Demokratie ohne Zivilcourage nicht denkbar!

Demokratie – ohne Zivilcourage nicht denkbar! Eine Szene aus dem Schulalltag: Schüler A: „Hast du gehört, dass dem …im Umkleideraum schon wieder die H...
Author: Bella Kraus
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Demokratie – ohne Zivilcourage nicht denkbar! Eine Szene aus dem Schulalltag: Schüler A: „Hast du gehört, dass dem …im Umkleideraum schon wieder die Hose verschmiert worden ist?“ Schüler B: „Ist er doch selbst schuld - so bescheuert, wie der sich immer verhält. Und überhaupt, wie kann man nur in solchen Klamotten `rumlaufen!“



„Je mehr Bürger mit Zivilcourage ein Land hat, desto weniger Helden wird es einmal brauchen“ (Franca Magnani) I Was bedeutet Zivilcourage? „Demokratische Schulentwicklung als Aufgabe der Zukunft“ war der Leitbegriff in SMV-Aktuell 2004/2005. Mit diesem Artikel wollen wir das Thema fortführen. Der Europarat hat das Jahr 2005 zum Jahr der Demokratieerziehung ausgerufen. Demokratisch Denken und Handeln aber kommt nicht ohne Zivilcourage aus; denn zunächst muss sich hierfür jeder einen Standpunkt erarbeiten, diesen in die Öffentlichkeit bringen, Gleichgesinnte suchen und dann versuchen, ihn mit Überzeugungsarbeit durchzusetzen. Das bedeutet, auf den Mut zum eigenen Urteil folgt der Mut zum staatsbürgerlichen Handeln (civis (lat.) = Bürger/in, courage (frz,) = Mut). Zivilcourage oder sozialer Mut sind in unserer Gesellschaft gefragt! Menschenrechte werden verletzt, Menschen unterdrückt und diskriminiert; autoritäre Einstellungen und Verhaltensweisen sind noch viel zu häufig anzutreffen, Wohlverhalten und Überanpassung werden noch viel zu stark gefordert und belohnt. Welche Merkmale hat `Zivilcourage´? •





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Sie ist keine Eigenschaft oder Tugend, sie ist ein „Typus des sozialen Handelns“; sie ist handlungsorientiert, das heißt, sie kommt in akuten oder konkreten Situationen zum Tragen, wenn die Empfindung auftritt: „Jetzt müsste ich eigentlich etwas tun.“ Sie verlangt öffentliches Handeln im Alltag, das heißt, keine Geheimaktionen in Extremsituationen. Sie ist an Wertüberzeugungen geknüpft. Grund-





lage dieser Überzeugungen ist der ethische Minimalkonsens der UN – Menschenrechtskonvention. Gewaltakte extremer Gruppen und Terror jeglicher Art sind also definitionsgemäß ausgeschlossen! Aus dieser Wertgebundenheit folgt: Wenn die Integrität (Würde, Unversehrtheit) einer Person oder Gruppe verletzt wird, ist couragiertes Eingreifen geboten. Dies gilt, wenn ich selbst betroffen bin und wenn ich es bei anderen sehe. Ebenso gilt dies für Privatpersonen wie für `Amtsinhaber´ in öffentlichen Hierarchien! Typische Situationen, in denen Zivilcourage gefordert ist, sind gekennzeichnet durch ein Machtungleichgewicht: Mächtige – Ohnmächtige, Stärkere – Schwächere, Überordnung – Unterordnung, Mehrheit - Minderheit, `Normale´ `Andere´ („Die passen nicht zu uns.“), Täter – Opfer. Das Machtungleichgewicht bedeutet, der Eingreifende geht ein Risiko ein. Sie beinhaltet die Verantwortung für sich und für andere.

Mit Zivilcourage handeln bedeutet also: Mut zum eigenen Urteil und auf angemessene Weise „Nein“ sagen zu können; dies kann in akuten Situationen spontan geschehen, aber auch geplant und organisiert. So zu handeln ist unbequem und anspruchsvoll. Mit Zivilcourage handeln bedeutet auch: frei entscheiden und gestalten zu können, sich verantwortlich zeigen, helfend eingreifen. II Zivilcourage muss in der Schule geübt, gelernt und gelebt werden. Mobbing findet auch in der Schule statt! Das heißt, Einzelnen oder Gruppen wird bewusst Schaden zugefügt. Hier ist Zivilcourage notwendig. Mobbing kann folgende Formen annehmen: •



psychische/soziale Gewalt: abwertende Gestik, Mimik und Ansprache; ausgrenzen, nicht beachten (z.B.: Mannschaftswahl beim Sport); Abspenstig machen von Freunden; Verweigern von Hilfe verbale Gewalt: abwertende, verletzende Kom-

Thema 2: Demokratie in der Schule



mentare zu Aussagen, Aussehen und Handlungen; drohen; sich lustig machen; Gerüchte in Umlauf bringen physische Gewalt: Beschädigung von Eigentum; Festhalten, Einsperren; Türe vor der Nase zuschlagen; Rempeln, Schlagen und Ähnliches

Wenn sich solche Verhaltensweisen regelmäßig wiederholen oder über einen längeren Zeitraum andauern, kann man von Mobbing sprechen. In der Regel bleibt auch die Täter – Opfer-Beziehung mit eindeutigem Machtgefälle über diese Zeit bestehen. Häufig geschehen die Übergriffe im Verborgenen oder in der Halböffentlichkeit, die Opfer schweigen zunächst meist über die Vorgänge.

weggeschaut, ignoriert, gekniffen

Es gibt Rollenspiele, mit denen man anschaulich aufzeigen kann, wie wichtig die Wirkung der scheinbar `Unbeteiligten´ ist. Hierfür sei das Spiel „Kissenschlacht“ kurz beschrieben: Zwei „Kämpfer“ werden instruiert, dass sie mit Kissen in einem „Ring“ aufeinander einschlagen sollen. Die Zuschauer werden in zwei Gruppen geteilt, die jeweils einen Kämpfer anfeuern. Die Zuschauer werden, was die „Kämpfer“ nicht wissen, instruiert, zunächst immer lautstarker zu rufen, dann plötzlich auf ein Signal aufzuhören. Es zeigt sich, dass die Kontrahenten in der Regel nachlassen oder sogar aufhören. Wenn Personen eine für sie ungewohnte Rolle spielen müssen – und dennoch „funktionieren“ -, zeigt sich, welch starken Einfluss die Position in der Gruppe auf das Verhalten des Einzelnen ausübt. Was geschähe, wenn es keine Mitläufer gäbe? Eine Vielzahl von Spielen und Trainingsprogrammen gibt es in dem Band „Zivilcourage lernen“ (herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung und der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Gerd Mayer u.a., Teil III) sowie in dem Band „Alltagshelden“ (Christina Zitzmann, Wochenschau Verlag 2004).

Mobbing kann ganz klar als Form der Gewalt angesehen werden und ist als solche nicht tolerabel; wer wegschaut und ignoriert, macht sich mitschuldig! Mobbingopfer werden vergessen, aus dem „fahrenden Zug der Entwicklung“ gestoßen (Grafik rechts) Häufig gibt es bei Mobbing Mitwisser oder Zuschauer; wenn in solchen Situationen eingegriffen werden soll, ist es zunächst aussichtsreich, sich an die Mitläufer oder Zuschauer zu wenden.

SMV-Aktuell 2005 / 2006

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Jeder hat einen Erkenntnisgewinn, wenn er einmal eine andere Rolle spielt, so können eingeschliffene Formen aufgelöst werden. Schülern die Möglichkeit zu geben, Perspektivwechsel zu erleben, bedeutet auch, in Ansätzen erfahrbar zu machen, wie fühlt der andere sich eigentlich?

Kurt Singer spricht in seinem Artikel „Zivilcourage in der Schule“ davon, dass ein autoritäres Klima in der Schule ein Klima der Anpassung schaffe und Autoritätshörigkeit fördere.

Soziales Lernen wird immer eine wichtige Aufgabe der Schule bleiben. Zivilcourage kann durch soziales Lernen gefördert werden. Hier lernt man am Modell, das heißt am Vorbild oder durch Erfolg, also durch positive Erfahrungen. Konkret lebensweltliche Situationen der Jugendlichen bieten am meisten Aussicht auf Lernfortschritt.. Mit anderen Worten: Ein demokratisch, zivilcouragierter Lehrer, der solches Verhalten auch belohnt, kann hoffen, dass seine Schüler davon etwas mitnehmen. Werden den Jugendlichen keine Möglichkeiten angeboten, selbstverantwortlich zu handeln mit der Aussicht, dies auch belohnt zu bekommen, kann „gelernte Hilflosigkeit“ entstehen. Solange Mobbing und Gewalt Aussicht auf Gewinn bieten, solange wird es sie geben, wohingegen eine Kultur der Anerkennung des zivilcouragierten und demokratischen Verhaltens in der Lage ist, auf Einstellung und Verhalten der Jugendlichen so einzuwirken, dass Konflikte früh erkannt und bearbeitet werden können. Dabei spielt auch die Transparenz der Regeln und Bewertungen eine wichtige Rolle.

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Thema 2: Demokratie in der Schule

Restriktiver, willkürlicher Machtgebrauch fördert Autoritätsangst und behindert Zivilcourage.

Es sollen nicht nur die Klassensprecher Meinungen vertreten – das Lernziel gilt für alle Schüler! Zivilcourage muss „wachsen“, sie kann nicht verordnet werden; dieser Wachstumsprozess kann nur in einem toleranten Binnenklima gelingen. „Kinder und Jugendliche brauchen die Chance ein sich selbst beschützendes Nein auszusprechen. Damit wird angewandte Ethik im Unterrichtsalltag praktiziert – und zwar in allen Fächern! Ein gewisser Gehorsam muss in Institutionen wie der Schule verlangt werden. Es sollte aber ein erkennender Gehorsam sein. Christina Zitzmann empfiehlt im Rahmen ihres Projektes „Alltagshelden“ eine Pädagogik der kleinen Schritte, das heißt, das Thema Zivilcourage kontinuierlich in Intervallen – immer wieder - zu bearbeiten. III Zivilcourage und SMV Die Entwicklung einer `Streitkultur´ ist Aufgabe der ganzen Schule; der Ort, wo sie eingeübt werden kann, ist die SMV. Ihr kommt nach wie vor eine wichtige Rolle zu, wenn es darum geht, Meinungsverschiedenheiten zu bearbeiten. Eine zentrale Aufgabe der SMV ist: Standpunkte erarbeiten – Standpunkte vertreten – Standpunkte durchsetzen. Standpunkte auf angemessene Weise in die Öffentlichkeit zu bringen und für Veränderungen zu kämpfen, ist eine Form der Zivilcourage! Für eine gelungene Debatte benötigt man gegenseitige Akzeptanz der Akteure und Akzeptanz der demokratischen Form. Bei Günter Gugel findet man eine Auflistung von Gesprächshaltungen und Handlungsweisen, die deeskalierend wirken; einige davon sind: Blickkontakt, Begründen, Nachfragen, Gegenargumente ernst nehmen, Ausreden lassen und nicht zuletzt Humor. Die Bildungspläne halten fest, dass Rhetorik und Argumentation als Mittel demokratischen Handelns ab der Sekundarstufe trainiert wird. Klassenrat, Stufenrat, Schülerrat sind Veranstaltungen, in denen die Debatte und das demokratische Mitgestalten geübt werden kann; für Schülerinnen SMV-Aktuell 2005 / 2006

und Schüler jeden Alters ist es eine spannende Herausforderung in geführter Weise zusammen zu sitzen, ein bedeutsames Problem zu besprechen und zu lösen. Es ist möglich von Anfang an eine Gesprächsund Streitkultur zu pflegen! Demokratische Strukturen müssen wachsen, sie können nicht aufgesetzt werden! In dem Seminar „Richtig zoffen“ von Christina Zitzmann lernt eine Gruppe Bausteine kennen, die man für eine Streitkultur braucht: Kommunikationsfähigkeit, Kooperationsfähigkeit und Konfliktfähigkeit.. Bekannt ist zum Beispiel das Spiel „Inselspringer“; hier muss eine Gruppe mit Hilfe von Teppichfliesen eine Strecke überwinden ohne den Boden zu berühren. Das geht nur mit Zusammenarbeit. In dem Seminar „Einspruch – starke Worte lernen“ lernen die Teilnehmer Dinge wie richtig Ja und Nein zu sagen, zu bekräftigen und abzulehnen, eine Expertendiskussion zu führen. In jeder Klassenstufe spielen sich Szenen ab wie: „Ich habe keine Lust im Schwarzwald zu wandern, ich möchte lieber an den Bodensee.“ „Du bist doch sowieso immer nur dagegen, mit dir kann man doch nicht reden.“ Das sind fruchtbare Momente, die zum sozialen Lernen herausfordern. Nicht nur die gewählten Schüler – alle Schüler sind die SMV! IV Stopp – bis hierhin und nicht weiter! Die Schule bekommt zunehmend die Aufgabe, Handlungskompetenz zu fördern. Eingreifen ist ein wichtiges Instrument der demokratischen und politischen Kultur. Vernünftiger und ziviler Ungehorsam geht in positiv konstruktives Handeln über; das gilt für Momente, in denen es einen „Mächtigeren“ gibt, entweder in einer Hierarchie oder nur aus der Situation heraus. Wie entstehen aktuelle Gewaltsituationen? Nicht befriedigte Bedürfnisse führen zu Problemen – nicht gelöste Probleme führen zu Konflikten – nicht gelöste Konflikte führen zu Krisen – und jetzt steigt die Bereitschaft Gewalt anzuwenden. Die `Zuschauer´ oder das `Opfer´ müssen hier handelnd eingreifen. Meyer zeigt drei Faktoren auf, von denen abhängt, ob und wie gehandelt wird: Soziales Umfeld

sich einsetzen

Eingreifen Aktuelle Situation

sich wehren Person

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In der Person läuft folgendes Entscheidungsschema ab: auf jeder Stufe muss entschieden werden, ob der Prozess, der in die Handlung mündet, weitergeht.

Wahrnehmung

bemerke ich den Vorfall?

Beurteilung

liegt Gewalt vor, soll/muss ich eingreifen?

Entscheidung

gerate ich in Gefahr, wie hoch ist das Risiko?

Handlung

Hier weitere Ratschläge zum Verhalten in Bedrohungssituationen, wie sie etwa auf dem Schulweg entstehen können, wenn der Angreifer sein Ziel auf dem Schulgelände nicht erreicht hat: • nach Möglichkeit ruhig bleiben • die Situation öffentlich machen, Hilfe einfordern • versuchen, sich aus der Gefahrensituation zu entfernen • nicht drohen oder beleidigen • möglichst jeden Körperkontakt vermeiden • in manchen Situationen: zuhören • Blickkontakt herstellen • Handlungen vermeiden, die zur Opferrolle passen • sachlich bleiben, eventuell den Angreifer siezen • das Unerwartete tun

Aber wie verhalte ich mich in konkreten Bedrohungssituationen? Bedrohungssituationen entstehen auf dem Schulhof, im Klassenzimmer auf dem Schulweg, auf der Toilette ... im öffentlichen ebenso wie im privaten Umfeld. In solchen Fällen ist es wichtig dem Angreifer deutlich zu machen, dass er eine Grenze überschreitet: die Grenze der persönlichen Integrität. Sobald der Angegriffene das Gefühl hat, dass der Aggressor zu weit geht, sollte er z. B. die Stopp-Regel anwenden:

„Stopp“

laut, deutlich und bestimmt rufen und wenn möglich mit dem Namen ansprechen, mit der Hand ein Stopp-Signal geben und einen Schritt nach vorne machen.

Selbstverständlich ist es nicht einfach das Richtige zu tun, aber es kann trainiert werden. Kurse zu diesem Thema werden derzeit von vielen öffentlichen Einrichtungen angeboten. Wenn die Schüler lernen, Strategien zu entwickeln, die schwerwiegende Aggressionen verhindern helfen, ist das natürlich die beste Lösung. Die SMV - und das sind alle Schülerinnen und Schüler - arbeitet daran!

Harald Geserer, SMV-Beauftragter für Berufliche Schulen

Zivilcourage will trainiert sein! Beratung und viele Informationen zum Beispiel zu möglichen Formen des Zivilcouragetrainings geben gerne

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die SMV-Beauftragten des Regierungspräsidiums E-Mail: [email protected]



der SMV-Referent der Abteilung Schule und Bildung E-Mail: [email protected]

Thema 2: Demokratie in der Schule

6 Regeln für den Ernstfall

SMV-Aktuell 2005 / 2006

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