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verbreitet mit Unterstützung der

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Nicolas Forster Matrikelnummer: 9809740 Studienkennzahl (en): 312/295 (für 312) SS 2002

o. Univ. Prof. Dr. Horst Gründer Seminar für neuere Geschichte LV-Nummer: 700513 LV- Titel: Mission und Kolonialismus

DER „JESUITENSTAAT“ IN PARAGUAY

Abb. 1 oben: Überreste der Jesuitenreduktion San Ignacio Mini

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INHALTSVERZEICHNIS I. Vorwort und Einleitung ............................................................................................................................Seite 3 II. Auf Erkundung – Das Milieu ............................................................................................................................Seite 4 II. I. Erste kolonisatorische Tätigkeiten auf dem Gebiet des heutigen Paraguay ..................................................................................................................Seite 4 II. II. Der Jesuitenorden ..................................................................................................................Seite 5 II. III. Der Jesuitenorden in Paraguay ..................................................................................................................Seite 6 II. IV. Christliche Missionierung und (Wirtschafts-) Kolonialismus ..................................................................................................................Seite 6 III. Das „Zusammenspiel“ der Jesuiten mit den Indianern und die Anlegung der Reduktionen ............................................................................................................................Seite 7 III. I. Geografische Lage des „Jesuitenstaates“ ..................................................................................................................Seite 8 III. II. Der „Jesuitenstaat“ als Wirtschaftsfaktor ..................................................................................................................Seite 9 III. III. Wirtschaftlich- und gesellschaftlicher Aufbau der Reduktionen ..................................................................................................................Seite 9 III. IV. Arbeitsteilung und Naturalwirtschaft ..................................................................................................................Seite 10 III. V. Alltagsleben in den Reduktionen ..................................................................................................................Seite 11 III. VI. Die Bedrohung durch die „Bandeirantes“ ..................................................................................................................Seite 13 IV. Die Auflösung der Jesuitischen Reduktionen ............................................................................................................................Seite 13 V. Quellen- und Literaturnachweis ............................................................................................................................Seite 16 V. I. Bibliografie ..................................................................................................................Seite 16 V. II. Elektronische Quellen ..................................................................................................................Seite 16 V. III. Bildnachweis ..................................................................................................................Seite 16

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I. VORWORT UND EINLEITUNG Wenn man sich als Brasilien-Reisender die Iguacu-Wasserfälle im Dreiländereck Brasilien-Argentinien-Paraguay ansieht, fährt man meistens noch für ein paar Stunden von Brasilien oder Argentinien nach Paraguay in die Grenzstadt (Ciudad del Este1), die allerdings außer billiger nachgeahmter chinesischer Ware kulturell nichts zu bieten hat. Etwas weiter im Landesinneren erstaunt es den Touristen dann aber meist sehr, Reste jesuitischer Ansiedlungen zu sehen, hörte man von der örtlichen Reiseleitung doch meistens nur, daß sich in Paraguay große mennonitische Ansiedlungen befinden. Von 1608 bis 1767 wirkten jesuitische Padres in Paraguay, um den Indianern vornehmlich das Christentum näherzubringen. Dafür schufen sie eigene weitgehend autonome „Stadtstaaten“, Reduktionen genannt, in denen sich die Indianer einerseits vor den weltlichen Begierden „der ins Land gekommenen Zivilisation“ zurückziehen konnten, andererseits, um die Guaraní-Indianer seßhaft zu machen und sie unter ihrer Anleitung zu eigenverantwortlichen Gemeinschaften zusammenzuschließen.

So weit ich aus der Quellenlage ersehen konnte, stellt die vorliegende Thematik ein gewisses Desiderat der neueren Forschung dar, denn erst nach dem 2. Weltkrieg beschäftigten sich Wissenschafter erneut mit dem missionarischen Werk der Jesuiten in Paraguay im 17. und 18. Jahrhundert. Auslöser dafür war wohl das Drama von Fritz Hochwälder mit dem Namen „Das heilige Experiment“.

Ich will nun im gesteckten Rahmen meiner Arbeit einen bescheidenen Blick auf die bis dahin einzigartige Form der Missionierung in Paraguay auftun. Gegliedert habe ich mein Vorhaben in die Großbereiche: Die kolonisatorische und missionarische Anfangstätigkeit, das Wirken und die Rolle der Jesuiten, und schlußendlich die Auflösung der Reduktionen Selbstverständlich ist mir bewußt, daß ich nur einen kleinen Teil bearbeiten konnte, die vollständige Erarbeitung dieser Thematik würde aber den Rahmen einer solchen Arbeit bei weitem sprengen. Bedanken möchte ich mich an dieser Stelle bei Hr. Prof. Dr. Gründer, der dieses meiner Meinung nach außergewöhnlich interessante Thema im Rahmen des Seminares „Mission und Kolonialismus“ im Sommersemester 2002 vorschlug. Nicolas Forster 1

Vormals Ciudad Presidente Stroessner 3

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II. AUF ERKUNDUNG – DAS MILIEU Staat und Kirche, christliche Mission und europäischer Kolonialismus, waren [...] im iberischen Expansionismus aufs engste miteinander verbunden. Konquistadoren und Missionare betraten sozusagen Hand in Hand die neue Welt.2 Die Spanier entdeckten 1511/16 die Mündung des Rio de la Plata. Darauffolgend setzte in den kommenden Jahrzehnten ein gewaltiger „Goldrausch“ auf der Suche nach einem geheimnisvollen „Goldland“ im Inneren ein, welches den Gerüchten zufolge von einem „Weißen König“ regiert werde. 1537 wurde am Paraguay-Fluß die heutige Hauptstadt Asunción gegründet. Dort trafen die Abenteurer auf zwei Indiostämme, die Gran-Chaco-Indios und die Guaraní-Stämme. Während die Gran-Chaco-Stämme kriegerische Jäger und Sammler waren, die während der gesamten spanischen Kolonialzeit als fast unbesiegbar und nicht assimilierbar galten, erwiesen sich im Gegansatz dazu die Guaraní als durchaus kontaktfreudig und auch weiterentwickelt. Diese betrieben bereits Ackerbau in Wanderwirtschaft. Trotz ihres Namens, der übersetzt „Krieger" bedeutet, waren die Guaraní im Vergleich mit den wilden Stämmen des Chaco ein friedliches Volk. Sie lebten in Familiengruppen unter der sehr lockeren Autorität von Kaziken oder Häuptlingen. Der eigentliche Einfluß lag jedoch nicht bei den Kaziken, sondern bei den Schamanen oder Medizinmännern. Die Kolonialbehörden förderten die Assimilierung der Guanraní mit den Spaniern in den ersten Jahren des Zusammentreffens. Als sich die Spanier am Paraguay-Fluß endgültig festsetzen wollten, mußten sie zunächst auch mit den Guaraní kämpfen, die sie bald besiegten. Ab diesem Zeitpunkt waren diese Verbündete der Spanier. II. I. Erste kolonisatorische Tätigkeiten auf dem Gebiet des heutigen Paraguay Im Laufe der Jahre zog die neue spanische Kolonie in Südamerika immer mehr Abenteurer, Kolonisten und Beamte an, die allesamt in der neuen Heimat ihr Glück versuchen wollten.3 Die neu entstandene Siedlung Asunción schien als Zwischenstation zu dem begehrten Goldland im Westen des Landes am geeignetsten zu sein.

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Horst Gründer, Welteroberung und Christentum. Ein Handbuch zur Geschichte der Neuzeit (Gütersloh 1992) S. 112 3 Insbesondere seit Buenos Aires wegen der Angriffe der Indianer zunächst aufgegeben worden war 4

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Seit diesem Zeitpunkt bemühten sich die Kolonialherren um eine landwirtschaftlichen Erschließung der Gegend um die heutige Hauptstadt Paraguays. In Folge der Neuerschließung dieses Landstriches stellte sich jedoch sobald das Problem der zu geringen Arbeitskräfte. Dieses wurde zunächst über den sogenannten „Freundschaftsdienst" gelöst, der auf dem Bündnis mit den Guaraní beruhte. Die Spanier tauschten von den Kaziken Frauen ein, traten auf diese Weise mit ihnen in ein Verwandtschaftsverhältnis ein und erhielten gleichzeitig die für die Feldarbeit nötigen Kräfte, die bei den Guaraní Sache der Frauen war. Diese Praxis erwies sich jedoch bald als ungenügend, nicht zuletzt deshalb, weil die Indios erkannten, daß sie die Ausgebeuteten waren. Bis 1555 wurden 100.000 Indios unter 320 spanische Grundbesitzer verteilt. Vor allem aus den oben genannten Gründen kam es bereits 1545 zum ersten Aufstand. 1555 setzten die Kolonisten durch, daß das System der „Encomienda“, eine Art Hörigkeitsverhältnis, eingeführt wurde, damit sie ihre Güter nach Art spanischer Adeliger verwalten konnten. II. II. Der Jesuitenorden Der Jesuitenorden, auch „Gesellschaft Jesu", lateinisch „Societas Jesu" genannt, wurde 1534 von einer Gruppe um Ignatius de Loyola, einem Spanier auf dem Montmatre als katholischer Männerorden in Paris gegründet. Wichtigste Weltanschauungspunkte waren das Gelübde der Armut und der Keuschheit. Ziel war es von Anfang an eine Pilgerreise nach Palästina durchzuführen, um die Muslime zu missionieren, was jedoch aufgrund des Ausbruchs des Krieges mit den Ottomanen als undurchführbar erwies. Von Anfang an strebten sie danach, dem Papst direkt untertan zu sein. Schon 1540 wurde diese Gemeinschaft von Papst Paul III. als Orden anerkannt und die Erlaubnis erteilt, Missionsreisen in seinem Auftrag übernehmen. Das Leitmotiv des Ordens lautet: „Ad majorem Dei gloriam", „zum höheren Ruhme Gottes". Sein Anliegen ist, durch Predigt den Glauben zu verbreiten und alle Erfordernisse der Kirche zu erfüllen. Der Gehorsam spielt eine wichtige Rolle, er wird nur eingeschränkt durch das persönliche Gewissen. Der Orden entwickelte sich rasch, seine Mitglieder übernahmen führende Positionen in der Gegenreformation. Sie gründeten Schulen und Kollegien in ganz Europa, wo sie 150 Jahre lang im Unterrichtswesen führend waren. Im Jahre 1640 besaß der Orden europaweit über 500 Kollegien, ein Jahrhundert später war ihre Zahl auf 650 angestiegen. Daneben unterstanden dem Orden 24 Universitäten und 200 Seminare und Ausbildungshäuser für Jesuiten. 5

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Die Ausbildung hatte in der Zeit der Gegenreformation zum Ziel, den Katholizismus gegen die Ausbreitung des Protestantismus zu stärken. In der Laienausbildung legten die Jesuiten hauptsächlich Wert auf die Unterweisung des Adels und der Reichen als den führenden Köpfen eines Landes. Die strenge und solide Ausbildung macht den Jesuitenorden zu einem sehr effektiven Verband. Daher stand der Orden immer auch im Mittelpunkt antikirchlicher Polemik und innerkirchlich-theologischer Auseinandersetzungen. Seine Ergebenheit gegenüber dem Papst brachte ihm jedoch auch die Gegnerschaft nationalistischer Staatsmänner und Herrscher ein. Auf der anderen Seite erregte das eifrige Bestreben nach Kirchenreformen den Unmut der Kleriker in der katholischen Kirche.4 Im Bereich der Mission erweiterte sich der Orden durch Franz Xaver auf die Niederlassungen in Indien, Japan, China und an die Küste Afrikas. II. III. Der Jesuitenorden in Paraguay Seit 1566 kamen die Jesuitenmissionare auch auf den amerikanischen Kontinent, wobei sie hier vorerst ihr Hauptaugenmerk auf die nördliche Hälfte des Doppelkontinents legten. Die ersten Jesuiten kamen 1588 von Brasilien aus nach Paraguay. 1604 wurde eine eigene Ordensprovinz „Paracuaria" (Paraguay) errichtet, die mit spanischen Jesuiten besetzt wurde. 1608 waren es 13 und in den zwei folgenden Jahren kamen 24 weitere hinzu, so daß ein Missionswerk in größerem Stil begonnen werden konnte. II. IV. Christliche Missionierung und (Wirtschafts-) Kolonialismus Vornehmlichste Aufgabe der Jesuitenpadres5 in Paraguay war, die Indianer zu missionieren. Ein weiterer Aufgabenbestandteil bestand in der Tätigkeit des unterrichtes für die Guanraní-Stämme, die zum Beispiel nur die Zahlen von 1 bis 5 und nur etwa 400 Worte kannten. Dabei konnte sich der Orden in Europa für diese Aufgabe kaum der Nachfrage erwehren, war diese Arbeit doch sehr prestigeträchtig. Wirtschaftlich gesehen kannten die indianer kein geordnetes Gemeinwesen, ihre Stämme waren untereinander oft zerstritten, das Bewirtschaften von Land, Ackerbau, Viehzucht und der Bau von Häusern, Wegen oder Mauern waren ihnen völlig unbekannt. Erschwerend kam hinzu, daß die ersten spanischen Kolonisten die Freundlichkeit der Einheimischen hin äußerst ausnutzten, was zur Folge hatte, daß sich ganze Gruppen 4 5

Joachim Bieler in: (o. O., o. D.) An der Missionierung waren neben den Jesuiten vor allem auch die Franziskaner beteiligt 6

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und Sippen in den Urwald zurückzogen und von dort aus die weißen Eindringlinge zu bekämpfen begannen. Auch stieg in den ersten 50 Jahren nach der Gründung der Stadt Asunción die Zahl der europäischen Siedler so rasch an, daß es an Arbeitskräften mangelte und die Guaraní immer häufiger als unentgeltliche Arbeitskräfte zum Bewirtschaften der Felder ausgebeutet wurden. Das Guaraní-Gebiet zu missionieren, zeigte sich schon bald als eine lebensgefährliche Aufgabe. Franziskaner- und Jesuitenmönche wurden in großer Menge umgebracht. Allein 35 jesuitische Missionare starben in diesen harten Zeiten durch die aufgebrachten Guaranís.

III. DAS „ZUSAMMENSPIEL“ DER JESUITEN MIT DEN INDIANERN UND DIE ANLEGUNG DER REDUKTIONEN 1603 fand in Asunción eine für die weitere Missionierung richtungsweisende Synode statt, die sich sowohl gegen die Ausbeutung der Indios wandte als auch erkennen ließ, daß sie in der Trennung der Indianer von den Spaniern den richtigen Weg sah, eine erfolgreiche Missionierung durchzuführen. Der Klerus erreichte sogar eine Änderung der Gesetze am spanischen Hof, die darauf abzielte, die Ruinierung der unterworfenen Indios zu verhindern, indem sie als gleichberechtigte Untertanen anerkannt werden sollten. Letztlich waren jedoch alle Verfügungen wirkungslos, weil die Conquistadoren und Kolonisten auf ihrem Interesse beharrten, die Indios als rechtloses Material für ihre Bereicherung zu behandeln. So entstand schon bei Las Casas die Idee, die Ureinwohner möglichst ganz von den Spaniern abzusondern, um sie in von den Conquistadoren getrennten Gebieten (Reduktionen) ungestört missionieren zu können. Am 15. Juli 1608 erhielt der Jesuitenorden durch König Philipp III. das „Patent“ zur Bekehrung der Indianer in der Provinz Guairá, einem von Kolonisten noch relativ unberührten Landstrich an der heutigen paraguayisch-brasilianischen Grenze.6 Den Geistlichen gelang es bald, das Mißtrauen der Urbevölkerung durch Geschenke, Unterricht im Bewirtschaften des Landes, Unterricht in handwerklichen Fähigkeiten und in der Musik zu überwinden, daß sich im Laufe des bisherigen Zusammenlebens der Indianer und der Spanier gebildet hatte. Als Vorteil erwies sich dabei sicherlich, daß die Padres zu dieser Zeit der Sprache der Indianer bereits mächtig waren. 6

Den Ausschlag für die Jesuiten für dieses Projekt und gegen die Franziskaner bildete die Tatsache, daß letztgenannte zahlenmäßig in diesem Gebiet schwächer vertreten waren. 7

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(„Missionshistorisch“ betrachtet [...] lag die Ursache für diesen (künftigen) Erfolg zweifelsohne in der nunmehr endgültigen Durchsetzung einer strikten Herauslösung der Reduktionen aus dem Kommendensystem. Daß dies gelang, hatte eine ganze Reihe von Gründen, von denen einer sicher auch mit der militanten Aktivität des Jesuitenordens zusammenhing).7 (Ferner sicherte ihnen der Einfluß am Madrider Hof für ihr „Experiment“ mehr politische Rückendeckung und administrative Eigenständigkeit).8 Binnen weniger Jahrzehnte gelang es so den Jesuiten, 36 landwirtschaftliche Ansiedlungen aus dem Nichts zu schaffen, sogenannte Reduktionen, ähnlich autonomen „Stadtstaaten.“ Läßt sich die Errichtung der Reduktionen nicht von den kolonialstaatlichen Absichten trennen, so ist ihre innere Verfassung ebensowenig aus dem Kolonialsystem zu lösen. Einige Interpreten haben ihnen zwar ein relativ hohes Maß an Souveränität zuerkannt (Gothein, 1883), ihre Stellung sogar mit derjenigen der Staaten im Deutschen Reich von 1871 verglichen (Schmidt, 1913). Aber mit sehr viel mehr Recht haben andere – wie Maria Faßbinder (1926) und Philip Caraman (1979) – auf die abgeleitete Herrschaftsgewalt der Jesuiten verwiesen; handelte es sich hinsichtlich der politisch-rechtlichen Stellung der Jesuitenreduktionen doch um eine von der Krone gewährte, begrenzte Verwaltungsautonomie – Prien spricht von einem „königlichen Missions-Schutzgebiet“ - , die jederzeit eingeschränkt, erweitert oder – wie sich schließlich zeigte – zurückgenommen werden konnte.9 Den politischen Sonderstatus und die Rechtsstellung der Reduktionen prägten indessen zwei für das Überleben zentrale Privilegien: die Befreiung von der „Encomienda“ und die strikte Abschließung von der spanischen Bevölkerung.10 In jeder dieser Reduktionen lebten etwa 4000 – 10.000 Indianer, die sich mit Hilfe der frommen Männer bemühten, das Land urbar zu machen und den Lehren der christlichen Kirche nachzueifern. Zeitweise lebten bis zu 200.000 Menschen in den jesuitischen Reduktionen, wo das Gemeinwesen absolut im Vordergrund stand. Nur nebenher oder in Ausnahmefällen durfte der Einzelne sein ihm als persönlicher Besitz zugewiesenes Stück Land bestellen. Dieses neue Gemeinschaftsdenken funktionierte so gut, daß die Guaraní schon bald beträchtliche Überschüsse erwirtschafteten, die dem Orden zugute kamen und dadurch das Fundament für einen florierenden Handel nach Übersee bildeten. III. I. Geografische Lage des „Jesuitenstaates“

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Gründer, Welteroberung S. 132 Ebenda S. 132 9 Gründer, Welteroberung, S. 135f. 10 Ebenda S. 137 8

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Dieser sogenannte Jesuitenstaat umfaßte die etwa 30 Siedlungen der Guaraní-Indianer im Gebiet zwischen Rio Paraguay, Rio Paraná und Rio Uruguay, daher wo heute Paraguay, Uruguay und Argentinien zusammenstoßen.11

Abb. 2 oben: Vornehmliches „Anlegungsgebiet“ der Reduktionen

III. II. Der „Jesuitenstaat“ als Wirtschaftsfaktor Etwa 150 Jahre lang entwickelte sich der Jesuitenstaat in Paraguay zu einem nicht mehr fortzudenkenden Wirtschaftsfaktor Spaniens und Paraguays. Und voller Wohlwollen blickten 15 Päpste in dieser Zeit auf ein Land, in dem die einst „Wilden“ Lebensformen entwickelt hatten, die weitgehend dem christlichen Ideal entsprachen. Hunderttausende waren missioniert worden, und alle arbeiteten als seßhaft gewordene, kostenlose und sich selbst ernährende Arbeitskräfte. Die Reduktionen waren geschlossene Schutzgebiete, zu denen nur die Indianer und Jesuiten Zutritt hatten. Im Mittelpunkt einer solchen Siedlung stand die Kirche, umgeben von Schule, Werkstätten, Lagerräumen und Friedhof. Jede Familie besaß ein kleines Haus. Grund und Boden waren allgemeiner oder auch Privatbesitz der Indianer, die erwirtschafteten Produkte kamen allen zugute; nur ein geringer Teil mußte als Steuern an die spanische Krone abgetreten werden. Die Indianer erhielten zudem Unterweisung in der christlichen Lehre. Um das wirtschaftliche Überleben der Reduktionen zu sichern, wurden die Indianer zum regelmäßigen Arbeiten angehalten. Dabei stießen die Jesuiten zuerst allerdings auf wenig Gegenliebe. Den Indios war jegliches Gewinnstreben fremd; es wurde nur soviel produziert, wie zum Leben von der Hand in den Mund benötigt wurde. Hauptausfuhrprodukt war für die Guaranireduktionen neben Rinderhäuten vor allem Baumwolle und Yerba, der Mate-Tee. Die Ernte wurde jährlich über Tausende von Kilometern an die Märkte des Andenhochlandes und der Atlantikküste transportiert und dort gemeinsam für alle Reduktionen verkauft. Aus dem Erlös wurden die Steuern an die spanische Krone und die für die einzelnen Reduktionen notwendigen Importe bezahlt. Diese Art des Wirtschaftens blieb jedoch auf die Bedarfsdeckung ausgerichtet, 11

Ebenda S. 123 9

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Handel wurde nur in dem Umfang betrieben, wie es für die Konsumtion und zur Investition von Geräten unumgänglich war. Trotz der zwangsläufig mit der gewerblichen Entwicklung verbundenen Arbeitsteilung bildeten sich unter den Indios kein Gegensatz zwischen reich und arm aus. Es entstanden keine Klassen oder Personengruppen, die aufgrund wirtschaftlicher Abhängigkeitsverhältnisse Macht über andere erlangten. III. III. Wirtschaftlich- und gesellschaftlicher Aufbau der Reduktionen Alle Reduktionen waren nach einem einheitlichen Schema errichtet. In einer Beschreibung aus dem 18. Jahrhundert heißt es : „Den Mittelpunkt der ganz regelmäßigen Niederlassungen bildete stets die Kirche. Auf der einen Seite der Kirche befand sich der Friedhof, auf der anderen das Wohnhaus der Patres, das zugleich auch die Schule enthielt. Neben diesem erhob sich das Volkshaus mit den Speichern für das öffentliche Gut und mit den Werkstätten der Handwerker. Neben dem Friedhof lag das Witwenhaus, von dem ein Teil auch als Hospital verwendet wurde. Vor der Kirche war stets ein großer Platz mit einer Statue angelegt und rings um diesen breiteten sich die einstöckigen Wohnhäuser der Indianer aus."12 Die Häuser der Indios standen in mehreren Reihen hintereinander, die vordersten umsäumten auf drei Seiten den großen Platz. Die Dächer hatten einen weiten Vorsprung, der von Säulen getragen wurde, so daß man bei Regen durch die ganze Siedlung laufen konnte.

Abb. 3 oben: Typische Anlage einer Jesuitenreduktion

Die Reduktionen lagen meist in der Nähe eines Flusses -wegen der Verkehrsverbindungen, und auf einer Anhöhe - wegen der Überschwemmungen und der Malaria. In weiterem Umkreis befanden sich die Felder, auf denen hauptsächlich Getreide, Zuckerrohr, Baumwolle und Yerba für den Mate-Tee angebaut wurde. Zwischen den Feldern lagen die Wirtschaftsbetriebe. (Ziegelei, Sägewerk, Schlachthaus, Gerberei, Mühlen für Getreide und Zuckerrohr) Wichtigste Nahrungsquelle waren die Rinderherden. Jede Reduktion hatte ihre „Estancia", die Farm für die Viehzucht, in einer geeigneten Weidegegend, oft Hunderte Kilometer entfernt. 12

Heinrich Kraus, Anton Täubl, Mission und Entwicklung. Der Jesuitenstaat in Paraguay (München 1979) S. 44 10

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Das Material für die Gebäude war ursprünglich Lehm und Holz gewesen, im Laufe der Zeit baute man jedoch immer mehr aus Stein, auch die Häuser der Indios. Die Ausmaße der Kirchen entsprachen denen der größten in Europa, so daß leicht einige tausend Menschen, praktisch die ganze Gemeinde, gleichzeitig am Gottesdienst teilnehmen konnten. Die künstlerische Qualität war auf der Höhe der damaligen Barockkunst in Europa. Zunächst waren die Indios lediglich Kopisten der aus Europa mitgebrachten Werke, doch bald traten auch dekorative indianische Elemente auf und es entstand ein sehr eigenständiger Stil. Das Innere der Kirchen war reich an Gemälden, geschnitzten Altären und Statuen. III. IV. Arbeitsteilung und Naturalwirtschaft Die Erstellung der Bauten, das Betreiben von Landwirtschaft und Viehzucht, sowie die Ausbildung und Vervollkommnung der Indios in den verschiedensten Handwerken verlangten ein gewisses Maß an Arbeitsdisziplin. Der Tagesablauf war genau geregelt. Die Zeit wurde mit Glockenschlägen von früh bis spät eingeteilt. Gebet und Gottesdienst wechselten mit der Arbeit auf den Feldern oder in den Werkstätten. Essen und Schule hatten ihre Zeit ebenso wie Tanz und Unterhaltung. Jeder Indio hatte bei den Bauten, auf den Feldern oder in den Werkstätten an drei Tagen der Woche für die Gemeinschaft zu arbeiten. Die Frauen mußten spinnen, weben oder sticken, der 8-Stunden Tag war allgemein eingeführt. Der Boden war aufgeteilt in das Land, das den einzelnen Familien für ihren Unterhalt diente und in das Land, dessen Erzeugnisse für die gemeinsamen Zwecke verwendet wurden. Untereinander lebten die Reduktionen in einem Austausch ohne Geld. Dieses spielte erst beim Außenhandel ein Rolle. Er wurde zentral für alle Reduktionen abgewickelt. III. V. Alltagsleben in den Reduktionen Sowohl die religiöse, als auch die weltliche Unterweisung erfolgte von Anfang an in der Sprache der Indios, welcher die Padres mächtig waren. Die eigentliche Macht blieb in den Händen der Missionare – zumeist zwei, von denen einer als „Cura“ die funktion eines königlichen Beamten ausübte und ein entsprechendes staatliches Gehalt bezog (das er mit seinem Mitbruder teilte). Dem „Cura“ oblag de facto die Leitung der Reduktion.13 Die Jesuiten legten größtes Gewicht darauf, die Sprachen der Stämme zu lernen, mit denen sie in Kontakt gerieten. Sie verfaßten Wörterbücher und Grammatiken. 13

Gründer, Welteroberung S. 138f. 11

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Die Bibel und andere Texte wurden übersetzt und erschienen oft sogar gedruckt. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts wurden mehrere Druckereien eingerichtet. Dadurch wurden die Indianersprachen nicht nur erhalten, in einer Reihe von Fällen entstand auch aus einer Vielfalt von Dialekten einer bis dahin verstreut lebenden Völkerschaft eine einheitliche Sprache. Dies gilt vor allem vom Guaraní und vom Chiquito.14 So konnte die Unterrichtung in der christlichen Lehre in einer sehr intensiven Weise erfolgen. Häufige Predigt und eine regelmäßige Christenlehre, in der die wichtigsten Glaubenslehren aufgesagt, abgefragt und durch ständige Wiederholung eingelernt wurden, waren die Hauptgestaltungselemente jeden Sonntags. Darüber hinaus wurde am Sonntag die „Buchführung" über die gesamte Gemeinde vorgenommen, die notwendigen Arbeiten wurden verteilt und die „Abweichler" wurden bestraft. Die größte Rolle bei der Vermittlung des Glaubens spielte allerdings die Musik. Jede Siedlung hatte ihren Chor und ein großes Orchester. Alle im Barock üblichen Instrumente, sogar Orgeln, wurden an Ort und Stelle hergestellt, die großen Werke der damaligen Barockmusik mit größter Professionalität aufgeführt. Begründer der Musiktradition der Chiquitos war der Schweizer Jesuit Martin Schmid. Er lebte von 1730-1767 bei den Chiquitos und schrieb in einem Brief 1744: "Die Obern haben mir befohlen, die Musik in diese Missionen einzuführen und Orgeln und Instrumente zu bauen, damit die Indianer auch mit Musik ihren Gott und Herrn loben möchten. So habe ich gleich angefangen, die Indianerbüblein- und -knaben, die ja lesen konnten, in der Singkunst zu unterweisen. Und was noch mehr ist, ich habe auch allerlei Musikinstrumente verfertigt, ohne dies früher in Europa gelernt oder auch nur daran gedacht zu haben. Aber die Not und der Mangel an Lehrern haben aus mir einen Kunstmeister gemacht. Denn alle Dörfer haben jetzt ihre Orgel, viele Geigen und Baßgeigen aus Zedernholz, Clavicordia, Spinette, Harfen, Trompeten, Schalmeien. Alle habe ich verfertigt und die Indianerknaben die Instrumente schlagen und zu brauchen gelehrt. Diese Indianerbüblein sind ausgemachte Musikanten; sie statten alle Tage in den heiligen Messen mit ihrem Singen und Musizieren dem Herrgott das schuldige Dankeslob ab. Ich darf behaupten, daß sie mit ihrer Musik in jeder Stadt und Kirche zu Eurer großen Verwunderung erscheinen könnten."15 Musik gab es bei jeder Gelegenheit, nicht nur bei den Gottesdiensten, auch auf dem Weg zur Arbeit und während der Arbeit.

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Das Guaraní ist heute neben der spanischen Amtssprache die eigentliche Landessprache der Republik Paraguay. Es wird fast von der ganzen Bevölkerung verstanden und im Alltag auch gesprochen. 15 Kraus, Täubl, Mission und Entwicklung S. 152 12

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Sogar bei der Bestellung der Felder und bei der Ernte waren den Arbeitstrupps Musiker zugeteilt. Der Jahresablauf war mit Festen übersät, die in möglichst großartiger Weise gefeiert wurden. Paraden, Feuerwerke, Tänze oder Theateraufführungen umrahmten die mehr kultischen Zeremonien, bei denen die feierlichen Hochämter mit Orgel- und Instrumentalmusik sowie riesigen mehrstimmigen Chören im Mittelpunkt standen. Dazu kamen feierliche Prozessionen. Musik und Tanz hatten schon im früheren Stammesleben der Guaraní eine ausgesprochen religiöse Dimension gehabt. Insofern kamen die Jesuiten ihren Bedürfnissen sehr entgegen und die Musik konnte bei der Vermittlung neuer Werte und Verhaltensweisen eine hervorragende Rolle spielen. Wenn alle Lebensäußerungen -Arbeit, Erholung und Feste, Geburt, Heirat und Tod- von kultischen Handlungen begleitet wurden, so traf sich das mit der bei den Guaraní üblichen Ritualisierung jeglichen Tuns. Alle Handlungen hatten eine festgefügte Form, die in Bezug zu dem von den Vorfahren überkommenen Weltbild stand. Die Missionierung der Jesuiten nahm also weitgehend Rücksicht auf die Mentalität der Indios. Ihr System verzichtete darauf, die europäischen Maßstäbe der Geldwirtschaft und des Handels, einer Zwei-Klassengesellschaft und der durch sie organisierten massiven Ausbeutung zum Vorbild zu nehmen. III. VI. Die Bedrohung durch die „Bandeirantes“ Schwierigkeiten für die Reduktionen gab es in den ersten Jahren nur durch die sogenannten „Bandeirantes“, die von ihrem Zentrum im brasilianischen Sao Paulo aus bestrebt waren, die Grenzen des portugiesischen Kolonialreiches immer mehr nach Westen zu verschieben. Sie unternahmen in großen Banden Streifzüge ins Innere, um Schätze zu suchen und Indianer als Arbeitskräfte zu fangen.16

IV. DIE AUFLÖSUNG DER JESUITISCHEN REDUKTIONEN Der Wandel zur Auflösung der jesuitischen Reduktionen vollzog sich zunächst nur schleichend und kaum merkbar. Die zur weißen Oberschicht zählenden hispanisierten Mestizen und die spanischen Kolonisten sahen ihre Ausbeutungspolitik und wirtschaftlichen Erfolge immer mehr durch die Ordensleute bedroht.

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In Brasilien gelten diese „Bandeirantes" heute als heldenhafte Kolonialpioniere, sogar eine Automarke trägt ihren Namen. Verdient gemacht haben sie sich in den Augen der meisten Brasilianer hauptsächlich durch die Erschließung der brasilianischen Bundesstaaten Minas Gerais und Mato Grosso. 13

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Die Padres, die nun in zunehmendem Maße ihre Schützlinge vor Sklaverei und die indianischen Frauen und Töchter vor sexuellem Mißbrauch zu bewahren hatten, wurden den Landbesitzern immer mehr ein „Dorn im Auge“. Auch wurden in zunehmendem Maße Druckschriften, die auch in Europa erschienen, veröffentlicht, in denen den Jesuiten in Paraguay die Anhäufung von Reichtümern und Rebellionsansichten mit Hilfe der Indianer unterstellt wurden. Hauptfeinde der Jesuitenarbeit waren naturgemäß die Großgrundbesitzer, die die Indianer lieber auf den eigenen Feldern als kostenlose Arbeitskräfte gesehen hätten, ebenso wie die Händler, die nur in Absprache mit den Jesuitenpadres Geschäfte mit den „Indios“ treiben durften und auch die Kaufleute in den großen Städten, die auf den Marktanteil, den sich die Jesuitenreduktionen sichern konnten neidisch waren. Ein weiterer entschiedener Gegner der „Jesuitensiedlungen“ waren auch die Kolonialbehörden, weil sich diese „Stadtstaaten“ ihrer Einflußnahme und Gewalt entzogen. Die herrschende Oberschicht in Paraguay (1760 lebten in Paraguay bereits etwa 60.000 Weiße und Mestizen) richtete Beschwerdebriefe an den spanischen Hof und den Vatikan, es kam zu Intrigen, ständigen Reibereien und Verleumdungen, wobei das Werk der Reduktionen als propagandistische Waffe gegen den Orden eingesetzt wurde. Die friedfertigen Jesuiten konterten im Rahmen ihrer eingeschränkten Möglichkeiten, indem sie für ihre Kirchen Bilder malen ließen, auf denen Jesus und die Apostel als Indios abgebildet waren. Nur der etwas abseits stehenden Judas wurde als Spanier dargestellt, was natürlich zur Verärgerung der Spanier führte und als Provokation angesehen wurde. Jahrzehnte hindurch bestimmten ähnliche Ränkespiele das Zusammenleben zwischen den Jesuiten und den Kolonialherren. Letztere wurden noch unterstützt von den Franziskanern, die im Laufe der Jahre ebenfalls eine Rivalität zu den so erfolgreich missionierenden Jesuiten entwickelt hatten. Immer wieder mußten Abgesandte des Papstes nach Paraguay reisen, die die oft völlig gegensätzlichen Darstellungen, Beschwerden und Rechtfertigungen von Jesuiten, Franziskanern und Siedlern prüfen und ausloten sollten. Daß jede der streitenden Parteien dabei versuchte, die Gunst der päpstlichen Gesandten zu gewinnen, versteht sich beinahe von selbst. Zwar waren die Jesuiten aus den lange anhaltenden Streits am Ende als Sieger hervorgegangen und hatten ihre Machtposition wiederherstellen können, doch nun geriet durch andere Ereignisse in Europa deren Status ins Wanken. Im Jahr 1767 wurde dann das Schicksal des Jesuitenordens in Paraguay über Nacht besiegelt. 14

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Das Jesuiten-Imperium habe mehr Untertanen als der spanische König selbst, wodurch es eine Gefahr für die Krone bilde, schrieb der spanische Minister Graf Aranda am 13. Januar 1767 an seinen König. Und der Orden, dessen oberster Sitz außerhalb des spanischen Königreiches lag, unterläge auch wegen der hohen Privilegien, die er genieße, nicht mehr der spanischen Autorität. Nur noch ein geschicktes Vorgehen könne daher die Souveränität der Gebiete in Übersee retten. In Befolgung derartiger Ratschläge erließ der König (Karl III.) im gleichen Jahr ein „Geheimes Dekret“, aufgrund dessen die etwa 500 in Paraguay lebenden jesuitischen Padres ohne vorherige Nachricht in ihren Siedlungen verhaftet, abtransportiert und in Ketten nach Europa gebracht wurden, nachdem man sie auch noch für die innenpolitischen Unruhen in Madrid (Hutaufstand) 1766 verantwortlich gemacht hatte.17 Die nun führerlos gewordenen Reduktionen unterstanden ab diesem Tag der spanischen Verwaltung, was zur Folge hatte, daß die meisten Indios wegen der organisatorischen Unfähigkeit der neuen Herren durch Hunger und Seuchen stark dezimiert wurden, oder zurück in die Wälder flohen. Die Reduktionen wurden zum Teil beraubt und zerstört und die verbliebenen Bewohner zu Sklaven gemacht. Teilweise wurde das System der Verwaltung geändert, indem ein ziviler Verwalter die Leitung übernahm, der die Autorität des Staates vertrat. Neben diesem Verwalter wurde ein Pfarrer eingesetzt, der sich ausschließlich um die religiösen Belange zu kümmern hatte. Die Siedlungen erfuhren in den nächsten Jahrzehnten einen Niedergang, der auch dadurch herbeigeführt wurde, daß etliche Reduktionen in Folge der Kriege, die sich zwischen den neu entstandenen Staaten Argentinien, Brasilien und Paraguay um die Festlegung der Staatsgrenzen entflammten, zerstört wurden.18 Nur ihre Ruinen sind heute noch markante Zeugen dieser so großartigen, 160jährigen jesuitischen Vergangenheit.

Abb. 4 oben: Trinidad del Parana, eine der bekanntesten Jesuiten-Reduktion; 1706 gegründet und 1993 zum Weltkulturerbe erklärt. 17

Im selben Jahr wurden auch die anderen Jesuiten aus den übrigen lateinamerikanischen Staaten vertrieben Forschungen gehen heute davon aus, daß die Grenzziehung auch Anlaß für die konkrete Durchsetzung der Auflösung der Reduktionen war. 15

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Geht man der Frage nach, warum die Padres keinen Widerstand gegen die Auflösung der Reduktionen leisteten, erfährt man, daß diese dazu durchaus in der Lage gewesen wären. Ein Jesuit, der von 1748 bis 1767 auf einer solchen Reduktion in der Nähe der argentinischen Ansiedlung Santa Fe lebte, schrieb dazu in seinen Erinnerungen folgendes: „Was Ungemach hätten nur allein die 30 Völkerschaften von Guaraniern anstellen können, in denen man bis zu 120.000 Seelen zählt, worunter wenigstens 50.000 und mehr streitbare Männer hätten herangezogen werden können? Wie bald wären sie mit Buenos Aires fertig gewesen? Ich allein mit meinen etlich hundert Indianern hätte leicht die ganze Jurisdiction von Santa Fe zerstören können.“19 Die Begründung des Verzichtes auf Gegenwehr lag darin, daß man befürchtete, eine eventuelle Rebellion würden gerade die Gerüchte und Verdächtigungen, die man gegen die Jesuiten in Paraguay hegte, bestärken. Die Padres hofften, mit der freiwilligen Aufgabe der Reduktionen ihre Loyalität beweisen zu können und so einer baldigen Rückkehr entgegensehen zu können. Ein weiterer Grund war sicherlich auch, daß die Jesuiten im Falle einer offenen Rebellion gegen die Anweisungen des Königs mit klerikalen Sanktionen rechnen hätten müssen. Dies wiederum wäre für den Orden nicht in Frage gekommen, da für sie ein Widerstand gegen die Kirche undenkbar gewesen wäre, gerade im Hinblick auf ihr Gehorsamsgelübde gegenüber dem Papst.20

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Kraus, Täubl, Mission und Entwicklung S. 170 1773 wurde der Jesuitenorden vom Papst aufgehoben 16

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V. QUELLEN- UND LITERATURNACHWEIS V. I. Bibliografie -

Urs Bitterli, Die Entdeckung Amerikas. Von Kolumbus bis Alexander von Humboldt (München 1992)

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Heinrich Boehmer, Die Jesuiten (Stuttgart 1957)

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Horst Gründer, Welteroberung und Christentum. Ein Handbuch zur Geschichte der Neuzeit (Gütersloh 1992)

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Peter Claus Hartmann, Der Jesuitenstaat in Südamerika 1609-1768. Eine christliche Alternative zu Kolonialismus und Marxismus? (Weißenhorn 1994)

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Karl Ilg, Pioniere in Argentinien, Chile, Paraguay, Venezuela. Durch Bergwelt, Urwald und Steppe erwanderte Volkskunde der deutschsprachigen Siedler (Innsbruck 1976)

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Heinrich Kraus, Anton Täubl, Mission und Entwicklung. Der Jesuitenstaat in Paraguay (München 1979)

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Gustav Otruba, Der Jesuitenstaat in Paraguay (Wien 1962)

V. II. Elektronische Quellen -

Hans-Theo Weyhofen in: (o. O., 1996) bearbeitet am 28. Mai 2002

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Joachim Bieler in: (o. O., o. D.) bearbeitet am 29. Mai 2002

V. III. Bildnachweis -

Abb. 1 (Titelblatt) in: Martin Oehm, (o. O., 2000) bearbeitet am 27. Mai 2002

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Abb. 2 in: (o. N.), (o. O., 2001) bearbeitet am 29. Mai 2002

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Abb. 3 in: (o. N.), (o. O., 2001) bearbeitet am 29. Mai 2002 17

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Abb. 4 in: (o. N.), (o. O., 2001) bearbeitet am 29. Mai 2002

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