Daniel Niemetz Das feldgraue Erbe Die Wehrmachteinflüsse im Militär der SBZ/DDR

MILITÄRGESCHICHTE DER DDR Herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Potsdam Band 13

Daniel Niemetz

Das feldgraue Erbe Die Wehrmachteinflüsse im Militär der SBZ/DDR Herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt

Ch. Links Verlag, Berlin

Gewidmet meinen Eltern Werner und Elvira Niemetz

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation LQGHU'HXWVFKHQ1DWLRQDOELEOLRJUDÀH GHWDLOOLHUWHELEOLRJUDÀVFKH'DWHQVLQGLP,QWHUQHWEHU http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Leipzig, Univ., Diss., 2006 (UVWH$XÁDJH6HSWHPEHU © Christoph Links Verlag GmbH, 2006 6FK|QKDXVHU$OOHH%HUOLQ7HOHIRQ   ZZZOLQNVYHUODJGHPDLO#OLQNVYHUODJGH 8PVFKODJJHVWDOWXQJ.DKDQH'HVLJQ%HUOLQXQWHU9HUZHQGXQJHLQHV)RWRVYRQ3DXO*ODVHU %HUOLQ 19$:DFKDEO|VXQJLPKLVWRULVFKHQ6WHFKVFKULWWYRUGHU1HXHQ:DFKH8QWHUGHQ /LQGHQLQ%HUOLQ 5HGDNWLRQ.RUUHNWXUXQG6DW]0LOLWlUJHVFKLFKWOLFKHV)RUVFKXQJVDPW3RWVGDP ISBN 978-3-86284-053-3

Inhalt Vorwort Danksagung

VII IX

Einleitung 1. Fragestellung und theoretische Einordnung 2. Forschungsstand und Literatur 3. Quellen 4. Struktur der Arbeit

1 3 9 12 15

I. 1.

17 17

2.

Krieg, Gefangenschaft und Heimkehr Von Stalingrad nach Krasnogorsk – Zum politischen Wandlungsprozeß ehemaliger Wehrmachtoffiziere Von Ministern und Hilfsarbeitern – Heimkehr und Neuanfang ehemaliger Wehrmachtoffiziere in der SBZ

II. Neue Truppe, alter Drill – Die Wehrmachteinflüsse in der Hauptverwaltung für Ausbildung (HVA) und ihren Vorläufern 1948/49-1952 1. Aus dem Lager in die Kaserne – Wehrmachtangehörige als Kader der ersten Stunde 2. Genosse »Reibert« und 08/15 – Wehrmachteinflüsse im Bereich der inneren Verhältnisse und materielle Hinterlassenschaften III. »Nationale Streitkräfte« oder »Russentruppe«? – Die Wehrmachteinflüsse in der Kasernierten Volkspolizei (KVP) 1952-1955 1. Spezialisten gesucht – Ehemalige Wehrmachtangehörige als Rekrutierungspotential für den Streitkräfteaufbau 1952/53 2. »Erfahrungen der Freunde« und »deutsche Mentalität« – Der Streit um Form und taktisch-operative Ausrichtung der DDR-Streitkräfte IV. »Grauer Rock« und »Rote Fahnen« – Die Wehrmachteinflüsse in der Nationalen Volksarmee (NVA) 1. »Warum tragt ihr nicht deutsche Uniformen?« – Entstehung, Erscheinungsbild und Rezeption der NVA in der Bevölkerung

36 47 47 69 89 89 107 125 125

VI

2. 3. 4. 5. 6. 7.

Inhalt

Ehemalige Wehrmachtoffiziere im Visier und im Dienste des MfS »Christenverfolgung« – Der Ungarnaufstand und die Folgen für die Ehemaligen in den DDR-Streitkräften 1956-1958 Generalleutnant Hoffmanns »Erzählungen« – Der Auftritt des stellvertretenden DDR-Verteidigungsministers in Genf und die zweite Phase der »Säuberungen« 1959/60 »Heldenfriedhof« und »Friedrich Engels« – Die letzten Konzentrationen ehemaliger Wehrmachtoffiziere in Wissenschaft und Ausbildung AeO und »Deutsche Einheit« – Die Ehemaligen im diplomatischen Kalkül und im Propagandakampf der SED Die »Ära der Unteroffiziere und Feldwebel«

140 162 207 228 254 272

Zusammenfassung

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Abbildungen Verzeichnis der Tabellen Abkürzungen Personenregister Quellen und Literatur Zum Autor

295 303 305 311 319 345

Vorwort Geschichte als Wissenschaft entzaubert Mythen. Ein solcher Mythos war und ist die Selbstdarstellung der DDR als »antifaschistischer Staat«. Für den Bereich der Militärgeschichte heißt das: Es ist zu fragen, ob oder wie weit die Nationale Volksarmee und ihre Vorläufer dem eigenen Anspruch gerecht wurden, eine Arbeiter- und Bauernarmee zu sein und sich von jeglicher Kontinuität der davor liegenden deutschen Militärgeschichte gelöst zu haben. Der vorliegende Band des Leipziger Historikers Daniel Niemetz stellt diese Frage. Im September 1948 entließ die Sowjetunion in einer Sonderaktion 100 Offiziere und 5 Generale der ehemaligen deutschen Wehrmacht aus der Kriegsgefangenschaft. Die Rückkehrer hatten einen klaren Auftrag mit auf den Weg bekommen: Sie sollten in leitenden Funktionen den Aufbau der kasernierten Polizeiverbände in der Sowjetischen Besatzungszone unterstützen und damit den Grundstock für ein künftiges Militär in Ostdeutschland schaffen. In den folgenden Jahren wuchs die Zahl der ehemaligen Wehrmachtoffiziere und -generale, die nunmehr aktiven Dienst im »sozialistischen« DDR-Militär versahen, zeitweise bis auf etwa 500 Mann an. Darunter befanden sich auch solche bekannten Persönlichkeiten wie der einstige Generalleutnant der Wehrmacht Vincenz Müller, der es in der DDR immerhin bis zum Chef des Hauptstabes der Nationalen Volksarmee brachte. Über die Rolle der Wehrmachtangehörigen in der DDR und ihren Streitkräften schieden sich in Ost und West lange Zeit die Geister. Dominierten sie in den Aufbaujahren die DDR-Volksarmee, so wie ihre ehemaligen Kameraden im Westen die Bundeswehr, oder hatten sie keinerlei Einfluss auf die Entwicklung des ostdeutschen Militärs, wie es die SED-Propaganda stets zu suggerieren versuchte? Zwar konnte nach 1990 in dieser Frage ein gewisser Erkenntnisgewinn verzeichnet werden, doch stand eine umfassende Bewertung der Wehrmachteinflüsse sowohl im Personalsektor als auch in anderen Bereichen der sich »antifaschistisch« und »antimilitaristisch« gebenden DDR-Volksarmee bisher noch aus. Der Autor des vorliegenden Bandes hat dazu in einem einmaligen Projekt mehrere hundert Akten des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes und der militärischen Formationen (HVA, KVP, NVA) der DDR sowie der SED und der NDPD ausgewertet und eine Reihe von Zeitzeugen befragt. Es ist ihm dadurch gelungen, einen informativen und außerordentlich differenzierten Einblick in die oft widersprüchliche Mentalität ehemaliger Wehrmachtoffiziere im Dienste des von der SED kontrollierten DDR-Militärs zu geben. Der Band beschreibt

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Vorwort

darüber hinaus ausführlich, welche Wehrmachteinflüsse in der NVA und ihren Vorläufern zum Tragen kamen und wie die SED und die sowjetische Führungsmacht mit dem ungeliebten, zugleich aber unverzichtbaren Erbe umgingen. Dabei wird sichtbar, dass ehemalige Wehrmachtangehörige das ostdeutsche Militär auch in solchen Bereichen wie der Ausbildung oder der Gestaltung der inneren Verhätltnisse mehr geprägt haben als bisher angenommen. So bekleideten die ehemaligen Offiziere in den Aufbaujahren der DDR-Streitkräfte überdurchschnittlich viele hohe Kommando-, Stabs- und Lehrfunktionen, obwohl sie zu keinem Zeitpunkt mehr als fünf Prozent des Offizierkorps stellten. Eine zum Teil noch deutlichere Prägung ging offenbar von ehemaligen Unterführer- und Mannschaftsdienstgraden der Wehrmacht aus, denen in den militärischen Formationen der DDR oft eine steile Offizierskarriere ermöglicht wurde. Das gilt etwa für den Oberfunkmeister der Wehrmacht und späteren langjährigen Chef der Volksmarine, Admiral Wilhelm Ehm. Die SED betrieb im Umgang mit dem Wehrmachterbe in der Armee letztlich eine Politik, die zwischen Pragmatismus und ideologischen Dogmatismus lavierte. Für die meisten Funktionäre in Partei, Staat und Militär galten die Ehemaligen als politische Fremdkörper in den bewaffneten Organen der »Arbeiter-Bauern-Macht«. Klassenideologischer Anspruch und politischer Argwohn gaben dann auch den Ausschlag dafür, Ende der fünfziger Jahre den direkten Einfluß der ehemaligen Wehrmachtoffiziere in der DDR-Volksarmee rigoros zu beenden. Das vorliegende Buch ist aus einer an der Universität Leipzig wissenschaftlich betreuten und dort als Dissertation angenommenen Arbeit hervorgegangen. Bemerkenswert erscheint mir dabei, dass Mitarbeiter unseres Forschungsbereiches IV »Militärgeschichte der DDR im Bündnis« von Anfang an in die fachliche Betreuung mit eingebunden wurden. Diese Form der Zusammenarbeit zwischen dem MGFA und dem universitären Bereich hat sich offensichtlich auch in diesem Fall einmal mehr als sehr fruchtbar erwiesen. Mein Dank gilt dem Autor, Herrn Dr. Daniel Niemetz, für seine Forschungsleistung, mit der er wesentlich zur Aufhellung eines vieldiskutierten Kapitels ostdeutscher Militärgeschichte beigetragen hat. Ich danke den Mitarbeitern des Forschungsbereiches IV und der Schriftleitung des MGFA sowie nicht zuletzt dem Lektor, Herrn Dr. Hans-Joachim Beth (Berlin), für deren Engagement bei der Realisierung des nunmehr 13. Bandes der vom MGFA herausgegebenen und im Berliner Ch. Links Verlag publizierten wissenschaftlichen Buchreihe »Militärgeschichte der DDR«.

Dr. Hans Ehlert Oberst und Amtschef des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes

Danksagung Die vorliegende Arbeit wurde 2005 durch die Fakultät für Geschichte, Kunstund Orientwissenschaften der Universität Leipzig als Dissertation angenommen. Mein größter Dank gilt meinem Doktorvater Professor Dr. Werner Bramke, ohne dessen stets engagierte fachliche Betreuung, klare konzeptionelle Anleitung und große persönliche Anteilnahme der Erfolg des Projektes nicht denkbar gewesen wäre. Ebenso danke ich der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V, durch deren großzügige Förderung das Forschungsvorhaben überhaupt erst möglich wurde. Gleiches gilt für den Albertus-Magnus-Verein für das Bistum DresdenMeißen sowie für den Freistaat Sachsen, die durch ihre Darlehens- bzw. Stipendienvergabe den Beginn sowie den Abschluss des Projektes unterstützt haben. Der Anteil des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes in Potsdam ist in mehrfacher Hinsicht hervorzuheben. Ich danke dem ehemaligen Leiter des Forschungsbereiches IV und jetzigen Amtschef des MGFA, Oberst Dr. Hans Ehlert, und dessen Nachfolger in der Leitung des FB IV, Oberst Dr. Winfried Heinemann, für die Aufnahme dieser Monographie in die Publikationsreihe zur »Militärgeschichte der DDR«. Nach meinem Doktorvater gebührt Dr. Rüdiger Wenzke vom FB IV mein ganz besonderer Dank. Er war es, der die Studie maßgeblich anregte, sie von Seiten des MGFA über all die Jahre betreute, durch konzeptionelle Hinweise in hohem Maße bereicherte und durch persönliche Initiative mit vorantrieb. Auch Dr. Torsten Diedrich sei für seine stets hilfreichen Anmerkungen gedankt. Große Anerkennung gebührt darüber hinaus den Damen und Herren der Schriftleitung unter Führung von Dr. Arnim Lang für die hervorragende Projektbetreuung, insbesondere Wilfried Rädisch für die Koordination des Lektorats sowie Marina Sandig für die Bildrecherche; die Textgestaltung übernahmen Carola Klinke und Antje Lorenz. Das Verdienst des verantwortlichen Lektors, Dr. Hans-Joachim Beth (Berlin), das Manuskript, trotz knapp bemessener Zeit, zur Publikationsreife gebracht zu haben, kann nicht genug betont werden. Besondere Erwähnung verdienen alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Archive, die meine langwierigen Recherchen mit großem Engagement begleitet haben. Hier sind zuvorderst die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Außenstelle Leipzig der BStU zu nennen, namentlich Sachgebietsleiter Tobias Hollitzer sowie ganz besonders meine zuständige Sachbearbeiterin Gabriele Steinbach, ohne deren unermüdliche Zuarbeit viele der zugrunde liegenden Forschungsergebnisse nicht erreichbar gewesen wären. Ähnliche Anerkennung gebührt den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Bundesarchiv-Militärarchiv

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Danksagung

Freiburg i.Br., allen voran Herrn Albrecht Kästner, sowie der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde. Ebenso danke ich Frau Barbara Turra von der Fotostelle des Militärhistorischen Museums Dresden für die Überlassung von Bildvorlagen. Herausragende Erwähnung verdienen an dieser Stelle all jene Zeitzeugen, die durch ihre Auskunftsbereitschaft wesentlich zum Gelingen des Projektes beigetragen haben. Ich danke folgenden ehemaligen NVA-Angehörigen: den Generalmajoren a.D. Bernhard Bechler (†) und Prof. Dr. Reinhard Brühl – über den die Kontakte zu den übrigen Offizieren überhaupt erst möglich wurden –, den Obersten a.D. Dr. Hans Höhn (†) und Dr. Kurt Schützle (†), dem Kapitän z.S. a.D. Prof. Dr. Günther Glaser, den Oberstleutnanten a.D. Klaus Ebel – der mir bis heute ein interessanter, stets hilfsbereiter Gesprächspartner geblieben ist –, Dr. Heinz Sperling und Alfred Voerster (†) sowie Major a.D. Georg Heitsch (†). Außerdem gilt mein Dank dem ehemaligen Jagdflieger-Leutnant der Luftwaffe und NKFD-Gründungsmitglied Heinrich Graf von Einsiedel sowie dem ehemaligen Unteroffizier in der 6. Armee Heinz Wanscheck. Schließlich möchte ich mich ganz besonders bei meinen Eltern bedanken, die mir stets eine feste Stütze waren, und denen darum diese Arbeit gewidmet ist. Außerdem danke ich all jenen Verwandten und Freunden, die mich über all die Jahre hinweg begleitet und ermutigt haben.

Daniel Niemetz

Einleitung Im Jahre 1997 erinnerte sich der langjährige Chef der NVA-Landstreitkräfte, Generaloberst a.D. Horst Stechbarth, rückblickend an eine Episode im Zusammenhang mit der 1956 abgehaltenen ersten Maiparade der Volksarmee in Ostberlin. Stechbarth, damals noch Oberstleutnant und Stellvertretender Kommandeur der 1. Mot.-Schützendivision, sollte auf Empfehlung der sowjetischen Berater mit seinen Truppen nach sowjetischem Marschtempo (120 Schritt pro Minute) marschieren. Das gelang jedoch nicht, weil die deutsche Marschmusik hierfür nicht geeignet war. Verteidigungsminister Willi Stoph kam hinzu und – so die Erinnerungen Stechbarths – soll ihn gefragt haben, wie denn die Wehrmacht marschiert sei. Der ehemalige Unteroffizier und Zugführer im Panzergrenadierregiment 394 nannte seinem Vorgesetzten den Takt von 114 Schritt pro Minute als Marschtempo. Daraufhin ordnete Stoph, der ebenfalls bereits als Unteroffizier in der Wehrmacht gedient hatte, mit der Bemerkung, die Parade finde ja schließlich in Berlin und nicht in Moskau statt, das deutsche Marschtempo für die NVA an1. Offensichtlich mit Erfolg, denn auch der damalige NVA-Stadtkommandant von Ostberlin, Generalmajor Hans Wulz, der als ehemaliger Wehrmacht-General bereits viel größere Militäraufmärsche auf der Ost-West-Achse der Reichshauptstadt gesehen hatte, soll sich von dem Spektakel recht beeindruckt gezeigt haben, und zwar derart, dass er sich bei einem Vergleich desselben mit einer sowjetischen Truppenparade in Magdeburg dahingehend geäußert habe, dass die Maiparade der NVA »besser und exakter« gewesen sei und man »doch gleich« merke, »welches Volk wenigstens ein bisschen Ahnung von Paraden« hätte2. Dass man in der DDR etwas von Paraden und sonstigen militärischen Zeremoniellen nach preußisch-deutschem Vorbild verstand, war in der Tat nicht wegzuleugnen. Dies sowie der Umstand, dass sich die NVA seit ihrer offiziellen Gründung 1956 in einer Uniform präsentierte, die jener der ehemaligen deutschen Wehrmacht frappierend ähnelte, war und ist für zahlreiche Menschen in Ost und West bis zum heutigen Tage sichtbarster Beweis für eine vermeintliche Kontinuität von NS-Wehrmacht und DDR-Volksarmee, aber auch von Drittem 1

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Siehe Interview von Jürgen Eike mit Generaloberst a.D. der NVA Horst Stechbarth. In: Die verschwundene Armee. Dokumentarfilm. Erstsendung am 15.1.1997 in »arte«. Nach: Wenzke, Das unliebsame Erbe, S. 1137. BStU, AOP 958/61, Bd 4, Bl. 49, GI-Bericht »Gerhard Krugmann«, betr. Fahrten des Gen. Generalmajor Wulz vom 21. Juni 1956, 21.6.1956.

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Einleitung

Reich und SED-Staat. Vor allem bis in die sechziger Jahre erschienen in der Bundesrepublik zahllose, in der Regel propagandistisch gefärbte Publikationen, die eine direkte Linie vom NS- zum SED-Regime herzuleiten suchten. Auch in jüngerer Zeit fanden derartige Thesen wiederholt Anklang3. Insbesondere das äußere Erscheinungsbild der NVA sowie die Tatsache, dass auch ehemalige Offiziere und Generale der deutschen Wehrmacht in nicht unwesentlichem Maße Einfluss auf Aufbau und Konsolidierung der DDR-Streitkräfte nahmen, hat dem SED-Staat beizeiten den Vorwurf eingebracht, ein Hort des »roten Militarismus« zu sein, in dem sich gewissermaßen militaristische Erscheinungsformen der Vergangenheit mit kommunistischem Gedankengut der Gegenwart zu einer unheilvollen Allianz vereinigten4. Ein Vorwurf, der von der ostdeutschen Seite vehement zurückgewiesen wurde, die ihrerseits nicht davon abließ, den Einfluss ehemaliger »Militaristen und Faschisten« auf die Geschicke von Bundesrepublik und Bundeswehr anzuprangern. Die ehemaligen Wehrmachtoffiziere in den eigenen Streitkräften waren für die öffentliche Diskussion in der DDR allerdings kein Thema. Und was die unleugbaren Ähnlichkeiten von NVA und Wehrmacht im äußeren Erscheinungsbild (Uniform und Zeremoniell) anbelangte, so wurde dies mit dem Verweis auf die »progressiven Traditionen der deutschen Militärgeschichte« abgetan. Auch dies hatte zur Folge, dass sich bis heute Gerüchte und Phantasien über die Wehrmachteinflüsse im DDR-Militär halten konnten, die mit den tatsächlichen Realitäten oft wenig zu tun haben, denn die NVA war weder eine Neuauflage der Wehrmacht, noch war sie ein vollkommener Neuanfang ohne Anleihen an deutsche Militärtraditionen. Genau hier setzt die vorliegende Arbeit an. Sie will Klarheit darüber schaffen, wo und in welcher Form sich Einflüsse aus der Wehrmacht in den militärischen Formationen der SBZ/DDR – angefangen bei der Hauptverwaltung für Ausbildung (1949-1952), über die Kasernierte Volkspolizei (1952-1956), bis hin zur NVA (1956-1990) – bemerkbar gemacht haben, aber auch, wie SED und sowjetische Führungsmacht mit diesem ungeliebten wie zugleich unverzichtbaren Erbe umgegangen sind. Dabei sollen die personellen Einflüsse der Wehrmacht im Zentrum der Betrachtung stehen. Es wird auszuloten sein, welche Rolle ehemalige Wehrmachtangehörige, insbesondere ehemalige Offiziere und Generale, sowohl als Objekte als auch als Subjekte der Macht spielten und welche Folgewirkungen sich daraus für das ostdeutsche Militär ergaben. Die Klärung dieses Fragenkomplexes ist von besonderer Wichtigkeit, denn die DDR-Streitkräfte waren alles andere als ein Staat im Staate und die Verfasstheit 3 4

Vgl. Aus Braun mach Rot. In: Focus, 1997, 10, S. 80; Kappelt, Die Entnazifizierung in der SBZ; Kappelt, Braunbuch DDR. Vgl. Falk, Ost-Berlin – Zentrum des Militarismus; Kabel, Die Militarisierung der Sowjetischen Besatzungszone; Grieneisen, Die sowjetdeutsche Nationalarmee; SED-Funktionäre in Offiziersuniform; Otto, Hitler marschiert in der Sowjetzone; Von der NS-Wehrmacht zur Nationalen Volksarmee.

Einleitung

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der NVA musste unweigerlich auch Rückwirkungen auf die gesamte DDRGesellschaft haben.

1. Fragestellung und theoretische Einordnung Auch wenn jene westlichen Propagandathesen, die den SED-Staat in eine direkte Kontinuität zum NS-Regime brachten, äußerst abenteuerlich und kaum nachvollziehbar waren, zielten sie doch nicht ganz erfolglos auf das ab, was man auch als die Achillesferse im Legitimitätsverständnis des ostdeutschen Staates bezeichnen könnte. Der sah sich nämlich nicht allein als die »Territorialisierung des antifaschistischen Credos«5, sondern die SED verstand sich auch als »konsequenteste Gegner[in] des Militarismus«6. Diesem Anspruch stand allerdings die Tatsache entgegen, dass das Territorium der SBZ/DDR nach einer pazifistischen Phase der »antifaschistisch-demokratischen Umwälzung« seit 1948/49 einen »Aufrüstungs- und Militarisierungsprozess«7 erlebte, in dessen Verlauf nicht allein althergebrachte Symbole und Zeremonielle enorme Bedeutung erlangten, sondern auch ehemalige Angehörige der »faschistischen Wehrmacht« Einfluss auf Aufbau und Konsolidierung der Streitkräfte nahmen. Den von westlicher Seite vorgetragenen Militarisierungs-Vorwurf hat man trotz allem stets als verleumderisch zurückgewiesen. Nach DDR-offizieller Lesart war unter Militarisierung die »Errichtung der Herrschaft des Militarismus in allen Sphären der Lebenstätigkeit der Gesellschaft durch eine reaktionäre herrschende Klasse zur Aufrechterhaltung und Ausdehnung ihrer Klassenherrschaft« zu verstehen8. Da es sich jedoch im Falle der DDR um keine Klassengesellschaft handelte, so die entsprechende Schlussfolgerung, sei auch der Begriff Militarisierung für die DDR nicht zutreffend. Diese Grundaussage wird – wenn auch losgelöst von ihrer ursprünglich klassenideologischen Herleitung – bis heute von den Apologeten der DDR-Sicherheitspolitik vertreten, die den Aufbau eines umfassenden militärischen Apparats allein als notwendige, lediglich reaktive Maßnahme zur Landesverteidigung im Kalten Kriege gelten lassen wollen9. Über die Trefflichkeit des Militarisierungs-Begriffes hat die DDR-Forschung derweil weitgehend Übereinstimmung erzielt10. Dabei hat Heribert Seubert – nicht als erster – auf die Notwendigkeit einer klaren Differenzierung gegenüber 5 6

7 8 9 10

Diner, Der Krieg der Erinnerungen, S. 51. Berger/Wünsche, Jugendlexikon Militärwesen, S. 170. Zur Militarismusdebatte in der DDR vgl. auch Engelberg, Über das Problem des deutschen Militarismus; Der deutsche Militarismus in Geschichte und Gegenwart. Thoß, Einführung, S. 20. Militärlexikon, S. 244. Vgl. die diesbezüglich sehr unterschiedlichen Meinungen in der Diskussion ehemaliger NVA-Offiziere und Militärexperten in: Landesverteidigung und/oder Militarisierung? Wagner, Walter Ulbricht und die geheime Sicherheitspolitik der SED, S. 32.

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Einleitung

dem Militarismus-Begriff hingewiesen11, welcher zudem in Deutschland vordergründig mit einer Assoziation des preußisch-deutschen »Gesinnungsmilitarismus« einhergehe12. Während Militarismus jedoch, laut Seubert, »Ausdruck eines gesellschaftlichen Zustandes« ist, der sowohl konkrete praktische wie ideologische Vorbereitungsmaßnahmen für angestrebte Kriegshandlungen umfasst, beinhaltet Militarisierung die »prozesshaften Veränderungen bzw. empirisch messbaren Tendenzen des gesellschaftlichen Stellenwertes des Militärischen« an sich. Kurz gesagt: Der Zweck des Militarismus ist die »Förderung der Militarisierung der Gesellschaft« zur »Aufrechterhaltung der Macht der Eliten«. Im Umkehrschluss muss jedoch ein »hoher Grad der Militarisierung der Gesellschaft« nicht notwendigerweise in Aggressivität münden, so wie in der DDR, wo die »von den Herrschenden betriebene Militarisierung der Gesellschaft« rein »defensiv, auf Machterhalt und nicht aggressiv, nach außen orientiert« war13. Die Merkmale einer solchen Militarisierung sind nach Seubert: 1. Vernetzung verschiedener paramilitärischer und militärischer Institutionen und Erziehungseinrichtungen für Wehrerziehungszwecke; 2. organisatorische Einbindung möglichst vieler Menschen in diese Strukturen zwecks Disziplinierung und sozialer Kontrolle; 3. militärische Organisation und Hierarchisierung der Gesellschaft; 4. militärische Indoktrination; 5. Pflege soldatischer Tugenden und militärischer Rituale14. Armin Wagner wiederum kommt, der Definition Seuberts folgend, zu der Feststellung, dass es sich bei Militarisierung um einen von der politischen Führung »initiierten und angestrebten Prozess« handelt, der im Zeitalter moderner Kriege »sowohl unvermeidlich als auch bereits im Frieden häufig entgrenzt auf die gesamtstaatlichen und -gesellschaftlichen Ressourcen« zurückgreift. Militarismus beruhe hingegen auf keiner »politischen Order«, sondern sei eine »soziokulturelle Erscheinungsform und eine mentale Werthaltung«, die nach 1945 weder in der Bundesrepublik noch in der DDR in Erscheinung getreten sei15. Auch Torsten Diedrich warnt eindringlich vor einer bis heute teilweise immer noch gängigen Gleichsetzung der Begriffe Militarismus und Militarisierung. Zwar seien diese in ihren Wesensmerkmalen durchaus »kompatibel«, ständen 11

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Vgl. die Kritik am Gebrauch des »Militarismus«-Begriffes bei Seubert, Zum Legitimitätsverfall, S. 84-86, sowie den Hinweis auf eine fehlende allgemeinverbindliche Definition bei Berghahn, Militarismus, S. 2, 152, 157. Zur Soziologie des Gesinnungsmilitarismus vgl. u.a. Bereit zum Krieg. Zur wissenschaftlichen Debatte um den preußisch-deutschen Militarismus des 19./20. Jahrhunderts vgl. Conze/Geyer/Stumpf, Militarismus; Kühne/Ziemann, Militärgeschichte in der Entwicklung, S. 23-27. Zum Problem der zivilen Militarisierung in Deutschland 1914 bis 1938 vgl. u.a. Mommsen, Militär und zivile Militarisierung. Seubert, Zum Legitimitätsverfall, S. 88 f. Ebd., S. 89. Wagner, Walter Ulbricht und die geheime Sicherheitspolitik der SED, S. 33.

Einleitung

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sich militaristische und militarisierte Gesellschaften zudem »in ihren Äußerlichkeiten recht nah«, jedoch werde »der entscheidende Unterschied beider [...] durch das Primat von Militär oder Politik gekennzeichnet«. Während Militarismus den »überragenden Einfluss bzw. die Herrschaft des Militärs in einem Staat« und eine davon ausgehende Prägung von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur meine, stehe das expandierende militärische und paramilitärische System im »militarisierten Sozialismus« unter der vollständigen Kontrolle der Politik, sprich der herrschenden Partei16. Als militarisierte Gesellschaft begriff sich die DDR selbstverständlich keineswegs. Nach der im SED-Staat geltenden Auffassung war Militarisierung nämlich nicht allein der Prozess, der zur Erscheinung Militarismus führte, sondern setzte auch die Existenz einer Klassengesellschaft voraus17. Daraus wiederum ergaben sich für die SED zwei wesentliche Konsequenzen: Zum einen machte die Partei von ihrer Militarismus-Kritik besonders gegenüber der Bundesrepublik ausgiebig Gebrauch. Zum anderen glaubte die Parteiführung aufgrund der sich per definitionem ergebenden eigenen Unempfänglichkeit gegenüber militaristischen Tendenzen, »ganz ungezwungen« mit militärischen Verhaltensweisen und Wertvorstellungen umgehen zu können18. In diesen Komplex spielte auch die Einbeziehung nationaler Termini, Traditionen und Werte mit hinein, derer man sich im Bewusstsein des »legitimatorischen Anspruchs«, in der DDR seien Faschismus und Militarismus restlos ausgerottet, bisweilen in größerem Maße bediente als in der Bundesrepublik19. Vor allem im Zuge des auf der 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 angekündigten und 1956 offiziell vollzogenen Aufbaus »Nationaler Streitkräfte« galt es, »durch Betonung einer sozialistischen und deutsch-nationalen Traditionskombination«20 nicht allein die Streitkräfte nach außen wie nach innen hin zu legitimieren, sondern schlichtweg auch deren Attraktivität zu erhöhen. Die Übernahme nationaler militärischer Traditionen erfolgte dabei weder bruchnoch vorurteilslos. Eine Übernahme von Traditionssträngen der ehemaligen Wehrmacht, wie sie in der Bundeswehr in ausgewählter Form stattfand, gab es für die DDR-Streitkräfte nicht21. Bei der Bestimmung der militärischen Traditionen der NVA wurden »der militaristische Militärapparat und die volksfeindlichen Streitkräfte«, also auch Reichswehr und Wehrmacht, ausdrücklich ausgenommen22. Statt dessen war man von Anfang an um die Herausarbeitung einer 16 17 18 19 20 21 22

Diedrich, Herrschaftssicherung, S. 262 f. Militärlexikon, S. 244. Seubert, Zum Legitimitätsverfall, S. 83. Ebd., S. 113. Koszuszeck, Militärische Traditionspflege in der Nationalen Volksarmee, S. 256. Zur Traditionspflege in der Bundeswehr vgl. u.a. Kutz, Militär und Gesellschaft, S. 283, 290-293; Jacobsen, Wehrmacht und Bundeswehr. Wörterbuch zur deutschen Militärgeschichte, S. 570. Zum Bild der Wehrmacht in der Geschichtsschreibung der DDR vgl. u.a. Hass, Zum Bild der Wehrmacht.

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Traditionslinie bemüht, die von Thomas Müntzer über die preußischen Reformer Scharnhorst, Gneisenau und Clausewitz, die Barrikadenkämpfer der 1848/49er Revolution, die Matrosen- und Soldatenräte der Jahre 1918/19, die deutschen Interbrigadisten des Spanischen Bürgerkrieges bis hin zum Nationalkomitee »Freies Deutschland« reichte23. Zuweilen war dieser Rückgriff auf die »progressiven militärischen Traditionen des deutschen Volkes« alles andere als schlüssig, so etwa, als es 1956 darum ging, die »im Kontext des gesamtdeutschen Führungsanspruches der SED«24 stehende Einführung der an die Wehrmachttradition anknüpfenden NVAUniform zu legitimieren, in der nach offizieller Lesart »die besten militärischen Traditionen des deutschen Volkes, nationale Würde und Ehre«25 eine Verkörperung gefunden hätten. Untermauert wurde diese Aussage u.a. durch den Verweis auf die Uniformierung der Schlesischen Landwehr in den Befreiungskriegen oder die feldgraue Wehrmachtuniform von NKFD-Angehörigen. Weder innerhalb der DDR-Bevölkerung noch im Ausland überzeugten derartige Kunstgriffe jedoch. Schließlich konnte die NVA-Uniform schon aus Zweckmäßigkeitsgründen keine Landwehruniform sein. Und auch die schwarz-weiß-rote Armbinde des NKFD suchte man an diesem »grauen Rock« vergebens. Trotz solcher historisierender Verbiegungen kann man der DDR keineswegs den Vorwurf machen, sie habe ihrem militärisch-nationalen Erbanspruch auf historisch-wissenschaftlichem Gebiet nicht genügend Nachdruck verliehen. Vor allem der Rückgriff auf das alte Preußen – und zwar nicht allein jenes der Reformzeit – hat seit 1952 im SED-Staat nicht nur mehrere Belebungen erfahren, sondern auch ein hohes Maß an international anerkannten Publikationen hervorgebracht26. Überhaupt ist festzustellen, dass die Themen Tradition und Traditionspflege bzw. Brauchtum und Zeremoniell in der NVA sowohl vor 1990 (in Ost und West) als auch danach bereits eine umfangreiche Aufarbeitung erfahren haben27. Die vorliegende Arbeit wird insofern nur dort auf vereinzelte Probleme dieses Komplexes eingehen, wo sie – gestützt auf neue Quellenfunde – einen eigenen Beitrag zur Klärung bestimmter Detailfragen (z.B. Uniformfrage) leisten kann.

23 24 25 26 27

Wörterbuch zur deutschen Militärgeschichte, S. 570. Seubert, Zum Legitimitätsverfall, S. 115. Bluth, Uniform und Tradition, S. 73. Vgl. Koszuszeck, Militärische Traditionspflege in der Nationalen Volksarmee, S. 63 ff. Vgl. die umfangreiche Aufstellung von Titeln zu den Themenkomplexen »Tradition und Traditionspflege« und »Brauchtum, Zeremoniell, Uniformierung«. In: Die Militär- und Sicherheitspolitik in der SBZ/DDR, S. 274-282, 305-307. Unter den neueren Arbeiten und Beiträgen zur militärischen Traditionspflege in der DDR vgl. u.a. Doehler/Haufe, Militärische Traditionen; Koszuszeck, Militärische Traditionspflege in der Nationalen Volksarmee; Lapp, Traditionspflege in der DDR; Hanisch, In der Tradition; Heider, Ideologische Indoktrination und Traditionspflege.

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Viel wichtiger erscheint hingegen die Untersuchung der Wehrmachteinflüsse auf die inneren Verhältnisse des DDR-Militärs. Dies gilt vor allem für die Rolle ehemaliger Wehrmachtangehöriger. Hunderte ehemalige Offiziere und Tausende ehemalige Unterführer- und Mannschaftsdienstgrade der Wehrmacht bildeten seit 1948/49 das Grundgerüst des militärisch-personellen Aufwuchses in der SBZ/DDR. Von vornherein nahmen diese Kader nicht allein überproportional viele mittlere bis höchste Kommando- und Stabspositionen ein, sondern zeichneten als Ausbildungs- und Lehroffiziere auch maßgeblich für die Heranbildung künftiger Offiziersgenerationen verantwortlich. Dass sie die inneren Verhältnisse der Streitkräfte und die Mentalität der Truppe dabei wesentlich mitgeprägt haben, liegt auf der Hand. Um so erstaunlicher ist es, dass es bis zum heutigen Tage noch keine Untersuchung gibt, die sich diesem Thema in umfassender Weise widmet. Auch die seit 1990 auf der Basis einer gesicherten Quellengrundlage erarbeiteten Teilstudien dokumentieren nur einen begrenzten Kenntnisstand, zumal sie die ehemaligen Wehrmachtangehörigen, respektive die ehemaligen Offiziere, vor allem als Objekte und weniger als Subjekte der Macht begreifen. Insofern will die vorliegende Arbeit eine wesentliche Forschungslükke schließen helfen28. Doch was bedeutet das vor dem Hintergrund der laufenden Militarisierungsbzw. Militarismus-Debatte? Folgt man der mittlerweile weitgehend Konsens gewordenen Forschungsmeinung, so gehörte die DDR zu den militarisierten, nicht jedoch zu den militaristischen Gesellschaften. Die SED als Inhaberin der politischen Macht beherrschte nicht allein alle Bereiche der zivilen Gesellschaft, sondern kontrollierte auch sämtliche bewaffneten Organe bis hin zu den Streitkräften. Ein direkter Einfluss der Militärs auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft existierte nicht. Zwar gehörten alle Minister für Nationale Verteidigung bis 1989 (Willi Stoph, Heinz Hoffmann, Heinz Keßler) gleichzeitig auch dem Politbüro als dem höchsten Führungsgremium der Partei an, jedoch entstammten alle drei dem Parteiapparat und waren ihrem Selbstverständnis nach in erster Linie SED-Funktionäre und erst in zweiter auch Generale. Auch von Militarismus als »soziokultureller Erscheinungsform« und »mentaler Werthaltung« kann hinsichtlich der DDR-Gesellschaft nicht die Rede sein29. Doch wie sieht es diesbezüglich für die Streitkräfte als Teil der Gesellschaft aus? Hier liegt nahe, dass vor allem die personellen Wehrmachteinflüsse genau solche Werthaltungen bedingten, die man unter soziokulturellen Gesichtspunkten als militaristisch bezeichnen muss. Davon abgeleitet wiederum ergibt sich die perspektivische Frage, welche Folgewirkungen sich daraus für die DDR-Gesellschaft ergaben? Immerhin stellten die Streitkräfte gewissermaßen das wichtigste Militarisierungs-Instrument des SED-Staates dar. Schließlich hielt die NVA bis zu 170 000 Mann ständig unter Waffen, durchliefen mehr als 28 29

Zum Forschungsstand vor und nach 1990 vgl. Punkt 2. Wagner, Walter Ulbricht und die geheime Sicherheitspolitik der SED, S. 33.

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2,5 Millionen Ostdeutscher die Streitkräfte, standen paramilitärische Organisationen wie die Gesellschaft für Sport und Technik oder die Zivilverteidigung unter dem Kommando von NVA-Generalen. Die NVA wirkte, um bei Seuberts Militarisierungs-Begriff zu bleiben, insofern nicht allein durch die »Pflege soldatischer Tugenden und militärischer Rituale«, sondern auch im Sinne aller anderen Militarisierungs-Merkmale, wie etwa der »Vernetzung paramilitärischer und militärischer Institutionen«, der »organisatorischen Einbindung möglichst vieler Menschen zwecks Disziplinierung und sozialer Kontrolle« oder der »militärischen Indoktrination« der Gesellschaft30. Auch wenn sich die vorliegende Arbeit nicht an Erklärungsmustern gängiger theoretischer Konzepte orientiert, sich zudem Militarismus bzw. Militarisierung als vorangestellte Theoreme für die Bearbeitung dieser Thematik nur bedingt eignen31, erscheint eine umfassende Bestimmung des Stellenwertes der Wehrmachteinflüsse, insbesondere der Rolle ehemaliger Wehrmachtangehöriger im DDR-Militär, auch vor diesem Hintergrund als wichtig. Dabei sind folgende Fragen zu klären: 1. Wer waren die Männer, die ihre wehrmachtspezifischen Erfahrungen und Kenntnisse in den Dienst einer ostdeutschen Aufrüstung stellten? 2. Welche Rolle spielten ehemalige Wehrmachtangehörige, vor allem ehemalige Offiziere, im militärpolitischen Kalkül der SED-Führung? Wie vollzog die SED den Spagat zwischen der Bekämpfung des Militarismus einerseits und der Einbindung von Personen und Erscheinungsformen, die in der Vergangenheit genau diesen Militarismus repräsentiert hatten, andererseits? 3. Wie ist die Rolle der sowjetischen Führungsmacht zu bewerten? 4. Welchen qualitativen Einfluss nahmen ehemalige Wehrmachtangehörige als Subjekte der Macht? 5. Welche Wehrmachteinflüsse kamen in den militärischen Formationen der SBZ/DDR langfristig zum Tragen? In Anbetracht der Thematik erscheint ein sozial- und mentalitätsgeschichtlicher Ansatz als angemessen. Trotzdem soll keine »Geschichte von unten« geschrieben werden. Eine solche würde weder den exponierten Dienststellungen zahlreicher Akteure noch der gesamtgesellschaftlichen und politikgeschichtlichen Dimension des Problems gerecht werden. Allerdings soll dem »Faktor der Persönlichkeit«, der »Rolle des Individuums«, deren mangelnde Berücksichtigung Hans Ehlert und Armin Wagner etwa für die bisherigen Arbeiten über die NVA- bzw. MfS-Führungsriegen bemängelt haben32, in angemessener Weise Rechnung getragen werden. Dabei wird ein verbindender Ansatz gesucht, bei dem neben einer vordergründig struktur- und prozessanalytischen Untersu30 31 32

Seubert, Zum Legitimitätsverfall, S. 89. Zu den fortbestehenden theoretischen Problemen der Militarismus-Forschung vgl. auch Kühne/Ziemann, Militärgeschichte in der Entwicklung, S. 23-27. Genosse General!, S. 2 f.

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chung auch die erfahrungs- und mentalitätsgeschichtliche Analyse handelnder bzw. behandelter Individuen steht33. Gerade die Einbeziehung mentalitätsgeschichtlicher Betrachtungsweisen verspricht, die vorliegende Thematik als einen Zusammenhang von ideologischen, politischen Faktoren, mentalen Prägungen und gesellschaftlichen Interessenlagen zu begreifen34. Der Rückgriff auf »Mentalität« als ein Konglomerat von Denkmustern wie Einstellungen und Wertvorstellungen, das Handlungsweisen prägt, ohne sie zu determinieren, wirft die Frage nach einer Sozialisation und militärfachlichen Prägung späterer NVAOffiziere und Generale durch die Wehrmacht samt den daraus resultierenden Auswirkungen auf die ostdeutschen Streitkräfte und somit auf die gesamte DDR-Gesellschaft auf.

2. Forschungsstand und Literatur Anders als im Umgang mit ihrer nationalen Militärtradition in Form und Zeremoniell tat sich die DDR bei der Aufarbeitung des personellen »Wehrmachterbes« in den Streitkräften – gelinde gesagt – ziemlich schwer. Gleiches galt für die Untersuchung der damit einhergehenden Einflüsse auf die inneren Verhältnisse des ostdeutschen Militärs. Es passte nicht zum antifaschistischen und antimilitaristischen Anspruch des SED-Regimes, dass ehemalige Generale und Offiziere der »faschistischen Wehrmacht« am Aufbau und an der Konsolidierung der »Arbeiter- und Bauernarmee« beteiligt gewesen sein sollen. Wehrmacht, Reichswehr und Kaiserheer waren im Verständnis der DDR-Historiographie durchweg »imperialistische Aggressionsinstrumente«, die keinerlei Vorbildfunktion erfüllen konnten35. Vereinzelte Hinweise auf eine personelle Beteiligung ehemaliger Wehrmachtsoffiziere am Aufbau der DDR-Streitkräfte waren allenfalls in den Biographien ehemaliger NVA-Generale und Offiziere zu finden36. In den wenigen anderen Darstellungen, in denen Ehemalige überhaupt Erwähnung fanden, wurde vor allem der Bruch dieser Offiziere mit dem alten System und ihr Eintreten für ein »friedliebendes demokratisches Deutschland« betont37.

33 34 35

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Zur Sozialgeschichte zwischen Struktur- und Erfahrungsgeschichte vgl. immer noch Kocka, Sozialgeschichte zwischen Strukturgeschichte und Erfahrungsgeschichte. Vgl. dazu Sellin, Mentalität und Mentalitätsgeschichte; Schöttler, Mentalitäten, Ideologien, Diskurse. Zum Traditionsverständnis in der NVA vgl. u.a.: Doehler/Haufe, Militärische Traditionen; Hanisch, In der Tradition; Koczuszeck, Militärische Traditionspflege in der Nationalen Volksarmee; Lapp, Traditionspflege in der DDR; Erbe und Tradition in der DDR. Vgl. Adam, Der schwere Entschluß, S. 416-418; Hoffmann, Moskau – Berlin, S. 312-316; Müller, Ich fand das wahre Vaterland; Welz, In letzter Stunde, S. 330-332; Wegner-Korfes, Otto Korfes. Armee für Frieden und Sozialismus, S. 110.

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In der Bundesrepublik hatte man zwar – nicht zuletzt aus den eingangs erwähnten politisch-ideologischen Gründen – ein großes Interesse an der Aufdeckung der personellen Wehrmachteinflüsse im DDR-Militär. Jedoch waren die entsprechenden Beiträge zunächst häufig durch ihre propagandistische Tonart bzw. ein unvollständiges oder gar falsches Faktenwissen gekennzeichnet38. Der fehlende Quellenzugang war im Übrigen auch für jene seit der Mitte der sechziger Jahre in der Bundesrepublik edierten Arbeiten zur Frühgeschichte der DDR-Streitkräfte ein Problem, die um eine Versachlichung der historischen Debatte bemüht waren und deren Grundaussagen im wesentlichen bis heute gültig sind39. Hier wäre die 1964 unter dem Pseudonym Thomas M. Forster erschienene Gesamtdarstellung zu nennen, die in den folgenden Jahren mit insgesamt sechs Auflagen zu einem Standardwerk über die NVA avancierte40. Erst nach 1990 erschienen zahlreiche Arbeiten zur Militärgeschichte der DDR, die sich auf eine frei zugängliche Quellenbasis stützen konnten41. Besonders hervorzuheben sind hierbei die durch das Militärgeschichtliche Forschungsamt der Bundeswehr herausgegebenen Sammelbände, Handbücher und Monographien. Eine erste grundlegende Darstellung zur Remilitarisierung der SBZ/DDR anhand der Aktenbestände des Staats- und Parteiapparates erschien 199442. 1998 folgte ein Handbuch zu den bewaffneten Organen der DDR, welches einen bis dato einzigartigen Überblick über insgesamt 14 militärische und paramilitärische »Organe« bzw. »Schutz- und Sicherheitskräfte« der DDR vermittelt43. Ein im Jahre 2000 von Klaus Froh und Rüdiger Wenzke erarbeitetes biographisches Handbuch machte 377 Kurzbiographien der Generalität bzw. Admiralität der KVP/NVA der Öffentlichkeit zugänglich44. Der drei Jahre später erschienene Band »Genosse General!« stellte exponierte Vertreter der DDR-Militärelite anhand ausführlicher Porträts dar45. Auch eine Gesamtdarstellung zur Geschichte der KVP liegt mittlerweile vor46. Forschungsfelder, Ergebnisse und Perspektiven der aktuellen Militärgeschichtsschreibung zur SBZ/DDR fasst der Tagungsband »Militär, Staat und Gesellschaft der DDR« 38

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40 41

42 43 44 45 46

Vgl. u.a. Mühlen, Generaloberst Hoffmanns Erzählungen; Pfefferkorn, Vincenz Müller; SED-Funktionäre in Offiziersuniform; Von der NS-Wehrmacht zur Nationalen Volksarmee. Vgl. u.a. Fischer, Anfänge der Wiederbewaffnung; Rupieper, Probleme bei der Schaffung der Kasernierten Volkspolizei; Wettig, Entmilitarisierung und Wiederbewaffnung; Aspekte der deutschen Wiederbewaffnung. Vgl. Forster, Die NVA. Vgl. u.a. NVA. Anspruch und Wirklichkeit; NVA. Ein Rückblick für die Zukunft; Die Nationale Volksarmee im Kalten Krieg; »Reorganisation der Polizei«; Rührt euch!; Im Gleichschritt?; Elchlepp u.a., Volksmarine der DDR. Vgl. Volksarmee schaffen – ohne Geschrei! Vgl. Im Dienste der Partei. Vgl. Froh/Wenzke, Die Generale und Admirale der NVA. Vgl. Genosse General! Vgl. Diedrich/Wenzke, Die getarnte Armee.

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zusammen47. Widerständiges Verhalten und politische Verfolgung in der NVA beleuchtet ein jüngst von Torsten Diedrich, Hans Ehlert und Rüdiger Wenzke verfasster Band48. Darüber hinaus ist bisher eine beachtliche Reihe an Einzeldarstellungen durch das MGFA herausgegeben worden. Die Rekrutierung des Offizierkorps der NVA und ihrer Vorläufer hat Stephan Fingerle ausführlich untersucht49. Die Rolle der SED bei der inneren Entwicklung der DDR-Streitkräfte beleuchtet der Band von Frank Hagemann50. Armin Wagner hat die Geschichte des Nationalen Verteidigungsrates dargestellt51. Und Christian Th. Müller lieferte eine ausführliche Analyse des Unteroffizierkorps der NVA52. Auch das Thema Wehrmachteinflüsse in den DDR-Streitkräften, insbesondere die Problematik der ehemaligen Offiziere, wurde in mehreren Einzelstudien abgehandelt. Hier sind vor allem die Beiträge des Potsdamer Militärhistorikers Rüdiger Wenzke zu nennen, der auf diesem Gebiet Pionierarbeit geleistet hat53. Torsten Diedrich hat die Rekrutierung ehemaliger Wehrmachtangehöriger im Zuge der Aufrüstungsjahre 1948/49 dargestellt54. Ein 1999 erschienener Beitrag des Verfassers beleuchtete vor allem Art und Weise des Umgangs der SED mit den Ehemaligen in den Streitkräften55. Die ein Jahr später edierte Arbeit von Peter Joachim Lapp56 steht stellvertretend für die eher populärwissenschaftliche Aufarbeitung der Thematik. 2003 folgte Lapps Biographie über den ersten Chef des KVP/NVA-Hauptstabes, Vincenz Müller57. Hinweise auf die Beteiligung ehemaliger Wehrmachtangehöriger am Aufbau ostdeutscher Streitkräfte finden sich auch in anderen nach 1990 erschienenen Biographien58. Gleiches gilt für den von Hans Ehlert und Armin Wagner herausgegebenen Biographienband zur Militärelite der DDR, der u.a. biographische Skizzen zu fünf ehemaligen Offizieren und sechs ehemaligen Unteroffizieren der Wehrmacht enthält59. Den Umgang mit ehemaligen Wehrmachtoffizieren im Rahmen des KVP-Aufbaus haben Diedrich/Wenzke in

47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59

Vgl. Militär, Staat und Gesellschaft in der DDR. Vgl. Staatsfeinde in Uniform? Vgl. Fingerle, Waffen in Arbeiterhand? Vgl. Hagemann, Parteiherrschaft in der Nationalen Volksarmee. Vgl. Wagner, Walter Ulbricht und die geheime Sicherheitspolitik der DDR. Vgl. Müller, Tausend Tage bei der »Asche«. Vgl. Wenzke, Wehrmachtoffiziere in den DDR-Streitkräften; Wenzke, Auf dem Wege zur Kaderarmee, S. 220-226; Wenzke, Das unliebsame Erbe. Vgl. Diedrich, Das Jahr der Rückkehr. Vgl. Niemetz, Besiegt, gebraucht, gelobt, gemieden. Vgl. Lapp, Ulbrichts Helfer. Vgl. Lapp, General bei Hitler und Ulbricht; Lapp, Todesursache Fenstersturz? Vgl. Wegner-Korfes, Weimar – Stalingrad – Berlin; Lehweß-Litzmann, Absturz ins Leben. Vgl. Genosse General!

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ihrer Monographie zur KVP-Geschichte dargestellt60. Trotz allem fehlte bisher eine »umfassende Bestimmung des Stellenwertes und der Rolle des Wehrmachterbes in der NVA und ihren Vorgängern«61. Vor allem hat es keine der bisher erschienen Arbeiten vermocht, die Rolle ehemaliger Wehrmachtangehöriger als Subjekte der Macht darzustellen. Zudem hat man sich bis dato vor allem auf die relativ kleine Gruppe der ehemaligen Offiziere konzentriert und die ehemaligen Unterführer- und Mannschaftsdienstgrade der Wehrmacht im wesentlichen unberücksichtigt gelassen.

3. Quellen Für die vorliegende Arbeit wurden vor allem Materialien des BundesarchivMilitärarchiv (BA-MA) Freiburg, in das die Bestände des ehemaligen Militärarchivs der DDR übergegangen sind, des ehemaligen Zentralen Parteiarchivs der SED bzw. des ehemaligen Parteiarchivs der NDPD – heute Bestandteile der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO-BA) – sowie des/der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (BStU) ausgewertet. Während die Bestände des BA-MA mit ihren immensen Mengen an Befehlen, Anordnungen, Weisungen, Analysen, Berichten und Protokollen einen Einblick in die internen Vorgänge und Abläufe des ostdeutschen Militärs gestatten, ermöglichen die Archivalien des ehemaligen SED-Archivs im SAPMOBA vor allem eine Rekonstruktion der militärpolitischen Entscheidungsprozesse der SED-Führung. Endgültige Klarheit über das »Wer und Wie« lässt sich dabei jedoch nicht immer herstellen, da die hierfür sehr maßgeblichen Protokolle des Politbüros des ZK der SED lediglich Beschluss- bzw. Arbeitsprotokolle, aber keine Verlaufsprotokolle sind. Wiederum gestatten die Akten der ehemaligen Abteilung für Sicherheitsfragen beim ZK der SED, im folgenden auch ZK-Abteilung für Sicherheitsfragen oder kurz Sicherheitsabteilung genannt, einen relativ guten Einblick in die Handlungsweise maßgeblicher für die Sicherheit in den Streitkräften verantwortlicher Parteifunktionäre. Anhand einiger Akten aus den Beständen der Zentralen Parteikontrollkommission (ZPKK) der SED bzw. der NDPD lassen sich die Auswirkungen der SED-Sicherheitspolitik auf Teile der DDR-Bevölkerung nachvollziehen. Maßgebliche Bedeutung hatte im Zuge dieser Arbeit die Auswertung umfangreicher MfS-Unterlagen im Archiv des/der BStU. Neben einzelnen Schlüsseldokumenten aus dem Bereich »Sekretariat des Ministers« wurden insgesamt 470 Erfassungen zu 335 NVA-Offizieren bzw. Generalen/Admiralen, die ehemalige Offiziere bzw. Generale der Wehrmacht gewesen waren, sowie 32 Erfas60 61

Vgl. Diedrich/Wenzke, Die getarnte Armee, S. 190-201. Wenzke, Das unliebsame Erbe, S. 1115.

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sungen zu 26 NVA-Generalen/Admiralen, bei denen es sich um ehemalige Unterführer- bzw. Mannschaftsdienstgrade der Wehrmacht handelte, ausgewertet. Bei der Masse des eingesehenen Materials, welches alles in allem knapp 84 000 Seiten umfasste, handelte es sich um – zum Teil mehrbändige – »Allgemeine Personenablagen«, »Archivierte IM-Vorgänge« sowie »Archivierte Operative Vorgänge«. Die meisten dieser Vorgänge waren durch die für die Sicherheit in den Streitkräften verantwortliche Hauptabteilung (HA) I des MfS bzw. ihre Vorläufer angelegt worden. Aber auch umfangreiches Material anderer Hauptabteilungen des DDR-Geheimdienstes, welches u.a. Einsichten in die Entwicklung ehemaliger Wehrmachtoffiziere nach ihrem Ausscheiden aus den DDR-Streitkräften ermöglicht, wurde im Verlauf der Recherchen eingesehen. Obwohl die enorme Menge des zu bewältigenden BStU-Materials einen erheblichen Arbeitsaufwand erforderte und die Debatten um das sogenannte Kohl-Urteil von 2002 sowie die damit einhergehende 5. Änderung des StasiUnterlagen-Gesetzes im selben Jahre für zusätzlichen Zeitverzug sorgten, wurde bewusst an einer vollständigen Auswertung aller bereitgestellten Akten festgehalten. Die Gründe, die zu dieser Entscheidung führten, sind folgende: 1. Das in den personenbezogenen Unterlagen des MfS erfasste Material bietet Analysemöglichkeiten, die sich anhand anderer Archivalien nicht ergeben. So enthalten die meisten Personenvorgänge auch Kopien offizieller Kaderunterlagen (Personalbögen, Lebensläufe usw.), die im BA-MA nicht mehr erhalten oder wenn doch (wie bei ehemaligen Generalen), dann nicht zur Benutzung freigegeben sind (Sperrfrist). Aus ihnen konnten spezielle Daten erhoben und Statistiken erstellt werden, die man in den Beständen der ehemaligen Kaderverwaltung der NVA vergeblich sucht. Zudem war es mit Hilfe dieses Materials möglich, die Biographien zahlreicher Handlungsträger genauer zu untersuchen. 2. Die gesichteten Unterlagen enthielten darüber hinaus auch offizielle Dienstdokumente (Originale bzw. Abschriften) militärischer Bereiche, die in den Beständen des BA-MA nicht vorhanden sind. 3. Vor allem das informelle MfS-Material (Stimmungsberichte, GI/IM-Berichte, Treffberichte, Einschätzungen, Analysen) gestattet – bei aller gebotenen Vorsicht – eine Darstellung der inneren Verhältnisse der Streitkräfte, welche anhand der Akten des BA-MA allein nicht realisierbar gewesen wäre. Darüber hinaus wird – ebenfalls bei aller Vorsicht – ein Einblick in die Gedankenwelt einzelner Handlungsträger ermöglicht. Hintergründe und Konflikte, die sich in offiziellen Dokumenten nicht widerspiegeln, werden sichtbar oder lassen sich zumindest erahnen. 4. Gerade aber die Einbeziehung informeller Daten erfordert eine besonders sorgfältige Vorgehensweise. Ein solcher dezidiert quellenkritischer Zugang kann nur auf der Grundlage einer möglichst breiten Materialbasis erlernt werden. Die Kenntnis einer solchen Quantität schult nicht allein den Blick für das Wesentliche, sondern bietet zugleich die Möglichkeit, subjektive Informationen gegen-

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einander zu verifizieren. So wurden inoffizielle Angaben in der Regel nur dann in die vorliegende Arbeit einbezogen, wenn diese durch mehr als eine Quelle gedeckt waren. Auch hat der Verfasser – anders als die Mehrzahl der Autoren, die bis dato BStU-Material verwendet haben – großen Wert darauf gelegt, die Unterschiedlichkeit der informellen Kategorien (Stimmungsberichte, GI/IMBerichte, Treffberichte) bei der Quellenangabe deutlich hervorzuheben. Letztendlich wurde die Entscheidung für eine vollständige Auswertung des gesamten bereitgestellten BStU-Materials auch maßgeblich durch die Tatsache beeinflusst, dass bereits zu Beginn der Einsichtnahmen im Jahre 2000 zu befürchten war, die wissenschaftliche Aufarbeitung einer solchen Materialmenge personenbezogener MfS-Unterlagen könnte in naher Zukunft nicht mehr möglich sein – eine Befürchtung, die sich schließlich auch bewahrheitet hat. Ein weiterer Schwerpunkt der Quellenarbeit lag auf der Auswertung mündlicher Quellen, d.h. auf der Einbeziehung von Zeitzeugen-Befragungen. Insgesamt wurden 16 Interviews mit sieben ehemaligen Offizieren bzw. zwei ehemaligen Unteroffizieren der Wehrmacht geführt, die später als Offiziere bzw. Generale am Aufbau und der Konsolidierung der DDR-Streitkräfte beteiligt waren. Hier wären stellvertretend zu nennen: – der ehemalige Wehrmacht-Major und NVA-Generalmajor a.D. Bernhard Bechler, der u.a. von 1950 bis 1952 als Chef des Stabes der HVA bzw. von 1952 bis 1957 als Stellvertretender Chef des Stabes/Hauptstabes der KVP/ NVA an maßgeblicher Stelle am Aufbau der DDR-Streitkräfte beteiligt war; – der ehemalige Wehrmacht-Leutnant und NVA-Generalmajor a.D. Prof. Dr. Reinhard Brühl, der u.a. von 1961 bis 1989 das Institut für Deutsche Militärgeschichte bzw. Militärgeschichtliche Institut der DDR in Potsdam leitete; – der ehemalige Wehrmacht-Oberleutnent und NVA-Oberstleutnant a.D. Klaus Ebel, der u.a. von 1953 bis 1957 die selbständige Abteilung Vorschriften beim Stab der KVP bzw. am Ministerium für Nationale Verteidigung leitete und an dieser Stelle maßgeblichen Einfluss auf die Abfassung der Dienstvorschriften der DDR-Streitkräfte genommen hat. Zu erwähnen ist darüber hinaus auch der ehemalige Jagdflieger-Leutnant der Luftwaffe, das NKFD-Gründungsmitglied Heinrich Graf von Einsiedel, der dem Autor 2001 dankenswerterweise zum Thema NKFD/BDO Rede und Antwort gestanden hat. Allen Gesprächen kam vor allem eine ergänzende bzw. das Wissen aus den Akten vertiefende und erläuternde Funktion zu. Teilweise konnten mit ihrer Hilfe Erklärungslücken geschlossen werden62. 62

Zu den Problemen der Oral History vgl. u.a. Plato, Oral History als Erfahrungswissenschaft; Steinbach, Bewußtseinsgeschichte und Geschichtsbewußtsein, S. 97-104. Zu Methoden und Verfahren der Oral History vgl. Niethammer, Fragen – Antworten – Fragen; Schröder, Die gestohlenen Jahre, S. 11-156. Zum autobiographischen Gedächtnis vgl. Keller, Rekonstruktion von Vergangenheit; Vergangenheit – Geschichte – Psyche; Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein.

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4. Struktur der Arbeit Für die Darstellung der vorliegenden Arbeit wurde eine Kombination aus chronologischer und problemorientierter Schwerpunktsetzung gewählt. Zwar folgt die Gliederung der Hauptkapitel im wesentlichen der Chronologie des ostdeutschen Streitkräfteaufbaus, jedoch wurde unterhalb dieser Ebene meist – wenn auch nicht ausschließlich – nach thematischen Gesichtspunkten vorgegangen. Dadurch war es auch möglich, wichtige Aspekte in zeitlich übergreifenden Abschnitten abzuhandeln. Hier wäre beispielsweise die Tätigkeit der HA I des MfS und ihrer Vorläufer in den Streitkräften zu nennen (Kapitel IV.2). Das erste Kapitel beschäftigt sich vor allem mit dem politisch-ideologischen Wandlungsprozess ehemaliger Wehrmachtangehöriger, insbesondere ehemaliger Offiziere, sowohl in sowjetischer Gefangenschaft als auch nach ihrer Rückkehr in die SBZ/DDR. Dabei wird deutlich, dass von einheitlichen Erklärungsmustern nicht die Rede sein kann. Vielmehr sind multiple Faktoren zu berücksichtigen, die von persönlichen Kriegs- und Gefangenenerfahrungen bis hin zu individuellen Lebensumständen im Nachkriegsdeutschland reichen. Den Wehrmachteinflüssen in der HVA widmet sich das zweite Kapitel. Dabei wird nicht nur zu klären sein, welche Kräfte für die Einbeziehung ehemaliger Wehrmachtangehöriger in den ostdeutschen Aufrüstungsprozess verantwortlich waren, sondern auch, in welchem Maße und warum sich diese – allen ursprünglichen Vorsätzen zum Trotz – wenige Jahre nach Kriegsende bereit erklärten, erneut eine Waffe in die Hand zu nehmen. Außerdem soll der Frage nachgegangen werden, welchen konkreten Einfluss die Betreffenden in dieser Phase nahmen und welche materiellen Hinterlassenschaften, Erfahrungen, Vorschriften und Einsatzgrundsätze der Wehrmacht in das frühe ostdeutsche Militär eingeflossen sind. Das dritte Kapitel setzt sich mit den Wehrmachteinflüssen in der KVP auseinander. Es werden die verstärkten Bemühungen der SED und der sowjetischen Führungsmacht zur Einbindung ehemaliger Militärspezialisten der Wehrmacht in den 1952 angekündigten Aufbau »Nationaler Streitkräfte« beleuchtet. Außerdem wird der Frage auf den Grund zu gehen sein, inwieweit die KVP als angehende Koalitionsstreitmacht an der Seite der Sowjetarmee dazu in der Lage war, deutsche Formen und Inhalte beizubehalten. An dieser Stelle soll auch geklärt werden, welche Konflikte hieraus erwachsen sind und welche Positionen sich letztlich durchgesetzt haben. Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit den Wehrmachteinflüssen in der NVA. Es wird u.a. der Frage nach den Hintergründen für das »deutsche« Erscheinungsbild der »Arbeiter- und Bauernarmee« nachzugehen sein (Kapitel IV.1). Außerdem soll die Tätigkeit der Hauptabteilung I des MfS in den Streitkräften näher untersucht werden, wobei vor allem die ehemaligen Wehrmachtoffiziere sowohl als Opfer als auch als Gehilfen der Staatssicherheit betrachtet werden (Kapitel IV.2). Dieser Einschub erfolgt nicht von ungefähr an dieser Stelle,

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spielte doch das MfS für die weitere Entwicklung der ehemaligen Wehrmachtoffiziere in den Streitkräften eine maßgebliche Rolle. Weiterhin wird aufzuzeigen sein, welche Folgen außen- und innenpolitische Ereignisse für den Umgang mit den Ehemaligen in der NVA hatten (Kapitel IV.3 bzw. IV.4). Schließlich sollen die letzten Konzentrationen ehemaliger Wehrmachtoffiziere in den DDR-Streitkräften (Kapitel IV.5) und die Rolle der Ehemaligen im Propagandakampf der SED näher untersucht werden (Kapitel IV.6). Abschließend wird jene Gruppe von Wehrmachtangehörigen im Blickfeld des Interesses stehen, welche die DDR-Streitkräfte vermutlich am nachhaltigsten prägten – die ehemaligen Unterführer- und Mannschaftsdienstgrade der Wehrmacht (Kapitel IV.7).

I. Krieg, Gefangenschaft und Heimkehr 1. Von Stalingrad nach Krasnogorsk – Zum politischen Wandlungsprozess ehemaliger Wehrmachtoffiziere Im September 1951 erhielt der damalige Chef des Stabes der Hauptverwaltung für Ausbildung einen Brief aus dem anderen Teil Deutschlands: »Besonders aber freue ich mich darüber, dass Sie sich – trotz allem was uns heute in Deutschland noch räumlich und politisch trennt – einen Funken alten Deutschtums und wahren Soldatentums im Herzen bewahrt haben. Ich habe mir auch nie denken können, dass Sie wirklich der Bolschewist geworden sein sollten, den man Ihnen in unseren Kreisen heute nachsagt. Sie waren damals einer unserer besten Offiziere, von dem man es auch nicht glauben will, dass er heute anders sein könnte1.«

Ob der Autor jener Zeilen den Adressaten wirklich kannte oder dies nur vorgab, wird wohl nicht mehr zu klären sein. Letzterer hat dies seinerzeit jedenfalls bestritten2. Eines gilt jedoch als sicher. Falls die Worte des ominösen Briefeschreibers ehrlich gemeint waren, so hat er sich geirrt. Der Empfänger des Briefes scheint nämlich tatsächlich jene radikale politische Wandlung vollzogen zu haben, die sich sein Gegenüber nicht hatte vorstellen können. Bernhard Bechler, ehemaliger Wehrmacht-Major und Kommandeur eines Infanteriebataillons im Kessel von Stalingrad, bezeichnete sich bis zu seinem Tode im Jahre 2002 als »überzeugten Sozialisten« und die Schlacht an der Wolga als den »Wendepunkt« seines Lebens. In der Tat lässt sich ohne Stalingrad die Wandlung des einstmals strammen und »von Hitler begeisterten« Wehrmachtoffiziers zum Frontbevollmächtigten des Nationalkomitees »Freies Deutschland« und späteren General der Nationalen Volksarmee der DDR kaum erklären3. Auch wenn der Fall Bechler, vor allem aufgrund der tragischen Geschehnisse um seine erste Frau4, zu den bekannteren zählt, für sich alleine steht er nicht. 1 2 3 4

BStU, MfS, AIM 11095/70, Bd P 1, Bl. 65, Brief an Bernhard Bechler, 11.9.1951. Vgl. ebd., Bl. 64, Eidesstattliche Erklärung des Stabschefs der HVA, Chefinspekteur Bechler, 17.9.1951. Vgl. Gesprächsprotokoll Bernhard Bechler, 20.1.1998. Nachdem Bernhard Bechler 1943 im Sender »Freies Deutschland« für die Ziele des NKFD eingetreten war, geriet seine Frau Margret, eine dem NS-Regime loyal gegenüberstehende Offiziersgattin, zunehmend in Bedrängnis. Aus Furcht vor eventueller Sippenhaftung kooperierte sie mit den Sicherheitsbehörden. Im Zuge dessen kam es zur Verhaftung und späteren Hinrichtung jenes Kommunisten, der ihr Grüße von ihrem Mann überbracht hatte. Im Juni 1945 wurde Margret Bechler daraufhin von den amerikani-

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Für hunderte deutsche Offiziere bedeutete Stalingrad nicht allein die Wende des Krieges, sondern auch des eigenen Lebens. Im Kessel der Wolga-Metropole verbrannte nicht allein der Glaube an Hitler und die gesamte militärische Führung, sondern nicht selten auch die alte bürgerliche Weltsicht. Wer der Apokalypse entkam, vergaß die schrecklichen Bilder des Massenschlachtens sein Lebtag nicht: »In der Heimat dachten alle – die Stalingrad-Helden, die gekämpft haben bis zur letzten Patrone. Aber wenn die Väter, Mütter und Geschwister gesehen hätten, wie der betreffende Sohn oder Bruder krepiert ist – das hat mit Heldentum überhaupt nichts zu tun. Das war ein sinnloses Hinsterben, ohne jeden Willen – verhungert, verlaust, verdreckt, erfroren, hingerafft vom Fleckfieber durch die Läuse [...] Und ich habe gesehen, wie der letzte deutsche Panzer über die toten oder verwundeten eigenen Soldaten hinweg gefahren ist – viehisch war das5.«

Stalingrad – Mythos: Bereits der Kampf um die Eroberung der Riesenstadt kostete Zehntausenden deutscher Soldaten das Leben, ließ eine Armee, die als die stärkste der Wehrmacht galt und von der Hitler einmal behauptet haben soll, dass er mit ihr »den Himmel stürmen« könne, regelrecht ausbluten6. Eliteeinheit um Eliteeinheit wurde in eine Stadt geworfen, die als gewaltige Todesfabrik unablässig blutiges und verbranntes Menschenfleisch und zerborstenen Waffenstahl produzierte. Doch erst die Einschließung der 6. Armee Ende November 1942 und ihr anschließender Todeskampf offenbarten das wahre Ausmaß einer Tragödie, die in der deutschen Militärgeschichte ohne Beispiel ist. Durch Hitlers Befehl und die Unentschlossenheit des Armeeoberbefehlshabers General der Panzertruppe Paulus zum Festhalten verurteilt, erfüllte sich in einem mehr als zwei Monate fortwährenden grausamen Ringen das Schicksal einer Viertelmillion deutscher und verbündeter Soldaten7. Das Nötigste an Nahrung, Kleidung, Treibstoff und Munition entbehrend, fielen bereits im Kessel rund 60 000 Mann der Kampfkraft eines überlegenen

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schen Militärbehörden interniert, später an das NKWD übergeben, in mehreren Lagern festgehalten und 1950 durch die DDR-Justizorgane zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt. 1956 wurde sie freigelassen, und ein Jahr später siedelte sie in die Bundesrepublik über. Bernhard Bechler hatte im Juni 1945 nach seiner Frau gesucht, durch die sowjetischen Organe von ihrer Verhaftung und angeblichen Unauffindbarkeit erfahren, sie ein Jahr später für tot erklären lassen und, nachdem er 1950 von dem bevorstehenden Prozess gegen seine Frau erfahren hatte, den Untersuchungsbehörden sogar belastendes Material aus ihrem Tagebuch zur Verfügung gestellt. Zum Fall der Margret Bechler vgl. vor allem BStU, HA IX/11 SV 13/78, Bde 1-5; M. Bechler, Warten auf Antwort. Gesprächsprotokoll Bernhard Bechler, 24.1.2000. Allein vom 21.8. bis 16.10.1943 verlor die 6. Armee 38 943 Mann und 1068 Offiziere an Verwundeten und Gefallenen (Wieder/Einsiedel, Stalingrad, S. 23). Zur historischen Bewertung der Stalingrader Schlacht vgl. u.a. Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd 6, S. 962-1063 (Beitrag Wegner); Chor’kov, Die sowjetische Gegenoffensive bei Stalingrad, S. 55-74; Kehrig, Die 6. Armee, S. 76-110.

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Gegners, Hunger, Kälte und Seuchen zum Opfer8. Missbrauchtes Pflicht- und Ehrgefühl, zweifelhafte Eidtreue, Durchhaltebefehle der Kommandeure sowie die nicht unbegründete Angst vor sowjetischer Gefangenschaft9 waren die Gründe für das spätestens seit Ende Dezember 1942 sinnlos gewordene Weiterkämpfen des deutschen Großverbandes. Dem sich um sie zusammenziehenden Einschließungsring hatten die Deutschen zuletzt kaum noch etwas entgegenzusetzen. So standen dem Artilleriekommandeur des IV. Armeekorps, Generalmajor Hans Wulz, Ende Januar 1943 gerade noch ganze zwei Geschütze zur Verfügung10. Statt mit ausreichend Verpflegung, Treibstoff und Munition wurde die Armee derweil mit einer Flut von Beförderungen und Orden überschwemmt. Bernhard Bechler beispielsweise wurde im Kessel vorzeitig zum Major befördert und erhielt das Deutsche Kreuz in Gold11. Den Kampfgruppenführer Willi Riedel ereilte am 1. Januar 1943 die Beförderung zum Major, einen Monat später – Riedel befand sich bereits in Gefangenschaft – wurde ihm das Eichenlaub zum Ritterkreuz verliehen12. Der Hauptmann der Nebeltruppe Hermann Rentzsch bekam das Deutsche Kreuz in Gold13, der Hauptmann der Flakartillerie Hans-Wolf Steinhausen angeblich am letzten Tag das Ritterkreuz, wovon er erst in Gefangenschaft erfahren haben soll14, usw. usw. Der Oberbefehlshaber der 6. Armee Paulus wurde sogar zweimal befördert, zuletzt am Tage seiner Gefangennahme. Anstatt sich jedoch – wie es Hitler erwartet hatte – selbst zu richten, ging der frischgebackene Feldmarschall am 31. Januar, nach der Aushebung seines Armeegefechtsstandes im Keller des Kaufhauses »Univermag«, in die sowjetische Gefangenschaft. Während Paulus darum ersuchte, als »Privatperson« behandelt zu werden, verweigerte er gleichzeitig eine Kapitulation für die gesamte Armee. Der sinnlose Kampf sollte noch zwei weitere Tage andauern. In den Stellungen und Gefechtsständen spielten sich unterdessen dramatische Szenen ab. Am 30. Januar hatten die Männer des I. Bataillons/Infanterie-

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Overmans, Das andere Gesicht des Krieges, S. 442. Dabei dürfte auch die Kenntnis von den Verbrechen, die von Deutschen in den besetzten Territorien begangen worden waren, eine Rolle gespielt haben. Vgl. BStU, MfS, AOP 958/61, Bd 2, Bl. 78, GI-Bericht »Urquell« betr. Generalmajor Wulz, 7.12.1955 (Abschrift). Vgl. BStU, MfS, AIM 11095/70, Bd P 1, Bl. 52, Lebenslauf B. Bechler, 5.10.1950 (Abschrift vom 26.1.1951). Vgl. BStU, MfS, AIM 7470/61, Bd P, Bl. 15, Lebenslauf des Polizei-Oberkommissar Willi Riedel, 12.7.1948 (Abschrift). Vgl. BStU, MfS, AOP 10382/70, Bd 2, Bl. 32, MfS-Bericht zur Person: Rentzsch, Hermann, 3.10.1967. Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, AP 1533/61, Bl. 113, Offizieller Bericht betr. Osl. Steinhausen, 28.3.1958.

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regiment 29 so gut wie alle Munition verschossen, als vor dem Gefechtsstand ihres Kommandeurs Major Bechler sowjetische Soldaten auftauchten: »Mein Adjutant hat daraufhin das Bild seiner Familie aus der Jacke genommen – eine Frau mit zwei ganz kleinen Kindern – hat es noch einmal angeschaut, hat es zerrissen, hat die Pistole genommen und hat sich erschossen15.«

Bechler selbst hatte Glück – ein Russe setzte ihm zwar die Pistole auf die Brust, drückte jedoch nicht ab. Spätestens seit dem Scheitern der Mansteinschen Entsatzoffensive Ende Dezember 1942 war die Frage, ob ein Freitod der Gefangenschaft vorzuziehen sei, unter Generalen, Offizieren, aber auch in der Truppe diskutiert worden. So berichtete der Adjutant des Kommandeurs der 295. Infanteriedivision, Oberstleutnant Gerhard Bechly, später über seinen Kommandeur Generalmajor Dr. Otto Korfes: »Einige Zeit vor der Gefangenschaft äußerte er: Er könne doch als General nicht in Kriegsgefangenschaft gehen. Der Kriegsgerichtsrat von Knobelsdorf [...] und ich haben ihn dann in mehrtägigen Auseinandersetzungen überzeugt, dass ein Selbstmord für Hitler und sein Regime nicht lohne16.«

Korfes wählte die Gefangenschaft, so wie die Mehrzahl der Generale der 6. Armee17. Jedoch gaben sie und ihre Untergebenen sich erst in völlig aussichtslosen Lagen geschlagen. So berichtete der Kommandeur der I. Abteilung/ Flakregiment 37, Major Hermann Lewerenz, später: »Im Zuge des Zusammenbruchs [...] ging ich mit dem Rest der Offiziere und Soldaten [...] in die sowjetische Kriegsgefangenschaft, d.h. wir gingen einige Tage vor der Kapitulation, um nicht völlig zu verhungern und zu krepieren, freiwillig zur sowjetischen Seite über. Das war keine politische Tat, sondern wir wollten einfach nicht mehr mitmachen18.«

Trotz allem war die Gefangengabe nicht ungefährlich, zu überleben nicht selten eine Frage von Glück oder Pech. Mutwillige Erschießungen von Gefangenen gehörten genauso zur Tagesordnung wie Zeichen menschlicher Größe. Während andernorts Verwundete liquidiert wurden, geriet Major Willi Riedel am 28. Januar auf dem Hauptverbandplatz der 71. Infanteriedivision schwerverwundet (Splitterverletzung der linken Körperseite) in sowjetische Gefangen-

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Gesprächsprotokoll Bernhard Bechler, 24.1.2000. BStU, MfS, AIM 1440/59, Bd A, Bl. 15, GI-Bericht »Platzmeister« betr. Dr. Otto Korfes, 8.10.1953. 20 deutsche Generale der 6. Armee gerieten in sowjetische Gefangenschaft. Einer war gefallen, ein zweiter (von Hartmann) hatte bewusst den Tod auf dem Schlachtfeld gesucht, ein dritter (Stempel) hatte sich erschossen und ein weiterer wurde vermisst. BStU, MfS, AIM 7489/69, Bd P, Bl. 88, GI-Bericht »Gärtner« betr.: Meine politische Tätigkeit im Rahmen des Nationalkomitees »Freies Deutschland« in den Jahren 1943-45 und in der AeO, (ohne Datum).