DER ERSTE WELTKRIEG

DAS ENDE DER IMPERIEN

SERIE Teil IV Der Erste Weltkrieg wurde auf mehreren Kontinenten und auf allen Weltmeeren geführt. Abertausende Soldaten aus Übersee, die mit den Ursachen des Konflikts nichts zu schaffen hatten, mussten für den imperialistischen Größenwahn der europäischen Supermächte Deutschland, Frankreich und England sterben.

Der globalisierte Krieg Der Erste Weltkrieg war nicht nur eine europäische Katastrophe. Von Stig Förster

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ut al-Amara, 140 Kilometer südöstlich von Bagdad, am 29. April 1916: Nach fünf Monaten Belagerung kapitulieren 9300 indische Soldaten und 2500 Briten vor einer türkischen Übermacht. Auf die Verlierer wartet ein düsteres Schicksal: Während des Todesmarsches nach Anatolien sterben 4250 Gefangene. Nur der britische General Charles Townshend, der in Kut das Kommando geführt hat, darf den Rest des Kriegs in relativem Luxus auf einer Insel vor Konstantinopel verbringen. Das türkische Heer hat – bis zu seinem Tod zehn Tage vor dem Fall von Kut – ein Deutscher befehligt: Generalfeldmarschall Colmar Freiherr von der Goltz, der davon träumte, an der Spitze seiner Armee über Persien bis nach Indien vorzudringen. Ein Jahr später, Mitte Juni 1917, gerät ein kleiner Trupp deutscher Infanteristen unter Amerikanischer Truppentransporter (1917)

der Führung des Offiziers Ernst Jünger in der Nähe von St. Quentin an der Westfront in ein nächtliches Gefecht. Den Deutschen gelingt es, den Feind in die Flucht zu schlagen. Verblüfft mustern sie ihre Gefangenen – Angehörige der First Hariana Lancers. Jünger schrieb dazu später in seinem Kriegsbuch „In Stahlgewittern“: „Wir hatten also Inder vor uns, weit übers Meer gekommen, um sich auf diesem gottverlassenen Stück Erde an Hannoverschen Füsilieren die Schädel einzurennen.“ Beide Episoden verdeutlichen die globale Dimension des Großen Kriegs von 1914 bis 1918. Allein auf Seiten der Engländer kämpften mehrere hunderttausend Mann aus den britischen Dominions Kanada, Australien und Neuseeland. Hinzu kamen anderthalb Millionen Soldaten und „Kulis“ aus der Kolonie Indien. In Afrika

kämpften neben Indern und Südafrikanern Belgier aus dem Kongo sowie britische, deutsche und portugiesische Kolonialeinheiten, dazu einheimische Askari von der deutschen Schutztruppe. Und die USA, die erst 1917 in den Krieg eintraten, schafften etwa zwei Millionen Wehrpflichtige zum Einsatz nach Frankreich. Sie entschieden den Krieg. Dass es irgendwann zu einer weltumfassenden Auseinandersetzung kommen würde, hatten schon lange bevor die Schüsse von Sarajevo fielen, weitsichtige Zeitgenossen geahnt. Bereits 1887 etwa warnte der preußische General Alfred von Waldersee vor einem Weltkrieg. Acht Wochen vor dem Beginn des Debakels schwante auch dem deutschen Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg: „Wir treiben dem Weltkrieg zu.“

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Und in der Nacht zum 31. Juli 1914, als die Katastrophe schon nicht mehr aufzuhalten war, erklärte der deutsche Generalstabschef, Helmuth von Moltke, seinem Adjutanten finster: „Dieser Krieg wird sich zu einem Weltkriege auswachsen, in den auch England eingreifen wird. Nur wenige können sich eine Vorstellung über den Umfang, die Dauer und das Ende dieses Krieges machen. Wie das alles enden soll, ahnt heute niemand.“ Aus heiterem Himmel kam das Desaster nicht. Wichtige Voraussetzungen dafür entstanden bereits im ausgehenden 15. Jahrhundert, als die europäischen Staaten begannen, sich den Rest der Welt untertan zu Senegalesische Soldaten*: Kämpfen für die europäischen Kolonialherren machen. Immer mehr Völker und Staaten kamen durch Entdeckun- sie schon bald direkt aneinander. Zu ei- ropäern werden zu lassen. Es sollte den gen, wirtschaftliche Vernetzung, aber auch nem Weltkrieg indes eskalierten diese Kon- frisch unterworfenen „Eingeborenen“ keidurch Eroberungen miteinander in Kon- flikte erst, als sie mit einem gesamteu- nesfalls das Schauspiel geboten werden, dass sich ihre neuen Herren gegenseitig takt. Dieser Beginn der Globalisierung ropäischen Krieg ineinander flossen. führte vor allem in Amerika, aber auch auf Die Tendenz hierzu beschleunigte sich massakrierten. Als die Berliner Afrikakonferenz (von anderen Kontinenten zur Vernichtung im Verlauf des 18. Jahrhunderts und erganzer Kulturen, auf deren Trümmern dann reichte zwischen 1792 und 1815 einen 1884 bis 1885) die Spielregeln für die Aufeuropäische Siedlungskolonien entstanden. Höhepunkt. Die Kriege im Gefolge der teilung des Kontinents festlegte, wurde Gekennzeichnet war dieser Expansions- Französischen Revolution und während der denn auch ausdrücklich beschlossen, die prozess häufig durch brutale Gewalt. Eu- napoleonischen Herrschaft verheerten afrikanischen Kolonien im Falle eines europäer führten in Übersee nicht nur Krie- schließlich Europa von Lissabon bis Mos- ropäischen Kriegs neutral zu halten. 1914 ge gegen Einheimische. Im Verteilungs- kau und strahlten zudem auf Nord- und allerdings zeigte sich, dass derlei Übereinkampf um Märkte und Kolonien gerieten Südamerika, auf Teile Afrikas und den Na- kommen im Ernstfall das Papier nicht wert hen Osten, auf die Region am Kaspischen waren, auf dem sie standen. Meer und auf den indischen Subkontinent In der Tat nahm der Krieg sofort globale aus. Sucht man nach einem Weltkrieg vor Dimensionen an. Er griff von Europa prompt 1914, so wird man in jener Periode fündig. auf die Kolonien über. Treibende Kraft war Seit den achtziger Jahren des 19. Jahr- hierbei zunächst Großbritannien. Der völhunderts brodelte es in Europa erneut, wie- kerrechtswidrige deutsche Überfall auf das derholt stand der Kontinent am Rande ei- neutrale Belgien bot einen glänzenden Vornes allgemeinen Kriegs. Gleichzeitig rief wand, die Abmachungen der Berliner Afridie schubweise Industrialisierung nicht nur kakonferenz für hinfällig zu erklären. Spannungen in den europäischen GesellAm 5. August 1914, unmittelbar nach schaften hervor, sie trieb auch die Globali- Kriegsausbruch, beschloss das Committee sierung weiter voran. Die Entfernungen of Imperial Defence in London, alle zwischen den Kontinenten schrumpften, deutschen Kolonien anzugreifen. Britische, die wirtschaftliche Vernetzung intensivier- französische, indische und südafrikanite sich. Der hektische Imperialismus gegen sche Truppen sollten Deutsch-Ostafrika, Ende des 19. Jahrhunderts verlieh den eu- Deutsch-Südwestafrika, Togo und Kameropäischen Spannungen eine globale Di- run erobern. Gleichzeitig sollten australimension. sche, neuseeländische und japanische EinDer Wettlauf nach Afrika war in diesem heiten die deutschen Besitzungen im paziZusammenhang besonders gefährlich. Die fischen Raum und in China attackieren. Tatsächlich fielen die deutschen NiederVertreter der Kolonialmächte bemühten sich daher, den „Schwarzen Kontinent“ lassungen in China und im Pazifischen nicht zum Schlachtfeld zwischen Eu- Ozean schon bald in die Hände der Alliierten. Dabei hatten sich die deutschen Gar* Im Juni 1917 im französischen Saint-Ulrich. nisonen zum Teil erbittert gewehrt. So hiel-

Die Amerikaner schafften etwa zwei Millionen Soldaten über den Atlantik an die Westfront nach Frankreich. d e r

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DAS ENDE DER IMPERIEN

Die Welt in Waffen GROSSBRITANNIEN KANADA

R US S L A ND DEUTSCHES REICH ÖSTERR.-UNGARN

Tsingtau

FRANKREICH

USA

Kriegseintritt April 1917

2 100 000

OSMANISCHES REICH

Atlantik

CHINA

Kartenausschnitt

französische Kolonien 449 000

Kapitulation Februar 1916

OSMANISCHES

RUSSLAND

armenische Bevölkerung

REICH

DeutschSüdwestafrika Kapitulation Juli 1915

Mittelmächte Verbündete und deutsche Kolonien Entente-Mächte Verbündete, Kolonien und Dominions der Entente sowie assoziierte Staaten* neutrale Staaten

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NEUSEELAND

im Krieg eingesetzte Soldaten außereuropäischer Länder

Kämpfe *bis

PERSIEN Bagdad

1600 Soldaten das Leben. Der siegreiche südafrikanische GeJerusalem neral Louis Botha ließ erstaunBasra liche Milde walten und erlaubAkaba Kuweit ÄGYPTEN te den deutschen Siedlern, die (britisch) ARABIEN als Reservisten in der Schutz500 km truppe gekämpft hatten, auf Grenzen von 1914 ihre Farmen zurückzukehren. Sogar Waffen und Munition ten die noch nicht einmal 5000 Mann star- durften sie mitnehmen, um sich gegen „Einken Verteidiger von Tsingtau, der deutschen geborene“ verteidigen zu können. Kolonie in China, gut zwei Monate lang geAm schlimmsten wüteten die Kämpfe gen fast 60 000 japanische Belagerer aus, um Deutsch-Ostafrika. Sie hielten den bevor sie kapitulierten und unter ehrenvol- ganzen Krieg über an und dehnten sich auf len Bedingungen in Gefangenschaft gingen. Britisch-Ostafrika, Mosambik und RhodeDer Krieg in Afrika war härter. Togo, sien aus. Auf britischer Seite kämpften wo kaum deutsche Truppen stationiert wa- rund 160 000 Soldaten aus dem Mutterland ren, musste sich zwar schnell ergeben. und den Dominions, hinzu kamen mehr Doch in Kamerun wurde bis in den Januar als eine Million Einheimische als Hilfstrup1916 hinein heftig gekämpft. Erst dann ge- pen und Träger. Ganze Landstriche wurlang es Truppen aus Westafrika, der Kari- den verwüstet. Hungersnöte, Seuchen und bik und Indien, die unter britischem und Gefechte forderten Tausende von Toten französischem Kommando standen, sowie belgischen Einheiten, diese Kolonie zu erobern. Den Ort Jaunde fanden sie verlassen und nahezu unbewohnbar vor. Die Männer der deutschen Schutztruppe hatten auf den verbliebenen Möbeln sogar ihre Notdurft verrichtet, um sie unbrauchbar zu machen. Der Feldzug in Südwestafrika war zwar bereits am 9. Juli 1915 beendet, doch Feldherren Goltz, Lettow-Vorbeck, Enver Pascha kostete auch er immerhin Geschick und Rücksichtslosigkeit Damaskus

AUSTRALIEN

Kut al-Amara

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Kriegsende 1918

unter der Zivilbevölkerung. Die Zahl der gefallenen Soldaten und Träger auf beiden Seiten überstieg 120 000 Mann. Dabei hatten der deutsche Gouverneur Albert Heinrich Schnee und sein britischer Amtskollege in Nairobi, Henry Conway Belfield, zunächst gehofft, ihre Kolonien aus dem Krieg heraushalten zu können. Doch unter der „weißen“ Bevölkerung machte sich sofort nach Bekanntwerden des Kriegsausbruchs in Europa eine regelrechte Hysterie breit. Im August 1914 wurde nachts in Nairobi wiederholt mit allen möglichen Waffen in die Luft geschossen, um vermeintliche deutsche Zeppeline abzuwehren. Vor allem aber waren die Militärs auf beiden Seiten nicht bereit, sich die Aussicht auf Kriegsruhm entgehen zu lassen. Männer wie Paul von Lettow-Vorbeck, der mit Geschick und Rücksichtslosigkeit die deutsche Schutztruppe führte und den Gegner immer wieder narrte, konnten in den folgenden vier Jahren tatsächlich militärischen Lorbeer ernten. Doch die ganze Region zahlte einen bitteren Preis für diesen Ehrgeiz. Entgegen dem immer noch weit verbreiteten Mythos war der Krieg in Afrika alles andere als nur ein Abenteuer für europäische Heldentypen: Es war ein grausames Gemetzel. Eine entscheidende Rolle spielten dabei die DoULLSTEIN BILDERDIENST (L.); AKG (M.); INTERFOTO (R.)

Gallipoli

britische Kolonien und Dominions 2 800 000

Kapitulation November 1918

Kamerun

Konstantinopel

Kapitulation September 1914

Deutsch-Ostafrika

Kapitulation Oktober 1914

Kauka su s

Deutsch-Neuguinea BRIT.-INDIEN

Togo

BULGARIEN

JAPAN 30 000

Kapitulation November 1914

DEUTSCHES KOLONIALARCHIV/STUB/UNIVERSITÄT FRANKFURT

Deutsche Askari-Kämpfer in Deutsch-Ostafrika: Der Krieg in Afrika war ein grausames Gemetzel

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Doch die schlecht vorbereitete Offensive endete in einer Katastrophe. Für einen Winterfeldzug in den Bergen war die osmanische Armee nicht ausgerüstet. Zudem funktionierte der Nachschub nicht. So erfroren und verhungerten Tausende von Soldaten. Von 90 000 Mann überlebten nur 12 000. Ab dem Frühjahr 1915 drangen im Gegenzug russische Truppen nach Anatolien vor, wo sie von Teilen der armenischen Bevölkerung unterstützt wurden. Osmanische Behörden reagierten darauf mit äußerster Brutalität. Die angeordnete Deportation der Armenier endete in einem regelrechten Genozid. Der türkische Kriegseintritt bewirkte eine fundamentale Wende in der britischen Nahostpolitik, deren oberstes Gebot bis dahin die Erhaltung des Osmanischen Reiches war. Mitglieder der britischen Führung wie Außenminister Sir Edward Grey gingen nun so weit, dem russischen Verbündeten insgeheim die Überlassung der türkischen Meerengen zu versprechen. In der Folgezeit schacherten zudem britische und französische Unterhändler um ihre jeweiligen Wünsche bei der Aufteilung des osmanischen Territoriums. Auch die italienische Regierung machte sich Hoffnungen auf einen erheblichen Anteil an der zu erwartenden Beute. Der osmanische Sultan, in Personalunion Kalif und damit oberster religiöser Führer des Islam, rief seinerseits den Dschihad, den heiligen Krieg gegen die Ungläubigen, aus, um die muslimischen Untertanen innerhalb des britischen Empires, vor allem in Indien und im britisch besetzten Ägypten, sowie die Glaubensbrüder unter russischer Herrschaft zum Aufstand anzustacheln. Er hatte damit letztlich aber keinen Erfolg. Der Krieg in der LeCORBIS

minions und Kolonien. Sie stellten nicht Japan. Die dortige Führung beschränkte nur Millionen von Soldaten und Hilfstrupps, sich darauf, deutsche Kolonien in Ostasien sondern trugen auch einen wesentlichen zu besetzen, verlor aber nahezu gänzlich den Wettlauf mit Australien und NeuseeTeil der Kriegskosten. Allein Indien stellte bei Kriegsbeginn ei- land um die deutschen Besitzungen im südnen Kredit in Höhe von 100 Millionen lichen Pazifik. Das durch die Eroberung Pfund bereit und zahlte anschließend jähr- der deutschen Kolonie Tsingtau ausgelöste lich 20 bis 30 Millionen Pfund in die Kriegs- direkte Engagement der Japaner in China kasse des Empires. Der südafrikanische Politiker und Militär Jan Smuts avancierte zeitweilig sogar zum Oberkommandierenden des britischen Expeditionskorps in Ostafrika und stieg später zu einem engen Berater des britischen Premierministers Lloyd George auf. Auch Frankreich rekrutierte Zehntausende von Soldaten in Westafrika und im Maghreb. Massenweise wurden Kolonialsoldaten – zur Empörung der deutschen Propaganda – sogar auf den europäischen Schlachtfeldern eingesetzt, wo sie schwere Verluste hinnehmen mussten. Aber die Heimatländer der Kolonialsoldaten waren eben keine Siegreiche Briten und Japaner in Tsingtau* souveränen Staaten. Vielmehr ent- Wurzeln des Zweiten Weltkriegs schieden die Kolonialherren über die Köpfe der Betroffenen hinweg, ob und indes entzündete einen Konflikt, der zu inwieweit sie sich im Krieg zu engagieren den Wurzeln des Zweiten Weltkriegs zu hatten. Die in Fragen der inneren Politik rechnen ist. Kurzfristig wesentlich bedeutsamer war weitgehend souveränen Parlamente der britischen Dominions wurden von den der Kriegseintritt des Osmanischen Reiches Gouverneuren noch nicht einmal angehört, – ein Imperium, dessen Territorium seit als es um die Entscheidung zum Kriegs- 1912/1913 fast gänzlich außerhalb Europas eintritt an der Seite des Mutterlandes ging. lag. Auf Betreiben des Kriegsministers EnStaatsrechtlich betrachtet blieb dieser Kon- ver Pascha griffen die Osmanen im Oktober flikt somit über weite Strecken ein Kampf 1914 an der Seite der Mittelmächte in den zwischen europäisch dominierten Impe- Krieg ein. Ziel osmanischer Eroberungsrien, auch wenn die betroffenen Menschen träume war die Schaffung eines pantürkischen Reiches auf Kosten Russlands. diese Vorgänge als Weltkrieg erfuhren. Frühzeitig griffen souveräne außereu- Im Winter 1914/1915 griff eine türkische ropäische Mächte in den Krieg ein. Ver- Armee in der Kaukasusregion an. gleichsweise marginal blieb die Rolle des seit 1902 mit Großbritannien verbündeten * 1914 vor zerstörter deutscher Haubitzenstellung.

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„Ein Volk auf der Schlachtbank“ Im Frühjahr 1915 begann im Osmanischen Reich der Völkermord an den Armeniern. Das deutsche Kaiserreich deckte das Verbrechen.

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ihr ohnehin in Auflösung begriffener Vielvölkerstaat könnte vollständig auseinander brechen, verschrieben sich die neuen Machthaber einem radikalen Nationalismus. Die Türken, so ihre Überzeugung, müssten andere ausrotten, um ihrer eigenen Ausrottung zu entgehen. Die Deportationen begannen in Zeytun, einem Ort im Taurusgebirge, dem Franz Werfel in seinem berühmten Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ ein bewegendes Denkmal gesetzt hat. Im April 1915 verschanzten sich dort in einem Kloster 150 Deserteure. 4000 türkische Soldaten stürmten das Gebäude. Einen Tag später wurden die Bewohner der Stadt, die heute Süleymanli heißt, in die nahe gelegenen Sümpfe oder die Syrische Wüste getrieben. Bald schleppten sich aus fast allen armenischen Ansiedlungen des Osmanischen Reiches verängstigte Menschen über die staubigen Straßen. Oder sie wurden in überfüllten Bahnwaggons wie Vieh durchs Land transportiert. Wer die Strapazen überlebte, musste in einem der Konzentrationslager in der Wüste ausharren, ohne Dach über dem Kopf. Allenfalls ein paar Erdlöcher boten spärlichen Schutz vor Hitze und Kälte. „Mein Volk“, so die Klage eines armenischen Geistlichen, „liegt auf der Schlachtbank.“ Der Regierung des deutschen Kaiserreichs blieb das mörderische Treiben ihres türkischen Verbündeten nicht verborgen. Schon am 10. Mai 1915 berichtete der Konsul in Aleppo, Walter Rößler, von einer „Vernichtung der Armenier in ganzen Bezirken“. Seine Kollegen aus Erzurum und Adana schlugen ebenfalls Alarm. Berlin beeindruckte das nicht. Die Regierung in Konstantinopel hatte militärische Gründe für die Vertreibungen vorgeschoben, und die deutsche Regierung hielt sich an diese Version. Die Maßnahmen, so der deutsche Botschafter Hans Freiherr von Wangenheim, bedeuteten zwar eine „große Härte“, seien aber „leider nicht zu vermeiden“. Erst als die Kriegsgegner Deutschlands das Kaiserreich für die grausamen Massaker mitverantwortlich machten, entCENTRE DE DOCUMENTATION ARMENIEN / GAMMA / STUDIO X

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ie Männer holten sie zuerst. Eines hinterlistig – Stereotype, wie sie die Sommermorgens im Jahre 1915 antisemitische Hetze in Deutschland auch führten türkische Häscher alle gegen Juden benutzte. „Der Armenier männlichen Bewohner von Adiyaman ab. ist der schlechteste Kerl von der Welt“, schrieb Karl May, der in seinem LeIhre Familien sahen sie nie wieder. Als Nächstes traf die zurückgeblie- ben nie mit Armeniern zusammengetrofbenen Frauen und Kinder der Bann- fen war. Die Menschen, gegen die sich diese strahl der Machthaber in Konstantinopel. Sie wurden aus ihrer Heimatstadt ge- Schmähungen richteten, lebten vor allem jagt und wochenlang kreuz und quer durch im Ostteil des Osmanischen Reiches, an die glühende Hitze getrieben. 2000 Men- der Grenze zu Persien und zum türkischen, ohne Wasser und ohne Brot. Müt- schen Erzfeind Russland, wo es ebenfalls ter, deren Säuglinge in ihren Armen große armenische Siedlungsgebiete gab. Die Armenier waren besser ausgebildet starben. Junge Mädchen, die sich ängstlich vor Vergewaltigungen zu schützen als ihre türkischen oder kurdischen Nachbarn und deshalb zu einem wichtigen suchten. Das Wenige, was die Verbannten am Leibe mitführten, nahmen ihnen schon bald Wegelagerer ab. Wen die Kräfte verließen, der blieb am Straßenrand liegen. Über dem Land lag beißender Verwesungsgeruch. Vergebens hatten die verzweifelten Frauen den Gouverneur in Adiyaman angefleht, sie nicht erst auf lange Todesmärsche zu schicken, sondern gleich zu erschießen. Nicht einmal diese Gnade mochte Konstantinopel seinen armenischen Untertanen gewähren. Seit Oktober 1914 stand das Osmanische Reich an der Seite Deutschlands und Österreichs im Armenische Mutter mit totem Kind Krieg, und im Schatten der großen Beißender Verwesungsgeruch Schlachten orchestrierte die Regierung noch ein anderes blutiges Pro- Wirtschaftsfaktor im Vielvölkerstaat aufjekt – die Vertreibung und Ermordung gestiegen. Schmiede und Schlosser, Maurer und Schneider, Apotheker und Adder christlichen Armenier. Es war ein Genozid, der an Grausam- vokaten gehörten überwiegend der christkeit wohl nur noch vom Holocaust an den lichen Minderheit an. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts begeiseuropäischen Juden mehr als zwei Jahrzehnte später überboten wurde. Über terten sich armenische Intellektuelle zueine Million Menschen starben qualvoll, nehmend für nationale Bewegungen – und auch diesmal waren die Deutschen eine Entwicklung, die in Konstantinopel mit Misstrauen registriert wurde. Zumal nicht ohne Schuld. Zwar hatte das Kaiserreich den Völ- sich auch die europäischen Mächte und, kermord nicht initiiert, wie es die Propa- fataler noch, das am Bosporus verhasste ganda der Entente behauptete. Aber Ber- Russland für mehr Eigenständigkeit der lin deckte ihn. Aus Sorge, den Waffen- armenischen Minderheit stark machten. bruder am Bosporus zu verlieren, aber Schon 1895 begannen antiarmenische Powohl auch, weil viele im wilhelminischen grome, bei denen Tausende starben. Die Lage spitzte sich zu, als 1913 MitDeutschland die Abneigung der Türken glieder der jungtürkischen Bewegung im gegen die Armenier teilten. „Blutsauger“ seien sie, hieß es, und Osmanischen Reich die Alleinherrschaft „gewissenlose Krämer“, verschlagen und übernahmen. Getrieben von der Angst,

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Französische Truppen in Tunesien (1916): Ganze Landstriche verwüstet

vante wurde vor diesem Hintergrund von allen Seiten mit großer Härte geführt. Die Folgen waren verheerend. Die ganze Region geriet in Brand. Im Verlauf des Jahres 1915 scheiterte der britische Durchbruchversuch auf der Halbinsel Gallipoli, der die Eroberung Konstantinopels einleiten sollte. Den Truppen des Empires gelang es nicht, die türkischen Stellungen auf den Hügeln der Halbinsel zu stürmen. Mehr als 50000 Mann, unter ihnen viele Australier und Neuseeländer, kamen bei dem Desaster ums Leben. Die Tragödie von Gallipoli wirkt bis heute in Australien als Trauma nach und wurde 1981 mit dem jungen Mel Gibson in der Hauptrolle meisterhaft verfilmt. Auch das zum Osmanischen Reich gehörende Mesopotamien, das Gebiet des heutigen Irak, wurde zum Kriegsschauplatz, nicht zuletzt wegen seiner Ölquellen. Im November 1914 landeten britische und indische Truppen an der Küste und nahmen schon bald Basra ein. Vorstöße in Richtung Bagdad kamen jedoch nur mühsam voran und wurden mit der Kapitulation von General Townshends Division in Kut al-Ama-

Suezkanal scheiterten. Auf der Arabischen Halbinsel entwickelte sich derweil ein brutaler Kleinkrieg. Den von der HaschemitenDynastie des Emirs von Mekka geführten arabischen Aufstand unterstützten die britischen Behörden in Ägypten zunächst nur halbherzig. Aber der junge Archäologe und Offizier Thomas Edward Lawrence, der als Beobachter nach Mekka entsandt worden war, ergriff die Chance, seinen Tatendrang zu stillen. In enger Zusammenarbeit mit Feisal, dem Sohn des Emirs, intensivierte er den Guerillakrieg gegen die Türken. Mit der waghalsigen Einnahme der Hafenstadt Akaba errang der exzentrische Abenteurer endgültig Kriegsruhm als „Lawrence of Arabia“. Die Hoffnungen der Haschemiten auf die Gründung eines neuen arabischen Reiches erfüllten sich nicht. Sie scheiterten an den imperialistischen Expansionsansprüchen Großbritanniens und Frankreichs. Nicht einmal Lawrence, der vom Doppelspiel der Politiker angewidert war und sich auf die Seite der Haschemiten schlug, konnte daran etwas ändern. Die Deutschen entsandten nicht nur Offiziere, Piloten und Material auf den nahöstlichen Kriegsschauplatz, sondern sogar ein eigenständiges Asien-Korps, das bis zum Frühjahr 1918 eine Stärke von 18000 Mann erreichte. Hochrangige deutsche Heerführer wie Generalfeldmarschall von der Goltz sowie die Generale Otto Liman von Sanders und Erich von Falkenhayn übernahmen im Verlauf des Kriegs verschiedene führende Kommandoposten an den Fronten des Nahen Ostens. Allerdings war der deutsche Einfluss im Osmanischen Reich zu keiner Zeit bestimmend. Die entschieden nationalistische türkische Führung achtete streng darauf, das Heft in der Hand zu behalten. Einen deutschen Lawrence konnte es unter diesen Umständen nicht geben. Der Krieg tobte schließlich auch in Palästina, Syrien und im Libanon. Die Zionisten INFORM.- U. DOKUMENTATIONSZENTRUM ARMENIEN BERLIN

schloss sich Berlin, in Konstantinopel zu protestieren – besorgt allerdings mehr um den eigenen Ruf als um das Leben der Armenier. Er habe die Hohe Pforte, so Botschafter Wangenheim im Juli 1915, „darauf aufmerksam gemacht, dass wir Deportationen der Bevölkerung nur insofern billigen, als sie durch militärische Rücksichten geboten“ sind. Konstantinopel blieb uneinsichtig – und konnte sich dabei auch auf deutsche Militärs berufen, die das Kaiserreich zur Reorganisation der osmanischen Armee an den Bosporus entsandt hatte. Etwa auf Korvettenkapitän Hans Humann, der feststellte: „Die Armenier wurden jetzt mehr oder weniger ausgerottet. Das ist hart, aber nützlich.“ Oder auf den Offizier Eberhard Wolffskeel, für den die Deportation der Bewohner von Zeytun „eine günstige Gelegenheit“ war, endlich „aufzuräumen“. Nur Paul Graf WolffMetternich, seit dem 15. November 1915 Botschafter in Konstantinopel, mochte nicht stillhalten. Knapp einen Monat nach seinem Amtsantritt schrieb er an Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, dass gegen die „Armeniergräuel“ unbedingt „schärfere Mittel notwendig“ seien – etwa die Veröffentlichung eines scharfen Protestes in deutschen Zeitungen. Bis dahin hatten die Deutschen in der zensierten Presse des Kaiserreichs von den Vorgängen im Osmanischen Reich kaum etwas erfahren. Und auch jetzt lehnte Bethmann Hollweg jede öffentliche Verurteilung des Bündnispartners ab. „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht“, schrieb er unter die Metternich-Vorlage. Zehn Monate später musste der Botschafter seinen Posten räumen. Die meisten Deutschen konnten auch weiterhin allenfalls in Kirchenblättchen lesen, dass im Osmanischen Reich gerade ein ganzes Volk ausgelöscht wurde. Adolf Hitler allerdings muss über das Schicksal der Armenier wohl informiert gewesen sein – und hoch erfreut darüber, dass der Genozid nach Kriegsende so schnell in Vergessenheit geraten war. „Wer spricht heute noch vom Völkermord an den Armeniern?“, soll der Diktator seine Zuhörer im August 1939 auf dem Obersalzberg spöttisch gefragt haben. Gut zwei Jahre danach begannen die Massendeportationen in die deutschen Vernichtungslager. Karen Andresen

Deportation von Armeniern (1915)

Kreuz und quer durch glühende Hitze

ra vorläufig gestoppt. Aber die Briten gaben nicht auf und schickten Verstärkungen. Am 11. März 1917 fiel Bagdad dann doch. Die Kampfhandlungen im nördlichen Mesopotamien gingen danach bis Kriegsende weiter. Auf dem Sinai wurde ebenfalls gekämpft, zwei osmanische Vorstöße gegen den d e r

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DAS ENDE DER IMPERIEN

FRÉDÉRIC GADMER/MUSÉE ALBERT KAHN/DÉPARTEMENT DES HAUTS-DE-SEINE

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Britische Soldaten vor Beirut (November 1919): Der gesamte Nahe Osten versank im Chaos

unterwerfen. Immerhin, das Osmanische Osten zu kompensieren. Es war kein Zufall, Reich hatte vier Jahre lang einen äußerst dass jene Mächte, denen auf diese Weise harten Krieg an mehreren Fronten durch- der Zugang zu den Weltmeeren versperrt gestanden, was ihm vorher kaum jemand wurde, am Ende zu den großen Verlierern zugetraut hätte. gehörten. Während ihre Kriegswirtschaft Der Preis war enorm: Etwa eine Million nämlich immer weniger in der Lage war, Menschen, die ermordeten Armenier nicht den Bedarf zu decken, konnten sich die Enmitgerechnet, waren ums Leben gekommen. tente-Mächte nahezu ungehindert auf dem Der gesamte Nahe Osten versank im Cha- Weltmarkt bedienen. Ihre Kolonialimpeos. Die späteren Friedensregelungen sorgten rien waren dabei sehr hilfreich. Doch geradezu entscheidend war der Zugang zum dafür, dass dies noch lange so blieb. Der Erste Weltkrieg US-amerikanischen Markt. Für die Wirtschaft der USA eröffneten war von Anfang an auch und gerade ein Wirt- sich glänzende Möglichkeiten. Zwischen schaftskrieg. Langfristig 1914 und 1917 vervierfachten sich die Exvon größter Bedeutung porte. Allein die Eisen- und Stahlprodukwar der Zugang zu den tion stieg um 76 Prozent. Auch die LandWeltmärkten. Die Wirt- wirtschaft erreichte traumhafte Zuwachsschaft der europäischen raten. Die Masse dieser Exporte ging an die Mächte war nämlich Entente-Mächte. Obwohl die USA offiziell längst viel zu sehr von ihre Neutralität erklärt hatten, ergriffen sie den globalen Handels- damit indirekt Partei. strömen abhängig, um, Die deutsche Führung hielt sich daher nur auf sich selbst ange- für berechtigt, mit modernsten militäriwiesen, auf Dauer über- schen Mitteln ihrerseits eine Blockade des leben zu können. See- Transatlantikhandels aufzubauen. U-Booblockaden erwiesen sich te sollten Großbritannien von den lebensals eine wichtige Waffe, notwendigen Importen abschneiden. Doch Türkische Artillerie auf Gallipoli: Dschihad gegen die Ungläubigen um den Feind durch Ab- die taugten nur bedingt zur Blockade, soschnürung der Lebens- lange sie nicht ohne Rücksicht auf zivile Briten. In den folgenden Monaten drang mittel-, Rohstoff- und Warenzufuhr zu und neutrale Ziele eingesetzt wurden. Nach langen internen Machtkämpfen setzAllenby immer weiter nach Norden vor. schwächen. So sperrten Großbritannien und Frank- ten sich innerhalb der Reichsleitung Am 1. Oktober 1918 rückte australische Kareich die Zufahrten zum Atlantik und zum schließlich Anfang 1917 jene durch, die den vallerie in Damaskus ein. Während das Osmanische Reich im Sü- Mittelmeer. Die davon betroffenen Mittel- unbeschränkten U-Boot-Krieg trotz aller den auseinander brach, versuchte die türki- mächte und ihre Verbündeten blockierten Warnungen aus Washington befürwortesche Führung, sich durch eine letzte, fast ihrerseits den russischen Außenhandel ten. Die Folge war der Kriegseintritt der aberwitzige Kraftanstrengung im Norden durch die Ostsee und durch die türkischen USA am 6. April 1917 – einem Karfreitag. US-Präsident Woodrow Wilson war über Luft zu verschaffen. Russland war durch Meerengen. Die schlechte Infrastruktur Kriegsniederlage, Revolution und Bürger- machte es Russland unmöglich, die dadurch die deutsche Hinterhältigkeit empört, zukrieg geschwächt. Im Herbst 1918 drangen entstandenen Ausfälle über seine eisfreien mal auch noch ein dummdreistes Teletürkische Truppen bis nach Baku vor, um Häfen im hohen Norden und im Fernen gramm von Staatssekretär Arthur Zimdie muslimischen Brüder in Aserbaidschan zu befreien und ein neues Reich zu gründen. Doch es war bereits zu spät. Am 31. Ok- Die Sieger erwiesen sich als unfähig, aus der globalen tober 1918 musste die osmanische Führung sich dem Diktat der siegreichen Briten Katastrophe die richtigen Schlüsse zu ziehen. INTERFOTO

stellten eigene Einheiten zusammen, um durch die Unterstützung der Briten ihrem Ziel, der Errichtung eines eigenen jüdischen Staats, näher zu kommen. Im Herbst 1917 startete General Edmund Allenby von der Sinai-Halbinsel aus eine britische Großoffensive. Am 9. Dezember 1917 fiel Jerusalem, das seit 1517 in türkischer Hand war. Der theatralische Einzug in die Heilige Stadt, noch dazu kurz vor Weihnachten, war ein großer Propagandaerfolg für die

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DAS ENDE DER IMPERIEN im Oktober 1918, um Waffenstillstand zu bitten. Grundlage sollte das VierzehnPunkte-Programm von Präsident Wilson sein, das, ausgehend vom Selbstbestimmungsrecht der Völker, einen gerechten Frieden versprach. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte betraten die USA die Bühne als Weltmacht. Der Erste Weltkrieg endete mit einer merklichen Verschiebung der globalen Kräfteverhältnisse. Vier Imperien waren zusammengebrochen: das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn, das Russische Reich und das Osmanische Reich. Mit Finnland, den baltischen Ländern, Polen, Ungarn, Österreich, der Tschechoslowakei und dem

ROGER-VIOLLET

mermann abgefangen worden war, in welchem dieser die Regierung Mexikos aufforderte, die USA anzugreifen. Der Idealist Wilson verfolgte das Ziel, der Demokratie zum Sieg zu verhelfen. Obendrein lagen die Sympathien in den USA mehrheitlich auf Seiten der Entente. Aber mindestens ebenso wichtig war, dass die USA in den letzten Jahren geradezu süchtig nach dem Handel mit den Entente-Mächten geworden waren. Die glänzende Konjunktur war in Gefahr, wenn die Handelspartner und Schuldner von den Mittelmächten besiegt werden würden. So spielten wirtschaftliche Motive eine ganz erhebliche Rolle dabei, die USA in den

Antibritische Demonstration in Indien (1920): Verlangen nach Selbstbestimmung

Krieg hineinzutreiben. Spätestens jetzt war der Weltkrieg endgültig da, zumal die meisten Staaten Lateinamerikas dem Beispiel Washingtons folgten. Die deutsche Führung war davon ausgegangen, dass die USA kaum in der Lage sein würden, größere Truppenkontingente nach Europa zu entsenden. Welch ein Irrtum! Innerhalb von anderthalb Jahren wurde aus der 200 000 Mann starken Berufsarmee nach Einführung der allgemeinen Wehrpflicht ein Heer von vier Millionen. Etwa zwei Millionen GIs schafften die Amerikaner ohne Verluste über den Atlantik an die Westfront nach Frankreich. Sie entschieden den Krieg. Nicht dass sie besonders gut ausgebildet und ausgerüstet gewesen wären. Doch die schiere Masse dieser frischen Soldaten erdrückte die erschöpften deutschen Divisionen. Dabei kamen rund 117 000 US-Soldaten durch Feindeinwirkung oder infolge von Krankheiten ums Leben. Die schweren Niederlagen an der Westfront, der Zusammenbruch der Verbündeten und dann auch noch die Revolution im eigenen Land zwangen das Deutsche Reich 180

späteren Jugoslawien entstanden neun neue Staaten. Großbritannien, Frankreich und Italien erschienen als siegreiche Großmächte. Japan hatte seine Großmachtstellung in Ostasien gefestigt. Dieser Krieg war in all seiner Grausamkeit Ausdruck der fortschreitenden Globalisierung. Er wurde nicht nur auf mehreren Kontinenten und allen Weltmeeren geführt, sondern er verschob riesige Armeen samt ihrem Tross über Tausende von Kilometern hinweg. Dass sich dies technisch und logistisch überhaupt ermöglichen ließ, demonstrierte, wie klein die Welt geworden war. Es wurde zudem deutlich, wie eng sich das Netz der Weltwirtschaft verflochten hatte. Wer vom Weltmarkt ausgeschlossen war, hatte auf Dauer keine Chance. Die Öffnung der Märkte und damit die weitere, diesmal friedliche Globalisierung war eines der wichtigsten amerikanischen Kriegsziele gewesen. Durch die erneute Selbstisolation der Vereinigten Staaten nach dem Krieg – der US-Senat verweigerte im März 1920 die Ratifizierung des Versailler Vertrags – aber wurde dieses Ziel verraten und auch die Gesundung der schwer beschädigten Weltwirtschaft bed e r

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hindert. Die von Wilson verfolgten multilateralen Prinzipien blieben somit letztlich Papier, und überall gewannen die nationalen Egoismen die Oberhand. Für die Kolonialreiche hatte der Krieg noch eine andere bedenkliche Folge: Die Sieger konnten sich nämlich die deutschen Kolonien und die okkupierten Teile des Osmanischen Reichs nicht einfach einverleiben. Diese Gebiete wurden ihnen vielmehr als Mandate vom neu gegründeten Völkerbund übergeben, verbunden mit der ausdrücklichen Aufforderung, deren Unabhängigkeit vorzubereiten. Doch wenn diesen Gebieten zumindest langfristig das Recht auf Selbstbestimmung zuerkannt wurde, warum dann nicht auch den anderen Kolonien? Die Dominions des britischen Empires hatten im Krieg an Selbstbewusstsein gewonnen und strebten in der Folgezeit nach größerer Selbständigkeit. Aber auch in Kolonien wie Indien wuchs das Verlangen nach Selbstbestimmung. Der indische NationalKongress, Mahatma Gandhis Partei, berief sich fortan auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker und vergaß auch nicht, an den erheblichen Beitrag zu erinnern, den Indien in diesem Krieg geleistet hatte. Die Forderungen der indischen Nationalisten dienten den antikolonialistischen Bestrebungen in anderen Teilen der Welt in den folgenden Jahrzehnten als Vorbild. Durch den Sieg im Ersten Weltkrieg hatten das britische und das französische Kolonialreich ihre größte territoriale Ausdehnung erreicht. Doch gleichzeitig begannen sich jene Kräfte zu regen, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Untergang herbeiführten. Die Sieger erwiesen sich als unfähig, aus der globalen Katastrophe des Ersten Weltkriegs die richtigen Schlüsse zu ziehen. Statt sich der Herausforderung der Globalisierung zu stellen und sich um die Schaffung einer offeneren und gerechteren Weltordnung zu bemühen, beharrten sie auf jenem nationalistischen Kleingeist, welcher 1914 das Unheil heraufbeschworen hatte. Die in den Pariser Vorortverträgen ausgehandelte Friedensordnung provozierte auf Dauer neue Konflikte. Der britische Offizier Archibald Wavell, der unter General Allenby im Nahen Osten gedient hatte, kommentierte das Ergebnis sarkastisch: „Nach dem ‚Krieg zur Beendigung aller Kriege‘ scheinen sie in Paris ziemlich erfolgreich an einem ‚Frieden zur Beendigung allen Friedens‘ gearbeitet zu haben.“ Stig Förster, 52, ist Professor für Neueste Allgemeine Geschichte an der Universität Bern. Im nächsten Heft

DER KAMPF IN DEN KÜCHEN Aus den Protesten gegen die Mangelwirtschaft entstand der Aufstand gegen das Kaiserreich.