ARTHUR I. MILLER

Der Krieg der Astronomen Wie die Schwarzen Löcher das Licht der Welt erblickten

Aus dem Englischen von Hainer Kober

Deutsche Verlags-Anstalt München

INHALT

Prolog 11 TEIL I Kapitel Kapitel Kapitel Kapitel Kapitel Kapitel Kapitel Kapitel

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Verhängnisvoller Zusammenstoß 23 Reise zwischen zwei Welten 39 Rivalisierende Giganten 65 Stellare Possen 98 Schmelztiegel der Natur 120 Eddingtons Einwände 163 Amerikanisches Abenteuer 186 Das Ende einer Ära 211

TEIL II Kapitel 9. Wie Sterne leuchten und sterben 229 Kapitel 10. Supernovae im Himmel und auf Erden 263 Kapitel 11. Wie das Undenkbare denkbar wurde 296 TEIL III Kapitel 12. Der Schlund der Dunkelheit 317 Kapitel 13. »Erschauern vor dem Schönen« 339 Kapitel 14. Im Schwarzen Loch 359 Dank 383 ANHANG Anhang A: Die unendliche Geschichte von Sirius B 387 Anhang B: Supernovae auf den neuesten Stand gebracht 390 Anmerkungen 396 Kurzbiografien 439 Glossar 447 Literaturverzeichnis 457 Register 471

PROLOG – und hatten sich tatsächlich zwei gefunden, Sind Krieg und Tod und Krankheit Sturm gelaufen, So dass die Liebe wie ein Ton verklang, Kurz wie ein Traum, ungreifbar wie ein Schatten, Schnell wie ein Blitz in kohlpechschwarzer Nacht, In dessen Schlag Himmel und Erde glüht, Und eh man auch nur »schau mal« sagen kann, Hat ihn der Schlund der Dunkelheit verschlungen. So schnell umnachtet sich, was Helle scheint. William Shakespeare, Ein Sommernachtstraum (1. Akt, 1. Szene)

Seit 1967 der griffige Ausdruck »Schwarzes Loch« geprägt wurde, haben diese geheimnisvollen Abgründe im Universum einen geradezu mystischen Reiz entwickelt. Der Anziehungskraft einer ungeheuren Leere, die nicht nur Materie, sondern sogar Licht gefangen hält, scheint sich auch die menschliche Anziehungskraft nicht entziehen zu können. Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Astronaut, der sich, betört von der Großartigkeit eines Schwarzen Lochs, zu nahe heranwagt. Mitgerissen von dem ungeheuren Gravitationsfeld und den tornadoartigen Verwirbelungen in seiner Umgebung, rasen Sie, die Füße voran, über den Horizont. Was Sie während des Sturzes erblicken, ist wahrhaft atemberaubend. Kurz bevor Sie über den Rand gleiten, scheinen alle Sterne und Galaxien des Universums zu einem hellen Fleck zu schrumpfen. Die extreme Gravitation des Schwarzen Lochs konzentriert das Licht ferner Objekte wie beim Tunnelblick in einem immer schmaleren Kegel. Fasziniert bestaunen Sie das Feuerwerk der Atome, die von der ungeheuren Schwerkraft des Schwarzen Lochs eingefangen werden. Sie tanzen in einem kosmischen Verkehrsstau, stoßen unaufhörlich zusammen, werden heißer und heißer, bis sie so hell wie Millionen Sonnen aufleuchten, dem Rand zu

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nahe kommen und mit Ihnen ins Nichts stürzen. Dann spüren Sie die unwiderstehliche Anziehungskraft des zusammengestürzten Sterns, der, zugleich unendlich klein und unendlich dicht, tief im Inneren des Schwarzen Lochs lauert. Während der kollabierte Stern Sie tiefer und tiefer einsaugt, wird die Gravitationsanziehung immer stärker. Sie strecken sich wie ein Stück Toffee, werden immer länger und dünner, bis es sie auseinander reißt. Die intensive Gravitationskraft in der Umgebung des Schwarzen Lochs bewirkt, dass das Licht länger und länger braucht, um ferne Beobachter zu erreichen. Diese sehen Sie am Rand des Schwarzen Lochs schweben, auf ewig in Raum und Zeit erstarrt. Ein Schwarzes Loch ist ein Abgrund im Raum, der Endzustand eines kollabierten Sterns. Jahrzehntelang wehrten sich die Forscher gegen die Idee und betrachteten das Phänomen als spekulatives Monstrum, das nicht wirklich existieren könne, und als eine überaus hässliche Lösung für eine der schönsten je entwickelten Theorien, für Albert Einsteins allgemeine Relativitätstheorie. Doch heute wissen die Astronomen, dass das Universum mit diesen monströsen Objekten übersät ist und dass sich auch im Zentrum unserer Galaxis ein riesiges Schwarzes Loch befindet. Wir können Schwarze Löcher sogar direkt beobachten, indem wir die Röntgenstrahlen nachweisen, die von den Teilchen im Banne der Gravitation emittiert werden, während sie sich spiralförmig auf den Ereignishorizont zubewegen, bevor sie hineinstürzen. Nachdem wird heute den Schwarzen Löcher den ihnen gebührenden Platz in der Struktur des Universums gewährt haben, verführen sie uns zu schwindelerregenden und gelegentlich sogar erschreckenden Spekulationen: Ob sie womöglich BabyUniversen gebären, die unserem Universum gleichen, ob sie Abkürzungen in weit entfernte Teile des Universums oder sogar Portale für Zeitreisen sind, und ob wir in Laborexperimenten hier unten auf der Erde Schwarze Löcher herstellen können. Viele Forscher gehen inzwischen davon aus, dass Schwarze Löcher uns den Schlüssel zu der Frage liefern, wie unser Uni-

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versum sich entwickelt hat und wie sich die Natur in ihren extremsten Bereichen verhält. Am äußersten Rand von Zeit und Raum sind Schwarze Löcher die Energiequellen, die die hellsten Objekte im Universum speisen, die Quasare, die heller als Billionen Sonnen sind. Die Schwarzen Löcher haben unser Wissen vom Kosmos außerordentlich erweitert. Letztlich könnten Schwarze Löcher die Mikrostruktur der Materie und das endgültige Schicksal des Universums offenbaren. Denn unter dem enormen Druck, der in diesen Gravitationsschlünden herrscht, werden die Atome in ihre fundamentalen Bausteine zerlegt und möglicherweise ganz vernichtet, verlieren die physikalischen Gesetze, wie wir sie kennen, vielleicht jede Gültigkeit und verschränken sich die beiden großen physikalischen Theorien des 20. Jahrhunderts – die allgemeine Relativitätstheorie (die die Welt der sehr großen Dinge beschreibt) und die Quantenmechanik (die die Welt der sehr kleinen Dingen beschreibt). Dieses Buch erzählt die spannende Geschichte von der Entdeckung der Schwarzen Löcher, schildert das hartnäckige Bemühen der Menschheit, Geburt, Leben und Tod der Sterne zu verstehen, und zeigt, wie diese Erkenntnisse unser wissenschaftliches und kulturelles Weltbild verändert haben. Zugleich ist es die Geschichte eines Mannes, der mit dem wissenschaftlichen Establishment um die Anerkennung seiner Idee gerungen hat – eine Episode, die uns Einblick in den Alltag wissenschaftlicher Forschung gibt und uns vor Augen führt, wie sie betrieben wird und wie sie manchmal in die Irre geht. Seit unvordenklichen Zeiten von den Sternen fasziniert, sind wir zu der Überzeugung gelangt, dass ihr Schicksal letztlich das unsere ist. Ungewöhnlich an den frühen Forschungsarbeiten über die Lebensgeschichte von Sternen ist der Umstand, dass sie fast ausschließlich auf theoretischen Spekulationen beruhten, auf den Phantasien von Forschern, die den Mut hatten, weitreichende Vermutungen über einige der größten uns bekannten Objekte anzustellen. Da die Experimentaldaten über die Sternentwicklung ausgesprochen kärglich waren, sahen sich die For-

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scher gezwungen, Gott zu spielen. Die ungeheuerlichste Annahme, die sie in diesem Zusammenhang machten, war die Überzeugung, dass die Wissenschaft, die die Menschen – wir, die wir ein Zufallsprodukt der Sterne sind und nur einen winzigen Bruchteil des Sternenalters für uns in Anspruch nehmen können – erfunden haben, dazu dienen könnte, die Entwicklung von Sternen zu erklären, die viele tausend Billionen Kilometer entfernt sind: von ihrer Geburt vor einigen Milliarden Jahren bis zu ihrem fernen Tod nach vielen weiteren Jahrmilliarden. Was für eine Kühnheit! Die Geschichte dieser astrophysikalischen Pioniere ist ein geistiges Abenteuer, das uns in die Tiefen der theoretischen Physik führen wird, bis hin zur Konstruktion von Wasserstoffbomben und der Auswirkung des Wettrüstens auf die Astrophysik. Wir werden Zeugen großer Konflikte: jener zwischen den Begriffen der klassischen und der modernen Physik, die sich in den höchst unterschiedlichen Auffassungen der Physiker und Astrophysiker widerspiegeln, wie jener zwischen den Kulturen des britischen Empires, als sich in den dreißiger Jahren dessen Niedergang abzeichnete. So wurde die Vorstellung der Schwarzen Löcher erst mit einer 30-jährigen Verzögerung akzeptiert, zu einem Zeitpunkt, als fast jeder die Rolle des Mannes vergessen hatte, der als erster den eindeutigen Beweis für die Existenz dieser Objekte geliefert hatte. Subrahmanyan Chandrasekhar hatte seinen unsterblichen Gedankenblitz als unbekannter Neunzehnjähriger an einem heißen Sommertag des Jahres 1930. In einem Liegestuhl mit Blick auf das Arabische Meer führte Chandra (wie er allgemein genannt wurde) einige Berechnungen durch, die auf ein beunruhigendes Schicksal für eine bestimmte Kategorie kleiner dichter Sterne, die sogenannten Weißen Zwerge, schließen ließen. Damals ging man allgemein davon aus, sie seien der Endzustand toter Sterne. Diejenigen, die man entdeckt hatte, besaßen ungefähr die Masse der Sonne, waren aber nicht größer als die Erde. Chandras Berechnungen zeigten, dass die Masse dieser Weißen Zwerge eine Obergrenze besitzt. Doch was geschieht mit einem Stern, der am Ende seines Lebens, nachdem er all seinen

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Brennstoff verbraucht hat, mehr Masse besitzt? Außerstande, sein Leben als toter Gesteinsbrocken zu beenden, beginnt er möglicherweise, so Chandra, einen endlosen Kollaps, bis er unter dem Einfluss der eigenen Gravitation zu einer Singularität zusammengestaucht ist – einem winzigen Punkt von unendlicher Dichte und null Volumen, viele Billionen Mal kleiner als der Punkt am Ende dieses Satzes und viele Billionen Mal dichter als die Erde. Nur ein einziger Mensch verstand Chandras Entdeckung in ihrer ganzen Tragweite: Sir Arthur Stanley Eddington, der bedeutendste Astrophysiker jener Zeit. Eddington hatte selbst schon an die Möglichkeit gedacht, dass ein toter Stern einen solchen unendlichen Gravitationskollaps erleiden könnte, daher hätte er eigentlich über Chandras mathematischen Beweis hocherfreut sein müssen. Stattdessen nutzte der die Sitzung der Royal Astronomical Society am 11. Januar 1935 ohne Vorwarnung dazu, Chandras Ergebnis zynisch und gnadenlos zu verreißen. Dieses Ereignis überschattete das Leben beider Männer und behinderte den astrophysikalischen Fortschritt auf Jahrzehnte hinaus. Als Halbwüchsiger las ich Eddington und war von seinen Schriften so beeindruckt, dass ich beschloss, Naturwissenschaftler zu werden. Obwohl ich nicht viel verstand von dem, was er erörterte, klang es ungeheuer spannend. Allein der Horizont seines Gegenstands – von den Atomen bis zum Leben und Tod der Sterne – war atemberaubend und das Ganze noch dazu in einer äußerst lebendigen und anschaulichen Sprache beschrieben. Chandras Schriften waren auf eine ganz andere Weise anregend. Sie vermittelten einen Eindruck davon, wie ein hochbegabter Wissenschaftler den Sternen mithilfe der Mathematik ihr Geheimnis entreißen konnte. Doch je mehr ich mich mit Chandras Geschichte beschäftigte, desto stärker faszinierte sie mich. Trotz aller Erfolge hatte sein Leben einen tragischen Zug. In Indien, wo er aufwuchs, war er ein Wunderkind, das viele für ein Genie hielten. Während seiner Jugend vertiefte er sich in schwierige mathematische und physikalische Probleme. Dann erhielt er ein Stipendium für das

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Trinity College in Cambridge, wo einige der namhaftesten Physiker dieser Zeit Hof hielten. Chandra befand sich gerade auf dem Weg nach England, als er seine Entdeckung über das Schicksal weißer Zwergsterne machte. Doch zu seinem Entsetzen weigerte sich Eddington, seine Idee auch nur ernsthaft zu prüfen, gab ihn öffentlich der Lächerlichkeit preis und verfolgte ihn jahrelang mit seinen Angriffen. Von diesem Schock hat sich Chandras Selbstvertrauen nie erholt. Trotz seiner langen und unglaublich fruchtbaren wissenschaftlichen Tätigkeit konnte nichts dieses Erlebnis in Vergessenheit bringen. Ich frage mich, welche Entdeckungen er wohl noch gemacht hätte, wären seine Anfänge nicht von dieser Enttäuschung überschattet gewesen. Alle Zeugnisse schildern ihn als zurückhaltenden, sehr verschlossenen und ernsten Menschen. Wer verbarg sich wirklich hinter dieser strengen Fassade? Und was war mit Eddington? Was bewog den namhaftesten Astrophysiker der Welt, diesem jungen Inder so übel mitzuspielen? Eddingtons scharfe Zunge war berüchtigt, und er griff auch andere Wissenschaftler grob und zynisch an. Doch bei Chandra erhielt Eddingtons Kritik aus Gründen, die zunächst »rätselhaft« erschienen (wie es ein Kollege von Chandra ausdrückte) eine bösartigere Färbung. Als ich Chandra kennenlernte, auf einer Konferenz über Kreativität an der Chicago Academy of Sciences, war er 83. Chandra sollte das Hauptreferat halten. In dem riesigen Vortragssaal gab es nur noch Stehplätze. Ein Raunen ging durch die Menge, als ein Inder von vornehmer Erscheinung durch die massive Doppeltür trat. Da war er, der Nobelpreisträger, der zu den bedeutendsten Wissenschaftler seiner Zeit gehörte und gekommen war, um über die Frage wissenschaftlicher Kreativität zu sprechen. Trotz seiner eher zierlichen Gestalt besaß er eine außerordentliche Präsenz. Er war elegant gekleidet, knapp ein Meter siebzig groß und hielt sich sehr würdevoll, obwohl die Schultern sich schon beugten. Sorgfältig war das spärliche weiße Haar über die gewölbte Stirn seines immer noch attraktiven dunklen Gesichts gekämmt, die Augen waren durchdrin-

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gend, die vollen Lippen in einem Ausdruck eiserner Entschlossenheit zusammengepresst. Beim Sprechen blickte er von Zeit zu Zeit von seinen Notizen auf, um mit offenkundigem Vergnügen in den Erinnerungen an die großen Wissenschaftler zu schwelgen, die er einst gekannt hatte. Die Zuhörer waren gebannt. Hinterher hatte ich Gelegenheit, ein paar Worte mit ihm zu wechseln und ihm die Hand zu schütteln. Es war ein unvergesslicher Augenblick. Ich stand vor dem Mann, der unser Verständnis des Himmels verändert hatte und der mein Leben lang ein großes Vorbild für mich gewesen war. Er berichtete von dem Buch, das er über seinen wissenschaftlichen Helden Isaac Newton schrieb, und von den neuen Entdeckungen, die er bei seinen Forschungen über Schwarze Löcher gemacht hatte. Gedankenlos erwähnte ich die Eddington-Episode – woraufhin sich sein Gesicht umwölkte. Höflich schüttelte er mir die Hand, und wir vereinbarten, ein weiteres Gespräch zu führen. Zwar erzählte man später von der Eddington-Episode, Chandra habe die Geschichte rasch vergessen, und die beiden Männer seien gute Freunde geworden. Doch selbst ein flüchtiger Blick auf Eddingtons wissenschaftliche Artikel und den Briefwechsel zwischen den beiden zeigt ein ganz anderes Bild. Immer wieder äußert Chandra tiefen Ärger, Frustration und Groll, während Eddington stur an seiner Auffassung des Universums festhält und Chandras Entdeckung als »stellare Possenreißerei« verhöhnt.1 Sein Leben lang versäumte Chandra keine Gelegenheit, von den Ereignissen jenes verhängnisvollen Tages in der Royal Astronomical Society zu berichten. Stets betonte er, dass er Recht und Eddington Unrecht gehabt habe, obwohl Eddington es nie zugab. Zwar sprach Chandra immer nur in freundlichsten Worten von Eddington, doch in Interviews machte er kein Hehl daraus, wie tief ihn die Ereignisse verletzt hatten. Nach der denkwürdigen Sitzung im Jahr 1993 ging mir Chandras komplizierte, tragische Geschichte nicht mehr aus dem Kopf. Vor einigen Jahren beschloss ich, mich intensiver mit ihr zu beschäftigen. Leider war Chandra zu diesem Zeit-

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punkt schon verstorben. Zum Glück lernte ich seine Frau Lalitha kennen, die ihm mehr als fünfzig Jahre lang eine treue Gefährtin gewesen war. Außerdem befragte ich viele seiner Kollegen, von denen einige unter ihm studiert hatten. In Bangalore traf ich seinen Cousin, den namhaften Astrophysiker V. Radhadkrishnan, den Sohn von Chandras Onkel C. V. Raman, Indiens erstem Nobelpreisträger. Aus ihren Erinnerungen und aus den Briefen und Dokumenten, die Chandra und später Lalitha in der Joseph Regenstein Library der University of Chicago hinterlegten, nahm ganz allmählich der wirkliche Chandra, der Mensch hinter der öffentlichen Person, Gestalt an. Ein wichtiger Schritt, um Chandra kennenzulernen, war der Besuch Südindiens, wo ich die tropische Hitze erlebte und die staubige Landschaft, in der er lebte, bis er 19 Jahre alt war, wo er seine Schulzeit am Presidency College in Madras (dem heutigen Chennai) verbrachte. Ich bin über den brennend heißen Sand von Marina Beach gelaufen. Zu Chandras Zeiten war das ein eleganter Badeort. Abends fuhr er mit seinen Brüdern dort auf dem Fahrrad entlang, um der drückenden Hitze zu entkommen und den funkelnden Sternenhimmel zu bestaunen. Manchmal suchte er den langen, stillen Strand auch allein auf, um sich in den Sand zu werfen und zu seinem Gott beten, er möge ihn einen zweiten Einstein werden lassen. Den Anfang meines Buchs bildet Chandras traumatische Konfrontation mit Eddington am 11. Januar 1935. Von dort gehen wir zurück zu Chandras Kindheit und Jugend in Indien – dem einzigen Ort, wo er sich jemals zu Hause fühlte – und der bahnbrechenden Entdeckung, die er auf dem Weg nach England machte. Dort tauchte er in die elektrisierte Atmosphäre ein, die für die europäische Physik der dreißiger Jahre so kennzeichnend war, als man am Dozententisch des Trinity College nicht über Kollegen und Karrierechancen klatschte, sondern heiße wissenschaftliche Diskussionen führte. In dieser Zeit schuf Eddington zusammen mit seinen Kollegen und Konkurrenten James Jeans und Edward Arthur Milne die Grundlagen der Astrophysik, und zwar nicht durch die Untersuchung wirk-

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licher Sterne, sondern erstaunlicherweise durch extrem komplizierte mathematische Berechnungen, aus denen sich theoretische Modelle der Beschaffenheit von Sternen ergaben. An Niels Bohrs Institut in Kopenhagen traf Chandra Kollegen, die mit noch mehr Eifer und Leidenschaft debattierten. Hier wurden die Ideen der Heisenbergschen Unschärferelation, der Quantenmechanik und der Kernphysik entwickelt. Keine Äußerung des großen Bohr fürchteten die versammelten Wissenschaftler mehr als die Feststellung »sehr interessant«. Denn »sehr interessant« hieß »nicht interessant genug«. Besessen von dem Wunsch, die innersten Prozesse des Universums im Großen und im Kleinen zu verstehen, gab es für die Forscher kein andereres Thema als die zentralen Probleme unserer physikalischen Wirklichkeit. Während viele dieser Probleme seither Gegenstand der Forschung sind, geriet Chandras Arbeit drei Jahrzehnte lang in Vergessenheit. Man schenkte ihr erst wieder Aufmerksamkeit, als eine vollkommen veränderte weltpolitische Situation – der Wettlauf um die Entwicklung der Wasserstoffbombe – ein erneutes Interesse an der möglichen Existenz Schwarzer Löcher auslöste. Die Explosionsenergie, nach der die Forscher suchten, erwies sich als eben die Energie, die nicht nur diese massereichen Löcher im Raum, sondern auch das Universum selbst hervorgebracht hatte. Chandra lebte mittlerweile in den Vereinigten Staaten, und seine Entdeckung kehrte an den Platz zurück, an den sie schon immer gehört hätte, an die vorderste Front der wissenschaftlichen Forschung. Gegen Ende seines Lebens erhielt er für seine Leistung einen Nobelpreis. Er hatte ihn teuer genug bezahlt. Dieses Buch ist eher die Biografie einer Idee als die eines Menschen. Indes, die wissenschaftliche Forschung ist eine menschliche Tätigkeit, getrieben von Hoffnungen, Träumen und Wünschen, vor allem an der Spitze, wo für die Forscher auch besonders viel auf dem Spiel steht. Diese mögen glänzende Wissenschaftler sein, einige sogar Genies. Doch als Menschen sind sie fehlbar. Das galt auch für Chandra und Eddington.