agile – Behinderung und Politik Ausgabe 2-07

Schwerpunkt:

Das Stigma Behinderung

herausgegeben von AGILE Behinderten-Selbsthilfe Schweiz

agile – Behinderung und Politik 2/07

Editorial Das Stigma ist für viele behinderte Menschen eine Realität Wir können alle Menschen als eine einzige grosse Gruppe betrachten. Dann domi­ niert die Idee, dass wir alle gleich sind. Oder wir können sagen, jeder Mensch ist in­ dividuell und darum einzigartig. Dann sind wir auch wieder alle vereint – in unserer Einzigartigkeit. Leider hat das soziale Wesen Mensch jedoch die dumme Angewohn­ heit, Untergruppen zu bilden. Dumm deshalb, weil diese Untergruppen immer nur in Abgrenzung zu andern existieren können – ohne "die Andern" kann es kein "Wir" geben –, und weil diese Abgrenzung selten in freundschaftlicher Absicht geschieht. Im besten Fall geht es nur darum, sich besser zu fühlen als "die Anderen", im schlechteren Fall nicht nur um Ab-, sondern auch um Ausgrenzung. Das heisst, es kommen handfeste Nachteile wie verweigerter Zugang zu Ressourcen, politischer Mitsprache usw. ins Spiel. Eine Behinderung gilt heute noch lange nicht als wertneutrale Eigenschaft einer Per­ son. Sie ist im Gegenteil ein Stigma, ein soziales Brandmal. Uns Menschen mit Be­ hinderung, zumal einer sichtbaren, steht quasi ins Gesicht geschrieben, dass wir zu "den Andern" gehören, dass wir von dem abweichen, was die Mehrheit als Norm festlegt. Die Folgen davon sind gravierend: Gegenüber den Menschen ohne Behin­ derung sind wir in allen alltäglichen Belangen benachteiligt. Das bedeutet nicht nur, dass unter uns die Zahl der Erwerbslosen viel grösser ist, dass wir selten bis nie po­ litische oder wirtschaftliche Spitzenpositionen einnehmen, dass ein Teil der Gebäude für uns nicht zugänglich ist und so weiter und so fort. Es heisst auch, dass wir beim Überqueren der Strasse, beim Einkaufen oder im Tram oft scheel angeschaut oder schlicht übersehen, am Postschalter oder bei einem Amtsgang nicht für voll genom­ men werden oder zumindest das Unbehagen zu spüren bekommen, das unser Ge­ genüber bei unserem Anblick befällt. Eine psychische Behinderung sieht man zwar nicht allen Betroffenen auf Anhieb an. Der Vorteil, nicht sofort aufzufallen, wird je­ doch durch eine Menge zusätzlicher Nachteile mehr als aufgewogen. Die Unwissen­ heit darüber und die daraus folgenden Ängste im Umgang mit den betroffenen Mit­ menschen ist noch grösser als bei den andern Behinderungsarten. Und selbst unter den Menschen mit Behinderungen, selber alles Opfer von Stigmatisierung, ist das Verständnis für psychische Behinderung oftmals klein, gilt eine solche nicht als Schicksal, sondern als persönliches Versagen, als etwas, das sich mit ein bisschen gutem Willen beheben liesse. Deshalb widmen wir in der vorliegenden Ausgabe gleich zwei der drei Beiträge im Schwerpunkt dem Thema Stigma und psychische Behinderung. Einmal gehen wir es aus dem Blickwinkel einer Fachperson an, einmal aus der Optik einer betroffenen Person. Der dritte Beitrag ist als Einstieg und Überblick gedacht: Er beleuchtet einer­ seits generell, was ein Stigma ist und welche gesellschaftliche Funktion es hat. An­ dererseits zeichnet er das Spezifische des Stigmas Behinderung nach. Dr. Therese Stutz Steiger Präsidentin AGILE 2

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Schwerpunkt Das Stigma Behinderung von Dr. med. Regine Dietschi Weissert, Master of Applied Ethics Der Begriff "Stigma" kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet unter anderem Brandmal, Schandmal. Es wurde Sklaven eingebrannt – so wie vielerorts Vieh ge­ kennzeichnet wird. Auch Freie konnte es treffen, falls sie sich ein gröberes Vergehen hatten zuschulden kommen lassen. So waren Sklaven und Übeltäter für jedermann sofort erkennbar. Im lateinischen Sprachgebrauch kam die Bedeutung "Beschimp­ fung" hinzu, in der englischen Übersetzung heisst es Makel. Im Duden wird Stigma als meist negativ bewertetes Merkmal definiert, welches eine klare Abgrenzung zu andern Individuen und Gruppen ermöglicht. Soziologisch be­ deutet Stigma das Vorenthalten der vollständigen sozialen Akzeptanz, d.h. die Zu­ schreibung abwertender Merkmale an Gruppen und Individuen. Jeder Minderheiten-Status, d.h. jede Abweichung von der Norm, kann zu Stigmatisie­ rung führen. Insbesondere sind Rasse, Ethnie, Religion, Geschlecht, sexuelle Orien­ tierung, Arbeitslosigkeit oder auch Krankheit und Behinderung zu nennen. Ich selber muss mich zur Gruppe der Körperbehinderten zählen. Was ein Stigma ist, unterscheidet sich je nach Zeit, Kultur und Gesellschaft. Früher galt Rothaarigkeit als negativ besetztes Kennzeichen, heutzutage färben sich in un­ serem Kulturkreis Frauen die Haare gerne rot. Gleichgeschlechtlichkeit ist in unserer Gesellschaft besser akzeptiert als in z.B. arabischen Ländern. Bei uns sind die Ge­ schlechter – leider nur vor dem Gesetz – gleichgestellt, es herrscht Religionsfreiheit usw.

Die gesellschaftliche Funktion des Stigma Wie bereits erwähnt, dienen Stigmen* der abwertenden Kennzeichnung. Die Stigma­ tisierung von andersartigen Menschen erfüllt mehrere Funktionen. Jede Gesellschaft schafft sich Normen, die sie für verbindlich erklärt. Nur so ist eine funktionierende Gesellschaft denkbar. So besteht bei uns die Leistungsgesellschaft. Ihre Werte werden auch von Leuten verinnerlicht, die nicht als Leistungsträger funktionieren können. Es wird davon aus­ gegangen, dass nur eine Leistung belohnt wird, die durch Anstrengung und Arbeit erbracht wird. Die Leistungsgesellschaft wird deshalb als gerecht empfunden und akzeptiert. Wer die Anforderungen nicht erfüllen kann und Sozialleistungen wie IV, Arbeitslo­ sengeld oder Sozialhilfe bezieht, wird gerne als Schmarotzer – d.h. scheininvalid, arbeitsscheu – hingestellt und ausgegrenzt. Wird ein Fall von Missbrauch bekannt, werden der Einfachheit halber gleich alle BezügerInnen solcher Leistungen als ver­ dächtig eingestuft. Dies bedeutet eine Vereinfachung und erspart differenziertes Denken. 3

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Vereinfachung ist eine wichtige Funktion von Stigma und Stigmatisierung. Es werden ganz unterschiedliche Individuen zu einer vermeintlich einheitlichen Gruppierung er­ klärt. Menschen mit Behinderungen sind eine sehr inhomogene Gruppe. Psychisch Kranke haben ganz andere Schwierigkeiten als Körperbehinderte. Gehörlose und blinde Menschen weisen zwar die Gemeinsamkeit einer Sinnesbehinderung auf, ste­ hen aber vor verschiedenen Problemen und Herausforderungen. Die Liste könnte problemlos verlängert werden. Diese Schubladisierung erleichtert die Identitätsfindung. Wir wünschen uns klare Gruppeneinteilungen, damit wir uns selber und andere positionieren können. Gehö­ ren wir zur Mehrheit der "Normalen", bestärkt uns das im angenehmen Vorurteil, ei­ nen höheren Stellenwert als die Minderheit der "Abnormalen" zu haben. Die Grup­ penzugehörigkeit genügt für dieses überhöhte Selbstwertgefühl, ein/e Gruppenange­ hörige/r muss dafür keine Leistung erbringen. Ein gutes Beispiel für diesen Effekt ist, dass Männer vielfach gegenüber Frauen bevorzugt werden, lediglich weil sie Männer sind. Eine weitere Funktion haben die Stigmaträger als Sündenbock. Ihnen wird die Schuld an einer unerfreulichen Situation zugeschoben. So nimmt mit steigender Ar­ beitslosigkeit in der Regel die Ausländerfeindlichkeit zu. Eine echte Analyse erübrigt sich, unangenehme Erkenntnisse und Konsequenzen bleiben erspart. Normen und Stigmen bilden auch eine Orientierungshilfe im Alltag. Sie erleichtern das Treffen von Entscheidungen; mit ihrer Hilfe können unangenehme Entscheide vor uns und anderen entschuldigt und moralisch legitimiert werden. Ein striktes Ein­ halten von Vorschriften kann uns das Nachdenken über richtig und falsch, Gut und Böse abnehmen. Die Eigenverantwortlichkeit entfällt. Stigmen können wie gesagt nur entstehen, wenn jemand nicht dem entspricht, was die Gesellschaft bzw. Mehrheit zur Norm erklärt hat. Sie beruhen meist auf allgemein akzeptierten Vorurteilen, Urteilen also, die nicht auf Erfahrung beruhen oder eine un­ zulässige Vereinfachung darstellen (wer kennt das nicht: die Zigeuner stehlen usw.). Diskriminierung gibt es auch innerhalb einer stigmatisierten Gruppe. Die Tatsache, Stigmaträger zu sein, schützt nicht davor, pauschale Urteile meist abwertender Art über andere Mitmenschen zu fällen. Stigmatisierung führt zu Rückzug und Resignation. Die stigmatisierte Person ver­ sucht den Makel zu verbergen. Menschen werden an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Im schlechtesten Fall führt das zu einem Verhalten dieser Randgruppen, das die gesellschaftliche Abwertung bestätigt.

Das Stigma Behinderung und sein gesellschaftlicher Nutzen Den Behinderten gibt es nicht. Die Menschen mit Behinderungen sind wie gesagt eine sehr inhomogene Gruppe, deren einzige Gemeinsamkeit oft nur in der Ein­ schränkung einer oder mehrerer Funktionen besteht. Deshalb kann ich nur Allgemei­ nes dazu sagen. Nicht immer mag sich jede/r Behinderte in diesen Feststellungen erkennen. Gemeinsam ist uns allen, dass wir der Einfachheit halber in den grossen Topf "Behinderte" geworfen werden.

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Menschen mit Behinderungen weichen mehr oder weniger offensichtlich von der Norm ab und werden als Bedrohung empfunden oder wecken zumindest Unbeha­ gen. Diese unangenehmen Gefühle werden verdrängt. Eine Ablehnung von Behin­ derten wird in der Regel verneint. Besonders deutlich erkennbare Behinderungen führen die eigene Vergänglichkeit vor Augen. Behinderte Menschen erinnern immer an die Möglichkeit, auch selber behindert und diskriminiert zu werden. Sie zeigen, dass Gesundheit nicht garantiert ist. Das erzeugt Angst, und um diesem Gefühl aus dem Weg zu gehen, werden Menschen mit Behinderungen ausgegrenzt. Gewisse Behinderungen wirken ausserdem – nach dem gängigen Schönheitsideal beurteilt – wenig ästhetisch. Wie Untersuchungen gezeigt haben, werden schönen Menschen auch weitere positive Eigenschaften wie z.B. ein sympathisches Wesen zugeschrieben. Sie finden leichter einen Job. Entsprechend werden weniger vorteil­ haft aussehenden Personen eher negative Eigenschaften angelastet. Übergewich­ tige z.B. werden als disziplinlos und untüchtig empfunden. Bereits der Bezug einer IV-Rente ist ein Stigma. Bezüger von Sozialleistungen, die scheinbar in der Leistungsgesellschaft unnütz sind, werden als Belastung für die Ge­ sellschaft empfunden. Dass Behinderung unzweifelhaft ein negatives Kennzeichen ist, illustriert folgendes Beispiel: Am 30.4.07 meinte ein Anrufer bei "Talk täglich", ei­ ner Sendung auf Tele Züri, wo externe Anrufer dem Studiogast Fragen stellen kön­ nen: Mit den Fotomontagen der Nein-Kampagne zur 5.IVG-Revision, welche die Bundesräte Blocher, Couchepin und Merz als Behinderte zeigen, würden "diese Bundesräte zu Behinderten degradiert." Das Ausmass der Stigmatisierung ist einerseits von der Art, andererseits vom Aus­ prägungsgrad der Behinderung abhängig. Ist sie rein körperlicher Natur, wird sie von der Gesellschaft besser akzeptiert als eine psychische Einschränkung, die oft als überwindbar bzw. persönlich verschuldet angesehen wird. Wenn behinderte Men­ schen wie die erfolgreichen Schweizer Rollstuhlsportler ein gutes Wettkampfresultat erbringen, werden sie anerkannt, wahrscheinlich weil sie sich in der Leistungsgesell­ schaft einen Platz erkämpft haben. Hat die Stigmatisierung von Menschen mit Behinderungen eine gesellschaftliche Funktion? Spielt sie eine nützliche Rolle im Gesellschaftsgefüge? Durchaus, auch wenn dieser Gedanke zuerst abwegig erscheint. Denn die Ansicht, dass alles medi­ zinisch Mögliche unternommen werden muss, um Behinderung und damit "unnöti­ ges" Leid zu vermeiden, ist weit verbreitet. Doch nicht jeder behinderte Mensch lei­ det. Das ist ein weiteres Vorurteil von Unbehinderten. Selbstverständlich kann Be­ hinderung Leiden verursachen, manchmal in stärkerem Ausmass für die Angehöri­ gen als die Betroffenen selbst. Die Grösse seines Leides kann aber nur der behin­ derte Mensch selbst beurteilen. Behindertsein kann eine soziale Rolle sein, ja sogar die hauptsächliche. Behinderte Menschen, die sich dagegen wehren, auf diese Rolle reduziert zu werden, sind un­ erwünscht. Sie sollen machtlos sein und bleiben. Es kann ja nur Mächtige geben, wo auch Machtlose sind. Für die Rolle der Ohnmächtigen eignen sich Behinderte wegen ihrer Hilfsbedürftigkeit besonders gut. Es besteht die Übereinstimmung, dass Behinderungen und Menschen mit einer sol­ chen für die Gesellschaft ein finanzieller Schaden sind. Wo allerdings würden die 5

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Nicht-Behinderten, die für Behinderte arbeiten, ein Auskommen finden, gäbe es keine Behinderten mehr? Pflegeheime und Firmen zur Herstellung von Hilfsmitteln und Medikamenten müssten finanzielle Einbussen in Kauf nehmen oder gingen Kon­ kurs. Behinderte Menschen sind zuverlässige Konsumenten von Hilfeleistungen jeg­ licher Art und damit ein wichtiger ökonomischer Faktor. Sehr viele Berufsgruppen gibt es nur, weil sie mit Behinderten arbeiten und an ihnen verdienen. Daran ist nichts Verwerfliches. Auch das bei den IV-Stellen angestellte Personal würde seine Arbeit verlieren. Die finanziellen Einbussen wären wahrscheinlich grösser als die Kosten, die der Gesellschaft durch die behinderten Menschen entstehen. Helfer brauchen hilfsbedürftige Menschen; ohne diese würde es sie nämlich nicht geben. Die Helfenden entscheiden über Zeitpunkt, Ausmass und Art der Hilfe. Sie können sie auch völlig verweigern. Alle Menschen mit Behinderungen haben sich wohl schon in der Situation wiedergefunden, wo ihnen ein – durchaus wohlmeinen­ der – Helfer vorschreiben oder aufzwingen wollte, was das Beste sei. Auch hier gilt, dass gut gemeint nicht gut sein muss. Die Stellung des Helfers ist immer auch eine Machtposition. Diese Tatsache sollte nicht unterschätzt werden. Behinderte Men­ schen werden in aller Regel als Empfänger von Wohltaten gesehen. Im Gegenzug werden "nur" Wohlverhalten und Dankbarkeit erwartet. Diese vermeintlich geringe Gegenleistung ist aber nicht immer einfach zu erbringen. Behinderten werden die Fähigkeit und das Recht auf Selbstbestimmung oft abgesprochen. Sicher ist die Au­ tonomiefähigkeit bei einigen geistigen und psychischen Behinderungen zumindest zeitweise eingeschränkt. Bei rein körperlichen Behinderungen ist sie es aber genau­ so wenig wie wenn keine Behinderung vorliegt. Behinderung wird immer als Defizit verstanden. Menschen mit Einschränkungen sind nicht im üblichen Sinn voll funktionstüchtig und gelten damit als minderwertig. Dies erlaubt den Unbehinderten, sich höherwertig zu fühlen. Leider teilen auch behinderte Menschen oft diese Einschätzung, sind sie doch in der Leistungsgesellschaft soziali­ siert worden und haben deren Werte verinnerlicht. Ein weiterer – wahrscheinlich untergeordneter – Aspekt ist der Neid. Eine Minderheit der Nichtbehinderten beneidet Behinderte, weil diese unverdienterweise Leistungen von der Solidargemeinschaft erhalten. Tauschen möchten sie natürlich trotzdem nicht. Wie ich bereits erwähnt habe, verändern sich Stigmen im Laufe der Zeit. Behinde­ rung galt und gilt weltweit in allen Gesellschaften und Kulturen als Stigma. An "Nachwuchs" an Behinderten wird es wohl trotz rasch zunehmender Möglichkeiten der Behandlung und vorgeburtlicher Diagnostik nie fehlen. Viele Tätigkeiten sind nur dank Behinderten überhaupt denkbar. Auch andere Vorteile, die Behinderte der Ge­ sellschaft bringen, habe ich beschrieben. Darum bin ich pessimistisch, dass sich in naher Zukunft etwas wesentlich ändert am "Stigma Behinderung."

* Da die – an sich korrekte – altgriechische Mehrzahl "stigmata" auch für die Wund­ male Christi gebraucht wird, benütze ich im Folgenden das deutsche Wort "Stigmen" als Mehrzahlform.

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Quellen: • Wikipedia • socialinfo • Lexikon Sociologicus • Juliane Siegert, Leistungsprinzip und soziale Positionierung behinderter Men­ schen, Magisterarbeit Uni Halle-Wittenberg 2006

Mit der Stigmatisierung der psychischen Beschwerden aufhören – ein unentbehrliches Argument gegen die 5. IV-Revision Von Dr. Gilles Godinat, Psychiater und Psychotherapeut FMH, Mitglied des Vorstan­ des von Pro Mente Sana Romandie und des Forum Santé Genf Die aktuelle Kampagne gegen die 5. IV-Revision wird durch die reaktionäre Ideologie der SVP, welche psychische Leiden als Simulation, Übertreibung oder Missbrauch qualifiziert, genährt. Misstrauen und diskriminierende Massnahmen der Absonderung und der sozialen Ausgrenzung, begleitet von allen Formen von Abwertung und Aus­ schluss, sind zentrale Elemente des sozialen Prozesses der Stigmatisierung der psychischen Krankheit. Michel Foucault hat in seinem berühmten Werk "Wahnsinn und Gesellschaft" dazu eine unumgängliche Grundanalyse geliefert.

Früher soziale Emanzipation Die Zufälligkeiten der Anerkennung und sozialen Toleranz des psychischen Leidens folgen dem Fluss der sozialen Emanzipation allgemein, zusammen mit dem Kampf gegen alle Formen des Verzichts auf die Freiheit. In neuerer Zeit scheint nun die neoliberale Dampfwalze die soziale Bewegung gegen die Stigmatisierung der Pati­ enten mit psychischen Leiden und vor allem gegen das Einsperren in Irrenhäuser – eine Bewegung, die mit der Freiheitsbewegung von Mai 68 zusammenhängt und bis zur Schliessung der psychiatrischen Kliniken in Italien geführt hatte – zu überflügeln. Die Pflege der psychisch kranken Patienten und Patientinnen hat in den letzten Jah­ ren, vor allem mit der Entwicklung von in der Gemeinschaft eingegliederten Struktu­ ren, Fortschritte gemacht. Ein im September 2006 vom europäischen Parlament an­ genommener Bericht (Rapport John Bowis) zeigt jedoch fünf fundamentale Mängel auf, die bis heute in diesem Bereich noch bestehen: Man hört sowohl den PatientIn­ nen als auch ihren Angehörigen zu wenig zu, fehlende oder unangemessene Ge­ meinschaftsdienste, Schwierigkeit der Institutionen zusammenzuarbeiten, mangelnde Ressourcen und das weitgehende Fehlen einer Politik zugunsten der psychischen Gesundheit in den Mitgliedstaaten. In der Schweiz sieht es nicht anders aus. Zur Erinnerung: In Europa hat mindestens eine von vier Personen eine wichtige Epi­ sode von schlechter psychischer Gesundheit durchlebt im Laufe ihres Lebens. Mit 58'000 Personen, die sich umbringen, sterben an psychischen Problemen mehr 7

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Menschen als an AIDS oder an Verkehrsunfällen. Deshalb hat das Europäische Parlament entschieden, sich für eine Strategie gegen die Stigmatisierung der psy­ chisch Kranken zu engagieren, welche Ausschluss aus der Gesellschaft in allen Be­ reichen, von der Arbeitswelt bis zur Familie, bedeutet. Durch Sensibilisierungskam­ pagnen sollen die Gesundheitsfachpersonen mobilisiert werden, um Ignoranz und Ungerechtigkeit in diesem Bereich zu bekämpfen. Eine Unterorganisation der WHO (Collaborating centre for research and training in mental health) organisiert im Juni 2007 ein internationales Treffen zum Thema "Stigma! Die Diskriminierungen im Be­ reich der psychischen Gesundheit bekämpfen."

Heute wieder Stigmatisierung Demgegenüber geht die aktuelle Politik der Regierung und der bürgerlichen Parteien in der Schweiz mit der 5. IV-Revision genau in die gegenteilige Richtung. Sie streuen Zweifel und Misstrauen über das wirkliche Vorhandsein von psychischen Störungen, indem sie diese Leiden leugnen und disqualifizieren und die ganze Last der Sanie­ rung der IV den invaliden Personen aufbürden wollen! Die Stereotypen über unsere psychischen Probleme sind hartnäckig: Die Vermi­ schung zwischen psychischem Leiden und Faulheit, Nachlässigkeit oder sogar Ge­ walt gehören zum neoliberalen Diskurs, welcher den persönlichen Verdienst und die individuelle Leistung hochhält und sozialen Erfolg und materielle Bereicherung als gerechte Anerkennung eben dieser Leistung ansieht. Alle, die es nicht schaffen, werden disqualifiziert. Ihnen allein wird die Verantwortung für ihre Schwierigkeiten im Leben aufgebürdet. Es geht sogar so weit, dass man es heute wieder wagt, den Ur­ sprung psychischer Probleme im Erbgut zu suchen! In einem kürzlich veröffentlichten Artikel "Psychische Leiden im Unternehmen – der Blickwinkel einer Fachperson" bemerkt Professor Wulf Rössler, Verantwortlicher der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und der Klinik für Sozialpsychiatrie und Psy­ chiatrie Zürich West, Folgendes: "Zunächst einmal sind die Türen der Unternehmen für die meisten von uns (in der Klinik) behandelten PatientInnen definitiv geschlos­ sen: Ungefähr 80 Prozent haben keine Arbeit, und ein guter Teil von ihnen bekommt eine IV-Rente. Dem steht die Tatsache gegenüber, dass ein grosser Teil der Patien­ tInnen, die wir betreuen, gerne in irgendwelcher Form in die Arbeitswelt eingegliedert werden möchten." Weiter meint Rössler, dass "in den meisten Fällen das Zuweisen eines Kranken in eine geschützte Werkstatt in einer Sackgasse mündet. In der Tat, die meisten betroffenen Personen werden, wenn sie den Weg in den Mikrokosmos der geschützten Werkstatt gefunden haben, nie mehr in den gewöhnlichen Arbeits­ markt integriert." Betreffend psychischer Störungen, die man in den Unternehmen findet, meint der Autor, dass man neben den Abhängigkeitsproblemen – Medika­ mente, Alkohol – erstaunlich viele Krankheitsbilder findet, die sowohl einen psychi­ schen als auch einen somatischen Grund haben. "Die meisten dieser Krankheiten sind mit Scham besetzt, weil über ihnen der Schatten der Selbstverantwortung schwebt… Eine Kategorie hat es in den letzten Jahren geschafft, aus der Stigmati­ sierung herauszukommen, es handelt sich um das Syndrom Burn-Out." Diese Realität von psychischen Leiden in den Unternehmen wird von den Befürwor­ tern der IV-Revision völlig verdrängt. Dabei sind gerade diese Leiden eines der wich­ tigen Elemente für die steigende Anzahl IV-Renten in den letzten Jahren. Glauben, 8

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dass es eine leichtere Eingliederung in die Arbeitswelt durch Früherfassung gibt, kommt einem Schwindel gleich, wenn man weiss, dass Stigmatisierung und Entlas­ sung die traurige und grausame Wirklichkeit der Lohnabhängigen ist, welche an ih­ rem Arbeitsort zusammenbrechen. Der Kampf gegen die Stigmatisierung besteht einerseits in der Ablehnung des Lock­ vogels, den diese ungerechte 5. IV-Revision darstellt, anderseits auch in der Etablie­ rung einer Reihe von Massnahmen in der Arbeitswelt und in der Gesellschaft allge­ mein. Verbindliche Massnahmen für die Arbeitgeber sind unumgänglich, wenn man die Eingliederungsprogramme wirklich umsetzen will. Eine klare Politik gegen die Stig­ matisierung psychischer Leiden sollte zudem auf die Beine gestellt werden. Das ge­ hört zu einer primären Präventionspolitik. Auch das Pflegesystem sollte weniger zu Stigmatisierung Anlass geben. Grosse Spitaleinheiten in der Psychiatrie sollten auf­ gehoben werden, um kleinen Einheiten, eingegliedert in den allgemeinen Pflegeein­ heiten, Platz zu machen. Andere Vorrichtungen wie Präventionsprogramme oder in­ tegrierte Pflege verschiedener Pathologien müssen entwickelt werden, zum Beispiel wenn es sich um gemischte, psychosomatische Störungen handelt. All das ist ein grosses Programm, um gegen den aktuellen Strom zu schwimmen, welcher ganz im Gegenteil die medizinischen und sozialen Leistungen reduzieren will und meint, so die psychischen Störungen vermindern zu können.

Übersetzung: M. Roth-Bernasconi

Nie werde ich mich über das Unwort "stigmatisiert" definieren. Und trotzdem… Von Diana Dillmann, Mitglied ATB Genève (Association de personnes atteintes de Troubles Bipolaires et de Dépression – Vereinigung von Menschen mit bipolaren Stö­ rungen und Depressionen) und Autorin des Buchs "Quotidien, mon amour" Lange ging ich Bekannten auf der Strasse aus dem Weg, um mir die qualvolle Frage nach meinem Befinden – "Wie geht es, was machst du so?" – zu ersparen. Denn ich hätte sonst Rechenschaft ablegen müssen über mein Leben, das aus den Fugen geraten war. Ich war abgestürzt. Der Wahnsinn hatte einen Riss in meiner Maske hinterlassen. Meine Exzesse endeten regelmässig in einem abgeschlossenen Raum einer psychiatrischen Klinik. Die Kollegen wandten sich ab. Das Geld ging langsam aus. Die Arbeitgeber verschlossen die Türen oder kündigten mir während meiner Kri­ sen. Meine Eltern verzweifelten. Ein Kreis der Einsamkeit umschloss mich während der Rückfälle. Die dunklen Stunden der Lähmung waren durch Scham gefärbt, durchsetzt von vergeblichen Hoffnungen, dass "alles vorbeigehen wird". Aussichts­ lose Versuche, die Fassade zu retten. 9

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Stigmatisiert werden und stigmatisieren Nie definierte ich mich über dieses Unwort: stigmatisiert. Und dennoch sind die Wahnvorstellungen, die psychotischen Phasen, die Suizidversuche und Depressio­ nen eine verkannte und besonders stigmatisierte Art von Leiden. Für die meisten Menschen scheinen sie die Hölle zu bedeuten. Wie heimtückisch die Stigmatisierung wirkt, zeigt sich in meiner damaligen Unfähigkeit anzuerkennen, dass eine echte psychische Krankheit im Spiel war, die einen Namen hatte und begleitet werden konnte. Die schreckliche Angst davor, "so zu enden", rührt sicherlich auch von der allgemeinen Stigmatisierung der Psychiatrie her. Einer jungen Wissenschaft, die noch verbessert oder sogar völlig umgestaltet werden kann. Ich verlor auch viel Zeit, bevor ich die Augen öffnete für die medizinische Literatur, die Pflegeprogramme, die Suche nach einem geeigneten Therapeuten, ein effizientes Verhältnis zur Medika­ tion, den Zugang zum System der sozialen Sicherheit und zum Netzwerk der Selbst­ hilfeorganisationen. Hören Sie zu und sprechen Sie mir diese Namen nach: Königsfelden, Münsterlingen, Sonnenhalde, Littenheid, Waldau. Würden wir uns nicht am liebsten die Ohren zu­ halten und den Kopf abwenden? Was sich da im Hintergrund abzeichnet, ist nicht sehr attraktiv. Alle Arten von Behinderungen sind stigmatisiert, und um das "intakte" Ich wird immer getrauert. Aber wäre ich mit der Situation nicht anders umgegangen, hätte ich die Wirbelsäule gebrochen oder wäre ich an Brustkrebs erkrankt? Und das Umfeld? Hätten mich nicht meine Freunden in der Klinik besucht und mich verwöhnt mit Blu­ men und Schokolade? Mit einem psychischen Leiden jedoch: innere Stille, Funkstille. Oder fast. Im Rückblick wird mir endlich klar, dass diese Stigmatisierung Teil meines Bildes von mir selbst geworden ist. Ganz heimlich. Das Tabu hat sich festgesetzt. Als Produkt unserer Kultur nahm ich die äusserlichen Klippen ganz selbstverständlich auf mich. Denn in meinen Augen war ich schuldig, dafür, dass ich mit mir selbst nur schlecht zurechtgekommen war, Fehler begangen hatte, schlecht oder "nicht normal" war. Ich fühlte mich oft schlecht und ging anderen häufig aus dem Weg. Fühlte oder fühle, ging oder gehe? Ich weiche der Konfrontation mit der Diskriminierung aus. Ich wende mich ab von den erhobenen und drohenden Zeigefingern, die mir meine "Verrückt­ heit" gehässig und verächtlich zu verstehen geben. Dennoch: Wenn ich ein Café be­ trete, verstummen die Gespräche etwas. Ich spüre auch die Herablassung oder die zuckersüssen Blicke. Ich vermeide es, aus dem Haus zu gehen, wenn ich mich nicht imstande fühle, die Bürde dieser Kleinigkeiten zu tragen.

Der lange Weg aus dem Stigma In fünfzehn Jahren habe ich alle Facetten des Status einer psychisch "Gestörten" erlebt. Ich habe mir wieder einen Kreis mir nahe stehender Menschen aufgebaut, eine Beziehung, leiste Freiwilligenarbeit, engagiere mich, bin künstlerisch tätig. Ich habe mir allmählich angewöhnt, mich vor direkten Verletzungen zu schützen. Ich habe mich mit wohlmeinenden Blicken umgeben. Mit Menschen, die ihrer Fragilität nicht aus dem Weg gehen, die ihre eigenen Schatten annehmen. Menschen, mit de­ nen ein einfaches und vertrauensvolles Verhältnis trotz der Behinderung möglich ist. Sie kennen meine Abwesenheiten, meine Grenzen im Alltag. In meiner Gegenwart 10

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vermögen sie es auch, ihre gesellschaftliche Maske abzulegen, ihre eigene Verletz­ lichkeit preiszugeben, vom Erfolgsdruck aufzuatmen. Die gemeinsam verbrachte Zeit verfliesst nie im Überdruss des anderen. Authentisch zu sein, ist der einzige Weg, den ich entwickeln konnte, um weiterzukommen. Mein Wohlbefinden hängt weder von einem Blick von aussen noch von gesellschaftlichen Vorstellungen ab. Natürlich ist die Intensität der Kontakte schwierig. Zuweilen weigert sich mein Gegenüber, mit der leichten Störung, die ich auslöse, umzugehen. Ich verlese, verarbeite. In meiner Einsamkeit habe ich mir Waffen des Bewusstseins geformt, erfinderische und krea­ tive Ressourcen entwickelt. Beharrlich die inneren Bilder ergründet, um mich mit die­ ser besonderen Welt vertraut zu machen, der Scham zu entfliehen, mich nicht mehr gefesselt zu fühlen und wieder Vertrauen in meinen Verstand zu erlangen. Eines ist merkwürdig: Wenn ich die Behinderung einfach akzeptiere, reagiert auch die Aussenwelt anders. Kaum Boshaftigkeit, viel Unwissenheit und viele Ängste. Oft ist der andere selbst durch seine Unkenntnis und sein Schweigen gehemmt. Indem ich mich öffne, sehe ich Menschen, die sich gerne über die Begriffe Leiden, Norma­ lität usw. austauschen. Nur wenige haben von sich das Gefühl, die "offizielle, nor­ male Norm" zu verkörpern.

Die IV-Revision lässt das "stigmatisierende Untier" von der Leine In dieser Zeit der öffentlichen Debatte rund um die 5. IV-Revision läuft einem das "stigmatisierende Untier" öfters über den Weg. Ich krümme mich, wenn ich es in An­ zeigen, auf Plakaten und bei Reden entdecke. Meinen Kräften entsprechend "zeige ich mich", um diesen vielzitierten psychischen Störungen die Dramatik zu nehmen. Damit wir die unterschwellige Stigmatisierung erkennen. Damit die Andersartigkeit, Einzigartigkeit und Aneignung des Selbst zu einer Stärke, einem Grund zum Stolz werden. Damit man die Fähigkeiten und Fertigkeiten anerkennt, die aufgrund der gelebten Erfahrungen entwickelt wurden. Epidemiologischen Daten zufolge leidet in der Schweiz eine von zwei Personen ir­ gendwann in ihrem Leben unter einer psychischen Störung. Um die allgemeine mentale Gesundheit der Schweizerinnen und Schweizer ist es also nicht gerade glänzend bestellt. Deshalb geht es nun darum, die bestehenden Absicherungen zu bewahren, die 5. IV-Revision abzulehnen und eine angemessene Finanzierung für die Invalidenversicherung zur Abstimmung zu bringen. Jede und jeder ist betroffen. Wenn man die Augen noch länger verschliesst und den einseitigen Diskursen über Simulanten beipflichtet, geht die Stigmatisierung weiter und man entscheidet sich für ein wackeliges Gesellschaftsprojekt. Die Schweizer Bürgerinnen und Bürger haben Werte der Grosszügigkeit geschaffen, von denen ich profitieren, dank denen ich eine gewisse Würde wahren konnte. Ich bin weder auf der Strasse gelandet noch straffäl­ lig geworden. Mir wurde genügend Zeit gewährt, um zu verstehen, wie meine Krank­ heit funktioniert, und mich im Alltag einzurichten. Die Abstände zwischen den Rück­ fällen zu vergrössern. Diese Erfahrung kritisch zu betrachten. Dank unserem System der gesellschaftlichen Solidarität konnte ich lebendig bleiben. Der Ausgang der be­ vorstehenden Abstimmung wird von der minorisierten Bevölkerung mit grosser An­ spannung erwartet. Wir hängen an einem Faden, bereit, auf eine Revision einzu­ schwenken, welche die Selbstverantwortung der Menschen mit psychischer Behinde­ rung noch drückender machen wird. Entgegen allen Versprechungen und guten Ab­ 11

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sichten ziehen es die Arbeitgeber in der Regel vor, die wenigen verfügbaren Stellen an Normale, Nichtbehinderte, Rentable zu vergeben. Einen Arbeitsplatz für einen psychisch fragilen Mitarbeiter entsprechend anzupassen, erfordert eine Offenheit, die selten ist. Ich erlebe das tagtäglich. Dank diesem Referendum konnten die schwächsten Stimmen Gestalt annehmen, die verschiedenen Verletzlichkeiten sich rund um gemeinsame Räume finden. Die meisten der grossen, gut organisierten Behindertenverbände haben die Gelegenheit ergriffen, um unseren noch sehr wenig beachteten Stimmen Gehör zu verschaffen. Die Zukunft einer Gesellschaft steht auf dem Spiel. Die Gesellschaft, in Bewegung, abwechslungsreich, multikulturell, diversifiziert sich. Dabei wird sie ihre Minoritäten mit sich nehmen oder ausschliessen. Die Entscheidung liegt bei uns.

Übersetzung: S. Alpiger

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Sozialpolitik Sozialpolitische Rundschau Von Ursula Schaffner Jeweils im Frühling werden im Bundesblatt die Berichte der Geschäftsprüfungskom­ missionen der beiden Parlamentskammern veröffentlicht (GPK-N und GPK-S). Sie geben eine Übersicht über die Bundespolitik des vergangenen Jahres und ihre Um­ setzung in den Bundesämtern. Aus dem Kapitel Sozialversicherungen der diesjähri­ gen GPK-Berichte möchte ich hier zwei Punkte herausgreifen: Seit dem Inkrafttreten des allgemeinen Teils des Sozialversicherungsrechts am 1. Januar 2003 ist der Bundesrat verpflichtet, den GPK über den Vollzug der Sozialver­ sicherungen Bericht zu erstatten. Die GPK hatten letztes Jahr bemängelt, dass diese Berichte erst mit einem Jahr Verspätung herauskommen und die statistischen Anga­ ben wenig aktuell seien. Der Bundesrat hat daraufhin vorgeschlagen, die Berichter­ stattung einfach aufzuheben. Damit ist die GPK-N nicht einverstanden. Sie hat fest­ gehalten, dass es im immer komplexer werdenden Sozialversicherungsbereich an einem systematischen Gesamtüberblick fehle. Deshalb sei nicht die Berichterstattung aufzuheben, sondern müsse eine geeignete Form gefunden werden, um aktuelle Daten zu bündeln, Querbezüge zwischen den einzelnen Versicherungszweigen her­ zustellen und sich vermehrt auf strategische Fragen auszurichten. Weiter sei erwähnt, dass die GPK-S vom Bundesrat Angaben darüber verlangt, wie sich die Entwicklung in der IV auf die berufliche Vorsorge (BVG) auswirkt. Das Bun­ desamt für Sozialversicherungen (BSV) war allerdings im letzten Jahr noch nicht in der Lage zu formulieren, wie der Regelungsbedarf und die zunehmenden invalidi­ tätsbedingten Kosten im Bereich BVG untersucht werden sollten. Die GPK-S erwar­ tet deshalb vom BSV im Rahmen einer Nachkontrolle konkrete Ergebnisse.

Invalidenversicherung Das noch bis zum 17. Juni 2007 wichtigste Thema im Bereich IV bleibt die Abstim­ mung über die 5. Revision (vgl. dazu den separaten Artikel in dieser Ausgabe). Es ist erfreulich, dass die Medien dank dem Referendum vermehrt über die konkrete Arbeit der IV-Stellen sowie Beispiele gelungener Integration behinderter Menschen und en­ gagierter Patrons berichten. Der Vollzug des Invalidenversicherungsgesetzes wird somit sichtbarer und hoffentlich vermehrt zu einem auch positiv besetzten Thema. Mitte März sind die statistischen Angaben zu den Rentenentwicklungen im Jahr 2006 veröffentlicht worden. Im Vergleich zu 2005 wurden 16 Prozent weniger neue IVRenten zugesprochen, im Vergleich zum Spitzenjahr 2003 sogar 30 Prozent weniger. Erstmals hat sich der Gesamtbestand der RentnerInnen stabilisiert, das heisst, etwa gleich viele Personen haben 2006 neu eine IV-Rente bezogen wie Personen aus der IV ausschieden, sei es, weil sie das AHV-Alter erreichten (2/3 der IV-Abgänge) oder aus anderen Gründen keine IV-Rente mehr bezogen. Generell haben die Neuanmel­ dungen für Leistungsbezüge bei der IV 2006 abgenommen. Das BSV führt diese 13

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Entwicklung vorab auf eine verstärkte Sensibilisierung aller Akteure und auf die zu­ nehmende Wirkung der 4. IVG-Revision zurück. Sowohl das BSV wie auch etliche IV-Stellenleitende bestreiten, dass die Entscheidpraxis verschärft worden sei. Im Wi­ derspruch dazu stehen die Erfahrungen der Beratungsstellen der Rechtsdienste der Behindertenorganisationen. Sie erleben eine starke Zunahme von Anfragen wegen strengeren Verfügungen der IV-Stellen. Das BSV behauptet zudem munter, dass es trotz vermehrten ablehnenden Renten­ entscheiden keine Kostenverlagerung zur Sozialhilfe gebe. Belegen kann das Bun­ desamt diese Behauptung jedoch nicht, denn entsprechende Untersuchungen laufen erst an.

Keine IV-Zusatzfinanzierung Die Unterfinanzierung der IV bleibt trotz der gesunkenen Zahl der neuen IV-Rentne­ rInnen auch weiterhin ein akutes Problem. Dies umso mehr, als es der Nationalrat in der Frühjahrssession verpasst hat, ein Zusatzfinanzierungsmodell zu verabschieden. Taktische Spiele waren offensichtlich wichtiger als Sachpolitik, und dies, obwohl die Zinsschuld der IV im letzten Jahr um fast 99 Millionen Franken zugenommen hat auf ein Total von 221 Millionen. Das Defizit der IV betrug Ende 2006 insgesamt 9,33 Mil­ liarden Franken. Der Ball liegt nun beim Ständerat. Dieser will offenbar wieder bei Adam und Eva an­ fangen. Jedenfalls hat die für die Vorberatungen zuständige Kommission bekannt gegeben, sie wolle "neue" Modelle zur Zusatzfinanzierung entwickeln und diskutie­ ren. Trotz der dauernden Beschwörung, der AHV-Fonds werde in wenigen Jahren wegen der Plünderung durch die IV zahlungsunfähig sein, haben die vorab bürgerli­ chen Politiker offenbar kein wirkliches Interesse daran, eine Lösung für das Problem zu finden.

AHV Das Revisionstempo bei der AHV kann offenbar aufgrund neuer Faktoren gesenkt werden. So werden die in den kommenden Jahren in der Schweiz erwarteten zusätz­ lichen ausländischen Arbeitskräfte die AHV entlasten (neueste Berechnungen des Bundesamtes für Statistik zur Migration). Dank den sieben Milliarden Franken, die aus dem Verkauf von überschüssigem Nationalbankengold erzielt werden und die seit März dieses Jahres in den AHV-Fonds fliessen, können die Zusatzkosten, die aufs Konto der steigenden Lebenserwartung gehen, noch etwas länger als bisher angenommen bezahlt werden. Auch die Mehreinnahmen aufgrund der zurzeit florie­ renden Wirtschaft haben die AHV-Revisionshektik etwas verlangsamt. Es ist erst zwei Jahre her, da wollte Bundesrat Couchepin angesichts der damals als katastro­ phal eingeschätzten Finanzierungsprobleme kurzerhand bei der 11. AHV-Revision das Ritual des Vernehmlassungsverfahrens durch eine mündliche Anhörung erset­ zen. Heute können wir offenbar wieder ruhiger schlafen und müssen nicht mehr be­ fürchten, dass die erste Säule unserer Altersvorsorge sozusagen über Nacht ein­ stürzt. Da die finanziellen Perspektiven der AHV im Moment eher positiv bewertet zu wer­ den scheinen, wird der Nationalrat eine Neuauflage der 11. AHV-Revision deshalb kaum vor den Wahlen im Herbst diskutieren. Danach kann wieder alles ganz anders 14

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aussehen. Die Dauerhaftigkeit und Verlässlichkeit von Zahlen und dementsprechend der Bedarf an Reformen im Bereich der AHV sind jedenfalls mit Vorsicht zu genies­ sen. Allenfalls könnte ja das AHV-Alter erhöht werden, wie dies der deutsche Bundestag im März beschlossen hat. Der Protest der Gewerkschaften gegen ein Rentenalter 67 war erfolglos. Ein Trost bleibt unseren nördlichen Nachbarn, wird doch über lange Zeitabschnitte geplant. Die Erhöhung des Rentenalters soll ab 2012 erfolgen und erst 2029 abgeschlossen sein. Bis dahin wird noch viel Wasser den Rhein hinunter flies­ sen und werden noch manche Minister ihre Sitze wechseln.

Berufliche Eingliederung Eine neue Studie räumt auf mit Vorurteilen gegenüber Langzeitarbeitslosen (Ar­ beitsmarktbeobachtung Ostschweiz, Aargau und Zug). Man dürfe nicht von einer festen Grösse von Langzeitarbeitslosen ausgehen. Wenn sich die Konjunkturlage verbessere, erhöhten sich die Chancen der Betroffenen, wieder eine Arbeitsstelle zu finden. Langzeitarbeitslose seien auch nicht a priori hoffnungslose Fälle, würden doch 40 bis 50 Prozent von ihnen früher oder später wieder eine Arbeit finden. Das Vorurteil, Langzeitarbeitslosigkeit sei ausschliesslich ein Problem von älteren Men­ schen, wird mit der Studie ebenfalls widerlegt; die Altersgruppe der 55- bis 65-Jähri­ gen ist nämlich prozentual eher untervertreten. Wenn Personen diesen Alters aber einmal arbeitslos sind, haben sie sehr grosse Mühe, wieder eine Stelle zu finden. Weiter wird dargelegt, dass die Kantone ein grosses Interesse daran haben, Lang­ zeitarbeitslose möglichst bald wieder in den Arbeitsprozess einzugliedern. Nach drei Monaten sinke die Chance, wieder arbeiten zu können, und somit steige das Risiko, bei der Sozialhilfe zu landen. Die an der Studie beteiligten Kantone möchten deshalb auf den regionalen Arbeitsvermittlungsstellen (RAV) Eingliederungs- und Früherken­ nungsspezialisten einsetzen sowie Vorurteile bei den Arbeitgebern abbauen – und letztere vermehrt in die Pflicht nehmen. So sollen Arbeitgeber mit einem noch zu entwickelnden Test alle fünf Jahre die Arbeitsmarktfähigkeit ihrer Angestellten über­ prüfen, allfällig Defizite erheben und diese zu beheben helfen. Die Arbeitsvermittler der öffentlichen Hand müssten zudem früher als bisher eingeschaltet werden. Da die RAV für diese zusätzlichen Aufgaben selber über zu wenig Ressourcen verfügen, möchten sie in Zukunft vermehrt mit privaten Stellenvermittlern zusammenarbeiten. Bis es soweit ist, müssen allerdings noch einige Hürden des Datenschutzes über­ wunden werden.

BVG Bei den Pensionskassen spürt man den Rückgang der IV-NeurentnerInnen noch nicht. Der Rückgang wird sich dort erst in zwei bis drei Jahren bemerkbar machen. Sollte der Trend zu weniger NeurentnerInnen bei der IV anhalten, könnten in einigen Jahren die Risikobeiträge der zweiten Säule, die der Finanzierung der IV-Renten der Pensionskasse dienen, gesenkt werden. Heute betragen sie zwischen 2,5 und 4 Lohnprozenten und werden je zur Hälfte von Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden bezahlt. Anfang Mai hat die Sozialkommission des Ständerates befunden, das vom Bundes­ rat vorgeschlagene Tempo zur Senkung des Mindestumwandlungssatzes für Neu­ 15

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renten sei zu forsch (zum Vorschlag des Bundesrats vgl. agile 3/2006). Sie schlägt vor, mit der Senkung erst 2009 statt 2008 zu beginnen und den Satz von 6,4 Prozent 2014 zu erreichen, nicht bereits 2011. Um einiges weiter gehen die Reformvorschläge des Verbands Schweizerischer Pen­ sionskassen Asip. Dieser möchte einen grossen Teil der bisherigen Gesetzes- und Verordnungsregeln ganz abschaffen, um den Handlungsspielraum der Stiftungsräte der Pensionskassen wieder zu vergrössern. Insbesondere will Asip den Mindestzins­ satz und den gesetzlich festgelegten Umwandlungssatz für die Rentenberechnungen abschaffen. Dafür sollen in Zukunft sowohl die bisherigen als auch die NeurentnerIn­ nen an den erwirtschafteten Überschüssen der Pensionskassen beteiligt werden. Es würde demnach keine Sicherheit mehr gegeben, welche Rente man im Alter zu er­ warten hat. Nach den Berechnungen der Asip wären die künftigen Minimalrenten der zweiten Säule kaum mehr halb so hoch wie bisher erwartet. Die bereits pensionierten RentenbezügerInnen müssten zudem bei schlechter Ertragslage der Pensionskas­ sen Sanierungsbeiträge an diese bezahlen. Gleichzeitig mit der Abschaffung der bis­ herigen Sicherheiten für die Versicherten sollen die Regeln für die Vermögensver­ waltung liberalisiert werden. Im Verständnis der Asip heisst das, die Stiftungsräte würden eine viel grössere Verantwortung übernehmen. – Wer’s glaubt, zahlt einen zusätzlichen Taler!

KVG In den vergangenen drei Monaten wurde im Bereich Krankenversicherung viel disku­ tiert, jedoch wenig beschlossen. Anfang Februar wurde bekannt, dass rund 150 000 Personen ihre Krankenkassen­ prämien nicht bezahlen können und deshalb seit dem 1. Januar 2006, als eine ent­ sprechende Gesetzesrevision in Kraft getreten ist, keinen Versicherungsschutz mehr haben. Die kantonalen Gesundheitsdirektoren verlangten deshalb nach einer ra­ schen Lösung, die für alle Kantone verbindlich sein soll. Rasche Lösungen sind je­ doch nur auf Verordnungsebene zu haben. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat deshalb vorgeschlagen, dass die Kantone eine Garantie für ausstehende Prä­ mien übernehmen sollen – auf Verordnungsebene. Die neue Regelung würde aller­ dings dem KVG zuwiderlaufen. Die Krankenkassen ihrerseits wären mit dem BAGVorschlag einverstanden, die Kantone lehnen sie ab. Letztere befürchten, die Kran­ kenkassen würden im Streitfall die Widersprüche zwischen Gesetz und Verordnung zu ihren Gunsten ausnützen. Die für die Vorberatung zuständige Kommission des Nationalrates hat ihrerseits die Lösungsfindung an den Bundesrat delegiert. Anfang März wurde die Initiative zur Einführung einer Einheitskrankenkasse deutlich abgelehnt (71,2 Prozent Nein zu 28,8 Ja). Danach wurde über Modelle des Aus­ gleichs von sogenannten guten und schlechten Risiken zwischen den Krankenkas­ sen debattiert. Bundesrat Couchepins Vorschlag, einen sogenannten Hochrisikopool einzurichten, kam schlecht an. Couchepins Modell sah vor, dass alle chronisch Kran­ ken und solche mit teuren Krankheiten in einem Pool versichert würden, der seiner­ seits von allen Krankenkassen zu finanzieren wäre. Die Spitalfinanzierung war im Nationalrat ein Thema. Die grosse Kammer nahm ge­ gen die Stimmen der Sozialdemokraten eine Vorlage an, welche den PatientInnen die freie Spitalwahl ohne Zusatzversicherung in der ganzen Schweiz ermöglichen 16

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soll. Gleichzeitig sollen öffentliche und private Spitäler gleichgestellt werden, was für mehr Wettbewerb sorgen soll. Wer die Kosten für diese sogenannte Marktöffnung tragen soll, bleibt unklar. Die Kantone haben sich dezidiert gegen die Vorlage geäus­ sert, weil sie Überkapazitäten und höhere Kosten zu ihren Lasten befürchten. Die Sozialkommission des Ständerates hat diese Befürchtungen aufgenommen und schlägt seinem Plenum vor, dass der Wohnsitzkanton bei einer ausserkantonalen Spitalbehandlung nur jene Kosten zu vergüten hat, die vor Ort bezahlt werden müssten. Aufgrund des gesetzeswidrigen Umgangs der Krankenkasse CSS mit heiklen medi­ zinischen Daten wurde der Datenschutz für Patienten allgemein diskutiert. Der eid­ genössische Datenschützer Hanspeter Thür verlangt nicht nur von der CSS, sondern von allen Krankenkassen, dass sie die Verarbeitung von und den Zugriff auf Patien­ tendaten regelmässig von externen Fachleuten prüfen lassen und nötigenfalls An­ passungen bei den Abläufen vornehmen. Ein Beispiel aus der Praxis der Ombudsstelle der Privatversicherer und der Suva verdeutlicht, zu welchen Konsequenzen der unsorgfältige Umgang mit Gesundheits­ daten führen kann: Ein Mitarbeiter einer Taggeldversicherung füllte zusammen mit einer Angestellten im Beisein des Arbeitgebers den Gesundheitsfragebogen aus. "Dadurch erhielt der Arbeitgeber Kenntnis vom Gesundheitszustand der Frau. Als der Versicherer in der Folge nicht bereit war, die Frau ohne Vorbehalt in die KollektivVersicherung aufzunehmen, teilte der Arbeitgeber der Frau mit, sie stelle ein zu ho­ hes Risiko für ihn dar, worauf das Arbeitsverhältnis 'im gegenseitigen Einvernehmen' aufgelöst wurde." (34. Jahresbericht des Ombudsmannes der Privatversicherungen und der Suva, S. 10). Und schliesslich noch ein Wort zur Interessenvertretung: Dass die Krankenkassen bei allen möglichen Reformen im Gesundheitswesen ihre Interessen durchzusetzen vermögen, hat nicht zuletzt mit ihrer starken Vertretung im Parlament zu tun. Nicht weniger als 18 ParlamentarierInnen haben in irgendeiner Form ein Krankenkassen­ mandat. Gar fünf von 13 Mitgliedern der Sozialkommission des Ständerates, welche die Weichen für die ständerätliche Gesundheitspolitik stellt, sind Krankenkassenver­ treter.

Vermischtes Sozialhilfe Die Stadtzürcher Sozialhilfe mit ihrer Vorsteherin Monika Stocker stand in der Be­ richtsperiode stark unter Beschuss. Man wirft dem Amt vor, es gäbe massenhaft missbräuchlichen Sozialhilfebezug. Gemäss Monika Stocker musste das Amt in ca. vier Prozent der rund 13'000 Fälle intervenieren, das heisst Geld verweigern, zu­ rückfordern oder Strafanzeige wegen Verdachts auf Missbrauch einreichen. Inzwi­ schen sucht die Stadt für einen Pilotversuch Sozialdetektive. Als Folge der seit längerer Zeit andauernden Hetze gegen die Sozialhilfe und ihre EmpfängerInnen hat der Zürcher Kantonsrat, die kantonale Legislative, das Sozial­ hilfegesetz verschärft. Die Debatten verliefen sehr ähnlich wie jene im eidgenössi­ schen Parlament, als es um die 5. IVG-Revision ging: Von kollektiven Verdächtigun­ gen und populistischen Verschärfungen war bei der ablehnenden Linken die Rede; 17

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von endlich Ordnung schaffen (SVP), den Missbrauch bekämpfen (CVP) und das Vertrauen der Bürger in die Sozialhilfe wieder stärken (FDP) auf der andern Seite. Gewichtung von medizinischen Einschätzungen Die Ombudsstelle der Privatversicherungen und der Suva kann sich in ihrem Jahres­ bericht 2006 im Falle einiger Unfallversicherer des Eindrucks nicht erwehren, dass diese bei der Beurteilung von Fällen die medizinische Einschätzung des Vertrauens­ arztes stärker gewichten als diejenige des behandelnden Arztes. Zwischen den Zei­ len der Stellungnahmen der Unfallversicherer zu ihrer Leistungspflicht könne die Ombudsstelle gar herauslesen, „dass man dem behandelnden Arzt aufgrund des Vertrauensverhältnisses zum Patienten weniger Objektivität bei der Beurteilung zu­ traue.“ (a.a.O. S. 16). Überhaupt ist der erwähnte Jahresbericht der Ombudsstelle sehr lesenswert, gibt er doch auf eine sehr sachliche Art und Weise Einblicke in Problemkreise von verschie­ denen Sozialversicherungszweigen, die sonst wenig bekannt werden (www.versicherungsombudsman.ch).

Quellen (berücksichtigt bis 7. Mai 2007): NZZ, Tagesanzeiger, Der Bund, Le temps, Medienmitteilungen der Bundesämter für Sozialversicherungen und Statistik. Diverse Jahresberichte. Bundesblatt.

Der Schlussspurt gegen die 5. IVG-Revision Von Cyril Mizrahi Eine letzte Anstrengung ist mehr denn je nötig und nützlich, wenn wir die 5. IV-Revi­ sion am 17. Juni bodigen oder zumindest ein gutes Resultat erreichen wollen. An­ fang Mai zeigte eine von der SRG in Auftrag gegebene Umfrage, dass das Spiel viel offener aussieht, als es gewissen Politikern lieb ist (42 Prozent Ja-Stimmen und 30 Prozent Nein-Stimmen). In der Tat waren die Ja- und Nein-Stimmen im Tessin und in der Romandie ausgeglichen, während viele StimmbürgerInnen ihre Meinung noch nicht gebildet oder sich noch nicht entschieden hatten, stimmen zu gehen. Trotz der viel grösseren Mittel, die unseren Gegnern zur Verfügung stehen, haben wir es geschafft, unsere Botschaft der Bevölkerung zu vermitteln. Dies vor allem über redaktionelle Beiträge in den Medien, die schliesslich gemerkt haben, dass das Pro­ jekt eine Täuschung und einseitig ist. Die von den Gewerkschaften lancierte provo­ kative Kampagne, wohlgemerkt mit dem Einverständnis der nationalen Koordination konzipiert, hat sich letztlich als positiv erwiesen. Eine Behinderung kann jeden tref­ fen, und es ist nicht ehrverletzend, sich vorzustellen, dass auch ein Bundesrat von einer Behinderung betroffen sein könnte. Wie es gewisse Medien aufgezeigt haben, ist Provokation das Mittel der Armen, weil sie ein grosses Echo mit wenig Mitteln er­ laubt. 18

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Die Kampagne hat ohne Zweifel auch ermöglicht, gewisse Lügen zu entlarven. Zu­ nächst einmal über die Missbräuche, die weniger als 0,4 Prozent des IV Budgets ausmachen – bei den übrigen Versicherungen rechnet man mit 5 bis 10 Prozent. Im weiteren, dass die Befürworter der Revision behaupten, die Schweiz sei vorbildlich bei der Eingliederung. Gleichzeitig behaupten sie aber auch, dass die Revision es endlich erlauben würde, das Prinzip Eingliederung vor Rente umzusetzen. Trotzdem: Mit nur 0,8 Prozent behinderter Menschen, die in den Arbeitsmarkt einge­ gliedert sind – wohlgemerkt bei einem Anteil von 15 Prozent behinderter Menschen an der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter – ist es eigentlich klar, dass ohne neue Massnahmen, die die Arbeitnehmer in die Pflicht nehmen, kein Schritt Richtung ver­ mehrter Eingliederung der Behinderten gemacht werden kann. Da kann das Bundes­ amt für Sozialversicherungen (BSV) noch lange das Gegenteil behaupten! Übrigens ist es eigenartig, wie die Bundesverwaltung, die ja auch kein Vorzeigemodell in die­ sem Bereich ist, sich auf eine neuartige und fragwürdige Weise in die Abstimmungs­ kampagne einmischt. Der Direktor des BSV geht sogar so weit, dass er sein Bild für Inserate der Kampagne der Befürworter zur Verfügung stellt. Noch etwas Wichtiges kann man aus der Meinungsumfrage der SRG herauslesen: Es gibt ein grosses Potenzial von Nein-Stimmenden bei den Jungen, den Frauen und den Personen, die links wählen. Um sie zu überzeugen, ist das Argument der Ge­ fährdung der Leistungen und der Grundrechte der Menschen mit Behinderungen das wichtigste. Um die vielen BürgerInnen, die noch nicht gestimmt haben, zu überzeugen, enga­ giert sich AGILE weiterhin mit ganzer Kraft innerhalb der nationalen Koordination – die sich immer mehr erweitert hat: Krebsliga und schweizerische Aidshilfe sind neu dazu gekommen. AGILE ruft alle behinderten Menschen und ihre Angehörigen auf, dasselbe zu tun, zum Beispiel mit Leserbriefen, mit dem Verteilen der Kampagnen­ zeitung in ihrem Haus oder an ihre Bekannte. Nur Kämpfe, die tatsächlich geführt werden, führen zum Sieg!

Übersetzung: M. Roth-Bernasconi

Pflegefinanzierung – das Warten auf konkrete Lösungen geht weiter Von Simone Leuenberger Seit zehn Jahren herrschen Notstand und Rechtsunsicherheit im Bereich der Pflege­ finanzierung. Laut Krankenversicherungsgesetz sollten die Krankenkassen die Pfle­ gekosten vollumfänglich übernehmen. Diese haben sich aber anfänglich geweigert, weil die Pflegeheime die Pflegekosten nicht ausweisen konnten. Der Bundesrat hat deshalb Rahmentarife eingeführt. Diese gelten nun noch bis Ende 2008. Ab dann werden die Krankenkassen aber nicht etwa alle Pflegekosten übernehmen. Die Dis­ 19

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kussionen, die das Parlament seit gut zwei Jahren rund um die Neuordnung der Pflegefinanzierung führt, zeigen dies klar: Der Ständerat hat im vergangenen Herbst beschlossen, dass die Pflegebedürftigen vermehrt zur Kasse gebeten werden sollen (ausführlicher dazu agile 4/2006). Nun hat die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates (SGK-N) die Beratungen aufgenommen.

Marginale Verbesserungen Das heisse Eisen der Neuordnung der Pflegefinanzierung, nämlich die Aufteilung der Kosten auf Krankenkasse, Pflegebedürftige und die öffentliche Hand, hat die SGK-N noch nicht angepackt. Man wartet auf zusätzliche Unterlagen. Ein Entscheid soll an der nächsten Sitzung Ende Mai (nach Redaktionsschluss) fallen. Marginale Verbesserungen im Vergleich zum Ständerat hat die SGK-N jedoch schon beschlossen: So sollen nicht nur Pflegeheime und ambulante Tagesstrukturen, son­ dern auch ambulante Nachtstrukturen über die Krankenkasse (teil-)finanziert werden können. Dies ist vor allem für die Entlastung pflegender Angehöriger wichtig. Zudem kann Akut- und Übergangspflege auch ambulant oder im Pflegeheim durchgeführt werden. Die Leistungen werden allerdings von den Krankenversicherern pauschal vergütet. Auch im Bereich der Ergänzungsleistungen gibt es einige Verbesserungen. Der Vermögensfreibetrag soll für Alleinstehende von 25'000 auf 37'500 Franken und für Ehepaare von 40'000 auf 60'000 Franken erhöht werden. Eine Sonderregelung gibt es für diejenigen Ehepaare, bei denen der eine Partner im Heim, der anderen jedoch in der eigenen Liegenschaft lebt: Die Vermögensfreigrenze soll hier auf 300'000 Franken erhöht werden. Diese Erhöhung ist grundsätzlich zu begrüssen. Schade ist nur, dass der höhere Freibetrag an die Bedingung geknüpft ist, dass einer der Ehe­ partner im Heim lebt. Leben beide zuhause, ist der Vermögensfreibetrag auf 112'500 Franken begrenzt. Unter Umständen fährt man also wieder einmal besser, wenn der Ehepartner im Heim anstatt zuhause gepflegt wird. Dabei hört man auch ausserhalb der Behindertenszene immer wieder Stimmen, die Wahlfreiheit zwischen ambulanten und stationären Angeboten fordern.

Kommt das Referendum? Derweil halten die IG-Pflegefinanzierung und andere unvermindert an ihrer Forde­ rung fest, der Anteil der selbstgetragenen Pflegekosten sei auf 20 Prozent zu be­ schränken. Falls der Nationalrat nicht darauf eingeht, besteht also durchaus die Möglichkeit, dass das Referendum ergriffen wird.

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Pilotprojekt Assistenzbudget: Letzte Anmeldungen sind möglich Von Simone Leuenberger Das Pilotprojekt Assistenzbudget tritt schon bald in eine neue Phase: Nur noch bis Ende Juni können sich Teilnehmende bei ihren IV-Stellen für eine Projektteilnahme anmelden und so ein selbstbestimmtes Leben mit persönlicher Assistenz testen. Die Projektteilnehmenden erhalten anstatt der Hilflosenentschädigung ein Assistenzbud­ get. Mit diesem können sie die Hilfe, die sie bis jetzt von Spitex, Heimen oder Freiwil­ ligen erhalten haben, einkaufen und z.B. persönliche AssistentInnen anstellen und entlöhnen.

Der typische Projektteilnehmer wohnt im Wallis Ende April nahmen 206 Personen am Pilotversuch teil. Die Projektteilnehmenden aus den drei Pilotkantonen Basel Stadt, St. Gallen und Wallis verteilen sich in etwa gleich auf die vier Gruppen psychische, geistige, Sinnes-, und Körperbehinderung, wie das bei der Gesamtheit der BezügerInnen einer Hilflosenentschädigung (HE) in diesen Kantonen der Fall ist. Personen mit einer HE schweren Grades sind über-, Personen mit einer leichten HE untervertreten. Der typische Projektteilnehmer ist er­ wachsen, wohnte bereits vor Projektbeginn in einer Privatwohnung im Wallis, ist kör­ perbehindert und bezieht eine Hilflosenentschädigung schweren Grades. Alle ande­ ren Schattierungen von Teilnehmenden sind aber auch vorhanden, so dass bis zum Anmeldeschluss Ende Juni die Anzahl teilnehmender Personen genügend gross sein sollte für die Evaluation. SAssiS, die Stiftung Assistenz Schweiz, hat im Rahmen der Projektdurchführung umfangreiche Informations- und Mobilisierungsmassnahmen durchgeführt. Es wur­ den z.B. alle 17- bis 21-jährigen Jugendlichen aus den Pilotkantonen noch einmal gezielt auf den Pilotversuch aufmerksam gemacht. Sonderschulen, Heime und Werkstätten wurden kontaktiert und Medienarbeit geleistet (Zeitungs- und Radiobe­ richte sowie ein Werbespot und ein Dokumentarfilm im Interviewstil mit Projektteil­ nehmenden sind unter www.fassis.net abrufbar). Das Echo blieb eher gering. Mittler­ weilen scheint aber die Skepsis der Institutionen und Organisationen im Behinder­ tenbereich gegenüber dem Pilotprojekt einem allgemeinen Interesse gewichen zu sein.

Vom Projekt zur definitiven Einführung Dieser Umstand ist nicht unwichtig, soll doch das Projekt möglichst lückenlos in die ordentliche Gesetzgebung überführt werden. Dazu braucht es eine möglichst breite Unterstützung. Im Moment laufen auf verschiedenen Ebenen Gespräche und Vor­ stösse mit dem Ziel, die Möglichkeit eines Lebens mit persönlicher Assistenz definitiv einzuführen. Im Kanton Bern sind beispielsweise zwei Motionen eingereicht worden – von Brigitte Bolli, FDP, und Simon Ryser, SP –, die eine selbstbestimmte Lebens­ führung von Menschen mit einer Behinderung und damit persönliche Assistenz als Wahlmöglichkeit neben einer institutionellen Betreuung fordern.

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Wir sind noch lange nicht am Ziel, aber dem Ziel näher als auch schon. Das Pilot­ projekt läuft sicher noch bis Ende 2009. Es kann vom Bundesrat um weitere vier Jahre verlängert werden.

Blick über die Grenzen Während der verbleibenden Zeit werden die wissenschaftlichen Auswertungen wei­ tergeführt. Die Entscheidungsträger sollen gut dokumentiert sein, bevor sie über eine definitive Einführung beraten. Deshalb wurden zwei neue Studien in Auftrag gege­ ben. Die eine befasst sich mit den subjekt- und objektorientierten Leistungen, die in den Pilotkantonen bereits vor dem Pilotversuch bezogen werden konnten. Die an­ dere Studie lässt den Blick ins Ausland schweifen. Assistenzmodelle in Deutschland, Österreich, England, Schweden und den Niederlanden werden mit dem Pilotversuch Assistenzbudget verglichen. Die Resultate erwartet man Ende August 2007. Sie werden auf der Homepage des Bundesamtes für Sozialversicherungen veröffent­ licht (http://www.bsv.admin.ch/themen/iv/00023/00372/index.html?lang=de). Dort wird man auch die Schlussberichte derjenigen wissenschaftlichen Auswertungen fin­ den, die im Juni abgeschlossen werden.

Arbeit Back to work Von Ursula Schaffner In agile 1/07 haben wir über die nicht ganz einfache Zusammenarbeit mit den IVStellen im Vorfeld des Abstimmungskampfes über die 5. IV-Revision berichtet. Inzwi­ schen beobachten wir, dass die Kampagne – dank der Abstimmung – fast ohne un­ ser Zutun weiter läuft. Endlich informieren nämlich sowohl das BSV wie auch einzel­ ne IV-Stellen aktiver über die Arbeit, die in der Invalidenversicherung geleistet wird. Wir meinen, dass unsere Kampagne „Back to work“, welche die Arbeitgeber gezielt über die Dienstleistungen der IV und privater Organisationen informiert, trotzdem weiterhin nötig ist. Wir machen uns nicht erst seit dem Abstimmungskampf für die berufliche Integration von Menschen mit Behinderung stark, sondern bereits seit Jah­ ren; sie wird im übrigen auch nach der Abstimmung vom 17. Juni zentral auf unserer Agenda stehen.

Erfolgreich in Lausanne Das Ambiente im Hotel Alpha-Palmiers war gediegen, die Rednerliste vielfältig und die gut fünfzig Plätze im Saal waren alle besetzt. Dies sind drei wichtige Angaben zur Vorabendveranstaltung, die am 8. Mai 2007 in Lausanne stattfand. Schirmherrin war die Chambre vaudoise de commerce et de l’industrie, initiiert hatte die Veranstaltung AGILE. Gérald Metroz, selbständiger Unternehmer im Rollstuhl, nannte gleich zu Beginn mit viel Humor wichtige Themen, um die es bei der beruflichen Integration 22

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von Menschen mit Behinderung geht: Die Gesellschaft schuldet diesen Menschen nichts, am allerwenigsten Wohltätigkeit. Sie haben Kompetenzen anzubieten und nicht Behinderungen. Danach stellten je ein Vertreter von IPT Waadt (Stiftung Intégraton pour tous) und der IV-Stelle des Kantons Waadt den anwesenden Arbeitgebern ihre Dienstleistun­ gen vor. In der nächsten Runde kamen Arbeitgeber wie auch einige ihrer behinderten Mitarbeitenden zu Wort. Es war eindrücklich mitzuerleben, wie die Betroffenen die ungewohnte Situation meisterten, vor einem grossen Publikum zu sprechen – und wie ihre Vorgesetzten sie dabei unterstützten. Eine Person mochte ganz einfach vor so vielen Menschen nicht sprechen. Jemand anderes liess das Mikrofon in einer ersten Runde an sich vorbeiziehen, um beim zweiten Anlauf dann zunächst schlicht zu sagen, dass er ein wenig verlegen sei, fünfzig Augenpaare auf sich gerichtet zu sehen; danach war der Druck gewichen und der einseitig gehörlose Mann gab ein klares Statement ab. Die Frau mit einem Burnout, die nach einem nicht einfachen Wiedereingliederungsweg eine feste Arbeitsstelle hat, machte deutlich, dass sie ein Mensch wie jeder andere ist. Ihre Vorgesetzte erklärte zudem eindrücklich, dass Menschen mit einer Behinderung oft viel motivierter am Arbeitsplatz erscheinen als die Gesunden und erst noch leistungswilliger seien. Beim anschliessenden Apéro wurden Erfahrungen und Visitenkarten ausgetauscht. Mehrmals war zu hören, dass die meisten Arbeitgeber tatsächlich nach wie vor sehr wenig über die Dienstleistungen der IV und privater Organisationen wie etwa IPT wüssten und was zu unternehmen sei, wenn man im Betrieb feststelle, dass jemand gesundheitliche Schwierigkeiten habe. Solche Informations- und Sensibilisierungs­ anlässe seien deshalb sehr willkommen und wichtig. Ebenso sieht man die Lage im Kanton Jura. Hier hat AGILE soeben Kontakte ge­ knüpft und eine Veranstaltung wird in den kommenden Monaten wahrscheinlich Form annehmen.

Verkehr Kurzmeldungen Das Ringen um die Zugänglichkeit der neuen Billetautomaten geht weiter BA/ Diverse Verkehrsunternehmen sind daran, neue Billetautomaten zu beschaffen. Dass diese für die Menschen mit Behinderungen wirklich zugänglich werden, ist keine Selbstverständlichkeit. Obwohl unsere Seite – vertreten durch die Fachstelle Behinderung und öffentlicher Verkehr, die Fachstelle Egalité Handicap sowie ein­ zelne betroffene ExpertInnen – mehrfach dargelegt hat, welche Anforderungen diese Automaten erfüllen müssen, sträuben sich die Unternehmen noch immer, alle aus Sicht der Behindertengerechtigkeit notwendigen Auflagen zu erfüllen. So haben die SBB und der Zürcher Verkehrsverbund (ZVV) zwar mittlerweile akzeptiert, ihre neuen 23

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Automaten mit einer Sprechverbindung auszurüsten. Aber gegen die Möglichkeit, dass Tickets zusätzlich via Telefon bestellt werden können, wehrt sich wenigstens der ZVV noch immer. Die Tarifverbünde Nordwestschweiz und Bern-Solothurn, die zusammen mit weiteren Transportunternehmen auf einen anderes Automatenmodell setzen, akzeptieren diese Telefonlösung. Dafür weigern Sie sich – zumindest vor­ derhand –, ihren Automaten mit der geforderten Sprachausgabe auszurüsten. Aber nur so wird dieser Automatentyp, der auf dem Vier-Quadranten-Modus aufbaut (die vier am häufigsten bestellten Tickets werden in den Ecken des Touch screen ange­ zeigt), für Sehbehinderte wirklich brauchbar. Fazit: Der öffentliche Verkehr ist vielleicht der Bereich, in dem die Barrieren für Men­ schen mit Behinderungen am schnellsten fallen – das Behinderten-Gleichstellungs­ gesetz sieht hier schliesslich auch fixe Anpassungsfristen vor, was in den anderen Bereichen leider nicht der Fall ist. Doch ganz von selber, ohne dass wir dafür kämp­ fen, geht es auch im Bereich des öffentlichen Verkehrs nicht.

Mitteilungen der Fachstelle Behinderung und öffentlicher Verkehr Die Fachstelle Behinderung und öffentlicher Verkehr (BöV) gibt vierteljährlich ihre Nachrichten heraus. Sie berichtet darin über die neusten Entwicklungen im Bereich behindertengerechter öffentlicher Verkehr. Die BöV-Nachrichten 2/2007 erscheinen demnächst.

Bildung Kennst Du Dein Potenzial? – Erstellen der eigenen Kompetenzen­ bilanz Wir erforschen unsere Stärken und Fähigkeiten, um unsere persönlichen Entwick­ lungsmöglichkeiten besser zu nutzen und unser Selbstbewusstsein zu stärken. Es zählt dabei nicht nur das, was wir in Schule und Berufsausbildung gelernt haben. Wir machen uns auch die Fähigkeiten bewusst, die wir durch das Leben mit der Behinde­ rung und durch Familien- und Freiwilligenarbeit erworben haben. Im Kurs setzen wir uns realistische und realisierbare Ziele und schauen, was es braucht, um sie umzu­ setzen. Datum/Ort: 21.08., 11.09., 02.10., 23.10., 06.11., 20.11.2007, in Olten Leitung: Franziska Inderbitzin, dipl. Erwachsenenbildnerin AEB Organisation: AGILE Detailprogramm 24

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Gleichstellung – der aktuelle Stand der Umsetzung Seit Januar 2004 ist das neue Gleichstellungsgesetz in Kraft. Die Juristinnen von Egalité Handicap haben erste Erfahrungen mit der Gerichtspraxis gesammelt. In die­ sem Seminar erfahren wir, wie wir die Gleichstellung konkret durchsetzen können, wann wir das auf Grund der Bundesverfassung, des Behinderten-Gleichstellungsge­ setzes oder auf Grund eines andern, mittlerweile angepassten Gesetzes tun können. Datum/ Ort: 31. Oktober 2007, Olten Leitung: Dr. iur. C. Hess-Klein und Fürsprecherin G. Blatter, Egalité Handicap, Fachstelle der DOK Organisation: AGILE und Egalité Handicap, Fachstelle der DOK Detailprogramm

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Behindertenszene Die Basis des politischen Erfolgs ist – die Basis! Von Benjamin Adler Die Menschen mit Behinderungen in der Schweiz sind gut organisiert. Sie verfügen über professionelle Verbände – einige darunter sind durchaus mitglieder- und finanz­ stark – sowie ein gemeinsames Dach: AGILE. Trotzdem haben sie zurzeit grosse Mühe, ihre politischen Interessen durchzusetzen. Zuerst ging die Volksinitiative "Gleiche Rechte für Behinderte" wider Erwarten deutlich verloren, dann die Referen­ dumsabstimmung gegen die NFA, und zuletzt hat das Parlament eine IV-Revision verabschiedet, die den Interessen der Menschen mit Behinderungen in den wesentli­ chen Punkten diametral zuwider läuft. Das hat nicht nur mit der Stärke der Gegner und äusseren, nicht oder nur schwer beeinflussbaren Bedingungen zu tun, sondern sehr viel auch mit den Menschen mit Behinderungen selber. Auf der Profiebene, wo eigens dafür qualifiziertes Personal angestellt ist, klappt die Interessenvertretung soweit gut. Diesen Profis fehlt aber oft das Fundament. Das heisst eine Basis, welche die Überzeugungen teilt, sich mitver­ antwortlich fühlt und, wenn nötig, mobilisiert werden kann für Unterschriftensamm­ lungen, Leserbriefe, Urnengänge, Überzeugungsarbeit im persönlichen Umfeld usw. Denn Politik und Öffentlichkeit müssen spüren, dass Zehn- oder gar Hunderttausen­ de hinter einem Anliegen stehen. Dann können sie gar nicht anders, als dieses ernstzunehmen.

Mobilisieren als Thema der diesjährigen Delegiertenversammlung Unter dem Dach von AGILE sind über die Mitgliedorganisationen gut 60'000 behin­ derte Menschen vertreten. Nimmt man deren Umfeld hinzu, ergibt sich im Minimum ein Potenzial von weit über 100'000 Menschen, die Druck erzeugen können – indem sie ihre Meinung kund tun, sei es auch nur an der Urne. Noch eindrücklicher wird die Rechnung, wenn man sich überlegt, wie viele Menschen mit Behinderungen insge­ samt in der Schweiz leben: rund 700'000. Gelingt es, nur einen Teil davon samt Umfeld zu mobilisieren, wird man spätestens bei jeder Abstimmung zu einer ernstzu­ nehmenden Kraft. Doch mobilisieren ist ein kein einfaches Geschäft. Die Einsicht, dass man es – stär­ ker als bisher – tun muss, genügt nicht. Man muss auch wissen, wie es geht. Dieses Wissen zu vermitteln, machte sich der sozialpolitische Teil der diesjährigen Delegier­ tenversammlung von AGILE zur Aufgabe. Und zwar anhand erfolgreicher Beispiele einerseits aus unserem eigenen Bereich, andererseits von ausserhalb des Behin­ dertenwesens. Titel der Veranstaltung: "Die Basis des politischen Erfolgs ist – die Basis!"

Besser die Miliz als die Profis Den Reigen der Referate eröffneten Cyril Mizrahi, Secrétaire romand von AGILE, und Hervé Richoz, Präsident der Walliser Sektion des Schweizerischen Blinden- und 26

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Sehbehindertenverbandes. Sie berichteten, wie Mobilisierung im Falle von sog. Ba­ sisorganisationen – deren Mitglieder sind die einzelnen behinderten Menschen, nicht andere Organisationen – funktionieren kann. Zentral sei, dass nicht die bezahlten Mitarbeitenden, sondern die Sektionspräsidenten und andere aktive Milizvertreter auf die zu mobilisierenden Mitglieder zugingen (mit "Miliz" werden alle ehrenamtlich Täti­ gen eines Verbands bezeichnet). Den Milizvertretern werde als "Gleichen" mehr Ver­ trauen entgegengebracht, ausserdem würden sie die Mitglieder und deren Sprache besser kennen. Aber auch für die Vertreter der Miliz sei es wichtig, so Richoz und Mizrahi weiter, die Komplexität von politischen Geschäften und Gesetzesvorlagen zu reduzieren und sich auf zwei, drei Kernaussagen zu beschränken. Soviel könne sich das durchschnittliche Mitglied gut merken, und damit "bewaffnet" sei es in der Lage, sich in Diskussionen einzuschalten, Leserbriefe zu schreiben oder das Umfeld zu überzeugen. Überhaupt müsse man es den Mitgliedern in allen Belangen möglichst einfach machen: So sei es zum Beispiel wichtig, bei einer Unterschriftensammlung Bogen zu verwenden, die nicht in einen Briefumschlag gesteckt werden müssen und die zusätzlich vorfrankiert sind. Unterschreiben, in den Briefkasten stecken, fertig. Mehr dürfe es nicht zu tun geben. Einen weiteren Erfolgsfaktor sahen Mizrahi und Richoz darin, wirklich alle zur Verfügung stehenden Kanäle zur Informationsverbrei­ tung zu nutzen. Also nicht nur die Mitgliederzeitung, die Website, die Delegiertenver­ sammlung usw., sondern auch die Freizeitveranstaltungen. Man könne dort jeweils kurz über die laufenden politischen Arbeiten der Organisation informieren. Ein weite­ rer wichtiger Kanal seien die Medien: Oft führe eine gute Medienberichterstattung, gerade in der Lokalpresse, dazu, dass sich die eigenen Mitglieder für eine bestimmte Sache zu interessieren und engagieren begännen. Wichtig sei es auch bei Medien, sich auf einige wichtige Botschaften zu beschränken und diese mit guten Beispielen zu illustrieren.

Die besondere Situation vieler Dachverbände Barbara Marti, Zentralsekretärin von AGILE, wies zu Beginn ihres Referats auf eine Besonderheit hin, mit der viele Dachorganisationen, darunter auch AGILE, konfron­ tiert sind, wenn sie mobilisieren: Bei ihnen sind nicht die einzelnen Personen Mit­ glied, sondern nur die Verbände. Will das Dach mobilisieren, ist es darauf angewie­ sen, dass die Mitgliederorganisationen, genauer deren Geschäftsstellen, die Infor­ mationen an die eigentliche Basis weitervermitteln. Das Dach ist aber auch darauf angewiesen, dass es wichtige Informationen von seinen Mitgliedern erhält. Denn nur wenn es die Bedürfnisse und Anliegen seiner Mitglieder wirklich kennt, ist das Dach in der Lage, diese zu koordinieren und zu vertreten. Die wichtigste Voraussetzung dafür, dass die Information in beide Richtungen wirklich fliesst, sei das gegenseitige Vertrauen von Dachverband und Mitgliedorganisationen, so Barbara Marti. Zu die­ sem Vertrauen gehöre, dass die Mitglieder, insbesondere die grossen, das Dach ge­ währen lassen, d.h. ihm in gewissen Geschäften die Themenführerschaft überlassen und es dabei nach Kräften unterstützen, finanziell und ideell. Als gelungenes Beispiel führte Marti die Demonstration zur Gleichstellung von 1998 auf dem Bundesplatz in Bern an, an der über 8'000 Personen teilnahmen. Das Büro von AGILE sei unbestrit­ ten die Zentrale der Veranstaltung und damit auch die Informationsdrehscheibe ge­ wesen, und an den Kosten hätten sich viele andere Organisationen mit grosser Selbstverständlichkeit beteiligt. 27

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Dass man auch als Dachverband ohne Einzelmitglieder die Basis regelmässig, nicht nur in Ausnahmefällen, gut mobilisieren kann, legte die Pressesprecherin des Schweizerischen Bauernverbands, Sandra Helfenstein, in ihrem Referat dar. Aller­ dings, dies machte ihr Referat ebenfalls deutlich, braucht es dazu mehr Ressourcen, als beispielsweise AGILE zurzeit zur Verfügung stehen. Beide Dachverbände ver­ treten via ihre Mitglieder je rund 60'000 Einzelpersonen. Beim Bauernverband sind gemäss Helfenstein nicht weniger als 15 Mitarbeitende alleine für den Bereich Inte­ ressenvertretung angestellt, bei AGILE sind es deren drei, die erst noch nur einen Teil ihrer Arbeitszeit in die Interessenvertretung investieren können. Mit diesen per­ sonellen Ressourcen ist es dem Bauernverband einerseits möglich, an allen Jahres­ versammlungen sowie den weiteren wichtigen Anlässen der Mitgliedverbände mit Kadermitarbeitern präsent zu sein und über die laufenden Tätigkeiten der Zentrale zu informieren. Andererseits kann er seinen Mitgliedern Verbandsstrukturen anbieten, von denen AGILE nur träumen kann: Die Geschäftsführer der Mitglieder und das Ka­ der des Dachs treffen sich vierteljährlich zu Konferenzen; diese ermöglichen einen regelmässigen politischen Meinungsaustausch, allfällige Differenzen unter den Mit­ gliedern lassen sich von Angesicht zu Angesicht ausjassen. Der Vorstand des Schweizerischen Bauernverbands trifft sich einmal im Monat (die Kadenz bei AGILE ist knapp halb so hoch), und in den fünf zentralen Themenbereichen gibt es jeweils eine eigene Fachkommission. Nicht zuletzt ermöglichen es die grossen personellen Ressourcen dem Dach, regelmässig gemeinsame Projekte mit den Mitgliedverbän­ den durchzuführen. Wie die Gewerkschaft Unia ihre Basis mobilisiert, stellte der ehemalige AGILE-Mitar­ beiter Renat Beck vor, heute in der Vertragsdokumentation dieser Gewerkschaft tä­ tig. Die Basis der Unia sind eigentlich alle Angestellten der Branchen, welche die Gewerkschaft abdeckt. Im engeren Sinn sind es die effektiven Mitglieder, zurzeit rund 200'000 Personen. Um die gesamte Basis zu erreichen, stellt die Unia auf sog. Vertrauensleute ab. Das sind Ehrenamtliche, die in ihrem Betrieb aktiv die Unia ver­ treten. Sei es, indem sie z.B. Mitglieder für die Betriebskommission suchen oder selbst darin Einsitz nehmen, sei es, indem sie denjenigen Teil der Belegschaft, der nicht gewerkschaftlich organisiert ist, zur Teilnahme an Gewerkschaftsaktionen zu motivieren versuchen. Renat Beck betonte, dass sich der Erfolg einer Mobilisie­ rungsaktion nicht alleine an der Anzahl teilnehmender Personen messen lasse. Auch eine Aktion mit eher weniger Teilnehmenden könne erfolgreich sein, wenn sie dafür umso origineller und die Beteiligten umso aktiver seien. Den Erfolg einer erfolgten Aktion ehrlich zu evaluieren, sei notwendig, wolle man einen Lerneffekt erzielen und nicht immer wieder die gleichen Fehler begehen. Bei dieser Evaluation seien alle einzubeziehen, die Entscheidungsgremien und die gewöhnlichen Teilnehmer.

Die Lehren für AGILE Aus dem, was an der Veranstaltung referiert und diskutiert wurde, lassen sich einige Lehren ziehen, wie AGILE in Zukunft erfolgreicher mobilisieren kann. Die erste be­ trifft die Zusammenarbeit von Dachverband und Mitgliedern: Dass die BehindertenSelbsthilfe ein Dach hat, entspricht nicht einfach einer liebgewonnenen Tradition. Die Selbsthilfe braucht weiterhin ein Dach. Neben den spezifischen Anliegen einzelner Behinderungsarten gibt es eine Vielzahl von Interessen, die allen Menschen mit Be­ hinderungen gemeinsam ist. Wenn alle Verbände einzeln vorgehen bei der Vertre­ 28

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tung dieser sog. behinderungsübergreifenden Interessen, gehen grosse Synergien verloren, und die Gefahr ist gross, dass letztlich nichts erreicht wird. Es braucht mit andern Worten eine Instanz, welche diese Interessen koordiniert und dann auch ver­ tritt. Damit die behinderungsübergreifende Interessenvertretung erfolgreich ist, braucht sie wie jede erfolgreiche Interessenvertretung den Support durch eine aktive Basis. Hier nun sind die Mitgliederverbände gefragt, da AGILE die einzelnen Men­ schen mit Behinderung nur via diese erreichen kann. Sie müssen die Informationen vom und zum Dach fliessen lassen und überhaupt bereit sein, das Dach seine Rolle spielen, d.h. in gewissen Bereichen die Führung übernehmen zu lassen. Noch erfolgreicher könnte AGILE die Basis mobilisieren, und das ist die zweite Lehre, wenn über den Rahmen des heute Bestehenden hinausgegangen werden könnte. Wenn die AGILE-Gremien beispielsweise häufiger tagen könnten oder sogar neue eingeführt würden. Wenn die Angestellten und Vorstandsmitglieder von AGILE in der Lage wären, noch häufiger an den Veranstaltungen der Mitglieder teilzuneh­ men. Oder wenn das Dach und seine Mitglieder regelmässig gemeinsame Projekte durchführten. Oder, und das ist vermutlich ein allzu frommer Wunsch, wenn die Ver­ bände AGILE die Adressen seiner Mitglieder zugänglich machen würden und AGILE fortan ganz direkt an die Basis gelangen könnte. Damit auch nur einzelne dieser Ausbauschritte erfolgen können, braucht es nicht nur das Vertrauen der Mitglieder in die Arbeit ihres Daches. Die Mitglieder müssten dem Dach ausserdem die entspre­ chenden zusätzlichen Ressourcen zur Verfügung stellen.

Medien Inklusive Pädagogik für Sie gelesen von Bettina Gruber Als Weiterführung und Vertiefung des Schwerpunktthemas integrative Schulung und Ausbildung der letzten beiden Ausgaben dieser Zeitschrift, besonders agile 4/2006, empfiehlt sich die vorliegende Textsammlung zur inklusiven Pädagogik. Auf fast 350 Seiten erwartet Sie eine geballte Ladung an Reflexion und Information rund ums Thema. Dass sich das Buch vor allem auf österreichische Verhältnisse bezieht, mö­ gen wir vielleicht etwas bedauern – spannend wären Informationen aus der Schwei­ zer Bildungslandschaft allemal –, dem Erkenntnisgewinn tut es allerdings keinen Ab­ bruch. Mit Inklusion wird ein pädagogisches Konzept umschrieben, das sich gänzlich von jenem der Trennung in Norm- und Sonderpädagogik unterscheidet, indem es nicht vom zu therapierenden Defekt ausgeht, sondern vom Menschen als Einheit. Als Vor­ aussetzung für erfolgreiche Schulung wird nicht die Homogenität der SchülerInnen­ gruppe postuliert, zu deren Herstellung logischerweise eine Normschule und eine Vielzahl von Sonderangeboten nötig sind, sondern die Heterogenität wird als positi­ 29

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ver Wert begriffen, als Anreiz zu vielfältiger Interaktion. Bestimmendes Moment ist somit nicht die Selektion, sondern die Kooperation. Der Lehrstoff besteht dabei nicht aus Inhalten, die je nach Schultyp in vorgegebener Form begriffen werden müssen, sondern aus Angeboten, aus denen sich jedes Kind die seinem Können entspre­ chenden Elemente herausgreift und verarbeitet, bzw. die Gruppe sich gegenseitig unterstützt und anregt. Soweit etwas verkürzt einige zentrale Elemente einer inklusi­ ven Pädagogik (wie sie im Artikel von Bintinger/Eichelberger/Wilhelm in einer über­ sichtlichen Tabelle ab Seite 31 beschrieben sind). In rund 25 einzelnen Beiträgen wird das Thema Inklusion auf vielfältige Weise be­ leuchtet. Die historische Einbettung fehlt ebenso wenig wie die Vorstellung einzelner Bildungskonzepte. Die Entwicklung von Bildungsgesetzen und Verordnungen und die sich aus ihnen ergebenden Möglichkeiten für die Schulgestaltung werden ebenso beleuchtet wie die Fragwürdigkeit aktueller und mögliche alternative Bewertungs­ systeme. Die praktische Erfahrung mit inklusiver Pädagogik aus LehrerInnensicht wird ebenso behandelt wie die angestrebten und schon umgesetzten Schritte in der LehrerInnenausbildung, weg von der Spezialisierung zu Volksschul- und Sonder­ schullehrerInnen hin zu LehrerInnen für alle, wobei auf die diesbezüglichen europäi­ schen Programme Bezug genommen wird. Folgendes wäre noch anzufügen: Lassen Sie sich nicht verunsichern, wenn sich die einzelnen Autoren in der Definition ihrer Begriffe uneinig sind. Integration und Inklu­ sion werden bisweilen synonym gebraucht. Andere wiederum sehen zwischen den beiden Begriffen eine klare Differenz bzw. betrachten die Inklusion als Zielpunkt einer Schule für alle, während die Integration eher bedeute, dass Schüler mit Förderbedarf in eine heutige Volksschulklasse "hineingesetzt" werden. Im Zusammenhang wird aber jeweils verständlich, aufgrund welcher Argumentation zu welcher Terminologie gegriffen wird. Die Lektüre des vorliegenden Buches weckte in mir als Mutter zweier Primarschüle­ rinnen ein Wechselbad der Gefühle. Bei einigen Ausführungen dachte ich: Das wäre toll, aber es klingt zu utopisch, um wahr zu werden. Konkrete Beispiele zeigten dann aber wieder auf, dass eine Realisierung durchaus möglich ist. Und bei anderen vor­ geschlagenen Elementen konnte ich zu meiner Freude feststellen: Das wird in unse­ rer Dorfschule ja schon gemacht. Zum Schluss möchte ich noch Georg Feuser, einen der Vordenker der "allgemeinen (integrativen) Pädagogik", zu Wort kommen lassen, der in einem Epilog einen kriti­ schen Ausblick zur Zukunft von Integration wagt. Er meint: "Sie wird dorthin des We­ ges gehen, wohin Sie als Lehrerinnen und Lehrer als Forscher oder Forscherin ihre Schritte lenken." Ja, ja, schulische Integration muss gedacht und getan werden. Und auch hier ist, wie so oft, der Weg schon das (halbe) Ziel.

Die Angaben zum Buch: Aus der Reihe "Pädagogische Reihe", Rainer Grubich u. a., Inklusive Pädagogik. Beiträge zu einem anderen Verständnis von Integration, Edition Innsalz, 2005. ISBN: 3-900050-50-3, Preis: CHF 24.-

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Impressum agile – Behinderung und Politik (mit regelmässiger Beilage – in elektronischer Form – der "BÖV Nachrichten")

Herausgeberin: AGILE Behinderten-Selbsthilfe Schweiz Effingerstrasse 55, 3008 Bern Tel. 031/390 39 39, Fax 031/390 39 35 Email: [email protected]

Redaktion: Benjamin Adler, Redaktionsverantwortlicher deutsche Ausgabe Cyril Mizrahi, Redaktionsverantwortlicher französische Ausgabe Bettina Gruber Haberditz Simone Leuenberger Ursula Schaffner

Lektorat: Bettina Gruber Haberditz (deutsche Ausgabe) Céline Latscha (französische Ausgabe)

Neben der deutschsprachigen besteht auch eine französischsprachige Ausgabe von „agile“. Ihre Inhalte sind weitgehend identisch – Übersetzungen werden als solche gekennzeichnet. Die Übernahme (mit Quellenangabe) von „agile“-Texten ist nicht nur gestattet, son­ dern erwünscht! Anregungen, Anfragen, Bemerkungen usw. bitte an: [email protected]

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