Dekan Ekkehard Leytz, Eberbach

Dekan Ekkehard Leytz, Eberbach Predigt 1. Thess 5,1-6 Drittletzter Sonntag 9.11.14 Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem He...
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Dekan Ekkehard Leytz, Eberbach Predigt 1. Thess 5,1-6 Drittletzter Sonntag 9.11.14 Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus Liebe Mitchristen, Der Filmemacher Alexander Kluge lässt in einer Szene einen Kammersänger fragen, wie er denn im ersten Akt – so habe man über die Aufführung geschrieben – mit einem Funken Hoffnung singen könne, wo er doch wisse, dass die Oper im fünften Akt schlecht ausgehe. Er antwortete: „Das weiß ich im ersten Akt noch nicht.“ Die Interviewerin erinnert ihn daran, das er das Stück schon 84 Mal gespielt hat und daher wissen müsse, wie es ausgeht. Und sie erneuert die Frage: „Ja wieso spielen Sie dann „mit einem Funken Hoffnung im Gesicht“? – Weil ich im ersten Akt den fünften nicht kennen kann.“ Als sie ihrerseits weiter darauf besteht, dass es im fünften Akt nicht gut ausgehe und schon in 84 Aufführung nicht gut ausgegangen sei, sagt er: „Könnte doch aber!“

keinen Spielraum habe. Ein Satz der wichtig ist, gerade auch angesichts des heutigen vielfachen Gedenktages. Der 9. November ist ja geradezu der Tag der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Am 9. November 1918 rief der SPD-Abgeordnete Philipp Scheidemann vom Balkon des Berliner Reichstags die Republik aus und beendete damit die Monarchie. Gegen die „verhasste Demokratie“ inszenierte am 9. November 1923 der bis dahin unbekannte Adolf Hitler in München den „Marsch auf Berlin“. Und scheiterte kläglich. Am 9. November 1938, vor 76 Jahren, fand in der so genannten „Reichskristallnacht“ die Judenverfolgung des dritten Reiches ihren ersten Höhepunkt. Überall in Deutschland – auch hier bei uns in Eberbach – wurden Tausende von Synagogen in Brand gesteckt, jüdische Geschäfte geplündert, Zehntausende von jüdische Mitbürger misshandelt, in Konzentrationslager verschleppt und später getötet.

Ich finde diese Szene herrlich. Da lässt sich einer den Funken Hoffnung nicht ausreden und nicht tottreten. Wenn er es nämlich täte, könnte er den ersten Akt gar nicht mehr singen. Die Oper wäre tot, bevor sie begonnen hat.

Heute vor 25 Jahren, am 9. November 1989, geschah, womit niemand gerechnet hatte: Die DDR-Führung öffnete die Grenze nach West-Berlin und zur Bundesrepublik. Mit dem Fall der Mauer begann das Ende der Deutschen Demokratischen Republik und der Weg zur Wiedervereinigung.

„Könnte doch aber!“ Ein winziger Satz, der die Tür einen winzigen Spalt offen hält. Er findet sich nicht ab mit dem, wie es angeblich immer gewesen ist und bleiben wird. Weil ja alles nach einem festgelegten Plan funktioniere, weil mächtige Verschwörer am Werk seien, weil ich selbst ja gar

Ein winziger Spalt hatte sich aufgetan mit Glasnost und Perestroika. Tausende von Menschen hatten Kerzen angezündet. Die „Leipziger Sechs“, darunter Kurt Masur, verfassten den Aufruf „Keine Gewalt!“. Die

Verantwortlichen gaben keinen Schießbefehl. Mehr aus der Verwirrung heraus als geplant tat sich in Berlin die Mauer auf. Kurt Masur sagt heute im Rückblick: „Es hat alles einen anderen Weg gemacht, als man vorausschauen konnte.“ „Könnte doch aber!“ war wahr geworden.

Tag des Herrn kommt, wie ein Dieb in der Nacht: unvorhersehbar, unplanbar, immer so: Es könnte sein. Nur dass im Gegensatz zum Dieb, der gern im Dunkeln bleibt, der Tag des Herrn die Brüchigkeit und Vorläufigkeit menschlicher Machtverhältnisse ans Licht bringt.

In unserem Predigttext heute schreibt Paulus an die Gemeinde in Thessaloniki: Von den Zeiten und Stunden aber, liebe Brüder, ist es nicht nötig, euch zu schreiben; denn ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommen wird wie ein Dieb in der Nacht. Wenn sie sagen werden: Es ist Friede, es hat keine Gefahr -, dann wird sie das Verderben schnell überfallen wie die Wehen eine schwangere Frau und sie werden nicht entfliehen. Ihr aber, liebe Brüder, seid nicht in der Finsternis, dass der Tag wie ein Dieb über euch komme. Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis. So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein.

Darum lasst uns wachen und nüchtern sein. Denn als Kinder des Lichts gehören wir zu denen, die sich nicht darauf verlassen, dass immer alles bleibt, wie es ist. Sondern zu denen, die nach dem Licht Ausschau halten, der durch einen winzigen Spalt in der Tür fällt. Die für möglich halten, dass sich etwas verändert. Die alle ihre Kraft einsetzen, dass der Funke Hoffnung nicht ausgetreten wird, sondern überspringt. Die durch ihren Glauben und ihre Taten dafür sorgen, dass das „Könnte doch aber!“ offen bleibt.

„Von Zeiten und Stunden ist es nicht nötig, euch zu schreiben. Ihr wisst ja selbst...“ Keine prophetische Zeitansage des Paulus. Keine Selbstinszenierung als einer, der alles vorausgesehen hat, es immer schon besser gewusst, der mit dem lieben Gott den Verlauf der Geschichte ausgehandelt oder gar ohne ihn selbst in die Hand genommen hat. Sondern dies: Weder der trügerische Friede, noch die scheinbare Unabänderlichkeit fest gemauerter Machtverhältnisse dürfen den Blick darauf verstellen: Der

Ich stelle mir vor, was gewesen wäre, wenn damals am 9. November 1918 mehr Menschen den offenen Spalt der Tür zur Demokratie wahrgenommen hätten, die Weimarer Republik weiterentwickelt, statt tot geredet hätten, eine Kultur der Aussöhnung aufgebaut hätten, wie sie dann 50 Jahre und viele Millionen Tote später erst nach dem zweiten z.B. mit Frankreich stattfand. Ich stelle mir vor, was gewesen wäre, wenn damals am 9. November 1938 mehr Menschen sich an die Seite der Juden gestellt hätten und gegen die Schändung der Synagogen protestiert hätten, wenn die Kirchen sich ohne wenn und aber auf die Seite der jüdischen Gemeinden geschlagen hätten, wenn die Bürger weiterhin in jüdischen Geschäften eingekauft und Betriebe weiterhin jüdische Menschen

beschäftigt hätten. Wenn viel mehr Menschen, die das Unheil wohl kommen sahen, Fantasien entwickelt und sich für sie eingesetzt hätten: Könnte doch aber ganz anders sein. Und ich stelle mir umgekehrt vor: Wenn damals im Herbst 1989 die Menschen ihre Kerzen ausgeblasen hätten und zurück in ihre Häuser gegangen wären. Wenn sie am 9. November die verworrene Nachricht des Pressesprechers Schabowski ignoriert und sich ins Bett gelegt hätten, wenn auch nur einer der allein gelassenen Grenzposten geschossen hätte. Wenn die Tür in der Mauer, die einen Spalt breit offen war, gewaltsam wieder wäre zugedrückt worden. Es hätte ja auch ganz anders kommen können. Dann müssten wir nach wie vor eine Einladung für ein begrenztes Visum vorlegen, um Freunde und Verwandte besuchen zu können. Dann müsste ich wohl wie bei der Taufe auch bei der Hochzeit meiner Tochter einen Brief vorlesen, weil die Patentante aus Brandenburg nicht ausreisen durfte. Ich mag es mir so herum gar nicht vorstellen. „Es könnte doch aber...“ sagt der Opernsänger mit einem Funcken Hoffnung im Gesicht. Und haucht damit auch beim 85. Mal seiner Rolle und dem ganzen Stück das Leben ein, das es braucht um wahr zu werden. „Es könnte doch aber...“ sagten die Menschen 1989, als sie auf die Straßen gingen und ihre Kerzen anzündeten, als sie an den Toren rüttelten und auf der Mauer tanzten. Als sie das Unvorstellbare taten: durch das Brandenburger Tor zu gehen von West nach Ost und von Ost nach West.

„Es könnte doch aber sein,...“ sagt Paulus, dass Gott eine ganz neue Tür auftut, dass alles ganz anders kommt, dass Licht aufstrahlt mitten in der Nacht, dass Gott der Macht der Finsternis ein Ende setzt und plötzlich alles offen zu Tage liegt, die guten Taten und die üblen Machenschaften, die versäumten Chancen und das unbeteiligte Zuschauen. Weil es so sein könnte: Darum lasst uns nicht schlafen sondern wachen und nüchtern sein. Denn bevor diese letzte große Tür aufgeht, lasst uns die kleinen Türen wahrnehmen, die sich einen Spalt breit öffnen, durch die Licht hindurch fällt. Und lasst uns mutig den Schritt durch die Tür hindurch wagen und den Menschen auf der anderen Seite die Hand entgegen strecken, damit sie nicht wieder zu geht. Und bei allen Mauern, die noch aufgerichtet und bei allen Türen, die noch zu sind, bei all den Rückschlägen im Verhandlungsprozess zwischen der Ukraine und Russland, zwischen Israel und den Palästinenser und an all den anderen Fronten, bei all den Grenzen, an die wir im Umgang mit den Flüchtlingen stoßen: Lasst uns weder in Euphorie noch in Verzweiflung zu fallen, sondern mit einem Funken Hoffnung im Gesicht an dem Ziel festhalten: „Es könnte doch aber...“ Denn am Ende wird es auch so sein. Gott wird alle Mauern durchbrechen und die Türen weit aufmachen und sein Licht wird hell erstrahlen. Bis dahin aber sollten wir Christen als Kinder des Lichtes an diesem Funken Hoffnung im Gesicht erkennbar sein. Es könnte doch aber... Amen.

Bußgebet: Mein Gott, was habe ich nicht alles schon erlebt, was hast du mir nicht alles schon zugemutet, was hast du mir nicht alles schon geschenkt. Tränen des Leides und Tränen der Freude, Herbe Verluste und unerwarteten Jubel, Zeiten der Gleichmut und Geduld und Zeiten, in denen alles durcheinander geraten ist. So ist mein Leben alle meine Jahre hindurch unfassbar, unberechenbar, voller Überraschungen. Manchmal trägt mich mein Glaube. Manchmal nagt an mir der Zweifel. Manchmal schüttelt mich Verzweiflung. Doch tief drinnen in meinem Herzen weiß ich: Du hältst zu mir. Die Tür zu dir steht offen. Dein Licht fällt auf mich. Deine Barmherzigkeit hat kein Ende. Lass mich jeden Morgen neu deine Gnade erfahren. Mache diesen Tag und jeden Tag zu einem Tag des Heils. Herr, erbarme dich...

Der Psalmbeter ermutigt uns: Hoffet auf den Herrn allezeit, liebe Leute, schüttet euer Herz vor ihm aus; denn Gott ist unsre Zuversicht.

Schlussgebet Herr unser Gott, manchmal ist mehr möglich als wir glauben, wenn wir an dich glauben. Du gibst du uns die Kraft, alles Mögliche zu tun. Hab Dank für die überraschenden Momente, in denen Dein Licht in unser Leben fällt und hinein in die Geschichte unseres Landes: Momente, in denen wir frei sind, Momente, in denen wir uns als Schwestern und Brüder erkennen, Momente, in denen unser Herz weit wird. Hilf uns, diese Momente als deine Geschenke an uns zu entdecken und zu nutzen. Herr unser Gott, wir bitten dich um überraschende Momente in den festgefahrenen Konflikten in der Ukraine und im Nahen Osten. Öffne die Türen einen Spalt breit. Mach den Menschen Mut, durch diese Tür hindurch zu gehen und Verständigung zu suchen. Herr unser Gott, wir bitten dich um überraschende Momente, in der Begegnung mit Freunden und mit Fremden. Bewahre uns davor zu glauben,

immer schon alles zu wissen und zu kennen. Bewahre uns die Neugier, aufeinander zu zu gehen und Neues zu entdecken.

Herr unser Gott, wir bitten dich um überraschende Momente in unserem christlichen Glauben. Mach unser Herz offen für dich und unseren Geist wach für die Menschen Lass nicht nur bei Konfirmandinnen und Konfirmanden, sondern auch bei uns Erwachsenen Glaube und Verständnis wachsen. Hilf uns zu erkennen, wie du uns begegnest, und anderen davon zu erzählen. Herr unser Gott, wir bitten dich um überraschende Momente auch für die Menschen, die trauern, um überraschenden Trost und unerwartete Zuwendung, um gute Erinnerungen, und den Mut, sich dem Leben neu zuzuwenden. Du überraschst uns mit der Zusage, dass du uns neues Leben schenken willst durch Jesus Christus, unsern Herrn. Dafür danken wir dir. Vaterunser

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