Das unbewusste Denken Das menschliche Denken scheint keine allzu geheimnisvolle Sache zu sein. Immerhin spricht jeder Mensch in seinen Gedanken, stellt Überlegungen an oder trifft seine Entscheidungen. Die Plattform dafür ist die Sprache, das Denken ist im Grunde eine sprachliche Diskussion mit sich selbst. Doch spätestens seit Sigmund Freud (1856–1939) und seinem Konzept der Psychoanalyse richtet sich das wissenschaftliche Interesse auf tiefere Ebenen des menschlichen Verstands. Es gibt ein „Unterbewusstsein“, in dem sich Triebe tummeln, die Persönlichkeit den Rahmen für das Handeln setzt und sich außerdem viele scheinbar vergessene Erlebnisse ansammeln. Das unbewusste Denken ist nicht identisch mit diesem Unterbewusstsein. Vielmehr sind beide nur Teile der Prozesse, die im Gehirn Informationen abrufen, speichern, Entscheidungen vorbereiten oder Information bewerten. Das Gehirn ist in manchen Teilen vergleichbar mit einem Computer. Allerdings verfügt dieser „Computer“ über eine Leistung, die auch heute noch jedes Vorstellungsvermögen sprengt. Die Neuroinformatiker Terrence Joseph Sejnowski und Francis Crick haben die Größe der „Festplatte“ im Gehirn berechnet. Jeder Mensch hat demnach in seinem Kopf die Speicherfähigkeit des gesamten Internet zur Verfügung. Es hätte alles Platz: Millionen Bücher und Texte, sämtliche Spielfilme dieser Welt, ein gewaltiges Musikangebot und daneben die Daten von Milliarden Kontoinhabern, ihre Adressen und Telefonnummern. Wozu braucht das Gehirn so viel Speicherfähigkeit? Tatsächlich gehen manche Gehirnforscher davon aus, dass im Gehirn das gesamte Leben aufgezeichnet wird. Dann wäre jedes jemals gesehene Bild, jeder Ton und sogar der 55
Hauch des Windes über die Haut zu einer Zeit an einem Ort gespeichert. Denkbar wäre das – die „Festplatte“ ist groß genug. Gerade wegen seiner großen Speicherfähigkeit, kann das Gehirn nicht wie ein Computer funktionieren. Zum Beispiel: Wenn jemand nach einer ganz bestimmten Szene in einem Spielfilm fragt, reichen Bruchteile von Sekunden und wir können mit der Schilderung beginnen. Ein Computer müsste einige Gigabyte von der Festplatte lesen und verarbeiten, dabei ständig den Inhalt auswerten, bis die richtige Szene gefunden ist. Das könnte Stunden dauern und würde ein flüssiges Gespräch unmöglich machen. Das Gehirn geht völlig anders vor. Stellen Sie sich vor, der Spielfilm läge in Bild und Ton auf einem Filmstreifen vor, wie im Kinoprojektor vor der digitalen Zeit. Diese Filmstreifen sind einige Kilometer lang und enthalten pro Sekunde 24 Bilder. Stellen Sie sich vor, Sie würden diesen Film nun auf einer Straße ausrollen und dann auf einen Wolkenkratzer steigen. Von dort könnten Sie den gesamten Film auf einen Schlag sehen und erleben, Bild für Bild, Ton für Ton. Sie könnten den Film erleben, genauso als würden Sie ein einzelnes Bild betrachten und darin verschiedene Objekte sehen. Das Gehirn erinnert einen kompletten Spielfilm wie ein einzelnes Bild, als Ganzes „auf einen Schlag“. Doch damit ist es noch lange nicht wirklich gefordert. Wenn Sie zum Beispiel mit jemand über einen bestimmten Schauspieler diskutieren und seine Auftritte in verschiedenen Filmen vergleichen, dann hat das Gehirn kein Problem damit, sogar zehn oder zwanzig Filme zu erinnern und im Hinblick auf diese Fragestellung zu prüfen. Es würde zusätzlich Verknüpfungen mit Lebensgeschichten herstellen, politischen Ereignissen, weil die Diskussion das so erfordert. Daneben 56
würden alle Gesprächsteilnehmer auch auf ihr Gegenüber hören, Meinungen abwägen und verstehen und dazu noch viele andere Signale verarbeiten (ist noch genug Kaffee in der Tasse?). Das Gehirn könnte die Aufgabe sogar am Rande erledigen, dabei an etwas völlig anderes denken, weil das Gespräch ein unwichtiger Smalltalk auf einer Party ist und eigentlich gar nicht weiter interessiert. Ein Computer wäre damit hoffnungslos überfordert, denn die bewegte Datenmenge ist gigantisch. Das Gehirn hat damit keine Schwierigkeiten, weil es in seiner Funktionsweise eher dem Internet als einem einzelnen Computer ähnelt. Das Gehirn besteht tatsächlich aus einigen Milliarden „Computern“, den Nervenzellen. Jede für sich liefert die eigenen Daten, bekommt Daten von anderen Nervenzellen, verarbeitet Information und gibt das Ergebnis weiter. Die Nervenzellen sind miteinander über Verbindungen vernetzt und zwar nicht in einer Reihe, sondern wirklich als Netzwerk. Das bedeutet, dass jede Nervenzelle mit den anderen Nervenzellen direkt verbunden ist und kommunizieren kann und nicht nur mit der davor- oder dahinterliegenden. In diesem Netzwerk sind einige tausend Nervenzellen zum Beispiel für die Steuerung der rechten Hand zuständig. Andere sind auf Schauspieler spezialisiert, als Untergruppe in einem Netzwerk mit Personendaten. Jeder einzelne Bereich kann völlig unabhängig arbeiten. Im Prinzip muss das „Schauspieler-Netzwerk“ nichts von der Tätigkeit der Nervenzellen wissen, die in ihrem eigenen Netzwerk für die rechte Hand zuständig sind. Das Gehirn kann also gleichzeitig viele Dinge tun. Es ist ein Netzwerk von vielen Computern. Im menschlichen Gehirn gibt es ungefähr 100 Milliarden Nervenzellen mit etwa 100 Billionen Verbindungen untereinander. Daraus errechnen Neuroinformatiker eine 57
Speicherfähigkeit wie für das gesamte Internet. Zum Vergleich: Im Jahr 2008 nutzten 1,23 Milliarden Menschen auf der ganzen Welt das Internet. Der einzelne Nutzer muss dabei nicht wissen, welche Daten ein beliebiger Computer in Australien, China oder im Nachbarhaus gerade verarbeitet oder zur Verfügung stellt. Aber er kann jederzeit auf diese Daten zugreifen. Die Leistungsfähigkeit des Internet entzieht sich jeder Vorstellung und ist damit für den einzelnen Benutzer grenzenlos. In einer ähnlichen Grenzenlosigkeit bewegt sich jeder Mensch und auch der Meditierende in seinem Gehirn. Trotz seiner ungeheuren Leistungsfähigkeit hat das Gehirn kein Bewusstsein von sich selbst, genauso wie ein einzelner Computer im Internet auch kein „Bewusstsein“ für alle anderen Computer hat. So erscheint die Leistung des Gehirns häufig „übernatürlich“ oder wie die Stimme Gottes. Dabei ist das eigentliche Wunder, dass jeder einzelne Mensch diese ungeheure „Rechenleistung“ besitzt, sich mit anderen Menschen verständigen kann und damit die Leistungsfähigkeit des Internet mit den Gehirnen aller Menschen milliardenfach zur Verfügung steht. Buddha hat vor 2 500 Jahren festgestellt: Jeder Mensch trägt den Keim zur Erleuchtung in sich. Meditation weckt die natürlichen Veranlagungen oder ruft sie ins Bewusstsein. Es ist genauso wie im Sport. Alle Menschen haben im Prinzip den gleichen Körper. Sportler trainieren diesen Körper und können deshalb weiter springen oder schneller laufen. Auch dabei sind Durchbrüche möglich, mit denen ein Sportler seine Leistung scheinbar plötzlich steigert. Der Grund liegt darin, dass ein Sportler nicht nur einen einzelnen Muskel seines Körpers einsetzt und trainiert. Vielmehr entsteht die Leistung durch das Zusammenspiel des ganzen Körpers. In den Muskeln muss durch ein Aufbautraining 58
die optimale Zusammenstellung von schnellen und langsamen Muskelfasern entstehen. Daraus bestimmt sich, ob ein Muskel eher Ausdauer oder Schnelligkeit leisten kann. Außerdem brauchen die trainierten Muskeln eine zusätzliche Versorgung mit Sauerstoff und Nährstoffen. Dann müssen hunderte Muskeln und Gelenke optimal zusammenspielen, damit Bewegungsabläufe die verfügbare Kraft und Schnelligkeit der Muskeln auch in eine bestmögliche Leistung umsetzen. Diese Aufgabe leistet das Gehirn aufgrund von Erfahrung im Umgang mit dem Körper. So kann ein Sportler Leistungen erbringen, die für andere Menschen unerreichbar sind und wie ein „Wunder“ wirken. Meditation trainiert das Gehirn ganz ähnlich. Meditierende erleben deshalb ungewöhnliche Leistungen ihres Gehirns, aber übersinnliche Fähigkeiten haben sie nicht. Sie beseitigen nur Hindernisse und erlangen mit der Zeit den Zugriff auf die „grenzenlose“ Leistungsfähigkeit des Gehirns. Wir erinnern uns: Das Gehirn hat die Speicherfähigkeit des gesamten Internets. Wie würde ein Mensch auf andere wirken, der jederzeit und ohne Suchmaschine den Inhalt des gesamten Internet zur Verfügung hätte? Die Leistungen unseres Gehirns wirken manchmal übernatürlich, sie sind es aber nicht.
Verarbeitung von Gefühlen Erschrecken ist eine grundsätzliche Erfahrung, die jeder Mensch kennt. Manche erschrecken mehr, manche weniger. Wesentlich ist nur, dass solche Schreckreaktionen unbewusst und schnell ablaufen. Der Körper wird in Alarmzustand versetzt, reagiert völlig automatisch. Deshalb haben viele Forscher geglaubt, dass Erschrecken und die entsprechenden Reflexe sich dem Bewusstsein entziehen. Es 59