Und dann sah ich die Kolonne kommen, eine Kolonne KZ-Häftlinge. Die wurden dazu gezwungen, Marschlieder zu singen: Ich meine, das muss die ganze Bevölkerung ja gewusst haben: Das sah natürlich wie ein Geisterzug aus. Sie können sich vorstellen, die KZler, 1944 mit ihrem Essensgeschirr da an der Seite baumeln, Holzschuhe oder was si

da gerade anhatten, schlecht gekleidet. Das Bild passte überhaupt nicht zu dem, was sie gesungen haben und wie sie gesungen haben. Das war grotesk.« Herr F. »Das war alles so geheim und so still und so eben, das durfte alles, das musste alle

irgendwie negiert werden, was man sah. Man durfte das alles nicht sehen. Das wurde einem so, so schleichend beigebracht. Das seht ihr nicht, das wisst ihr nicht, was das ist.« Frau E. »Mal was zugesteckt? - Nee, das hab ich nicht gemacht … i

Denkort Bunker Valentin

Denkort Bunker Valentin / Marinerüstung und Zwangsarbeit

Inhalt Seite 02

Impressum

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Vorwort

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Daten zur Rüstung und Zwangsarbeit in Bremen-Nord / Schwanewede

Seite 09

Marc Buggeln: Der Bau des U-Boot-Bunkers ›Valentin‹, der Einsatz von Zwangsarbeitern und die Beteiligung der Bevölkerung

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Literatur zur Geschichte des Bunkers Valentin

Seite 27

Weitere Angebote zur Ausstellung ›Denkort Bunker Valentin‹

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Seite 02

Impressum © 2007 Landeszentrale für politische Bildung der Freien Hansestadt Bremen Osterdeich 6 28203 Bremen Gestaltung: David Lindemann Herstellung: Meiners Druck OHG, Bremen

Denkort Bunker Valentin / Marinerüstung und Zwangsarbeit

Vorwort Einladung an die Multiplikatoren politischer und historischer Bildung

Die Landeszentrale für politische Bildung lädt Sie sehr herzlich ein, mit Ihren Klassen und Bildungsgruppen die Ausstellung ›Denkort Bunker Valentin – Marinerüstung und Zwangsarbeit‹ zu besuchen. Die Vermittlung von Wissen über die Zeit des Nationalsozialismus ist zu Recht selbstverständlicher und notwendiger Bestandteil politischer Bildung und ­Erziehung in der und zur Demokratie. Für heutige Schüler(innen)generationen wird die historische Distanz zum Natio­nalsozialismus nicht mehr dadurch überbrückt, dass Eltern oder Großeltern von ihren eigenen Erfahrungen erzählen. Der Übergang von der Zeitgeschichte zur Geschichte ist für sie abgeschlossen, sie erleben den Nationalsozialismus ausschließlich als Geschichte. Die Notwendigkeit, über politische Ziele und Methoden des Nationalsozialismus aufzuklären, hat sich allerdings keineswegs verringert, eher im Gegenteil. Es ist deshalb üblich geworden, im Laufe der Schulzeit Orte aufzusuchen, die heute noch etwas vom Gewaltcharakter des nationalsozialistischen Regimes nachvollziehen lassen. Ein solcher Ort ist der Bunker Valentin. Errichtet in knapp zwei Jahren Bauzeit von Tausenden von Zwangsarbeitern als vermeintlich bombensichere Produk­ tionswerft für ein neues U-Boot für den Zweiten Weltkrieg, kreuzen sich hier wichtige Entwicklungslinien der nationalsozialistischen Politik: Eroberungspolitik gegenüber den europäischen Nachbarn, Zwangsarbeitspolitik und Rassismus, aber auch technische Modernität für Krieg und Herrschaftssicherung. Die Landeszentrale für politische Bildung hat zusammen mit der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, dem Verein ›Geschichtslehrpfad Lagerstraße e.V.‹ und dem Verein ›Erinnern für die Zukunft e.V.‹ die Geschichte dieses Projekts aufgearbeitet und in Form einer Ausstellung zugänglich gemacht. Die zentralen Kapitel der Ausstellung sind U-Boot-Krieg und U-Boot-Rüstung, der Bunkerbau und Zwangsarbeit, die Bevölkerung der umliegenden Ortschaften, das Ende des Bauprojekts und die Auflösung der Lager, Verschweigen und Erinnern in der Nachkriegszeit. Die Ausstellung ist auch gedacht zur Vorbereitung auf einen Besuch des Bunkers. Wir bieten Ihnen Führungen durch die Ausstellung mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten, ergänzendes Filmmaterial und Führungen zu den Standorten der ehemaligen Zwangsarbeiterlager an. Ansprechpartner und Adressen finden Sie auf Seite 28. Ein einführender Auf­satz, eine Chrono­ logie und einige Dokumente sowie Literaturangaben in dieser Broschüre sollen Ihnen die Vorbereitung des Besuchs erleichtern. Mit freundlichen Grüßen

Herbert Wulfekuhl Leiter der Landeszentrale für politische Bildung Bremen

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Denkort Bunker Valentin / Marinerüstung und Zwangsarbeit

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Daten zur Rüstung und Zwangsarbeit in Bremen-Nord/Schwanewede* 1933 30. Januar 1934 24. August

1935 16. März

18. Juni

1936 1938 12. März 1. Oktober

1939 17. Februar 23. August 1. September

1. November

Der Reichspräsident Paul von Hindenburg (1847–1934) ernennt Adolf Hitler zum Reichskanzler. Das Reichswirtschaftsministerium veranlasst im Zuge der Kriegsvorbereitung die Gründung der Wirtschaftlichen Forschungsgesellschaft mbH (Wifo), um den Bau und Betrieb von Groß- und Zwischentanklagern vor allem für die Wehrmacht zu realisieren. Hieran ist vor allem der Chemiekonzern IG Farben beteiligt. Im Laufe des Jahres kauft die Wifo Land in der Rekumer und Neuenkirchner Heide. Gesetz für den Aufbau der Wehrmacht: Die allgemeine Wehrpflicht wird wieder eingeführt. Umbenennung der Reichswehr in Wehrmacht. Im Rahmen der Neu­ organisation wird Erich Raeders Dienststellung in ›Oberbefehlshaber der Marine‹ umbenannt. Deutsch-britisches Flottenabkommen. Dieses legt fest, über wie viele Schlacht­ schiffe und U-Boote Deutschland zukünftig verfügen kann. Das ›Lager Tesch‹ wird am Westrand des Wifo-Baugeländes in Bremen-Farge aufgebaut. Ein genaues Datum ist nicht bekannt, vermutlich Ende des Jahres. Einmarsch deutscher Truppen in Österreich. Beginn des Einmarsches deutscher Truppen in die sudetendeutschen Gebiete der Tschechoslowakei. Tschechische Arbeitskräfte werden im Lager Tesch in Bremen-Farge unter­ gebracht. Im Rahmen der Nachforschungen über Gefängnisse und Lager wird 1950 angegeben, dass dort 2 000 Männer untergebracht waren. Im Januar wird mit dem Bau der Behälter für das Tanklager der Kriegsmarine begonnen. Die Kriegsmarine übernimmt das vier Quadratkilometer große Gelände nördlich des Tanklagergeländes, das die Wifo im Jahr zuvor gekauft hat. Abschluss des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes. Deutscher Angriff auf Polen. Das Lager Neuenkirchen, später auch als Marinegemeinschaftslager II bezeichnet, mit 27 Steinbaracken für ca. 500 deutsche Arbeiter entsteht in der heutigen Gemeinde Schwanewede. Später werden dort westeuropäische Arbeitskräfte untergebracht und beim Bau des Marinetanklagers sowie beim Bunkerbau eingesetzt. Mit der sogenannten ›Vierten Verordnung über den Neuaufbau des Reiches‹ werden die zuvor preußischen Gemeinden Lesum, Grohn, Schönebeck, Aumund, Farge, Rekum und Blumenthal Bremen eingemeindet. Neuenkirchen verbleibt bei der preußischen Provinz Hannover. Einrichtung einer Schiffsanlegestelle an der Weser in Bremen-Farge für die Kriegsmarine neben der Anlegestelle der Wifo.

*Auszug aus einer ausführlichen Chronik auf der Internetseite www.bunkervalentin.de (in Vorbereitung).

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1940 Januar 17. März

Frühjahr 9. April 10. Mai 10. Juni 22. Juni 27. September

1941 28. Mai

31. Mai

22. Juni

11. Dezember 1942 8. Februar

25. Februar

21. März

19. November

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Der ›Reichsführer SS‹ Heinrich Himmler bestimmt, dass in Neuengamme ein eigenständiges KZ entstehen soll. Hitler ernennt Fritz Todt (1891–1942) zum Reichsminister für Bewaffnung und Munition. Todt beginnt mit Zustimmung der Wirtschaft mit dem Aufbau eine Neuorganisation der Rüstung. Die Bremer Gestapo richtet das sogenannte Arbeitserziehungslager Farge (AEL) ein. Besetzung Dänemarks und Invasion Norwegens (Operation ›Weserübung‹). Deutscher Angriff gegen Belgien, die Niederlande, Luxemburg und Frankreich. Kriegseintritt Italiens. Waffenstillstand zwischen Deutschland und Frankreich. Der Norden Frankreichs und die Atlantikküste werden besetzt. Dreimächtepakt zwischen Deutschland, Italien und Japan. Im Herbst beginnt die Kriegsmarine mit einer Seeblockade gegen Großbritannien. Krupp erwirbt 86,4 Prozent des Aktienkapitals der Deschimag und gliedert damit auch die Werft AG ›Weser‹ in den Konzern ein. Der ›Reichsführer SS‹ und Chef der deutschen Polizei regelt in einem ersten Erlass den Betrieb und Aufbau der sogenannten Arbeitserziehungslager (AEL). Bereits Frühjahr 1940 hatte die Bremer Gestapo das AEL Farge eingerichtet. Die genaue Datierung dieses speziellen Straflagers für Beschäftigte, die als ›Arbeits­ verweigerer‹ eingestuft wurden, lässt sich nicht mehr feststellen Die Haftdauer sollte in diesen regionalen Lagern der Gestapo 56 Tage nicht überschreiten. Das Kommando der Marinestation Nordsee gibt bekannt, dass die Arbeiten auf der Baustelle des Kriegsmarinetanklagers in Farge bzw. Schwanewede offiziell eingestellt werden. Angriff auf die Sowjetunion. Ab Oktober wird ein Kriegsgefangenenarbeitskommando auf dem Wifo-Gelände (das Gelände liegt in Bremen-Farge und Schwanewede) untergebracht. 150 bis 200 sowjetische Kriegsgefangene werden in zwei Baracken untergebracht. Kriegserklärung Deutschlands an die USA.

Albert Speer (1905–1981) wird nach dem Tod von Fritz Todt Reichsminister für Bewaffnung und Munition. Der Einfluss der Privatwirtschaft auf die Rüstungswirt­ schaft steigt. Die fünfte Polizeiverordnung zur ›Regelung des Verhaltens der im Lande Bremen eingesetzten Zivilarbeiter und -arbeiterinnen polnischen Volkstums‹ wird erlassen. Fritz Sauckel wird ›Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz‹ und ist damit auf der Führungsebene verantwortlich für die zwangsweise Beschäf­tigung von Millionen ausländischer Arbeitskräften. Beginn einer sowjetischen Großoffensive. Die 6. Armee und rumänische Verbände werden in Stalingrad eingekesselt.

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Seite 06

18. Dezember

21. Dezember

1943 14. bis 25. Januar

19. Januar 31. Januar 31. Januar

18. Februar April

26. Juli

8. Juli 10. Juli 25. Juli

Oktober

1. November 6. November

Das Oberkommando der Kriegsmarine (OKM) richtet gemeinsam mit dem Reichsministerium für Bewaffnung und Munition (RMBuM) die Oberbauleitung U-Weser (Unter-Weser) ein. Diese ist für den Bau der U-Boot-Bunker ›Hornisse‹ der Werft AG ›Weser‹ der Deschimag (Krupp-Konzern) und ›Valentin‹ der ­ Vulkan-Werft (Thyssen Konzern) zuständig. Die Leitung wird Marineoberbaurat Edo Meiners übertragen. Die Baustelle Valentin übernimmt Marinebaurat Hans-Joachim Steig. Das Oberkommando der Kriegsmarine weist untergeordnete Stellen im Bereich Nordsee darauf hin, dass gemäß Führerbefehl vom 8. November die U-BootNeubauten verbunkert werden sollen.

Auf der Konferenz von Casablanca fordern der amerikanische Präsident Roosevelt und der britische Premierminister Churchill die ›bedingungslose Kapitulation Deutschlands‹. Das Oberkommando der Marine beauftragt die Arbeitsgemeinschaft Agatz & Bock, die Konstruktionspläne für den U-Boot-Bunker Valentin zu erstellen. Hitler entlässt den Oberbefehlshaber der Kriegsmarine Erich Raeder. Sein Nach­ folger wird Karl Dönitz. Die bei Stalingrad eingeschlossenen deutschen Truppen kapitulieren. Die 90 000 Überlebenden der ehemals 250 000 Mann starken 6. Armee gehen in Gefangen­ schaft. Joseph Goebbels verkündet in seiner Rede im Berliner Sportpalast den ›Totalen Krieg‹. Die Frankfurter Firma Johann Keller beginnt mit Bodenuntersuchungen für das Projekt U-Boot-Bunker in Farge. Ab Mai wird die Bunkerbaustelle in Farge eingerichtet, Anfang Juli beginnen die Erdarbeiten. Mitte des Jahres wird das Lager Schwanewede-Heidkamp (Heidkamp I und II) am Ostrand des Kriegsmarinetanklagers errichtet. Die ›Polizeiverordnung über die Kennzeichnung und das Verhalten der im Lande Bremen eingesetzten Ostarbeiter und Ostarbeiterinnen‹ wird erlassen. Im Sommer 1943 wird ein weiteres Marinegemeinschaftslager aufgebaut. Dönitz meldet Hitler den erfolgreichen Entwurf eines Elektro-U-Bootes. Die Alliierten landen auf Sizilien. Der italienische ›Duce‹ Mussolini wird gestürzt. Das faschistische Regime in Italien ist zu Ende. Ab Sommer 1943 werden die neuen U-Boot-Typen in einem zentralen Konstruktionsbüro mit der Tarnbezeichnung Ingenieurbüro Glückauf in Blankenburg/ Harz konstruiert, Bauzeichnungen angefertigt und die Fertigung geplant. Als drittes Außenlager des KZ Neuengamme wird ein Treibstoffbunker der Marine genutzt. Die Häftlinge kommen in einem fensterlosen Betontank mit nur einer Öffnung in der Decke unter. Das Programm für den Bau des neuen U-Boots Typ XXI liegt vor. Die AG ›Weser‹ erhält den Auftrag, 68 U-Boote des Typs XXI aus vorgefertigten Sektionen zu montieren.

Denkort Bunker Valentin / Marinerüstung und Zwangsarbeit

28. November bis 1. Dezember 1944

4. März

22. April

6. Juni 20. Juli 1. August 1. August 10. November

25. November 30. November

1945 4. bis 11. Februar 27. März

30. März 7. April 7. April

Seite 07

In Teheran versammeln sich die alliierten Staatsmänner auf einer Konferenz. Auf der Baustelle Valentin und in den Betrieben auf dem Baustellengelände arbeiten in mehreren Schichten täglich zeitweise 8 000, nach anderen Angaben bis zu 12 000 Menschen. Im Frühjahr erhält die Oberbauleitung Unterweser den Auftrag, das Baudock ›Kap Horn‹ der AG ›Weser‹ zu verbunkern. Das Projekt zum Bau eines U-BootBunkers hat den Tarnnamen ›Hornisse‹. Dort sollen den Planungen entsprechend Sektionen für das neue U-Boot Typ XXI hergestellt werden. Das Universitätskrankenhaus Eppendorf in Hamburg erstellt im Auftrage der Marine ein Gutachten über den Gesundheitszustand der Insassen des Kriegs­ gefangenenlagers in Bremen-Blumenthal, des KZ-Außenlagers und des Arbeitserziehungslagers in Farge. Dieses Gutachten bescheinigt eine katastrophale Versorgungssituation. Der Großadmiral Dönitz besucht die Werft Bremer Vulkan und die Bunker­ baustelle. Von Ende Mai 1944 bis Jahresende nimmt der Fotograf Johann Seubert im Auftrag der Organisation Todt in der Regel wöchentlich eine Fotoserie im gesamten Bauumfeld auf. Im Nachlass des Bauleiters Marinebaurat HansJoachim Steig ist ein insgesamt 102 Minuten langer Amateurfilm erhalten. Landung der Alliierten in Frankreich, in der Normandie (›D-Day‹). Stauffenbergs Attentat auf Hitler misslingt. Der erste Spannbetonträger wird beim Bunkerbau verlegt. Im KZ-Außenlager Farge trifft ein Transport mit etwa 2 000 Häftlingen ein. Rüstungsminister Speer betont gegenüber dem Leiter der Organisation Todt, dass der Bau der U-Boot-Bunker wichtiger sei als das Jägerbauprogramm (Bau von Kampfflugzeugen). Propagandaminister Joseph Goebbels besucht Bremen, die Werft AG ›Weser‹ und die Baustelle Valentin. Albert Speer gibt die Planungen zum Bunker ›Valentin II‹ für 14 U-Boot-Plätze in Auftrag. Mit den Arbeiten wird im Januar 1945 noch begonnen. Die Versorgung der beim Großbauprojekt Valentin beschäftigten Zwangs­ arbeiter hat sich nicht verbessert. Insbesondere in den Herbst- und Winter­ monaten treten vermehrt Todesfälle auf. Konferenz von Jalta (Krim-Konferenz) Die britische Luftwaffe bombardiert den Bunker Valentin. Die zwei 10-TonnenBomben durchschlagen die Decke dort, wo die Endstärke noch nicht fertig­ gestellt ist. Die amerikanische Luftwaffe wirft erneut Bomben auf den Bunker Valentin und den Bunker Hornisse. Die Großbaustelle Valentin wird teilweise verwüstet. Die Aufräumarbeiten auf der Bunkerbaustelle werden eingestellt. Beginn der Todesmärsche: Häftlinge aus anderen Lagern werden ins AEL Farge transportiert und sollen von dort aus mit dem Zug nach Bergen-Belsen gebracht werden. Der Zug irrt tagelang umher, viele Häftlinge verdursten oder verhun-

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Seite 08

30. April 30. April 1. Mai

2. Mai 3. Mai

5. Mai 7. Mai

7. und 9. Mai 8. Mai 23. Mai 9. Oktober

gern. AEL-Häftlinge werden zu Fuß nach Hamburg und weiter ins sogenannte Arbeitserziehungslager Nordmark in Kiel-Russee, andere KZ-Häftlinge sowohl aus Farge als auch aus anderen Außenlagern werden Richtung Sandbostel getrieben. Kurz vor der Niederlage der Deutschen Wehrmacht wird das Marinegemeinschaftslager II in ein Lazarett umgewandelt. Am 24. April übergibt Marine­ baurat Bosselmann das als Lazarett genutzte Marinegemeinschaftslager an den Landkreis. Hitler begeht Selbstmord. Die U 2511 läuft als erstes U-Boot des Typs XXI in Bergen aus. Eine kleine amerikanische Einheit überschreitet die Lesum, und am 2. und 3. Mai räumen die letzten deutschen Verteidigungstruppen das nordbremische Gebiet. Der Oberbefehlshaber der Marine Dönitz wird als ›Reichspräsident‹ Hitlers Nachfolger. Er verlegt sein Hauptquartier nach Flensburg. Die drei Schiffe ›Cap Arcona‹ mit 4 200 Häftlingen an Bord, die ›Thielbeck‹ mit etwa 2 800 Häftlingen und die ›Athen‹ mit 2 000 Häftlingen ankern in der ­Neustädter Bucht (Ostsee) und werden dort von englischen Fliegern ange­ griffen und versenkt. Auch Häftlinge und Wachpersonal aus den Bremer Lagern sind auf den Schiffen. Bremen-Nord wird nach der Teilkapitulation in Nordwestdeutschland besetzt. Die Werft Bremer Vulkan wird von britischen Truppen besetzt. Sie ist unzerstört. Nach 14 Tagen wird die Produktion wieder aufgenommen. Es werden Feuerzeuge und Kochtöpfe hergestellt und amerikanische Minensuchboote repariert. Unterzeichnung der deutschen Kapitulation in Reims bzw. Berlin-Karlshorst. Dönitz gibt in einer Rundfunkansprache allen deutschen Truppen den Befehl zur Kapitulation. Eisenhower befiehlt, die Regierung Dönitz abzusetzen und diese wie auch das Oberkommando der Wehrmacht zu verhaften. Der Bremer Bürgermeister Wilhelm Kaisen teilt mit, dass bei Farge ein Massengrab gefunden worden ist.

1946

»›Imi’s‹. Chronik einer Verbannung« erscheint 1946 beim Verlag Friedrich Trüjen in Bremen. In der Chronik schildert der Bremer Jurist und Senator Wilhelm Nolting-Hauff seine Inhaftierung im Lager Farge und in anderen Arbeitslagern. Das Manuskript hatte er bereits am 10. April 1945 abgeschlossen.

1947

Im Frühjahr werden auf dem Wifo-Gelände im Bockhorner Wald Massengräber entdeckt.

Marc Buggeln

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Der Bau des U-Boot-Bunkers ›Valentin‹, der Einsatz von Zwangsarbeitern und die Beteiligung der Bevölkerung* Den wichtigsten Grund für die Absicht der Kriegsmarine, U-Boot-Bunker in Deutschland zu bauen, bildete die zunehmende alliierte Lufthoheit, die zu immer zielgenaueren Angriffen auch auf die deutsche Werftindustrie führte. Nachdem 1942 bereits kleinere Bunker bei den Werften in Kiel und Hamburg entstanden waren, setzten Ende 1942 Überlegungen ein, auch bei den Bremer Werften U-Boot-Bunker zu schaffen. 1 Vorgesehen für das Vorhaben waren die zum Krupp-Konzern gehörende Werft der Deschimag AG ›Weser‹ und die zum Thyssen-Konzern gehörende Bremer Vulkan-Werft. Während der Bunker der Deschimag (Tarnname: ›Hornisse‹) direkt am Werftgelände entstehen sollte, 2 entschied man sich bei dem für den Vulkan geplanten Bunker für eine Verlegung des Baus nach Farge, ca. 10 Kilometer weserabwärts von der Werft. 3 Für den Bau der beiden Bunker richtete das Oberkommando der Kriegsmarine (OKM) gemeinsam mit dem Reichsministerium für Bewaffnung und Munition (RMBuM) 4 die Oberbauleitung U-Weser (Unterweser) ein. Mit der Leitung wurde Marineoberbaurat Edo Meiners beauftragt. In einer Besprechung beim OKM wurde er am 18. Dezember 1942 über seine neue Funktion und seine Aufgaben unterrichtet. 5 Der Großteil des Personals wurde von der Marine gestellt. Die zentrale Steuerung unterstand aber dem RMBuM, Abteilung Rüstungsausbau, weil die U-Boot-Bunker mit in das gleichzeitig anlaufende Truppenbunker­ programm aufgenommen wurden, welches als Sondermaßnahme dem Ministerium zugeordnet worden war. Im April 1943 begann die Frankfurter Firma Johann Keller mit Bodenuntersuchungen in Farge, die zum Ergebnis hatten, dass auf dem anvisierten Gelände die Bodenverhältnisse für den riesigen Bunker ausreichend geeignet waren. 6 Am 28. April 1943 fand bei der Deschimag eine Sitzung über das weitere Vor­ gehen beim Bau der beiden für Bremen vorgesehenen U-Boot-Bunker statt. Anwesend waren auf diesem Treffen Vertreter der Marineoberbauämter Bremen und Hamburg, der OT (Organisation Todt)-Einsatzgruppe West, der beiden Werften Deschimag und Vulkan sowie ein Vertreter des Technischen Büros des Krupp-Konzerns. Dort setzten das Marineoberbauamt Bremen und die beiden Firmen gegenüber dem Marineoberbauamt Hamburg durch, dass die gesamte Inneneinrichtung der Bunker vom Technischen Büro des Krupp-Konzerns durchgeführt werden sollte. Noch am selben Abend erteilte der Krupp-Konzernleiter Alfried Krupp von Bohlen und Halbach seine Zustimmung zu der vorgesehenen Regelung.7 Parallel zu den anlaufenden Planungen für den U-Boot-Bunker in Farge kam es zu Ereignissen, die die weitere Bauplanung entscheidend prägen sollten. Erstens verlor die deutsche U-Boot-Flotte im Mai 1943 42 ihrer 110 verfügbaren U-Boote, weil die Alliierten ihr Radarsystem erheblich verbessern konnten und

* Beim vorliegenden Text handelt es sich um eine stark erweiterte und aktualisierte Fassung meines Beitrags ›Der Bunker Valentin. Zur Geschichte des Baus und des Lagersystems‹, der in der Broschüre der Landeszentrale für politische Bildung in Bremen 2002 erschien.

1 Vgl. Schreiben des Oberkommandos der Kriegsmarine (OKM) vom 21.12.1942, in: Bundes­ archiv-Militärarchiv (BA-MA) Freiburg, W 04/18163 (unpaginiert). 2 Zur Zwangsarbeit von KZ-Häftlingen beim U-Boot-Bunker für die Deschimag AG vgl. Kollegengruppe der Klöckner-Werke AG (Hg.), Riespott – KZ an der Norddeutschen Hütte. Berichte, Dokumente und Erinnerungen über Zwangsarbeit 1935–1945, Bremen 1984; Marc Buggeln, KZ-Häftlinge als letzte Arbeitskraft­ reserve der Bremer Rüstungswirtschaft, in: Arbeiterbewegung und Sozialgeschichte (2003) 12, S. 19–36. 3 Vgl. Schreiben des OKM betr. U-Bootsbun­ kerprogramm in der Heimat vom 22.1.1943, in: BA-MA Freiburg, W 04/18163. 4 Das RMBuM entstand im Frühjahr 1942 auf Betreiben von Fritz Todt, der jedoch kurz nach der Durchsetzung dieser Entscheidung am 7. Februar 1942 bei einem Flugzeugabsturz starb. Sein Nachfolger wurde Albert Speer, der das Ministerium in enger Zusammenarbeit mit der deutschen Industrie zur Zentralinstanz der deutschen Rüstungsproduktion ausbaute. Am 2. September 1943 wurde das RMBuM angesichts der ausgeweiteten Kompetenz in Reichsministerium für Rüstung und Kriegs­ produktion (RMRuK) umbenannt. 5 Vgl. Schreiben des OKM vom 21.12.1942, in: BA-MA Freiburg, W 04/18163. 6 Vgl. Rainer Christochowitz, Die U-Boot-Bunker­ werft ›Valentin‹. Der U-Boot-Sektionsbau, die Betonbautechnik und der menschenunwürdige Einsatz von 1943 bis 1945, Bremen 2000, S. 19. Allerdings wurden diese Untersuchungen nicht, wie Christochowitz schreibt, von der OT-Einsatz­ gruppe ›Hansa‹ in Auftrag gegeben, weil diese 1943 noch nicht existierte. Auch bei Johr/Roder findet sich die Behauptung, die Planung wäre von Anfang an von der OT-Einsatzgruppe ›Han­

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sa‹ in Wilhelmshaven mitkoordiniert worden, vgl. Barbara Johr/Hartmut Roder, Der Bunker. Ein Beispiel nationalsozialistischen Wahns. Bremen-Farge 1943–1945, Bremen 1989, S. 13. Dies ist ebenfalls nicht zutreffend. Die erste OT-Einsatzgruppe im Reichsgebiet war die ›Einsatzgruppe Rhein-Ruhr‹, die im Anschluss an einen Speer-Vortrag bei Hitler am 25. Juni 1943 eingerichtet wurde. Beteiligt war bei den Vorplanungen des U-Boot-Bunkers in Farge stattdessen die OT-Einsatzgruppe West, die ihren Hauptsitz in Frankreich hatte. Grund hierfür war die Erfahrung dieser Gruppe im Bau von U-Boot-Bunkern an der französischen Atlantikküste. Erst mit der frühestens im Sommer 1943 erfolgten Einrichtung der OT-Ein­ satzgruppe ›Hansa‹ wurde die Oberbauleitung U-Weser zur OT-Oberbauleitung U-Weser.Bei Roder findet sich die Behauptung, die Planung wäre von Anfang an von der OT-Einsatzgrup­ pe ›Hansa‹ in Wilhelmshaven mitkoordiniert worden, vgl. Barbara Johr/Hartmut Roder, Der Bunker. Ein Beispiel nationalsozialistischen Wahns. Bremen-Farge 1943–1945, Bremen 1989, S. 13. Dies ist ebenfalls nicht zutreffend. Die erste OT-Einsatzgruppe im Reichsgebiet war die ›Einsatzgruppe Rhein-Ruhr‹, die im Anschluss an einem Speer-Vortrag bei Hitler am 25. Juni 1943 eingerichtet wurde. Beteiligt war bei den Vorplanungen des U-Boot-Bunkers in Farge stattdessen die OT-Einsatzgruppe West, die ih­ ren Hauptsitz in Frankreich hatte. Grund hierfür war die Erfahrung dieser Gruppe beim Bau von U-Boot-Bunkern an der französischen Atlantik­ küste. Erst mit der frühestens im Sommer 1943 erfolgten Einrichtung der OT-Einsatzgruppe ›Hansa‹ wurde die Oberbauleitung U-Weser zur OT-Oberbauleitung U-Weser. 7 Vgl. Staatsarchiv Nürnberg, KV-Anklage, Doku­ ment NI-4696. 8 Vgl. Dietrich Eichholtz, Geschichte der ­ eutschen Kriegswirtschaft, Band II: 1941–1943, d Berlin (Ost) 1985, S. 134. 9 Zur Modernität des Baus und den Vorstel­ lungen der Ingenieure vgl. Marc Buggeln/Inge Marszolek, Der Bunker, in: Alexa Geisthövel/ Habbo Knoch (Hg.), Orte der Moderne. Erfah­ rungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main/New York 2005, S. 281–289. 10 Allerdings standen Teile der Werftindustrie und der Kriegsmarine Merkers neuen Methoden ausgesprochen skeptisch gegenüber und

Marc Buggeln: Der Bau des U-Boot-Bunkers ›Valentin‹, der Einsatz von Zwangsarbeitern und die Beteiligung der Bevölkerung

ihnen zudem die Entschlüsselung der deutschen U-Boot-Codes gelungen war. Diese Entwicklung führte zum zwischenzeitlichen Abbruch des U-Boot-Einsatzes im Atlantik und zur Einsicht beim OKM, dass eine Weiterführung des U-BootKrieges nur noch mit neuen Booten möglich wäre, die länger unter Wasser bleiben konnten und sich zudem dort schneller bewegen könnten. Zweitens hatte das RMBuM im Januar 1943 den Generaldirektor der Magirus-Werke, Otto Merker, beauftragt ein rationelleres Fertigungssystem für die U-BootProduktion zu entwickeln. Parallel mit der Fertigstellung von Merkers Bericht im Juni/Juli 1943 erfolgte eine Reorganisation der gesamten Marinerüstung. Aufgrund der großen Verluste der Marine und des langsamen Voranschreitens der Neubauten überzeugte Speer am 26. Juni 1943 Hitler und den neuen Oberbefehlshaber der Marine, Karl Dönitz, dass es sinnvoll wäre, die Marinerüstung in die Kompetenz seines Ministeriums zu geben. Am 22. Juli 1943 gaben Speer und Dönitz einen Gemeinschaftserlass heraus, der die zuvor getroffenen Abmachungen festhielt. Im Rahmen dieser Neuorganisation entließ Speer den alten Leiter des Hauptausschusses Schiffbau seines Ministeriums, Rudolf Blohm, weil dieser sich weigerte, neue amerikanische Produktions­ methoden in den Schiffbau einzuführen. Sein Nachfolger wurde Merker, der ein entschiedener Vertreter neuer Produktionsmethoden war. Zudem wurde noch eine eigene Entwicklungskommission für den Schiffbau (Schiffbaukommission) unter Leitung von Vizeadmiral Topp eingerichtet. 8 Das zentrale Prestigeobjekt der neuen Marinerüstung unter Leitung von Merker wurde die erst im Entstehen begriffene U-Boot-Bunkerwerft in Farge. Hier sollte die erste und zudem verbunkerte Montagewerft für den Zusammenbau des neuen U-Boot-Typs XXI entstehen, von dem die deutsche Marineführung eine Wende im U-Boot-Krieg erwartete. Die Planung sah vor, den Typ XXI in neun Sektionen zu unterteilen, die auf drei Werften hergestellt wurden. Die einzelnen Sektionen wollte man in die Bunkerwerft nach Farge verbringen, wo sie auf Fließbändern im Taktverfahren zusammengesetzt werden sollten. Die ver­­änderten Planungen liefen darauf hinaus, in Farge das bestgesicherte HightechWerk der deutschen Marinerüstung entstehen zu lassen. 9 Insbesondere für Merker dürfte das Gelingen dieses ersten Werkes mit dem von ihm angeregten Verfahren von hoher Bedeutung gewesen sein. 10 Diese Bedeutung steigerte sich noch, als Minister Speer im September 1943 festlegte, dass aufgrund der geringen verfügbaren Baukapazität ›nur noch ein Bauvorhaben für beton­ geschützten U-Bootsbau durchgeführt wird, und zwar das für den Bedarf einer geschützten Montage verkleinerte Bauvorhaben Valentin.‹11 Im Mai und Juni 1943 begann man mit der Einrichtung der Baustelle in Farge und im Juli mit den Erdarbeiten. Für die Bauplanung wurde die Ingenieur­ gemeinschaft Agatz-Bock-Maier verpflichtet. 12 Die für das Projekt verpflichteten Baufirmen wurden in zwei Arbeitsgemeinschaften aufgeteilt: die Arge Nord und die Arge Süd. Auch das für die Inneneinrichtung zuständige Technische Büro des Krupp-Konzerns und der für die elektrischen Anlagen zuständige

Marc Buggeln: Der Bau des U-Boot-Bunkers ›Valentin‹, der Einsatz von Zwangsarbeitern und die Beteiligung der Bevölkerung

Siemens-Konzern richteten auf der Baustelle eigene Büros ein. Im Jahr 1944 schritt der Bau des Großprojektes zügig voran. Möglich war dies nur, weil der Bau absolute Priorität besaß und bei der Zuteilung von Arbeitskräften und Rohstoffen bevorzugt behandelt wurde. Darunter hatte insbesondere auch das zivile Luftschutzbauprogramm in Bremen zu leiden. So heißt es im ersten Vierteljahresbericht der Abteilung kriegswichtiger Einsatz des Bremer Bau­ senators über die eingesetzten Arbeitskräfte im Luftschutzbau: »Mit weiteren sehr erheblichen Abzügen zugunsten des Jägerbauprogramms und des Bau­ vorhabens Valentin (U-Bootbunker) muß zu Beginn des zweiten Vierteljahrs gerechnet werden, sodaß sich im April der Arbeitseinsatz um weitere 1 000 Kräfte verringern wird.«13 Bezüglich der Rohstoffsituation stellte das Luftschutzbauamt am 3. April 1944 fest: »Die zementerzeugende Industrie ist dabei auf der Höhe des Vorjahres verblieben, wogegen die Anforderungen insbesondere durch Kriegsmarine (U-Bootbunkerprogramm) und Luftwaffe (Jägerprogramm) erheblich angestiegen sind und auch weiter ansteigen werden. Da aber die Zementerzeugung infolge mangelnder Ersatzschaffungsmöglichkeiten der Industrieanlagen keinesfalls gesteigert werden kann, muss der Mehrverbrauch auf Kosten der übrigen Bedarfsträger, u. a. auch des LS-Führerprogramms, gedeckt werden.«14 Diese Prioritätensetzung zugunsten des U-Boot-Bunkers in Farge steigerte sich zum Kriegsende hin. Am 10. November 1944 räumte Speer in einem Schreiben an den Leiter der OT dem Bau von U-Boot-Bunkern oberste Priorität noch vor dem Jägerbauprogramm ein. 15 Und Mitte Februar 1945 mit den Alliierten ante portas schrieb Speer: »Beim letzten Luftangriff auf Hamburg sind wiederum schwere U-Boot-Verluste eingetreten. Es müssen deswegen die vor baldiger Fertigstellung stehenden U-Boot-Bauwerke ›Valentin‹ und ›Hornisse‹ mit allen Mitteln beschleunigt werden.«16 Welch mörderische Auswirkungen die eingeforderte Tempoverschärfung für die auf der Baustelle eingesetzten Arbeitskräfte hatte, wird der Minister wahrscheinlich nicht mehr erfahren haben. Gefördert wurde seine kompromisslose Haltung vor allem von der Kriegsmarine, die bei den Lagebesprechungen mit Hitler bis zuletzt glauben machte, dass der anlaufende Bau des U-Boots Typ XXI eine Kriegs­ wende bringen würde. 17 Bei der ›Führerlage‹ am 30. März 1945 musste Dönitz Hitler melden, dass zwei schwere Sprengbomben die Decke des Bunkers ›Valentin‹ durchschlagen hatten. 18 Der von Dönitz geschilderte Angriff eines Spezialverbandes der Royal Air Force vom 27. März bedeutete das Ende des Bauvorhabens, ohne dass je ein U-Boot im Bunker fertiggestellt worden war.

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förderten deren Umsetzung nicht gerade. Siehe z. B. Vermerk Speer für seinen Amtsleiter Saur: »Unser erster Plan, die Marinerüstung dadurch hochzubringen, dass wir aus allen Sparten tüch­ tige Fachleute Merker zur Verfügung stellen, um den reaktionären Geist der Marine im Schiffbau zu brechen, wurde leider nicht weiter verfolgt und damit Merker nicht genügend personell unterbaut. Wenn wir unsere Aufgabe, die wir von der Marine übernommen haben, tatsächlich durchführen wollen, ist es höchste Zeit, dass wir jetzt Merker helfen, indem wir ihm zahlreiche technische Hilfskräfte, die unbeeinflusst nur für ihn arbeiten, zur Verfügung stellen.« Vermerk Speer für Saur vom 17. Juli 1944, in: Bundes­ archiv Berlin-Lichterfelde (BAB), R3/1634, Bl. 2. 11 Aktenvermerk von Fuchs (Hauptamt Kriegs­ schiffbau) vom 6.9.1943 über eine Sitzung bei Dönitz am 4.9.1943, in: BA-MA Freiburg, N 379 Nachlass Ruge 146, Bl. 16. 12 Schreiben des OKM an die Arbeitsgemein­ schaft Agatz & Bock vom 19.1.1943, in: BA-MA Freiburg, W 04/18163. Das Büro war zuvor schon beim Bau von U-Boot-Bunkern an der franzö­ sischen Atlantikküste eingesetzt gewesen und brachte so wichtiges Know-how mit. Leiter des Planungsbüros für den Bau des Bunkers ›Valentin‹ wurde der erst 30-jährige Agatz­S chüler Erich Lackner, vgl. Christian Siegel, ›Der U-Boot-Bunker ist eine Bestie‹. Die BunkerWerft in Bremen-Farge als Teil totaler Kriegfüh­ rung, hg. von der Landeszentrale für politische Bildung Bremen, Bremen 2004, S. 12–14. 13 Staatsarchiv Bremen (StAB), 4,29/1-338.

Das Lagersystem Auf der Baustelle ›Valentin‹ arbeiteten täglich 10 000 bis 12 000 Menschen, der größte Teil davon kam aus fast allen Ländern Europas. Im Umkreis von 3 bis 8 Kilometern existierten mehrere Lager, in denen ein Großteil der beim Bunker­ bau eingesetzten ausländischen Arbeiter untergebracht wurde. Einige der Zwangsarbeiter waren bereits vor Beginn der Bauarbeiten am Bunker in der Gegend eingesetzt, denn in den Gemeinden Blumenthal und Farge kam es in

Der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, Großadmiral Karl Dönitz, inspizierte am 22. April 1944 die Baustelle des Bunkers Valentin. (Sammlung Heimatverein Farge) 14 Ebd.

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15 Vgl. BAB, R3/1576, Bl. 91.

Die Bunkerbaustelle im Juli 1944 (Foto: J. Seubert, Bundesarchiv Koblenz) 16 Ebd., Bl. 144. 17 Vgl. dazu Lageberichte des Oberbefehls­ habers der Kriegsmarine vor Hitler, hrsg. von Gerhard Wagner, München 1972, S. 630 f., 655, 673 u. 677. 18 Ebd., S. 689. 19 Vgl. Johr/Roder, Bunker, S. 36. 20 So wurden die ersten AEL zu Beginn genannt. 21 Ein Sonderfall sind das bereits zuvor errich­ tete SS-Sonderlager Hinzert und die am West­ wall errichteten Gestapo-Lager. Vgl. Gabriele Lotfi, KZ der Gestapo. Arbeitserziehungslager im Dritten Reich, Stuttgart 2000, S. 58 ff. 22 Ebd., S. 80; Andrea Tech, Arbeitserziehungs­ lager in Nordwestdeutschland 1940–1945, Göttingen 2003, S. 260. 23 Unter anderem um diese Rückkehr zu ge­ währleisten, war die Haftzeit im AEL im Prinzip auf höchstens 56 Tage festgelegt. Für die meisten Arbeiter, die aus Betrieben überstellt wurden, dürfte diese Dauer auch eingehalten worden sein. Für viele Sondergruppen, wie z. B. die britischen und irischen Seeleute, wurde diese Regel in Farge aber nicht angewandt und die Dauer von 56 Tagen wurde mitunter weit überschritten. 24 Dr. Kohl war in den 1930er Jahren ­Präsident des Bremer Arbeitsamtes bis er Ende der 1930er zum Syndikus der Handelskammer aufstieg. Aus den Akten der Handelskammer

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der NS-Zeit zum Bau mehrerer rüstungswichtiger Projekte. Diese Entwicklung hatte bereits begonnen, als die Gemeinden noch nicht zu Bremen (Eingemein­ dung 1939), sondern zum Regierungsbezirk Stade und zum Landkreis Osterholz gehörten. 1936 startete die Wirtschaftliche Forschungsgemeinschaft mbH (Wifo) mit dem Bau eines unterirdischen Tanklagers in einem Waldstück zwischen Farge und Blumenthal. Bei der Wifo handelte es sich um eine 1934 gegründete Tarngesellschaft der IG Farben, deren Auftrag es war, die Treibstoffversorgung der Wehrmacht im Kriegsfall durch die Anlage unterirdischer Tanklager zu sichern. 1938 wurden bei den Baufirmen der Wifo die ersten ausländischen Arbeiter im Gebiet Farge eingesetzt. Es waren Arbeiter aus den annektierten sudetendeutschen Gebieten. Das Arbeitserziehungslager 1939 begann dann auch die Kriegsmarine mit dem Bau eines unterirdischen Tanklagers in Neuenkirchen. In einen Teil des hierfür errichteten Marine­ gemeinschaftslagers II wurde später das Arbeitserziehungslager (AEL) der Gestapo verlegt. Seinen ersten Standort hatte dieses aber ab Frühsommer 1940 im Fremdarbeiterlager Tesch. 19 Damit war Farge reichsweit das 2. Staats­ polizeiliche Sonderlager20 , das eingerichtet wurde. Zuvor war nur bei den ­Hermann-Göring-Werken in Salzgitter ein Sonderlager errichtet worden. 21 Das niedersächsische Gebiet war bei der Errichtung der Vorläufer der AEL führend, weil der Höhere SS und Polizeiführer (HSSPF) Mitte, SS-Obergruppenführer Friedrich Jeckeln, den Ausbau dieser staatspolizeilichen Straflager nachdrücklich förderte. Die ersten AEL in Norddeutschland entstanden durch eine enge Kooperation der Gestapo mit Vierjahresplanwerken. In Farge war wohl der Wunsch der Baufirma Gottlieb Tesch, die hauptsächlich für die Wifo, möglicherweise aber auch für die Marine tätig war, ausschlaggebend für die Einrichtung des zuerst ›Erziehungslager für Arbeitsuntreue‹ benannten Lagers in Farge. 22 Die Firma beschwerte sich über die hohe Fluktuation und mangelnde Arbeitsdisziplin der inzwischen aus Tschechen, Belgiern, Niederländern, Franzosen und Deutschen zusammengesetzten Belegschaft. Die Bauarbeiter der Rüstungsprojekte im Bremer Norden bildeten 1940 den Großteil der Inhaftierten, deren Zahl zu dieser Zeit knapp unter 100 lag. Recht bald entdeckte aber auch die Bremer Großindustrie, angeleitet von der Handelskammer, die Vorzüge des Gestapo-Lagers. Im Gegensatz zu einer Einweisung in ein KZ besaß das neue Lager in Farge den Vorteil, dass die zu disziplinierenden Arbeiter in der Nähe des Betriebes und unter Aufsicht Bremer Behörden blieben, wodurch die schnelle Rückkehr an den Arbeitsplatz nach der Disziplinierung gesichert schien. 23 Nachdem sich im Frühjahr 1941 die Klagen der Bremer Großindustrie über das ›Bummelantentum‹ bei der Handelskammer verstärkt hatten, setzte der für Arbeitsfragen zuständige Syndikus der Handelskammer, Dr. Kohl24 , die Einberufung einer Sitzung mit allen maßgeblichen Stellen durch. Diese Sitzung fand am 25. März 1941 statt. An ihr nahmen

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teil: Vertreter des Treuhänders der Arbeit, der Deutschen Arbeitsfront (DAF), des Arbeitsamtes, der Leiter der Bremer Gestapo und Dr. Kohl. Auf der Sitzung wurde beschlossen, dass neben der härteren Anwendung der bisherigen Regeln für eine Anzahl Bremer Großbetriebe ein Schnellverfahren in Gang gesetzt werden sollte. Das Verfahren sah die sofortige Bestrafung der von den Betrieben genannten ›Bummelanten‹ durch eine Einweisung nach Farge vor. Gegen die Bedenken des Leiters der Bremer Gestapo, der dieser Ausweitung seiner Aufgaben skeptisch gegenüberstand, setzten Dr. Kohl und der Vertreter des Treuhänders der Arbeit durch, dass die Großbetriebe zu entscheiden hätten, wer nach Farge gehöre. Damit die Einweisungen systematisch erfolgen konnten, wurde beschlossen, dass alle Großbetriebe einen besonderen Referenten für diese Fragen ernannten, der auch eine betriebliche Strafkartei anzulegen hätte. Abschließend hieß es im Protokoll: »Die festgestellten groben Fälle werden nunmehr einer besonders schnellen Ahndung zugeführt. […] Im An­schluß an die verantwortliche Vernehmung wird darüber entschieden, ob der Delinquent noch einmal mit einer milderen Bestrafung davonkommen kann oder ob er sofort der Geheimen Staatspolizei zugeführt werden muß. Das letztere wird wohl die Regel sein. Da es sich nach dem vorgeschlagenen Ver­fahren ausschließlich um schwerwiegende Fälle handelt, wird die Geheime Staatspolizei ohne Bedenken dem Antrag auf sofortige Einweisung in ein Arbeitslager stattgeben.«25 In einer Besprechung der Industrie-Abteilung der Handelskammer am 24. April 1941 tauschten sich dann die Bremer Großbetriebe über ihre bisherigen Erfahrungen mit dem Lager in Farge aus. Während sich die Lloyd-Dynamo-Werke darüber beschwerten, dass einer ihrer Arbeiter in Farge mehr Lohn als im Betrieb erhalten hätte, äußerte sich Direktor Siepmann von den Francke-Werken positiv. Aus seinem Betrieb wären inzwischen neun Leute in Farge gewesen, davon hätte das Lager zumindest auf sechs eine ›starke erzieherische Wirkung‹ gehabt. 26 Mit der Einführung dieses beschleunigten Verfahrens zur Einweisung der zu erziehenden Arbeiter aus den Bremer Großbetrieben ins Lager Farge hatte ­Bremen reichsweit eine Vorreiterfunktion. Als im Dezember 1941 von der Reichswirtschaftskammer ein neuer Erlass des Reichsarbeitsministers zur besseren Bekämpfung der Disziplinlosigkeiten verschickt wurde, konnte der Referent der Bremer Handelskammer anmerken: »Bei uns in Bremen schon ­lange u. dazu noch wesentlich besser im Verfahren u. Durchführung eingeführt.«27 Das Vor­zeige­lager der Bremer Gestapo entwickelte sich bald zu einem wegen seiner Härte reichsweit berüchtigten Lager, das die Historikerin Gabriele Lotfi als eines der wenigen ›Todeslager‹ unter den AELs bezeichnet. 28 Im Bremer Volks­mund trug es deshalb bald den Namen ›Männervernichtungslager‹. 29 Zu einem Todeslager entwickelte sich das AEL aber erst mit dem Baubeginn des Bunkers, denn aufgrund der benötigten Arbeitskräfte wurde das AEL aus dem Marinegemeinschaftslager II ausgegliedert und als eigenständiges Lager in der Rekumer Feldmark eingerichtet. Besonders gravierend wirkte sich aus,

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lässt sich rekonstruieren, dass er einer der zentralen, wenn nicht sogar der zentrale Mann beim gesamten Zwangsarbeitereinsatz in Bremen war. U. a. hielt er auch mehrfach Reden vor Gremien der Reichswirtschaftskammer über den Zwangsarbeitereinsatz.

25 Das Protokoll befindet sich in einer mit dem Titel ›Bummelantentum‹ verzeichneten Akte des Archivs der Handelskammer Bremen (AHKB) mit der Signatur: Sz.I.66(2).

26 Ebd.

27 Handschriftliche Anmerkung auf einem Brief der Reichswirtschaftskammer vom 13.12.1941 in AHKB, Sz.I.66(2). 28 Lotfi, KZ der Gestapo, S. 193 sowie S. 80. 29 Inge Marszolek/Rene Ott, Bremen im 3. Reich. Anpassung – Widerstand – Verfolgung, Bremen 1986, S. 429.

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30 Johr/Roder, Der Bunker, S. 37.

31 Die Akten des Militärgerichtsprozesses befinden sich im: The National Archives (TNA, vormals: Public Record Office), WO 235/441 und 442. Die noch interessanteren Ermittlungsakten finden sich in: ebd., WO 309/784 und 864. 32 Heinrich Schauwacker ist vielleicht eines der erschreckendsten Beispiele einer Bremer NS-Karriere. Er wurde 1911 geboren und trat im ­Alter von 16 Jahren der SA und ein Jahr später der NSDAP bei (Mitglieds-Nr. 98055). 1928 war der siebzehnjährige Schauwacker am bekanntesten antisemitischen Übergriff im Bremen der Weimarer Republik beteiligt: ein Überfall von SA-Männern auf jüdische Passanten, unter denen sich zufälligerweise der brasilianische Konsul befand. In den Jahren nach der ›Machtergreifung‹ war er als Blockund Zellenleiter der Partei aktiv und verdiente sein Geld als Wehrmachtsangehöriger. 1939 wechselte er in den Dienst der Bremer Gestapo. Im März 1943 kam er aufgrund einer freiwilligen Meldung zum Osteinsatz bei der Einsatzgruppe B der Sipo und des SD, wo er dem Sonder­ kommando (Sk) 7b in Orel zugeteilt wurde. Seine Tätigkeit dort beschreibt er wie folgt: »Mit der Absetzung vom Gegner kam ich kurz nach Minsk und habe hier in zwei Tagen auf dem Gut der Sipo und des SD in Klein Trostinez über 3600 Männer, Frauen und Kinder in einer Scheune erschiessen müssen. Diese Anzahl von Menschen stammte aus den gesamten Ge­ fängnissen und Lägern von Minsk und wurden sämtlichst durch Sturmscharführer Walter Otte und mich erschossen.« (Brief Schauwacker an Joseph Goebbels vom 19.3.1945, in: TNA, WO 309/864). Nach der Flucht vor der Roten Armee aus Königsberg wurde er im Dezember 1944 als Leiter des AEL in Farge eingesetzt. Da nach seiner Einsetzung die Anzahl der ›auf der Flucht Erschossenen‹ und der Beschwerden über Bestechung sofort rapide anstieg, wurde er im Februar 1945 von der Gestapo abgesetzt und inhaftiert, weswegen er im März 1945 einen Brief an Goebbels schrieb.

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dass die Verpflegung des Lagers nun nicht mehr gemeinsam mit den Fremd­ arbeitern der Marine geschah, sondern allein in die Hände der Gestapo überging. Ein Gutachten der Universitätsklinik Eppendorf warnte 1944 angesichts der Situation im AEL vor »fortlaufend progressiven Ausfällen von Arbeitskräften bei Beibehaltung der derzeitigen Ernährungsverhältnisse«. 30 Neben der katastrophalen Ernährung war die Brutalität von Lagerführern und Wachmannschaften der Hauptgrund für die Todesfälle von Häftlingen. Aufgrund der unmenschlichen Verhältnisse führte die britische Militärregierung nach Kriegsende einen eigenen Prozess zum AEL Farge, in dem insbesondere die Frage nach Misshandlungen und Erschießungen verhandelt wurde. 31 Von den 13 Angeklagten des Prozesses wurden sieben zu Haftstrafen zwischen sechs Monaten und sieben Jahren verurteilt. Die höchste Strafe von sieben Jahren erhielt der Wachmann Wilhelm Plothe, dem einige Misshandlungen sowie die Beteiligung an der Tötung von Häftlingen nachgewiesen werden konnten. ­Berücksichtigt werden muss dabei aber, dass die beiden am meisten gefürch­teten Lagerführer des AEL Farge, Schipper und Schauwacker, nicht im Farge-Prozess angeklagt waren. Schipper wurde in einem anderen britischen Prozess als Lagerführer des AEL in Wilhelmshaven zum Tode verurteilt und 1948 gehängt. Schauwacker hingegen konnte sich den britischen Ermittlern durch eine Flucht in die sowjetische Besatzungszone entziehen. 32 Ob er dort unter­tauchen konnte oder den sowjetischen Verfolgungsbehörden in die Hände fiel, ist ungeklärt. Nach der Bombardierung des Bunkers und dem Herannahen alliierter Truppen entschloss sich die Bremer Staatspolizeistelle, die etwa 200 verbliebenen Häftlinge des AEL aus dem Bremer Stadtgebiet fortzuschaffen. Am 7. April 1945 begann die Evakuierung unter Leitung eines Wachmannes. Die Häftlinge mussten von Farge aus zu Fuß nach Hamburg marschieren. Als die Kolonne nach neun Tagen in Hamburg ankam, wurde sie von dort per Schiff weiter in das AEL in Kiel verbracht. Hier wurden die Häftlinge nach einem weiteren dramatischen Evakuierungsversuch am 3. Mai von alliierten Truppen befreit. 33 Insgesamt konnten für das AEL Farge bisher 173 Todesopfer namentlich ermittelt werden. 34 Die ersten registrierten Todesfälle datieren vom März 1942. Das heißt, dass in den 37 Monaten bis zur Evakuierung des Lagers im April 1945 durchschnittlich über vier Todesfälle pro Monat zu verzeichnen waren. Eine Unter­suchung der bekannten Todesfälle nach Nationalitäten ergab, dass es sich bei fast einem Drittel der Toten (50) um Polen handelte. Es folgen 29 Niederländer, 20 Sowjetrussen, 17 Deutsche, 11 Franzosen und 7 Dänen. Der hohe Anteil der Polen an den Todesopfern des AEL stimmt mit anderen Forschungsergebnissen überein. Es überrascht hingegen, dass im Lager mehr Niederländer und fast ebenso viele Deutsche wie Sowjetrussen umgekommen sein sollen. Hier liegt die Vermutung nahe, dass die Registrierung der Todesfälle sowjetischer Zivil­arbeiter im AEL mit Abstand am wenigsten genau gehandhabt wurde. 35

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Eine weitere Analyse der Sterberegister des Standesamtes Neuenkirchen ergibt, dass für die Zeit vom Juli 1944 bis zur Evakuierung des Lagers insgesamt nur drei Todesfälle von deutschen Staatsbürgern für das AEL festgehalten wurden. Diese Zahl kann als völlig unrealistisch bezeichnet werden. Allein im Februar 1945 sollen unter Leitung von Schauwacker zehn Gefangene »auf der Flucht erschossen« worden sein. 36 Die Akten legen die begründete Vermutung nahe, dass in der Amtszeit von Schauwacker vom Dezember 1944 bis Februar 1945 die Todeszahlen dramatisch anstiegen und sie auch in der verbleibenden Zeit zwischen Juli 1944 und der Evakuierung auf dem vorherigen Niveau lag. Damit dürfte die Gesamtzahl der im AEL zu Tode Gekommenen erheblich über den bisher bekannten Opfern liegen. Das Außenlager Farge des KZ Neuengamme Als zweites berüchtigtes Lager entstand in der Rekumer Feldmark ein Außen­ lager des KZ Neuengamme. Das Lager wurde im Herbst 1943 explizit zur Unterstützung des U-Boot-Bunkerbaus mit Arbeitskräften errichtet. Farge war das vierte Außenlager des KZ Neuengamme. Zuvor waren Lager bei den PhrixWerken in Wittenberge, bei den Hermann-Göring-Werken in Salzgitter-Drütte und bei den Akkumulatoren-Werken in Hannover37 errichtet worden. Farge war somit eines der Vorreiterlager für ein System von Außenlagern von Neuengamme, das sich 1944 rasant vergrößerte und über fast alle rüstungswichtigen Produktions- und Baustellen Norddeutschlands ausdehnte. 38 Nicht zu Unrecht betitelte Rainer Fröbe seinen Aufsatz über das sich ausbreitende System von KZ-Außenlagern ›KZ-Häftlinge als Reserve qualifizierter Arbeitskraft. Eine späte Entdeckung der deutschen Industrie und ihre Folgen‹. 39 Die KZ-Häftlinge wurden für die deutsche Industrie in größerem Umfang erst attraktiv, als keine anderen Arbeitskräfte mehr verfügbar waren, weil der Rückzug der Wehrmacht den Zugriff auf Zwangsarbeiter in den besetzten Gebieten zunehmend erschwerte bis unmöglich machte. Das Farger Kommando blieb bis zur Auflösung des ganzen Systems eines der bedeutendsten Außenlager von Neuengamme. Bei der letzten Aufstellung über die Belegungszahlen im März 1945 war es nach einem Kommando für das Geilenberg-Programm 40 in Hamburg und dem Lager in Salzgitter-Drütte mit 2 092 Häftlingen das drittgrößte Kommando von Neuengamme. 41 Die ersten Trans­porte aus Neuengamme im Herbst 1943 bestanden vor allem aus deutschen ›befristeten Vorbeugehäftlingen‹ (BVer) sowie polnischen und sowjetischen Häftlingen. Während die deutschen Häftlinge die bedeutendsten Häftlingsfunktionsposten besetzten, erhielten vor allem Polen die unteren Funktionsposten zugewiesen. Zur Folge hatte das Eintreffen der polnischen und sowjetischen Häftlinge mit dem ersten Transport nach Farge, dass die in den Stammlagern zumeist eingehaltene Abstufung der Häftlinge nach den rassistischen Kategorien der SS in Farge nicht voll zum Tragen kam. So konnten die polnischen und sowjetischen Häftlinge ihre vergleichsweise gute Stellung

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33 Vgl. Die Aussagen zur Evakuierung in: TNA, WO 235/441 und 442, sowie Tech, Arbeitserzie­ hungslager, S. 278/279. 34 Zu verdanken ist dies den Nachforschungen von Heiko Kania. Kania hat eine Aufstellung der in Farge Verstorbenen aller unterschied­ lichen Lager gemacht. Für das AEL beruhen die ermittelten Namen von Todesfällen zu über drei Vierteln auf dem Sterberegister des Standesamtes Neuenkirchen. Vgl. Heiko Kania, Neue Erkenntnisse zu Opferzahlen und Lagern im Zusammenhang mit dem Bau des Bunkers Valentin, in: Arbeiterbewegung und Sozial­ geschichte (2002) 10, S. 7–31, hier S. 25. 35 Dies zeigen auch die Sterberegister des Standesamts Neuenkirchen, wo es bei den Angaben der sowjetischen Todesfälle die mit Abstand größten Lücken bei den Angaben zu den Verstorbenen gibt. 36 Vgl. Johr/Roder, Der Bunker, S. 40. 37 Dieses Außenlager wurde ebenfalls in enger Absprache mit der Kriegsmarine und dem Rüstungsministerium errichtet. Die Häftlinge waren hier bei der Fertigung von U-Boot-Batte­ rien eingesetzt. Vgl. Hans Hermann Schröder, Das erste Konzentrationslager in Hannover: Das Lager bei der Akkumulatorenfabrik in Stöcken, in: Rainer Fröbe et al., Konzentrationslager in Hannover. KZ-Arbeit und Rüstungsindustrie in der Spätphase des Zweiten Weltkrieges, 2 Bände, Hildesheim 1985, Band 1, S. 44–108. 38 Vgl. Marc Buggeln, Das Außenlagersystem des KZ Neuengamme, in: Sabine Moller/Miriam Rürup/Christel Trouvé (Hg.), Abgeschlossene Kapitel? Zur Geschichte der Konzentrationslager und der NS-Prozesse, Tübingen 2002, S. 15–27; Hermann Kaienburg, Das Konzentrationslager Neuengamme 1938–1945, Bonn 1997, S. 155–283.

Tor des KZ-Außenlagers Farge (Foto: J. Seubert, Bundesarchiv Koblenz)

»In sämtlichen Lagern, insbesondere im Russenlager wurde ein größere Anzahl von Gefangenen vorgeführt oder in den Betträumen besucht und auf den Ernährungszustand bzw. auf die Zeichen von Ernährungsstörungen hin besich­ tigt. Grundsätzlich ergab sich in allen Lagern ein ähnliches Bild. Sowohl durch die Anzahl wie durch die schwere der gefundenen Ernährungsschäden stand das Russenlager an der Spitze. Unter den etwa 30 vorgeführten Gefangenen ergaben sich alle Grade schwerer Ernährungsstörungen bis zu den klassischen Bildern des sog. Ernährungsödems. […] Eine geringere Anzahl gleichartiger Veränderungen überall mit einem beachtlichen Prozentsatz von Tuberculosebefall einhergehend, befand sich im Arbeitserziehungslager sowie im KL. […] Die Grundlage des Ernährungsödems liegt im Eiweißmangel. … Versuche haben zu der beachtlichen Feststellung geführt, dass mit der Dauer der Ödemzustände der Befall an Tuberculosen laufend stieg. […] Sozusagen ausnahmslos verliefen die Tuberculosen unbeeinflußbar in rascher Progression zum Tode, so daß die Lungentubercu­ losen als wichtigste Komplikation der Hungerkrankheit anzu­sehen ist, welche die Prognose des Hungerzustandes – und das ist das Entscheidende – hoffnungslos und irreversi­ bel gestaltet. […] Beurteilung: Die Ursache der Ernährungsstörungen in der erwähnten Lagern wird […] in einem indirekten Eiweißman­ gel (erblickt), welcher durch unzureichenden Kaloriengehalt im Verhältnis zur geforderten Arbeitsleistung entsteht. […] Es muss damit gerechnet werden, dass bei Beibehaltung der derzeitigen Ernährungsverhältnisse fortlaufend progressive

Ausfälle von Arbeitskräften entstehen, von denen ein großer Teil unrettbar verloren ist. […] Für das Bauvorhaben der Marineoberbauleitung Bremen erlaubt sich der Unterzeichnete daher folgende Vorschläge zu machen: 1.) Aussonderung aller Ernährungsgeschädigten in mög­lichst frühen Stadien der Ernährungsstörung. 2.) Aussonderung der Tuberculösen und der schwer Darm­ kranken als hoffnungslos Geschädigten, die niemals für den Arbeitsprozess mehr in Frage kommen. 3.) Auffütterung der ernährungsgeschädigten reversiblen Fälle mit ausreichender Ernährung mit biologisch hochwer­ tigem Eiweiss und ausreichendem Gesamtkalorien­gehalt, wobei der Gehalt an beidem das Tempo der Rekonvaleszenz bestimmen wird. 4.) Erwirkung einer kalorisch ausreichenden Ernährung für den noch einsatzfähigen Teil der Lagerinsassen. Zu diesem Punkt werden folgende Vorschläge gemacht: Revision der Beurteilungskriterien für Drückebergerei […]. Vorsicht mit dem Beschneiden von Rationen als Strafmaßnahme. […] Versuch, die zusätzlichen Wärmeverluste bei Transporten und Aussenarbeit durch Verbesserung der Kleidung ein­ zuschränken. Ferner ist bei der Verteilung der Lebensmittel natürlich wie in allen Betrieben auf Gerechtigkeit der Verteilung und gerechte Bemessung der Rationen zu achten. […] Nur so ist der Unterzeichnete davon überzeugt, dass sich weitere unrettbare Ausfälle von Arbeitskräften vermeiden und die noch rettbaren nach einer gewissen Zeit wieder in den Arbeitsprozess eingliedern lassen.« Gutachten der Universitätsklinik Eppendorf vom 4. März 1944 (Archiv VVN/BdA)

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gegenüber den in großem Umfange erst 1944 in Farge eintreffenden französischen und griechi­schen Häftlingen, die in der rassistischen Werteskala der SS eigentlich ein höheres Ansehen genossen, wohl bewahren. 42

39 Rainer Fröbe, in: Ulrich Herbert et al. (Hg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur, Göttingen 1998, Band II, S. 636–681.

Die KZ-Häftlinge mussten in Farge in einer Tages- und einer Nachtschicht arbeiten, die jeweils zwölf Stunden dauerten. Für die Tagesschicht eingesetzte Häftlinge wurden um 4 Uhr geweckt. Sie hatten daraufhin eine Stunde Zeit zum ›Betten machen‹, Waschen und Frühstücken. Dem folgte ein ca. einstündiger Appell, so dass die Häftlinge zumeist um 6 Uhr zum Bunker aufbrechen mussten. Dort arbeiteten sie von 7 bis 19 Uhr, unterbrochen nur durch eine Mittagspause. Nach einem kurzen Appell am Bunker folgte der Marsch zur Abfahrtsstelle der Zugloren, später Pferdewaggons, mit denen die Häftlinge zurück zum Außenlager transportiert wurden. Dabei kam es vor, dass die Häftlinge zum Teil bis zu zwei Stunden auf die Abfahrt warten mussten. Im Lager erfolgten ein weiterer Appell und schließlich die Einnahme des Abendessens. Zu vermuten ist dementsprechend, dass die Häftlinge der Tagesschicht etwa gegen 22 Uhr in den Treibstoffbunker gehen konnten und ihnen so bestenfalls 6 Stunden Schlaf am Tag zur Verfügung standen. 43 Zur Nachtschicht gibt es bisher keine genaueren Angaben. Zu vermuten wäre, dass diese die nicht von der Tagesschicht abgedeckte Zeit von 19 bis 7 Uhr gearbeitet hat. Der ehemalige französische Häftling Raymond Portefaix berichtet allerdings, dass die Nachtschicht bereits um 15 Uhr das Lager verließ, was auf einen früheren Arbeitsbeginn schließen ließe. 44 Gearbeitet wurde auch sonntags, aber wohl nur in der Tagesschicht. Zum Teil mussten sonntags nur die französischen und griechischen Häftlinge arbeiten. 45

40 Beim Geilenberg-Programm handelte es sich um den Versuch, die deutschen Hydrier­ werke nach alliierten Luftangriffen wieder arbeitsfähig zu machen. Vgl. dazu jetzt Franka Bindernagel/Tobias Bütow, Ingenieure als Täter. Die ›Geilenberg-Lager‹ und die Delegation der Macht, in: Ralph Gabriel et al. (Hg.), Lager­ system und Repräsentation. Interdisziplinäre Studien zur Geschichte der Konzentrationslager, Tübingen 2004, S. 46–70.

Eingesetzt wurden die KZ-Häftlinge bei den schwersten und unangenehmsten Arbeiten, die auf der Baustelle zu verrichten waren. Dies waren vor allem die zahlreichen Zementkommandos, die entweder die schweren Säcke zu trans­portieren oder in die Mischmaschinen zu füllen hatten. Das Hauptproblem war neben der Schwere der Arbeit, dass der Zementstaub den ganzen Körper der Häftlinge bedeckte, was oft zu Entzündungen führte und zudem die Lungen stark verunreinigte. Als schlimmster Arbeitsplatz galten jedoch die ›Eisen­ kommandos‹, bei denen zentnerschwere Eisen- und Stahlträger transportiert werden mussten. Portefaix berichtet, dass sich bei der Zuteilung zu einem solchen Kommando die Lebenserwartung drastisch verringerte und die meisten dort arbeitenden Häftlinge innerhalb kürzester Zeit ums Leben kamen. Dementsprechend bezeichnete er die Eisenkommandos als »Himmelfahrtskommandos«. 46 Untergebracht waren die Häftlinge in einem der fertiggestellten Treibstoffbunker der Marine. Der Bunker hatte einen Durchmesser von 50 Metern und eine Höhe von 15 Metern. Er war oben durch Holzplanken abgedichtet, und das Innere war nur über eine schmale Holztreppe zu erreichen. Im Bunker gab es einen abgetrennten Wohnraum für die Funktionshäftlinge (Kapos), ein paar

41 Vierteljährlicher Bericht des SS-Standort­ arztes des KL Neuengamme, Dr. Trzebinski, vom 29.3.1945, in: Staatsarchiv Nürnberg, KVAnklage, 2169-PS. 42 Vgl. dazu vor allem Raymond Portefaix, ›Vernichtung durch Arbeit‹ – Das Außenkom­ mando Bremen-Farge, in: Hortensien für Farge: Überleben im Bunker, Raymond Portefaix/André Migdal/Klaas Touber, Bremen 1995, S. 21–114; Buggeln, Außenlagersystem, S. 24/25. 43 Vgl. zu den Angaben Berichte der Häftlinge Josef Smejkal und Lucien Hirth, in: Archiv der Gedenkstätte Neuengamme (AGN), Ng.2.8./ 303 u. 1243. 44 Vgl. Portefaix, ›Vernichtung durch Arbeit‹, S. 53. 45 Vgl. ebd., S. 43 u. 46.

46 Ebd., S. 64.

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47 Vgl. Bericht Hirth (s.o.) und Portefaix, ›­Vernichtung durch Arbeit‹, S. 26. 48 Zum Kartoffelbrei vgl. Portefaix, ›Vernich­ tung durch Arbeit‹, S. 45. Von Salami, Leber­ pastete und Schweinefleisch in Farge berichtet der tschechische Häftling Josef Smejkal. Es muss hinzugefügt werden, dass Smejkal auf­ grund von Kontakten eher zu den privilegierten Häftlingen gehörte, z. B. musste er sonntags nie arbeiten und konnte zudem ohne große Mühe eine Einteilung in ein nicht so schweres Arbeitskommando erreichen. Vgl. Interview Smejkal (s. o.). Da Portefaix, der ansonsten die Besonderheiten der Essenszuteilung sehr ge­ nau beschreibt, nichts von Fleisch oder Pastete berichtet, ist anzunehmen, dass nur bestimmte Häftlingsgruppen in den Genuss dieser Speisen kamen.

Zwangsarbeiter auf der Baustelle des Bunkers Valentin (Foto: J. Seubert, Bundesarchiv Koblenz) 49 Portefaix, ›Vernichtung durch Arbeit‹, S. 29.

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Duschen, eine Bedürfnisanstalt sowie eine lange Reihe Waschtische. Daneben gab es für fünf Blöcke von Häftlingen Bettgestelle im Innenraum des Bunkers und eine Reihe Bettgestelle, die rundherum an die Bunkerwand gestellt waren. Innerhalb des Lagers gab es an der Erdoberfläche anfangs nur drei Baracken, die als Küche, Krankenrevier und Schreibstube dienten, so dass alle Häftlinge mit Ausnahme der Kranken und einiger Funktionshäftlinge im Bunker untergebracht waren. Später entstanden weitere Baracken, die zum Teil als Häftlingsunterkünfte verwendet wurden. Das Essen der Häftlinge war ähnlich wie in den meisten Außenlagern für das Überleben kaum ausreichend. Morgens gab es eine halbe Scheibe Brot, 5 Gramm Margarine und einen halben Liter dünnen Kaffee-Ersatzes. Mittags folgte ein Liter Suppe und abends noch einmal ein halber Liter Suppe mit einem Stück Brot und 5 Gramm Margarine. 47 An einigen Tagen gab es reichhaltigeres Essen wie Kartoffelbrei und Fleisch, dessen Ausgabe möglicherweise in die Zeit nach dem verheerenden Gutachten der Eppendorfer Klinik über die Ernährung im AEL wie im Außenlager Farge vom März 1944 zu datieren ist. 48 Die Bewachung der Häftlinge oblag nur noch zu geringen Teilen der SS. Dies lag vor allem daran, dass die SS durch die Ausdehnung des Außenlagersystems nicht mehr über ausreichend Personal verfügte, um alle Lager ausschließlich selbst zu überwachen. In Farge waren es Marinesoldaten, die ansonsten von der SS wahrgenommene Aufgaben übernahmen. Diese bewachten die KZ-Häftlinge beim Transport vom Lager zum Bunker und zurück, und sie bildeten eine Postenkette um die Bunkerbaustelle, die eine Flucht unmöglich machen sollte. Auf der Arbeitsstelle wurden die Häftlinge von deutschen zivilen Vorarbeitern angeleitet und von Funktionshäftlingen (Kapos) zur Arbeit angetrieben. Die SS dagegen war nur von Zeit zu Zeit auf der Baustelle, um zu überprüfen, ob das Arbeitstempo auf dem erwünschten Niveau blieb. Auch im Lager wurde die Aufrechterhaltung der Ordnung vor allem den Funktionshäftlingen überlassen. Die SS beschränkte sich im Wesentlichen auf die Bewachung der Umzäunung und die zeitweilige Überprüfung der Appelle. Das erweiterte den Spielraum für privilegierte Häftlinge stark, für die Mehrzahl der Häftlinge jedoch nur in geringem Maße. Am weitgehend reibungslosen Ablauf des für viele Häftlinge tödlichen Lageralltags scheint dies wenig geändert zu haben, so dass die SS in Farge nur selten Grund zum Eingreifen sah. Portefaix beschreibt die Verhältnisse wie folgt: »Die typischste Erscheinung in Bremen-Farge ist nämlich die fast vollständige Unabhängigkeit der Häftlinge im unteren Dienstgrad. Die SS verläßt sich in allem, was Arbeit und Disziplin angeht, auf sie, ganz im Vertrauen auf den Anreiz der Vergünstigungen, die sie ihnen gewährt. In gewisser Hinsicht ergibt sich daraus für uns etwas mehr Ruhe: In der Zeit, in der die Kapos mit sich selbst beschäftigt sind, können wir uns auf der Pritsche ausstrecken, unsere Freunde aufsuchen und unsere Eindrücke austauschen. Aber andererseits – zu welchen Brutalitäten sind sie beim Auftauchen eines SS-Mannes nicht fähig, um ja das ihnen entgegengebrachte Vertrauen zu rechtfertigen!« 49

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Die Räumung des Farger Außenlagers begann am 10. April 1945. In den Tagen zuvor waren Häftlinge der anderen Bremer Außenlager sowie aus Meppen nach Farge geschafft worden, so dass das Lager für wenige Tage völlig überbelegt war. Der Großteil der Häftlinge marschierte zu Fuß nach Neuengamme, wo sie am 15. April eintrafen. Viele von ihnen wurden dann auf drei Schiffe verschleppt, die in die Neustädter Bucht ausliefen. Die Schiffe wurden von englischen Fliegern angegriffen und versenkt. Hierbei kamen insgesamt etwa 6 600 Neuengammer Häftlinge ums Leben. 50 Eine bisher unbekannte Zahl von Häftlingen marschierte vom Außenlager Farge direkt zum Kriegsgefangenenlager Sandbostel, wo die Häftlinge später von der britischen Armee befreit wurden. Zudem irrte ein Krankentransport eine Woche zwischen Bremen und Hamburg umher, ehe auch dieser in Sandbostel endete. 51 Eine der schwersten Aufgaben der Forschung ist eine Einschätzung der Höhe der Sterblichkeit vorzunehmen. Heiko Kania konnte für das Außenlager in Farge bisher 721 Opfer namentlich nachweisen. 52 Bei diesen bekannten Todesfällen handelt es sich zum allergrößten Teil um französische Häftlinge (508 Tote). Zu erklären ist diese hohe Zahl an dokumentierten Toten u. a. auch dadurch, dass überlebende Häftlinge nach Kriegsende eine Liste mit ihnen namentlich bekannten Opfern aufstellten. Auf den Angaben dieser Liste basieren 459 Namen (fast 90 Prozent) von französischen Opfern, während nur 49 Namen auf den Angaben aus anderen Quellen (Standesamt, Totenbuch Neuengamme etc.) beruhen. Für die Häftlinge aller anderen Nationen des Außenkommandos ­Farge gibt es keine von den Überlebenden aufgestellten Listen. Würde man für die nicht-französischen Opfer ein ähnliches Verhältnis von registrierten und nicht registrierten Opfern anlegen, käme man auf etwa 2 000 Todesfälle, zu denen die französischen Opfer hinzukämen. Diese Rechnung ist ­jedoch ausgesprochen hypothetisch und kann nicht als Grundlage einer seriösen Schätzung betrachtet werden, zumal auch die Häftlingsberichte darauf hindeuten, dass die Sterblichkeit unter den französischen Häftlingen signifikant höher war als bei anderen nationalen Gruppen. Hans Joachim Höhler hat in seinen Berechnungen für die KZ-Gedenkstätte Neuengamme die Anzahl der Todesfälle im Außenlager Farge auf mindestens 640 und höchstens 1728 beziffert. 53 Weitere Lager für ausländische Arbeiter Neben dem verhältnismäßig gut erforschten KZ-Außenlager und dem AEL gab es noch weitere, weniger gut erforschte Lager, die Arbeitskräfte zum Bau des Bunkers unterbrachten. Zuerst entstand bereits 1939 das Zwangsarbeiter­ lager der Baufirma Gottlieb Tesch, das diese auf dem Wifo-Gelände betrieb. Die im Lager lebenden ca. 2 000 ausländischen zivilen Zwangsarbeiter wurden ab 1943 vor allem zum Bunkerbau eingesetzt. Es handelte sich im Wesentlichen um Tschechen, Polen, Franzosen, Belgier und Holländer. 54 Herrscht bei diesem Lager mit Ausnahme der Verortung noch ziemliche Einigkeit in den beiden maßgeblichen Veröffentlichungen (Johr/Roder und Christochowitz), ergeben

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50 Vgl. Wilhelm Lange, Cap Arcona. Dokumenta­ tion. Das tragische Ende einiger Konzentra­ tionslager-Evakuierungstransporte im Raum der Stadt Neustadt in Holstein am 3. Mai 1945, Eutin 1988; Heinz Schön, Die Cap Arcona-Katastrophe. Eine Dokumentation nach Augenzeugen-Berich­ ten, Stuttgart 1989. 51 Vgl. Katharina Hertz-Eichenrode (Hg.), Ein KZ wird geräumt. Häftlinge zwischen Vernichtung und Befreiung. Die Auflösung des KZ Neuen­ gamme und seiner Außenlager durch die SS im Frühjahr 1945, 2 Bände, Bremen 2000, hier: Band 2, S. 19; Werner Borgsen/Klaus Volland, Stalag X B Sandbostel. Zur Geschichte eines Kriegsgefangenen- und KZ-Auffanglagers in Norddeutschland 1939–1945, Bremen 1991, S. 172–196. 52 Diese Zahl bezieht sich auf eine ältere Aufstellung Kanias. In einem neueren Aufsatz rechnet er nur noch 553 dieser Opfer direkt dem Außenlager Farge zu, weil er vor allem die 169 Toten eines Evakuierungsmarsches nach Sandbostel aufgrund der großen Anzahl von Häftlingen aus anderen Außenlagern nicht mehr in die Aufstellung mit aufgenommen hat. Vgl. Kania, Neue Erkenntnisse, S. 24/25.

53 Hans Joachim Höhler, Tote der Außenlager des KZ Neuengamme. Forschungsstand und Einschätzung, Lübeck 2000 (unveröffentlichtes Manuskript).

54 Vgl. Johr/Roder, Der Bunker, S. 22 ff.

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55 Vgl. Kania, Neue Erkenntnisse, S. 13 und S. 15. Kania geht von einer Belegung mit ca. 700 Kriegsgefangenen aus

56 Vgl. ebd., S. 18/19.

57 Vgl. Aufstellung über die Lager der OTOberbauleitung Unterweser, in: Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, R 50I/48.

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sich bei den anderen Lagern gravierende Differenzen, die nun aber durch den Aufsatz von Heiko Kania zum Teil geklärt werden konnten. Kania belegt, dass es ab 1941 auch ein Lager für sowjetische Kriegsgefangene gab, welches bis Kriegsende bestehen blieb. 55 Das Lager war Teil des ›Marinegemeinschafts­ lagers I‹ und lag in der Farger Heide direkt neben dem letzten Standort des AEL. Anfangs waren die Kriegsgefangenen bei der Wifo eingesetzt, ab 1943/44 wurden Gefangene des Lagers unter der Bezeichnung ›2. Marinebaubereitschaftsabteilung‹ auch zu Arbeiten beim U-Boot-Bunker herangezogen. Im Gegensatz zu den Vermutungen von Johr/Roder scheint im Schwaneweder Bereich kein Lager für sowjetische Kriegsgefangene existiert zu haben. 56 Im Schwaneweder Bereich existierten aber ab 1943 zwei große Zwangsarbeiterlager, die von der OT unter dem Namen Heidkamp I und II geführt wurden. In ihnen waren vermutlich nach Ost- und Westarbeitern getrennt etwa 4 500 Zwangsarbeiter untergebracht. 57 1944 wurden dort vermutlich auch noch etwa 1 000 italienische Militärinternierte einquartiert. Insgesamt können wir also inzwischen recht gesichert davon ausgehen, dass neben dem Außenlager und dem AEL noch drei Zwangsarbeiterlager und ein Kriegsgefangenenlager im Bereich Farge/Neuenkirchen/Schwanewede existierten, deren Gefangene/ Zwangsarbeiter zumindest teilweise zum Bau des U-Boot-Bunkers eingesetzt wurden. Über diese Lager ist der Kenntnisstand aber nach wie vor rudimentär, insbesondere weil bisher kaum Berichte ehemaliger Kriegsgefangener/ Zwangsarbeiter vorhanden sind. Die Bevölkerung, das Bauprojekt und die Lager

58 Vgl. Berichte der VVN über Erkundungsreisen in Bremen-Nord, in: Forschungsstelle für Zeit­geschichte Hamburg, Hans-Schwarz-Nachlass, 13-7-5-1; Gespräch des Verfassers mit dem ehemaligen Ortsamtsleiter von Blumen­thal. 59 Der Film befindet sich heute im Bundesfilm­ archiv Berlin und ist seit Kurzem in der neuen Dauerausstellung der KZ-Gedenkstätte Neuen­ gamme zu sehen.

60 Die Aufnahmen befinden sich heute im Bild­ archiv des Bundesarchivs Koblenz.

In Farge fand das Massensterben unmittelbar vor den Augen der einheimischen Bevölkerung statt. Der entstehende U-Boot-Bunker lag praktisch mitten im Ort. Die Bevölkerung konnte die Baustelle aus der Entfernung gut beobachten. Kolonnen von KZ-Häftlingen und zivilen Zwangsarbeitern marschierten bzw. fuhren täglich durch den Ort. Der Bäcker lieferte das Brot direkt ins Außenlager, und der örtliche Kohlenhändler übernahm des Öfteren den Transport der Leichen. Im benachbarten Lager Blumenthal, dessen Häftlinge zum Teil auch beim Bau des Bunkers eingesetzt waren, gab es einen Auflauf von Schau­ lustigen bei Hinrichtungen im Lager. 58 Allgemein scheint das Geheimhaltungs­ bedürfnis sowohl der Marine wie der SS in Farge sehr gering gewesen zu sein. Marinebaurat Steig, der Bauleiter vor Ort in Farge, nahm mit seiner Super-8Kamera einen 40-minütigen Film vom Bunkerbau auf, in dem auch Kolonnen von KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern zu sehen sind. 59 Auch der örtliche Fotograf Seubert war von Mai bis November 1944 zwei- bis dreimal die Woche auf der Baustelle, um die Fortschritte beim Bau, aber auch die dort arbeitenden Menschen bildlich festzuhalten. Im August 1944 wurde ihm sogar der Besuch des Außenlagers erlaubt. Dabei schoss er insgesamt 43 Bilder vom Lager und seinen Insassen, die in seinem Privatbesitz das Ende des Krieges überstanden. 60 Dass die Bevölkerung weitgehend über das Geschehen vor Ort informiert war, lässt sich auch daran erkennen, dass, wie bereits berichtet, das rechts: Gesetzblatt der Freien Hansestadt Bremen vom 5. August 1943 (Staatsarchiv Bremen)

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61 Vgl. Inge Marszolek/Rene Ott, Bremen im 3. Reich. Anpassung – Widerstand – Verfolgung, Bremen 1986, S. 429.

62 Brief des Marineoberbauamt Hamburg an die Reichsumsiedlungsgesellschaft vom 16.4.1943, in: Bundesvermögensverwaltung Oldenburg, Akten der ehemaligen Bundes­vermögensstelle Bremen, VV 2905.2, 0015/35, U-Bootbunker Valentin, Alte Unterlagen ab 1943.

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benachbarte Arbeitserziehungslager im Volksmund ›Männervernichtungslager‹ hieß und es in der ganzen Stadt Bremen das Sprichwort gab »Sei ruhig, sonst kommst du nach Farge«. 61 Während der Bau des U-Boot-Bunkers im Sommer 1943 bereits begann, gehörte das Land, auf dem die Baustelle lag, noch den örtlichen Bauern. Am 16. April 1943 bat das mit den Erwerbsgesprächen in Farge betraute Marineoberbauamt Hamburg die Reichsumsiedlungsgesellschaft (Ruges) in einem Schreiben um Hilfe. Darin heißt es, dass vier Bauern aufgrund des Verlustes ihrer Weiden Ersatzland für ihr Vieh brauchen und zwei, vielleicht drei Bauern auch ihre Gebäude mit Hof verlieren würden, darunter Ortsbauernführer Gräfing. Die Ruges wurde gebeten bei der Suche nach Ersatzland zu helfen. Zur Dringlichkeit des Anliegens wurde vermerkt: »Das Bauvorhaben läuft sofort an, und man wird an den Abbruch der ersten 2 Bauernhöfe bereits in einem halben Jahr herangehen müssen, während das Wiesenland sofort den Bauern entzogen wird.« 62 Am 11. Juni 1943 erfolgte die Aufteilung der Verhandlungen mit den Landbesitzern in Farge in zwei Gruppen: Die schwierigeren Fälle sollten fortan von der Ruges bearbeitet werden, während die vermeintlich leichteren Verhandlungen vorerst in der Zuständigkeit des Marineoberbauamts Hamburg blieben. Im September 1943 meldete die Ruges, dass erste Ersatzhöfe besich­ tigt worden wären und die Entschädigung der anderen Bauern abhängig von weiteren Landzuteilungen sei. Im November konnte dann mitgeteilt werden, dass für die beiden Hauptbetroffenen, die Landwirte Schnibben und Gräfing, zwei Ersatzbetriebe in der Nähe von Leer gefunden wurden, mit denen die beiden einverstanden seien. Insgesamt waren aber auch im Dezember 1943 nur wenige Vertragsverhandlungen abgeschlossen. Da die Kompetenzen zwischen Marineoberbauamt und Ruges kaum abgesprochen waren, gelang es einigen Bauern, durch Parallelverhandlungen mit beiden Organisationen den Preis für ihr Land in die Höhe zu treiben, was das Marineoberbauamt veranlasste, zu einer engeren Zusammenarbeit mit der Ruges zu mahnen. Die erhaltenen Akten zeigen auf der einen Seite, dass die Bauern keine andere Wahl hatten, als ihr Land zu verkaufen; auf der anderen Seite zeigen sie aber auch, dass die Marine und die Ruges ein hohes Interesse daran hatten, unter den Bauern keine Unzufriedenheit auf­kommen zu lassen und von daher um eine angemessene Bezahlung und Entschädigung der Bauern bemüht waren. Für die Grundstückskäufe der Marine für das Tanklager ist der Fall überliefert, dass das Bremer Vermessungsamt sich über die zu hohen Preise, die die Marine bezahlt hatte, beschwerte. Im betreffenden Fall hatte die Marine der Grundstücks­eigentümerin das Zweieinhalbfache des vom Vermessungsamt geschätzten Wertes gezahlt, doch dies war keinesfalls die Regel. Die Entschädigungsverhandlungen waren bis Kriegsende noch nicht abgeschlossen und zogen sich zum Teil bis in die 1950er Jahre hinein. Eine Gesamtbilanz der Gebietsabtretungen und -zwangs­verkäufe ergibt ein differenziertes Bild: Einige der Bauern konnten durch eine schnelle und reichhaltige Entschädigung Vorteile aus dem Bunkerprojekt ziehen, für andere ergaben sich langjährige Verhandlungen, die zumeist

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mit dem Verlust ihres Landes zu den damals üblichen Entschädigungspreisen endeten. Die Frage des Landbesitzes war insgesamt sicherlich die bedeutendste ökonomische Frage, die sich mit dem Bunkerbau für die Menschen in Farge-Rekum auftat; sie war jedoch keinesfalls die einzige. Für viele regionale Bau- und Handwerksbetriebe entwickelte sich der Bau zu einem großen Geschäft. Und auch für die ortsansässigen Kleingewerbetreibenden ergaben sich durch die Anwesenheit von vielen tausend (Zwangs-)Arbeitern neue Einkommensmöglichkeiten. 63 Mitunter legte der Bunkerbau den Grundstein für ihre wirtschaftliche Nachkriegskarriere. Prototypisch ist hierfür der Lebenslauf des Farger Lebensmittelhändlers Wilhelm Sünkenberg. Im Alter von 25 Jahren hatte sich Sünken­ berg 1935 eine kleine Existenz als Lebensmittelhändler und Vertreter mit einem Verdienst von 2 000 Reichsmark jährlich aufgebaut. Sein Aufstieg begann 1940 mit seinem Einzug zur Wehrmacht, der Versetzung nach Paris und seinem gleichzeitigen Eintritt in die NSDAP. 1942 gelang es ihm, sich zur Marinefahrbereitschaft in Farge versetzen zu lassen. So hatte er in den folgenden Jahren ein Fahrzeug zur Verfügung und konnte parallel seinem Beruf als Lebensmittel­ händler nachgehen. Dadurch gelang es ihm, einer der Hauptlieferanten für die Lager der Umgebung zu werden und dabei bisher ungeahnte Mengen von Lebensmitteln umsetzen zu können. Schließlich errichtete Sünkenberg sogar ­direkt auf der Bunkerbaustelle einen Kiosk. Dadurch konnte er es 1944 auf einen Jahresverdienst von 39 573 Reichsmark bringen, also auf das 20-Fache seines Einkommens von 10 Jahren zuvor. Dieses Einkommen legte den Grundstein dafür, dass Sünkenberg in der Nachkriegszeit der größte Lebensmittelhändler in Farge-Rekum wurde. 64 Wie die Bevölkerung in Farge-Rekum damals auf die Anwesenheit der KZ-Häft­linge und Zwangsarbeiter reagierte, lässt sich heute nur noch in begrenztem Maße beantworten. Als Quelle stehen hierfür vor allem Nachkriegsberichte von Anwohner(inne)n und in geringer Zahl kurze Passagen in Interviews mit ehemaligen Häftlingen zur Verfügung. Sowohl die Berichte als auch die Interviews sind dabei vielfältig von den Bedeutungsprägungen der Nachkriegszeit gekennzeichnet. Sie enthalten neben den Spuren vergangener Ereignisse auch immer Anpassungsleistungen an die Erzählstrukturen der Gegenwart. Trotzdem lassen sich über die Berichte zumindest begründete Vermutungen über Umgangsmuster der Bevölkerung anstellen. So zeigt sich, dass der Anblick der ausgehungerten und ausgemergelten KZ-Häftlinge bei der Bevölkerung unter­schiedliche Gefühle auslöste. Bei vielen herrschte eher Mitleid mit den gezeichneten Menschen vor, andere folgten den Ausführungen der SS und glaubten, dass es sich bei den Häftlingen um gefährliche Verbrecher handelte, die eine harte Bestrafung verdienten. So berichtet der ehemalige französische Häftling Henry Denaiffe: »Für sie [die Bevölkerung, M. B.] waren wir Menschen, die abzuknallen waren. Man hatte ihnen fälschlich erklärt, daß wir Gangster und Diebe waren. […] Als wir zu Fuß zurückgingen, trafen wir Kinder, die nicht

63 Vgl. Hierzu die hervorragende Magisterarbeit von Silke Betscher, Die Häftlingskolonnen im Ort: »Och, das war doch so gang und gäbe«. Bremen-Nord: die Nachbarschaft zwischen den Orten und den Lagern 1943–45, Bremen 2004 (Magisterarbeit Universität Bremen), S. 115–122.

64 Vgl. ebd., S. 118/119; sowie die Entnazifizie­ rungsakte von Sünkenberg, in: Staatsarchiv Bremen, 4,66-I Sünkenberg, Wilhelm.

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Norddeutsche Zeitung, 27. Dezember 1943 (Staatsarchiv Bremen)

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wußten, wer wir waren. Die Eltern hatten sie gedrillt, Steine auf uns zu werfen.«65 Aufgrund der strikteren Bewachung war ein direkter Kontakt mit den KZHäftlingen nur selten möglich. Deutlich häufiger waren Kontakte der Bevölkerung mit Zwangsarbeitern. Ehemalige Anwohner(innen) berichteten in Interviews, dass sie für Zwangsarbeiter Essen versteckten oder dieses gegen von Zwangsarbeitern gebastelte Gegenstände, vor allem Spielzeug, tauschten. Diese Spielzeuge wurden in einzelnen Fällen bis heute aufgehoben und werden von ihren Besitzer(inne)n als Erinnerung und Mahnung an die damalige Zeit beschrieben. 66 Auch nach dem Krieg blieben die Wege der Erinnerung vielfältig. Die Mehrheit der Bevölkerung vor Ort hatte ein großes Interesse daran, die Überreste des Bunkers unsichtbar zu machen. Da eine Sprengung des Bunkers unmöglich erschien, sprach sich die Ortsversammlung in Farge dafür aus, den Bunker durch Einspülung verschwinden zu lassen. 67 Diese Vorschläge der Einwohner scheinen ins Gesamtbild des Versuchs der Unsichtbarmachung der Taten und deren Orte nach 1945 zu passen. Eine Entscheidung vor Ort scheint jedoch erklärungsbedürftig: Die Straße, an der das Außenlager und auch das AEL lagen, hatte bis in die 1950er Jahre einen unverfänglichen Namen. Erst auf das Drängen einiger Rekumer Anwohner wurde die Straße in den 1950er Jahren in ›Lagerstraße‹ umbenannt. Vermutlich geschah dies eher in Erinnerung an die dort nach dem Krieg eingerichteten Flüchtlingslager als an die Lager der Kriegszeit. Es mag sein, dass hier im kollektiven Gedächtnis sich eine Art Übersprung vollzogen hat. Die Erinnerung an die Lager der Flüchtlinge sollte wohl die sehr viel heiklere Erinnerung an die Häftlings- und Zwangsarbeiterlager überdecken und auslöschen. Heute jedoch dürften die meisten, die diese Straße entlanggehen, an die vor 1945 errichteten Lager denken, ist doch der Begriff der Lager heute eng mit dem Nationalsozialismus verbunden.

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65 Interview von Barbara Johr mit Henry Denaiffe 1988, zitiert nach Johr/Roder, Bunker, S. 49/50.

66 Sehr viel ausführlicher und mit einer Darle­ gung möglicher Funktionen dieser Andenken: Betscher, Häftlingskolonnen, S. 84–95.

67 Vgl. Schreiben des Amtsvorstehers des Ortsamtes Blumenthal an den Senator für das Bauwesen vom 8. Juni 1949, in: Staatsarchiv Bremen, 4,29/1-963 (unpag.).

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Literatur zur Geschichte des Bunkers Valentin Nils Aschenbeck/Hartmut Roder u. a. Fabrik für die Ewigkeit. Der U-Boot-Bunker in Bremen-Farge Hamburg 1995 Fabian Becker/Dieter Schmidt U-Boot-Bunker ›Valentin‹. Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit Bremen-Farge 1943 – 1945 Bremen 1996 Silke Betscher Die Häftlingskolonnen im Ort: »Och, das war doch so gang und gäbe«. Bremen-Nord: die Nachbarschaft zwischen den Orten und den Lagern 1943 – 45 Bremen 2004 (Magisterarbeit Uni­versität Bremen) Marc Buggeln Das Außenlagersystem des KZ Neuengamme, in: Sabine Moller/Miriam Rürup/Christel Trouvé (Hg.), Abgeschlossene Kapitel? Zur Geschichte der Konzentrationslager und der NS-Prozesse, S. 15 –27 Tübingen 2002 Marc Buggeln KZ-Häftlinge als letzte Arbeitskraftreserve der Bremer Rüstungswirtschaft, in: Arbeiterbewegung und Sozialgeschichte (2003) 12, S. 19 – 36 Rainer Christochowitz Die U-Boot-Bunkerwerft ›Valentin‹. Der U-BootSektionsbau, die Betonbautechnik und der menschen­unwürdige Einsatz von 1943 bis 1945 Bremen 2000 Rainer W. Habel ›Blumen für Farge‹. Erinnerungswege zum Bremer U-Bootbunker in: Silke Wenk (Hg.), Erinnerungsorte aus Beton. Bunker in den Städten und Landschaften Berlin 2001 Eike Hemmer/Robert Milbradt Bunker ›Hornisse‹. KZ-Häftlinge in Bremen und die U-Boot-Werft der ›AG Weser‹ 1944/45 Bremen 2005 Katharina Hertz-Eichenrode (Hg.) Ein KZ wird geräumt. Häftlinge zwischen Vernichtung und Befreiung. Die Auflösung des KZ Neuengamme und seiner Außenlager durch die SS im Frühjahr 1945, 2 Bände Bremen 2000 Barbara Johr/Bärbel Gemmenke-Stenzel (Hg.), Hortensien für Farge: Überleben im Bunker, Raymond Portefaix /André Migdal / Klaas Touber, Bremen 1995

Barbara Johr/Hartmut Roder Der Bunker. Ein Beispiel national­sozialistischen Wahns. Bremen-Farge 1943 –1945 Bremen 1989 Heiko Kania Neue Erkenntnisse zu Opferzahlen und Lagern im Zusammenhang mit dem Bau des Bunkers Valentin, in: Arbeiterbewegung und Sozial­ geschichte (2002) 10, S. 7–31 Kollegengruppe der Klöckner-Werke AG (Hg.) Riespott – KZ an der Norddeutschen Hütte. Berichte, Dokumente und Erinnerungen über Zwangsarbeit 1935 –1945 Bremen 1984 Landeszentrale für politische Bildung Bremen (Hg.) Projekt Gedächtnisort ehemaliger U-BootBunker ›Valentin‹ in Bremen-Farge (Broschüre der Landeszentrale für politische Bildung Bremen) Bremen 2002 Inge Marszolek/René Ott Bremen im 3. Reich. Anpassung – Widerstand – Verfolgung Bremen 1986 Wilhelm Nolting-Hauff ›Imi’s‹. Chronik einer Verbannung Bremen 1946 Christian Siegel »Der U-Boot-Bunker ist eine Bestie«. Die BunkerWerft in Bremen-Farge als Teil totaler Kriegsführung (Broschüre der Landeszentrale für politische Bildung Bremen) Bremen 2004 Andrea Tech Arbeitserziehungslager in Nordwestdeutschland 1940 – 1945 Göttingen 2003 Silke Wenk Bunkerarchäologien, in: dies. (Hg.), Erinnerungsorte aus Beton. Bunker in den Städten und Landschaften Berlin 2001

Die Bundeszentrale für politische Bildung bietet weiterführende Literatur zur Geschichte des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs an: http://www.bpb.de/themen/XNLHOF,0,0,National sozialismus_und_Zweiter_Weltkrieg.html

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Weitere Angebote zur Ausstellung ›Denkort Bunker Valentin‹ Besuch des Bunkers Valentin Gruppen: Das Materialdepot Farge der Bundeswehr kann im begrenzten Rahmen Führungen durch die betretbaren Teile des Bunkers für Gruppen ermöglichen. Hierzu ist eine rechtzeitige Terminvereinbarung erforderlich. Telefon: 0 42 09 - 92 19 60 (Materialdepot Wilhelmshaven Teileinheit Farge, Herr Christochowitz) und 0 42 09 - 92 19 07 (Herr Otten). Einzelpersonen: Bei einer Mindestteilnehmerzahl von 15 Personen wird eine Führung organisiert. Voranmeldung erforderlich. E-Mail: [email protected] Besuch der Überreste der ehemaligen Zwangsarbeiterlager Im Sommerhalbjahr werden mehrere Möglichkeiten angeboten, den Geschichts­ lehrpfad zu den ehemaligen Zwangsarbeiterlagern und zum Bunker Valentin kennenzulernen. Anmeldung ist erforderlich unter Telefon: 0176- 52 04 36 56 (keine SMS) (Verein Geschichtslehrpfad Lagerstraße e.V.) Führungen durch die Ausstellung Für Gruppen bestehen während der Ausstellungszeit täglich Möglichkeiten zu themenorientierten Führungen durch die Ausstellung. Kontaktaufnahme per E-Mail: [email protected] (Denkort Bunker Valentin/Landeszentrale für politische Bildung) oder telefonisch: 04 21 - 361-29 22 Filmangebote In der Ausstellung wird von Montag bis Freitag jeweils um 15.30 Uhr der Film ›Der Bunker‹ von Thomas Mitscherlich und Barbara Johr gezeigt (Dauer: 88 Minuten). Sonntags um 15.30 Uhr zeigen wir die Radio Bremen/arte-Produktion ›Die letzen Tage der Menschheit‹ von Karl Kraus in der Inszenierung von Johann Kresnik im Bunker Valentin. Weitere Filmangebote zum Bunker Valentin und seiner Geschichte auf Anfrage. Weitere Veranstaltungen Das Begleitprogramm zur Ausstellung ist einem Flyer der Landeszentrale für politische Bildung zu entnehmen. Es kann auch auf den Internetseiten www.lzpb-bremen.de und www.bunkervalentin.de nachgelesen werden.

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nd dann sah ich die Kolonne kommen, eine Kolonne KZ-Häftlinge. Die wurden dazu gezwungen, Marschlieder zu singen: Ich meine, das muss die ganze Bevölkerung ja gewusst haben: das sah natürlich wie ein Geisterzug aus. Sie können sich vorstellen, die KZler, 1944 mit ihrem Essensgeschirr da an der Seite baumeln, Holzschuhe oder was sie

Und dann sah ich die Kolonne kommen, eine Kolonne KZ-Häftlinge. Die wurden dazu gezwungen, Marschlieder zu singen: Ich meine, das muss die ganze Bevölkerung ja gewusst haben: Das sah natürlich wie ein Geisterzug aus. Sie können sich vo

Eine Ausstellung der Landeszentrale für politische Bildung Bremen und der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten In Zusammenarbeit mit dem Verein ›Geschichts­lehr­pfad Lagerstraße e. V.‹ und dem Verein ›Erinnern für die Zukunft e. V.‹ Gefördert vom Bundesbeauftragten für Kultur und Medien KONTAKT Landeszentrale für Politische Bildung Osterdeich 6 28203 Bremen Telefon 0421 - 361 - 29 22 E-Mail info @ bunkervalentin.de Ab Ende Juni 2007 wird die Ausstellung im Bunker Valentin gezeigt.

stellen, die KZler, 1944 mit ihrem Essensgeschirr da an der Seite baumeln, Holzschuhe oder was sie da gerade anhatten, schlecht gekleidet. Das Bild passte überhaupt nicht zu dem, was sie gesungen haben und wie sie gesungen haben. Das war g