Der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen

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Author: Sofia Reuter
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Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V.

Gesunde Arbeit braucht Psychologie! BDP-Delegiertenkonferenz verabschiedet Positionspapier Der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) formuliert umfassende und sehr aktuelle Antworten auf die Herausforderungen einer sich wandelnden Arbeitswelt. „Psychische Einflussfaktoren gewinnen angesichts steigender Komplexität, höherem Zeitdruck und flexiblen Arbeitszeiten zunehmend an Bedeutung. Alle diese Veränderungen wirken sich vorwiegend im Bereich der psychischen Belastungen aus.“, erklärt BDPPräsident Prof. Dr. Michael Krämer. „Psychologen mit ihrem Wissen um gesundheitliche und psychische Gefahren werden als Experten in der Arbeitswelt zunehmend wichtiger.“ In den vergangenen Jahren tummeln sich Anbieter mit Geschäftsmodellen von zweifelhafter Qualität auf dem Gebiet des betrieblichen Gesundheitsmanagement, deren Angebote und Personal nicht die komplexen Aufgaben und Problemen lösen können. Die Kernkompetenzen von Psychologen umfassen alle notwendigen Kenntnisse, die für ein umfassendes und professionelles betriebliches Gesundheitsmanagement erforderlich sind. Diese reichen von der Analyse der betrieblichen Bedingungen und persönlichen Leistungsvoraussetzungen, über die Planung von passgenauen Maßnahmen Psychologische Rundschau (2016), 67 (1), 29–80

und konkreten Interventionskonzepte bis hin zum notwendigen Methodenwissen, wenn es um die Evaluation geht. Auch wenn es bei konkreten Maßnahmen wie beispielsweise einer Rückenschule oder dem betrieblichen Wiedereingliederungsmanagement natürlich der Kooperation mit anderen Berufsgruppen bedarf, sind Psychologen als Kompetenzträger in den meisten Bereichen des betrieblichen Gesundheitsmanagement unverzichtbar. Auch in ganz konkreten Aufgabenstellungen wie der Unterstützung bei Arbeitsunfällen und Extremereignissen, der Qualitätssicherung bei der Betreuung erkrankter Mitarbeiter sowie beim Coaching und der Psychotherapie liefern Psychologie und Psychologen wichtiges Grundlagen- und Anwendungswissen. Dass Prävention psychischer Belastungen vor der Behandlung und Rehabilitation Vorrang haben muss, sowie dass in Gesetzen die psychische Gesundheit ausreichend berücksichtigt wird, sind zwei zentrale Forderungen im Positionspapier. Gesundheit ist auch eine betriebliche und gesellschaftliche Aufgabe – und nicht nur die des Einzelnen: „Gesundheit hängt von individuellen Faktoren und gesundheitsförderlichen Strukturen im Arbeitsbereich ab“, so Krämer. „Deshalb schlagen wir ein fundiertes und nachhaltiges betriebliches Gesundheitsmanagement vor, in dem sich auf diesen Themenbereich spezialisierte Psychologen um die psychischen Dimensionen der Arbeitswelt kümmern.“ Das Positionspapier im Internet kostenlos abrufbar: www.bdp-verband.de/bdp/politik/2015/151107_positions papier.pdf

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Psychologe: Ein Beruf mit Zukunft!

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BDP veröffentlicht ein Kompendium zum „Berufsbild Psychologie“ Der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen gibt mit dem Kompendium „Berufsbild Psychologie“ auf 26 Seiten Einblick in zentrale Felder, in denen Psychologen tätig sein können. „Der gesellschaftliche Bedarf nach psychologischer Expertise wächst. Die Berufelandschaft wandelt sich ständig, auch die der Psychologen“, fasst BDP-Präsident Prof. Dr. Michael Krämer die Notwendigkeit zusammen, den Status quo in aller Kürze darzustellen. „Zusätzlich zu den etablierten und größten Berufsfeldern wie Psychotherapie und Beratung, Wirtschaftspsychologie, Schulpsychologie usw. werden Psychologinnen und Psychologen in weiteren Bereichen angefragt, beispielsweise in der Sportpsychologie.“ Angestoßen durch die Frage nach der Zukunft ihres Faches diskutierten die im Berufsverband organisierten Psychologen über ihr Berufsbild und erstellten daraus das Kompendium. Dieses wird zukünftig fortgeschrieben und ergänzt werden. Der Tagungsband „Quo vadis, Psychologie?“, der Vertiefendes zum Thema enthält, ist zusätzlich erschienen. „Seit der Einführung der Studienabschlüsse Bachelor und Master sind vielfältige neue Studienmöglichkeiten entstanden und die Hochschullandschaft ist sehr unübersichtlich geworden. Indem wir einen Überblick über die Haupteinsatzgebiete und die hierfür erforderlichen Qualifikationen geben, wollen wir nicht nur Studierenden, sondern auch den Nachfragenden nach psychologischen Dienstleistungen eine Orientierung geben“, so Krämer. „Denn wer sich als „Verbraucher“ zukünftig an einen Absolventen der Psychologie wendet, soll sicher sein, dass er eine qualitativ hochwertige Unterstützung erhält.“ Beide Publikationen sind im Internet kostenlos abrufbar: Berufsbild Psychologie: www.bdp-verband.de/bdp/ar chiv/berufsbild-psychologie.pdf Tagungsband „Quo vadis, Psychologie?“: www.bdp-ver band.de/bdp/archiv/quo-vadis.pdf

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Interpersonelles Integratives Modellprojekt für Flüchtlinge mit psychischen Störungen (IIMPF) Ein interkulturelles KurzzeitHilfsprogramm für Flüchtlinge mit psychischen Störungen zur Unterstützung und Förderung der Integration in die Arbeits- und Sozialwelt Hintergrund Die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland steigt derzeit dramatisch an. Auch in Berlin hat sich die Zahl der Ankommenden innerhalb weniger Monate vervielfacht. Viele der schutzsuchenden Menschen haben traumatische Erfahrungen gemacht, schätzungsweise 50 Prozent leiden unter psychischen Störungen. Generell sind psychische Störungen mit negativen Auswirkungen auf die Arbeits- und Erwerbssituation der Betroffenen verbunden. Auch bei Flüchtlingen ist derzeit die Aussicht auf berufliche Teilhabe gering. Flüchtlinge mit psychischen Störungen gehören daher zu der Hochrisikogruppe für Arbeitslosigkeit und Isolation, weshalb sie bei der Integration besonders unterstützt werden sollten. Die zur Verfügung stehenden Behandlungsangebote für psychisch kranke Flüchtlinge im deutschen Gesundheitssystem reichen derzeit jedoch bei Weitem nicht aus. Daher sind spezifische Psychotherapieprogramme für Flüchtlinge, welche auf die Probleme und Anforderungen (wie Sprach- und Kulturbarrieren) zugeschnitten sind und dabei die Zugangsbarrieren für eine schnellstmögliche Integration in die neue Arbeitsund Sozialwelt senken, dringend vonnöten. Ziel des Projektes Das Ziel dieses Projektes besteht darin, ein schnell implementierbares Hilfsprogramm für psychisch kranke Flüchtlinge mit anerkanntem Asylverfahren zu ermöglichen. So sollen zum einen zeitnah und effizient die psychischen Symptome behandelt werden, und es soll langfristigen Beeinträchtigungen, Chronifizierungen, Selbstund Fremdgefährdungen vorgebeugt werden. Zum anderen wird ein Fokus der Therapie auf die Unterstützung und Förderung der Integration in die neue Arbeits- und Sozialwelt gelegt. Beschreibung des Psychotherapie-Hilfsprogramms In dem Modellprojekt wird eine Modifikation der Interpersonellen Therapie (IPT) zur Anwendung kommen, da die IPT sich als schnell erlernbare Kurzzeittherapie in

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der Behandlung der Depression und anderer psychischer Störungen als wirksam erwiesen hat. Die IPT wurde als IIMPF modifiziert. Der Ansatzpunkt der Therapie – die interpersonellen Belastungen im Hier und Jetzt (jetzige Lebenssituation) beziehungsweise der jüngsten Vergangenheit (Flucht und Erlebnisse in den Herkunftsländern) – ist für die Zielgruppe höchst relevant. Diese Belastungen können als Auslöser, Folge oder aufrechterhaltende Bedingung der psychischen Störung fungieren. Die psychische Störung und die dadurch erschwerte Integration werden sich ohne Behandlung zudem oft wechselseitig negativ beeinflussen. In Tabelle 1 werden die IIMPF-Behandlungsbereiche kurz vorgestellt. Zu den vier IPT-Behandlungsfoki wurde als erster Fokus der IIMPF „Integration“ hinzugefügt, die für alle Flüchtlinge mit Bleiberecht relevant ist und in der IIMPF obligatorisch bearbeitet wird. Tabelle 1. Die fünf Behandlungsbereiche des IIMPF 1| Integration Unterstützung und Förderung der Prozesse, die zur Integration in die neue Arbeits- und Sozialwelt beitragen 2| Rollenwechsel Lebensveränderung durch die Flucht: Hilfe beim Betrauern des Verlusts der positiven Aspekte der alten Rolle mit anschließender Unterstützung, die neue Rolle positiv(er) wahrzunehmen und aktiv zu gestalten 3| Interpersonelle Konflikte Relevante interpersonelle Konflikte (von früher oder der jetzigen Lebenssituation) werden bearbeitet unter Berücksichtigung eines Verständnisses für kulturell bedingte unterschiedliche Sichtweisen 4| Isolation/Einsamkeit Menschen, die vieles verloren haben, fühlen sich häufig isoliert und einsam, weshalb hier gezielt am Aufbau neuer Beziehungen und Rollen gearbeitet wird 5| Trauer Unterstützung bei komplizierter Trauer über den Tod einer nahestehenden Person durch aktive Trauerarbeit, welche dabei helfen kann, sich aus der lähmenden Bindung zum Verstorbenen zu befreien, ein inneres Bild des Verstorbenen aufzubauen und sich neu zu orientieren

Durchführung des Projekts Die IIMPF dauert zwei Monate und setzt sich aus verschiedenen Behandlungsbausteinen (Psychotherapie, Sozialberatung, Ergotherapie, psychiatrische Behandlung) zusammen. Um eine hohe Qualität zu gewährleisten, werden professionell qualifizierte Dolmetscher die Diagnostik und Therapie unterstützen. Alle Projektmitarbeiter, welche größtenteils ehrenamtlich mitarbeiten, werden in der IIMPF sowie in interkulturellen Kompetenzen trainiert. In einer ersten Phase wird das Hilfsprogramm ab November 2015 in Berlin implementiert. Es ist geplant, zunächst 30 Flüchtlinge aus SyriPsychologische Rundschau (2016), 67 (1), 29–80

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en und dem Irak innerhalb von sechs Monaten zu behandeln. Das IIMPF wird durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales gefördert. Ausblick Sollte sich die IIMPF als gut durchführbar und wirksam erweisen, könnte sie schnell flächendeckend in Berlin und ganz Deutschland als Kurzzeithilfsprogramm implementiert werden. Zudem sollte überprüft werden, welche Leistungen von Kostenträgern übernommen werden können, was sich mit den Überlegungen der Bundesregierung und Forderungen der Bundespsychotherapeutenkammer deckt. Wenn viele Flüchtlinge, die derzeit in Deutschland eine neue Heimat suchen, langfristig unter psychischen Störungen leiden, wird dies abgesehen vom Leid des Einzelnen und der Angehörigen auch Probleme bei der Eingliederung in einen neuen Lebensraum und hohe Kosten für unsere Gesellschaft bedingen. Bei rechtzeitiger Behandlung und Förderung der beruflichen Teilhabe können die Flüchtlinge langfristig jedoch zu einer Stärkung des Gesundheitssystems und einer Lösung der ansonsten drohenden demografischen Krise beitragen. Insofern sollen Projekte wie dieses Flüchtlingen helfen, Zugangsbarrieren zur neuen Arbeits- und Sozialwelt aus dem Weg zu räumen, und dadurch letztlich zu einer Willkommenskultur und einer Lösung des Demografieproblems in Deutschland beitragen. Eva-Lotta Brakemeier, Simon Rump, Jan Spies und Meyram Schouler-Ocak

Kontakt Prof. Dr. Eva-Lotta Brakemeier, Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie Psychologische Hochschule Berlin (PHB) Am Köllnischen Park 2 10178 Berlin [email protected]

Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrung Nach aktuellen Schätzungen der Vereinten Nationen ist rund die Hälfte der weltweit 60 Millionen Flüchtlinge minderjährig. In Deutschland stellt die Integration und Stabilisierung von Kindern und Jugendlichen mit Fluchterfahrung eine Herausforderung für Schulen und Kindertagesstätten dar. In diesem Artikel wollen wir die besondere Situation der jungen Menschen näher beleuchten und Unterstützungsmöglichkeiten der Psychologie und speziell der Schulpsychologie aufzeigen. Situation neu zu© 2016 Hogrefe Verlag

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gewanderter Familien aus psychologischer Sicht Familien mit Kindern suchen Zuflucht in Deutschland, um Kriege, Krisen und Armut in ihrer Heimat hinter sich zu lassen. In erster Linie stellt die Ankunft eine Erleichterung dar: Die Familie ist in Sicherheit, und die Gefahren der Flucht sind gebannt. Allerdings ergeben sich in der Fremde auch neue Belastungen: Vielfach müssen Eltern und Kinder traumatische Erlebnisse in ihrem Herkunftsland und auf der Flucht verarbeiten. Hinzu kommt die Sorge um in der Heimat verbliebene Freunde und Angehörige. Die Unterbringung in beengten Verhältnissen, ein unklarer Aufenthaltsstatus, fehlende Perspektiven tragen zu weiterer Verunsicherung bei. Allgemein lässt sich der typische Zuwanderungsprozess anhand einer „Kulturschockkurve“ abbilden: Während die Ankunft in der Aufnahmegesellschaft noch von hoher Zufriedenheit geprägt ist, kommt es in der Folge zu einer Ernüchterung und einem Fremdkulturschock. Oftmals geht diese Phase mit einer Rückbesinnung auf Werte und Traditionen der Herkunftskultur einher, gleichzeitig ergeben sich Umbrüche im Familiensystem. Eltern können sich unfähig fühlen, die Rolle der Versorger der Familie hinreichend auszufüllen, Kinder hingegen werden „parentifiziert“, indem sie zum Beispiel Gänge zu Ämtern übernehmen. Zusätzlich erleben junge Menschen oftmals einen Loyalitätskonflikt, da sie einerseits den Erwartungen der Eltern gemäß Werten und Traditionen der Herkunftskultur gerecht werden, andererseits den Herausforderungen und Erwartungen der Aufnahmegesellschaft erfolgreich begegnen wollen. Familien mit Zuwanderungsgeschichte sind besonders in dieser Phase unterstützungsbedürftig. Im typischen Verlauf wächst die Zufriedenheit erst allmählich – häufig im Verlaufe von Jahren – wieder an, und zufriedenstellende Anpassungsprozesse finden statt. Bei Familien mit Fluchthintergrund können wir davon ausgehen, dass die beschriebenen Phasen aufgrund der besonderen Umstände extrem ausfallen. Den vielfältigen Widrigkeiten zum Trotz besitzen besonders Kinder und Jugendliche wichtige Ressourcen für den Umgang mit Belastungen. Sie sind neugierig, offen für neue Erfahrungen, sie wünschen sich Unbeschwertheit, möchten lernen und ihr Wissen erweitern. Am besten können diese Ressourcen aktiviert und gefördert werden, wenn junge Menschen sich in einer sicheren Umgebung wahrnehmen, in der klare Regeln und verlässliche Bezugspersonen vorhanden sind. Das gilt gerade auch für Kinder und Jugendliche, die durch schlimme Erlebnisse im Herkunftsland oder auf der Flucht traumatisiert sind. Zu ihrer Stabilisierung ist ein sicherer Ort, der eine feste Struktur und eine starke Gemeinschaft bietet, enorm wichtig. Einen solchen Ort können Schule und Kindertagesstätte bieten. © 2016 Hogrefe Verlag

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Situation in der Schule oder der Kindertagesstätte Der Schulbesuch – wie auch die Aufnahme der Kinder in eine Kindertagesstätte oder in berufliche Maßnahmen – gibt Familien mit Fluchthintergrund oftmals neue Hoffnung und wird von positiven Erwartungen begleitet. Andererseits ergeben sich Unsicherheiten, etwa durch fehlendes Wissen über das deutsche Bildungssystem, Sprachbarrieren sowie als fremd empfundene Werte und Rituale. Eltern sind vielfach selber stark belastet und können ihre Kinder beim schulischen Lernen nur wenig unterstützen. Unter Umständen sind sie mit einem Schulsystem aufgewachsen, in dem die Elterneinbindung gar nicht erwünscht ist. Kinder und Jugendliche wiederum finden sich in einer fremden Umgebung wieder, sie trauern um den Verlust von Freunden, des vertrauten Umfelds, der Heimat. Sie verstehen anfangs weder die Sprache noch die Regeln der Aufnahmegesellschaft, was tiefe Verunsicherung und Angst vor Fehlern hervorruft. Junge Menschen brauchen deshalb in der Eingewöhnungsphase vor allen Dingen Zeit und Verständnis für ihre Situation. Als Folge der aufgezeigten Belastungen können die Entwicklung und das Lernen von Kindern und Jugendlichen mit Fluchthintergrund beeinträchtigt sein. Mögliche Reaktionen sind vielfältig, sie folgen keinem typischen Muster: Manche zeigen sich unerwartet fröhlich, unbekümmert und angepasst, andere wiederum fallen durch sozialen Rückzug, Unruhe und Konzentrationsprobleme auf. Die Liste möglicher Reaktionen und Verhaltensweisen wäre beliebig erweiterbar. Wichtig ist, dass pädagogische Fachkräfte und Lehrkräfte wertschätzend auf die Kinder und Jugendlichen reagieren und Sicherheit sowie Stabilität vermitteln. Gespräche über belastende Erlebnisse sollten nicht aufgedrängt, aber Offenheit und Interesse signalisiert werden. Durch den regelmäßigen Besuch von Schule oder Kindertagesstätte lernen die jungen Menschen einen sicheren und verlässlichen Ort kennen, der einen wesentlichen Beitrag zu ihrer Stabilisierung leistet.

Psychologische Unterstützung von Kindern und Jugendlichen sowie Institutionen Die Aufgaben von Psychologinnen und Psychologen für Kinder und Jugendliche werden zumeist im Bereich von Traumadiagnostik, psychotherapeutischer Stabilisierung oder Überleitung in eine Psychotherapie gesehen. Diese klinische Ausrichtung psychologischer Unterstützungsmaßnahmen ist ein wichtiger Baustein in der Versorgung Psychologische Rundschau (2016), 67 (1), 29–80

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von belasteten und oftmals traumatisierten jungen Menschen. Die aktuelle Lebenssituation der Familien mit Fluchterfahrung macht jedoch in den ersten Wochen und Monaten der Zuwanderung längerfristige psychotherapeutische Maßnahmen – etwa aufgrund eingeschränkter Versorgungsansprüche oder häufiger Ortswechsel – oft kaum möglich. Daher verbleibt die Aufgabe der kurzfristigen Stabilisierung und Integration bei den Lehr- und Fachkräften in Kindertagesstätten, Schulen oder Ausbildungsmaßnahmen und stellt sie vor bedeutsame Herausforderungen und Fragen. Psychologische Angebote beziehen sich deshalb in der aktuellen Situation mehr auf die Unterstützung der pädagogischen Institutionen und Fachkräfte. Kinder und Jugendliche benötigen in der Zeit des Eingewöhnens und Verarbeitens stabile und verlässliche Beziehungen, treffen aber oft auf Erwachsene, die selber verunsichert sind und die psychischen Auswirkungen einer Fluchtgeschichte nur schwer einschätzen können. Hier sind konkrete Informationen, Ermutigung zu pädagogischem Handeln sowie psychologische Supervisionsangebote zum Schutz vor Überforderung erforderlich.

Angebote der Schulpsychologie Die Schulpsychologie hat sich auf die beschriebenen Anforderungen ausgerichtet. So ist etwa am Kompetenzzentrum Schulpsychologie in Tübingen (Baden-Württemberg) eine Fortbildungsreihe für Lehrkräfte in drei Modulen erarbeitet worden, die von Schulpsychologen an den Schulen durchgeführt wird. Darin werden neben der aktuellen Situation von Flüchtlingen in Deutschland auch Grundlagen zu Belastungen und Traumatisierung sowie Methoden der Stabilisierung junger Menschen vermittelt. Ähnliche Fortbildungsangebote sind in anderen Bundesländern entstanden, außerdem werden spezielle Su-

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pervisionsgruppen, Fachtage und Handreichungen für Schulen und Lehrkräfte angeboten. Die Sektion Schulpsychologie im BDP veranstaltete am 24. September 2015 im Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen eine Tagung zur Thematik. Dabei wurde festgestellt, dass die Schulen in der aktuellen Situation mehr schulpsychologische Unterstützung zur Bewältigung der Flucht- und Einwanderungsthematik benötigen. Auch auf lange Sicht wird auf Schulen die Aufgabe der Integration von neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen zukommen. Daher ist die Entwicklung hin zur interkulturell offenen und sensiblen Schule unerlässlich. Mit ihren Konzepten und Strukturen kann die Schulpsychologie die Schulen bei dieser Entwicklung unterstützen.

Dr. Christian Issmer und Stefan Drewes [email protected] www.duesseldorf.de/Schulpsychologie

Literatur Draber, S., Fitzner, S., Isecke-Vogelsang, M., Tamer, A. & Wendt, P. (2014). Multikulti in der Klasse. Kleiner Ratgeber der Willkommenskultur [Grundschule, 10, Extra-Beilage]. Verfügbar unter: http://www.die-grundschule.de Scherwath, C. & Friedrich, S. (2014). Soziale und pädagogische Arbeit bei Traumatisierung. München: Reinhardt. Shah, H. (2015). Flüchtlingskinder und jugendliche Flüchtlinge in der Schule. Herausgegeben vom Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg. Verfügbar unter: http://www. km-bw.de sowie ebenfalls von der Unfallkasse Berlin. Shah, H. & Weber, T. (2013). Trauer und Trauma. Kröning: Asanger. Sylla, M. & Genc, Ö. (2015). Flüchtlingskinder. Schule als sicherer Ort. Borken: Regionale Schulberatungsstelle des Kreises Borken. Verfügbar unter: http://www.rsb-borken.de DOI: 10.1026/0033-3042/a000310

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