In dieser Arbeit werden charakteristische Merkmale des Zeichnens in der italienischen Renaissance dargestellt, zum einen in Hinsicht auf die geschichtlichen und materiellen Voraussetzungen für die Künstler jener Zeit, zum anderen unter besonderer Betrachtung der verschiedenen Funktionen und damit verbundenen Formen und Gestaltungselementen der Zeichnung, sowie ihrer Ziele (Naturähnlichkeit, Proportion, Perspektive). Auch wird hier unter den Gesichtspunkten der Entstehung und des Stellenwerts solcher Formen in der Zeit der Renaissance gesondert das Thema der geometrischen Körper behandelt. 2 2.1
Voraussetzungen für das Zeichnen Geschichtliche Voraussetzungen
Der Beginn der Renaissance läßt sich ungefähr auf das vierzehnte Jahrhundert schätzen, in welchem, nach dem Ende des Mittelalters, ein Wiederaufleben der Antike angestrebt wurde. Entstanden ist die sogenannte Frührenaissance in Italien, die entscheidenden Impulse scheinen allerdings aus dem speziellen politischen und kulturellen Klima der Stadt Florenz gegeben worden zu sein. Dafür müssen die Ursachen vor allem in der wirtschaftlichen und politischen Situation der Stadtrepublik zu Beginn des „Quattrocento“ gesehen werden1. So ermöglichte „die ökonomische Struktur der rivalisierenden Stadtstaaten und Fürstenhöfe in Italien
durch
umfangreiche
Aufträge
eine
erweiterte
Produktionsweise
der
Künstlerwerkstätten und begünstigte allgemein den Aufstieg der bildenden Künste und das wachsende soziale Prestige der Architekten, Bildhauer und Maler“2. Dies wiederum hatte zu Folge, daß das Selbstbewußtsein und damit verbunden die Emanzipation der Künstler angehoben wurde und sich mit der Zeit ein neues Bild des Künstlers entwickelte: vom zunftabhängigen Handwerker zum (fast) eigenständigen, individuellen Künstler. Der Rang eines Menschen wurde nun nicht mehr nach seiner gebürtigen Stellung bewertet, sondern hauptsächlich nach seiner persönlichen Leistung. Neben den ökonomischen Grundlagen jener Zeit betraf der Wandel, der zur Entstehung der Renaissance führte, sowohl das politische Geschehen, als auch die gesellschaftliche Entwicklung, das religiöse Leben und das gesamte Weltbild. Der Mensch als Individuum rückte nun mehr und mehr in den Mittelpunkt des Denkens und wurde damit zur zentralen Figur des öffentlichen Lebens. Dieses Phänomen des neuen Identitätsbewußtseins der 1
Uwe Westfehling : „Zeichnen in der Renaissance: Entwicklung – Techniken – Formen – Themen“, Köln 1993, S. 19 2 Joscijka Gabriele Abels: „Erkenntnis der Bilder. Die Perspektive in der Kunst der Renaissance“, Frankfurt a.M. / New York 1985, S. 195