme der Menschheit. Ziel unseres Buches ist, dieses vertraute Bild aus dem Fernseher zu verändern. Es soll zeigen, dass die typischen Bilder von Armut die entscheidenden Tatsachen verdecken: dass Arme selbst flexible Unternehmer und preisbewusste

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Der Markt am Fuße der Wohlstandspyramide

Konsumenten sind. Was fehlt, ist schlicht und einfach ein besserer Ansatz, um den Mittellosen zu helfen. Ein solcher Ansatz würde auf eine Partnerschaft mit den Armen abzielen, um Innovation zu fördern und dauerhafte Win-Win-Situationen zu erreichen. Eine Lösung, bei der die Armen selbst aktiv werden und gleichzeitig die Firmen, die ihnen Produkte und Dienstleistungen verkaufen, profitabel arbeiten können.

Abbildung 1.1: Die ökonomische Pyramide (Quelle: C. K. Prahalad / Stuart Hart, 2002)

Eine gruppenübergreifende Zusammenarbeit zwischen den Armen, privaten Organisationen, Regierungen und großen Unternehmen kann die größten und am schnellsten wachsenden Märkte überhaupt hervorbringen. Unternehmertum auf breiter Basis und in großem Rahmen ist der Kernpunkt, ja das Herz einer Lösung zur Abschaffung der Armut. Schon längst gibt es Beispiele für den Erfolg dieses Ansatzes, die weit über das Stadium der einfachen Idee hinausgewachsen sind. Große und kleine Unternehmen haben angefangen, erfolgreich Märkte am Fuße der Wohlstandspyramide, am BOP, zu erschließen und damit einen ersten Schritt hin zum Sieg über die Armut zu machen. Die ökonomische Pyramide der Welt (siehe Abbildung 1.1) zeigt, dass mehr als vier Milliarden Menschen den Boden der Wohlstandspyramide bilden. Genau diese Menschen sind das Thema dieses Buchs.

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AM FUSSE DER WOHLSTANDSPYRAMIDE (Bottom of the Pyramid, BOP) Die Verteilung des Wohlstands und die Möglichkeit, Einkommen zu generieren, lassen sich grafisch am anschaulichsten in Form einer Pyramide darstellen. An der Spitze der Pyramide stehen die Reichen, die über zahlreiche Möglichkeiten verfügen, hohe Einkommen zu generieren. Mehr als vier Milliarden Menschen stellen den Sockel dar – Menschen, die mit weniger als zwei US-Dollar am Tag auskommen müssen. Um diese Menschen geht es hier.

Auf den folgenden Seiten werden Sie Unternehmen kennen lernen, die mittels Produktinnovationen und Aufklärungskampagnen Krankheiten bekämpfen, Organisationen, die Behinderten das Laufen beibringen, und solche, die es Bauern ermöglichen, sich über Markt- und Weltmarktpreise zu informieren. Sie werden sehen, dass es Banken gibt, die ihr Geschäftsmodell den Bedürfnissen der Armen anpassen, Energieversorger, die versuchen, den Strombedarf in Armenvierteln zu decken, und Bauunternehmen, die alles tun, um Mittellosen zu einem menschenwürdigen Heim zu verhelfen. Ich werde Sie mit Handelsketten bekannt machen, die sich damit beschäftigen, die Bedürfnisse der Menschen in der Dritten Welt zu verstehen und für sie passende Produkte zu entwickeln. Der Vorteil all dieser Geschäftsmodelle besteht darin, dass sie den Menschen eine Chance bieten, indem sie ihnen Entscheidungsfreiheit geben und ihr Selbstwertgefühl fördern. Unternehmerische Lösungen wie diese stellen eine minimale Belastung der Dritte-Welt-Länder dar, in denen sie initiiert werden. Damit Sie verstehen, wie all dies funktionieren kann, beginne ich mit einigen grundsätzlichen Thesen:  Zum Ersten war es eine der größten Untaten multinationaler Unternehmen, dass sie die Armen als Zielgruppe komplett ignoriert haben. (Und es gab darüber hinaus auch einige Multis, die die Lebensgrundlagen der Armen direkt torpediert haben.) Die Menschen der Dritten Welt können nicht von den positiven Folgen der Globalisierung profitieren, wenn sie keinen Zugriff auf Produkte und Dienstleistungen nach globalen Qualitätsstandards haben. Sie müssen die Gelegenheit haben, von der Vielfalt und Varianz, die die Globalisierung mit sich bringt, zu profitieren. So gesehen, stellen die Armen

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Der Markt am Fuße der Wohlstandspyramide

einen „schlummernden Markt“ für Güter und Dienstleistungen dar. Aktives Engagement von Unternehmen am BOP ist ein entscheidender Faktor, um eine neue, „integrative“ Form des Kapitalismus zu erzeugen, da der Wettbewerb in diesem Markt das Interesse an den Armen als Konsumenten fördern wird. Sie haben dann endlich die Wahl, sie sind nicht länger von bestimmten Produkten abhängig, nur weil es die Einzigen sind, die es in ihrem Dorf zu kaufen gibt. Wenn große Unternehmen diesen Markt mit dem Fokus auf den BOP-Konsumenten erschließen, kann dies umgekehrt Wachstum und Gewinn auf der Unternehmensseite bewirken. Diese Eigenheiten einer Marktwirtschaft, die es in dieser Form am BOP bislang noch nicht gab, können am Fuße der Wohlstandspyramide positive Effekte entfalten. Freier und transparenter Wettbewerb, der nicht nach den monopolistischen Gesetzen der Elendsviertel-Barone abläuft, ermöglicht es dem Mittellosen plötzlich, zum „Kunden“ aufzusteigen, wie im Folgenden anhand einiger Beispiele bewiesen wird.. Die Bekämpfung der Armut wird zum Ziel von Business Developern; Großunternehmen und kleine, lokale BOP-Unternehmer teilen sich diese Aufgabe.  Zum Zweiten bietet der BOP als Markt neue Wachstums- und Innovationschancen. Merke: Alte, verbrauchte Ideen haben am BOP keine Chance.  Zum Dritten müssen die Märkte des BOP integraler Bestandteil und Ziel der Unternehmensaktivitäten werden; es reicht nicht aus, sie ins Reich der Imageverbesserungsmaßnahmen für gesellschaftliche Verantwortung abzuschieben. Sich dem BOP-Markt erfolgreich im Wettbewerb zu stellen bedeutet für ein multinationales Unternehmen, sich genauso einem internen Wandel zu unterziehen, wie auf der Gegenseite eine fundamentale Veränderung in den Ländern der Dritten Welt folgen wird. BOP-Märkte müssen entscheidend für den Erfolg von Unternehmen werden, um firmenintern genügend Managementkompetenz und -kapazitäten binden zu können. Beträchtliche Chancen für alle Beteiligten liegen ungenutzt am Boden der Wohlstandspyramide. Diese Märkte waren allzu lange unsichtbar für die Wirtschaftsgemeinschaft. Nun fragen Sie mich sicher: Wenn das alles so klar auf der Hand liegt, warum ist bis jetzt noch nichts geschehen?

Die Macht der herrschenden Überzeugung

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Die Macht der herrschenden Überzeugung Wir alle sind Gefangene unserer eigenen Sozialisation. Die Brille, durch die wir die Welt sehen, ist gefärbt. Je nachdem, welche Wertvorstellungen wir haben, welche Managementmethoden wir für richtig halten und über welche Erfahrungen wir verfügen, immer ergibt sich ein anderes Bild. Auch jede der Organisationen, die sich um die Bekämpfung der Armut bemühen, ob Weltbank, reiche Geberländer, Hilfsorganisationen oder nationale Regierungen, verfügt über ihre ganz eigene Logik und damit eine jeweils in der Organisation herrschende Überzeugung. Analysieren wir nun zum Beispiel einmal die herrschende Überzeugung einer Gruppe wenn es um das Thema Armutsbekämpfung geht. Nehmen wir Indien, eines der größten Dritte-Welt-Länder mit einem erheblichen Anteil an den Ärmsten der Welt. In Indien gibt es mehr als 400 Millionen Menschen, die als sehr arm einzustufen sind. Die staatliche Politik in den ersten 45 Jahren seit der Unabhängigkeit von Großbritannien im Jahre 1946 war bestimmt von einem Grundmisstrauen gegenüber der gesamten Privatwirtschaft. Die Vergangenheit des Landes mit der East India Company und das koloniale Erbe waren der Grund für diese Einstellung. Die Erfahrungen mit der einheimischen Wirtschaft waren auch nicht besonders positiv, was dazu führte, die Privatwirtschaft grundsätzlich für ausbeuterisch zu halten, wenn es um den Umgang mit den Armen geht. Dieser Generalverdacht war gekoppelt mit einem enormen Vertrauensvorschuss gegenüber dem Staat. Dieser werde all das tun, was „richtig und moralisch gut“ sei. Die indische Regierung beispielsweise initiierte im öffentlichen Sektor eine Reihe großer Industrieprojekte, bei denen das Eigentum an den Unternehmen in staatlicher Hand verblieb. Dies geschah in einer Reihe von Branchen, von der Stahl- über die Lebensmittelerzeugung bis zum globalen Handel mit wichtigen Rohstoffen. Das staatliche Misstrauen führte dazu, dass Größe und Expansion des Privatsektors kontrolliert wurden. Einige Sektoren der Wirtschaft wurden für kleine Unternehmen reserviert, zum Beispiel die Textilindustrie, in der kleinen, handarbeitenden Betrieben der Vorzug gegeben wurde. Niemand in der Politik trat dafür ein, ein marktbestimmtes System einzuführen, in dem große und kleine Unternehmen in einem symbiotischen Verhältnis zusammenwirken könnten. Man dachte klar in zwei Lagern: Einerseits gab es den verstaatlichten Teil der Wirtschaft – zumeist große Unternehmen mit substantieller Kapitalaus-