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Das Leben aus dem Tod (Vom sterbenden Weizenkorn) Joh 12,24 (24a) Amen, Amen, ich sage euch: (24b) Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und bleibt es allein. (24c) Wenn es aber bringt es viel Frucht.

stirbt, stirbt,

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Wird das Wort vom Weizenkorn (Joh 12,24) aus seinem Kontext isoliert, dann handelt es sich offenbar um nichts weiter als um eine Spruchweisheit aus dem Bereich der Landwirtschaft (so Dodd 1963, 366-369; von Gemünden 1993, 205; Berger 2003b, 47). Erst durch den Kontext wird es als metaphorische Erzählung, d. h. als Parabel mit übertragener Bedeutung, im Sinne des Kompendiums erkennbar. Bevor diese kontextuelle Bedeutungszuschreibung näher untersucht wird, soll zunächst der Einzelvers Joh 12,24 in seiner Grundstruktur wahrgenommen werden: Das konditional formulierte Weizenkornwort (V. 24bc) besteht aus zwei Teilen, die antithetisch aufeinander bezogen werden: ¥Þn mffi – ¥Þn dff (ean me¯ – ean de – wenn nicht – wenn aber). Auffällig ist, dass die Negation (wenn nicht …) vorangestellt ist (V. 24b) und erst im zweiten Versteil die Position (wenn aber …) genannt wird (V. 24c). Auf diese Weise wird der Schwerpunkt auf den positiven Nachsatz gelenkt. Zugleich wird die eigentliche Aussage der Konditionalsätze durch die parallele Konstruktion wiederholt: Durch die Einleitung mit ¥Þn mffi (ean me¯ – »wenn nicht«; auch: »außer wenn«) wird einem Lesenden suggeriert, dass es hier um eine Notwendigkeit geht, die unbedingt eintreten muss. Der zweite ¥€n-Satz spitzt dann durch die verkürzte Wiederholung zu, worum es geht: Das Weizenkorn muss sterben. Wozu dieses Sterben dienlich ist, wird in den Folgesätzen im Kontrast formuliert: Wenn es nicht stirbt, bleibt es allein – wenn es stirbt, bringt es viel Frucht. Dem einzelnen Korn (mƒno@ monos – einzig) wird dabei die Vielzahl (polÐ@ polys – viel) der Frucht gegenübergestellt. Was hier erzählt wird, tritt wohl immer ein, so zumindest markiert es die verwendete Konjunktion ¥€n ean, die in der Regel beim so genannten »Iterativus«, bei einem unbestimmt häufig sich wiederholenden Fall (»jedesmal, wenn«) steht (Blass/Debrunner/Rehkopf 18 2001, § 371). Die Parabel berichtet also von einem ganz gewöhnlichen Vorgang in der Natur, der sich bei jedem Saat und Ernte-Zyklus wiederholt: Das Weizenkorn wird ausgesät, stirbt und bringt neue Frucht. Doch wird das Weizenkorn nach Joh 12,24 wirklich ausgesät? Genau betrachtet, wird das Säen mit dem aktivischen Partizip pesðn (peso¯n – fallend) formuliert. Das Weizenkorn ist in der ganzen vorgestellten Szene das handelnde Subjekt, auf das alle aktiven Verben bezogen sind: Es fällt, stirbt, bleibt allein, stirbt, bringt Frucht. Das Weizenkorn als eigenständiger Akteur unserer Parabel – das lässt aufhorchen. Ebenso auffällig ist auch der erste Folgesatz: »es bleibt allein«. Doch wann ist ein Weizenkorn wirklich allein? 804

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Das Leben aus dem Tod Joh 12,24

Weizenkörner kommen in der realen Lebenswelt nicht einzeln vor, weder als Saatgut, noch als Frucht in der Ähre, schon gar nicht, wenn sie zu einer brauchbaren Menge Mehl vermahlen werden sollen. Der Eindruck des Besonderen wird verstärkt, indem mit mffnein (menein – bleiben) ein joh Grundverb verwendet wird (dazu Scholtissek 2000a). So werden den Lesenden oder Hörenden schon immanente Transfersignale gegeben, dass das Weizenkorn, von dem hier erzählt wird, einen tieferen Sinn birgt. Dieser wird dann aber vor allem durch den näheren Kontext entfaltet. Dabei fällt zunächst die einleitende »Amen-Formel« (V. 24a) als ein starkes externes Transfersignal ins Auge. Das, was hier gesagt wird, ist mehr als eine natürliche Binsenweisheit, es hat Gewicht im religiösen Kontext, es wird mit Autorität ausgesprochen (Culpepper 2001, 253-262). Ferner wird mit dem nachfolgenden Satz (Joh 12,25) aufgrund struktureller und inhaltlicher Analogien eine enge semantische Verschränkung erzeugt. In der Forschung wurde hinter V. 25 oftmals ein eigenständiges Logion vom Lebensverlust vermutet, das sowohl durch Mk 8,35par. als auch durch Q(Lk) 17,33 (= Mt 10,39) bezeugt sei (so bereits Dodd 1963, 338-343; ausführlich Theobald 2002, 103-129; kritisch Morgen 1995, 29-46). Mit Blick auf die Weizenkornparabel fällt auf, dass durch die parallele Anordnung der beiden Verse in der vorliegenden Textgestalt der Bereich der Vegetation in V. 24 mit dem menschlichen Bereich in V. 25 eng verknüpft wird. In beiden Bereichen geht es um Leben und Tod, die hier unmittelbar aufeinander bezogen werden: So korreliert das »Indie-Erde-Fallen und Sterben« des Weizenkorns mit dem »Leben verlieren« als einer metaphorischen Ausdrucksweise für das Sterben des Menschen. Entsprechend werden »Frucht bringen« und »zum ewigen Leben bewahren« parallelisiert. In der strukturellen Parallelität der beiden Verse werden die paradoxen Kontraste, die jeden Vers auszeichnen (V. 24: nicht sterben – allein bleiben bzw. sterben – Frucht bringen; V. 25: lieben – verlieren und hassen – gewinnen) aufeinander bezogen, so dass schließlich »Nicht sterben« und »sein Leben lieben«, sowie »Sterben« und »sein Leben hassen« aufeinander abgebildet werden (s. Tab.). Als Vergleich könnte man die Interaktion beider Verse wie folgt formulieren: Wer sein Leben hasst, ist wie ein Weizenkorn, das stirbt, um Frucht zu bringen. Das Hassen des Lebens führt analog der Frucht des Weizenkorns dann zum ewigen Leben. So wird ein scheinbar unausweichlicher Zusammenhang hergestellt: Das Ziel des ewigen Lebens kann nur durch Lebensverlust oder sogar Lebenshass erreicht werden. Eine Logik, deren Notwendigkeit sich vermutlich nicht nur der moderne Leser verweigern möchte. Ist es wirklich erforderlich, sein Leben zu hassen? Welche Erfahrung von Unausweichlichkeit mag hinter diesen Sätzen stehen? Weiterführend ist hier ein Bezug, der im weiteren Kontext erzeugt wird, indem die Parabel auf Jesus bzw. den Menschensohn als Bildempfänger hindeutet: In Joh 12,23 wird die »Stunde« angekündigt, in der der Menschensohn verherrlicht werden soll (Joh 12,23, s. u.). Das Motiv der »Stunde Jesu« durchzieht das ganze Evangelium wie ein roter Faden (Joh 2,4; 4,21.23; 5,25.28; 7,30; 8,20; 13,1; 16,2.4.25.32; 17,1; dazu Leinhäupl-Wilke 2003b). Gemeint ist hierbei die Stunde des Todes Jesu (Frey 1998, 215 ff.), die allerdings nicht als Katastrophe, sondern als Stunde der ›Verherrlichung‹ bewertet wird. Möglicherweise stammt das Motiv der »Stunde« aus der markinischen Passionserzählung (Mk 14,41), zumal in Joh 12,27 f. noch weitere Motive der Gethsemane-Perikope verarbeitet sein können (so Frey 2003, 88-93). Zumindest zeigt 805

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Parabeln im Johannesevangelium

auch die Reflexion in Joh 12,27-33, die den Zusammenhang zwischen (Verherrlichungs-)Stunde und Tod Jesu explizit ausführt, ein ganz ähnliches theologisches Interesse wie die Gethsemane-Perikope (Mk 14,32-42par.): Die Flucht aus der Bedrohlichkeit der (Todes-)Stunde wird abgewehrt. Die Klage und Bitte, dass der ›Kelch vorübergeben möge‹, wird bei Joh nur noch als rhetorische Frage formuliert. Es ist von vornherein keine echte Verhaltensalternative. Diese Unausweichlichkeit des Todes Jesu und sein Verzicht auf Rettung stellen eine Strukturanalogie zum Lebensverzicht in V. 25 und auch zur Gesetzmäßigkeit des sterbenden Weizenkorns in V. 24 dar. Es muss offenbar so kommen. Dabei führt gerade der Bildbereich des Weizenkorns vor Augen, dass diese Notwendigkeit des Sterbens einem höheren Ziel dient. Ohne Sterben gibt es auch keine Frucht. In der metaphorischen Übertragung wird damit nahegelegt, dass auch der Tod Jesu einem übergeordneten Ziel dient. Durch die Motive der »Stunde« (V. 23.27) sowie der »Verherrlichung« (V. 23.28) wird ein doppelter Rahmen um das Weizenkornwort gelegt, durch den zumindest für den Kenner dieser semantischen Codes der Bezug zum Kreuzestod Jesu unmissverständlich erzeugt wird. Aber das »Sterben des Weizenkorns« (V. 24) sowie die Redewendung vom »Verlieren des Lebens« (V. 25) bilden auch explizit eine semantische Brücke zu V. 33, wo vom Tod Jesu die Rede ist. Im Leserkommentar wird hier die im vorgenannten Vers (V. 32) erwähnte »Erhöhung« als Metapher des Kreuzestodes erklärt: Erhöhung meint den Tod am Kreuz und steht im Horizont einer ausgeprägten Raummetaphorik des Evangelisten (dazu R. Zimmermann 2004a, 226-231). Dass auch die Erhöhung als Notwendigkeit beschrieben wird, wie die Gesprächspartner richtig verstehen (V. 34: de… ¢vwq»nai dei hypso¯the¯nai – es muss erhöht werden …) greift die in den Bedingungssätzen formulierte Unausweichlichkeit des Weizenkorntodes wieder auf. Gleichzeitig wird die Bewegung umgekehrt: Während das Weizenkorn in die Erde fällt (pesŒn e§@ t¼n g»n peso¯n eis te¯n ge¯n), wird Jesus nach V. 32 aus der Erde erhöht (¢vwq¾ ¥k t»@ g»@ hypso¯tho¯ ek te¯s ge¯s). Der Kreuzestod birgt somit bereits den Keim des neuen Lebens in sich. V. 23-24a: Jesus aber antwortete und sprach: Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht werde. Amen, Amen ich sage Euch: V. 24bc: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein, wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht. V. 25: Wer sein Leben liebt, verliert es; und wer sein Leben in wird es für das ewige dieser Welt hasst, Leben gewinnen. V. 26: Nachfolge im Dienst V. 27: Jetzt ist meine Seele betrübt. Was soll ich sagen: Vater, errette mich aus dieser Stunde? V. 28: Bitte um Verherrlichung mit Bestätigung der Himmelsstimme: Ich habe ihn schon verherrlicht und werde ihn wieder verherrlichen. V. 29: Reaktion der Menge V. 32: Und ich, wenn ich erhöht werde aus der Erde, so will ich alle zu mir ziehen. V. 33: Das sagte er aber, um anzuzeigen, welchen Todes er sterben würde. Tab.: Das Weizenkornwort (Joh 12,24) in seinem Kontext

Durch die Verflechtungen mit dem Kontext wird eine semantische Interaktion der Elemente erzeugt, die die metaphorische Bedeutung der Weizenkornparabel klar erkennen lässt (dazu R. Zimmermann 2004a, 117-121): Das »Sterben des Weizenkorns« wird auf 806

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Das Leben aus dem Tod Joh 12,24

das »Sterben Jesu« bezogen. Jesu Verherrlichung durch sein Sterben am Kreuz (im JohEv »Erhöhung«) wird somit im Bild des sterbenden Weizenkorns gedeutet. Jesus ist wie das sterbende Weizenkorn, sein Tod steht in einem größeren Sinnzusammenhang und dient letztlich dem Fruchtbringen. Doch worin besteht dieser Sinn? Was ist – um im Bild zu bleiben – »die viele Frucht« des Todes Jesu? Was ist die Intention und theologische Aussage der Parabel? Um diese Fragen zu beantworten, ist es notwendig, etwas tiefer in den bildspendenden Bereich sowie die geprägten Metapherntraditionen einzudringen.

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Korn und Frucht des Weizens In Joh 12,24 ist vom »Korn des Weizens« (¡ kƒkko@ to‰ sffltou ho kokkos tou sitou) die Rede. Mit s…to@ (sitos) ist genau genommen der Oberbegriff für Getreide gewählt. Es geht also nicht um eine spezielle Getreidesorte, für die es durchaus terminologische Differenzierungen gegeben hätte (so etwa kritffi krite¯ für Gerste, zei€ zeia für Dinkel oder purƒ@ puros für Weizen im Speziellen, vgl. dazu Sallares 1998, 1030-1037; Dalman 1932, 243-263). Vielmehr geht es um Getreide überhaupt, das allerdings faktisch meist mit der verbreitetsten Sorte Weizen identisch war, so dass hier semantische Durchmischungen vorkamen (vgl. EWNT III, 587 f.: Weizen, Getreide). Die Übersetzung »Weizenkorn« trifft also durchaus die Bedeutung der griech. Ausdrucksweise. Das »Korn« ist der wichtigste Teil der Pflanze und findet sich in der Ähre. Der röm. Gelehrte Marcus Terentius Varro gibt eine genaue Beschreibung, wie die so genannte vollkommene Ähre (spica non mutilata) des Getreides aussieht (Var. rust. I 48): Sie umfasst drei Teile: das Korn (granum), die Hülse, die auch Spelz genannt wurde (gluma), und die Granne oder Achel (arista). Das Korn ist das, worauf es eigentlich ankommt: Als Same dient es zur Aussaat, roh oder z. B. zu Mehl verarbeitet dient es als Grundnahrungsmittel. Das Korn ist also Same und Frucht zugleich. In jeder Ähre sitzen mehrere Körner, deren Anzahl je nach Pflanze variiert. An der Anzahl der Körner bemaß man, wie gut oder schlecht die Ernte ausgefallen war (dazu bei Q 10,2). Dabei schwanken die Angaben in den antiken Quellen. Offenbar war auch der Ertrag in unterschiedlichen Gegenden extrem unterschiedlich (vgl. Sallares 1998, 1033; K. C. Hanson/Oakman 1998, 104 f.). So war ein zehnfacher Ertrag normal, in fruchtbaren Gegenden wie Etrurien konnte man 15fache Erträge erzielen, in Mk 4,8 wird von 30-, 60-, oder 100fachen Erträgen gesprochen (dazu bei Mk 4). Nach Dalman konnten im Jerusalemer Bereich 15-40 Körner, am See Genezareht sogar bis zu 70 Körner pro Ähre gezählt werden (Dalman 1932, 243). Obgleich auch Varro sehr präzise Gegenden benennt, in denen es hundertfache Erträge gegeben haben soll (so z. B. in der syrischen Gegend um Gadara, vgl. Var. rust. I, 44: in Syria ad Gadara), sind diese Angaben doch kaum historisch plausibel, wenn man bedenkt, dass heute mit modernsten Hybridzüchtungen ein 30-40facher Ertrag erzielt werden kann. Entscheidend ist jedoch nicht die genaue Anzahl der Vervielfältigung. Wenn in Joh 12,24 von »viel Frucht« (pol±@ karpƒ@ polus karpos) die Rede ist, dann kommt es allein auf die Vermehrung des Samens an. Dabei ist nicht nur die Anzahl der Körner in einer 807

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Parabeln im Johannesevangelium

Ähre maßgeblich, vielmehr erwachsen aus einem Samenkorn stets mehrere Halme hervor (Dalman berichtet von 4 bis zu 44 Halmen, Dalman 1932, 243), was die Frucht entsprechend vervielfältigt. Der eine Same bringt reichlich Frucht, oder so könnte man im Blick auf die Identität von Samen und Frucht sagen: ein Korn bringt viele Körner.

Sterben bei der Aussaat Da das Getreide problemlos die Winterkälte vertragen konnte, wurde es meist schon im Herbst ausgesät, um dann als kleine Pflanze zu überwintern (Colum. II 9). Die antiken Landwirtschaftslehren belegen ferner eine Diskussion über den rechten Zeitpunkt der Getreide-Aussaat (Colum. II 8; Plin. nat. XVIII 201 ff.; Var. rust. I 6.37), die die Bedeutung demonstriert, die man der Aussaat zumaß. Auch die Wahl des Samens wurde sorgfältig bedacht, wobei Größe, Farbe und Alter der Samenkörner für die Selektion maßgeblich waren. So galten die einjährigen rötlich aussehenden Samenkörner als die besten, ferner die größten und schwersten, die man schon beim Ernten aussondern musste, denn beim Worfeln fielen sie als unterste auf die Tenne (vgl. Colum. II 9; Plin. nat. XVIII 195; Theophr. h. plant. VIII 11,5). Um den Keimvorgang im Boden zu beschleunigen, wurde der Samen vor der Aussaat in Flüssigkeiten eingelegt, sei es in eine Kräuterbrühe, sei es – besonders beim Weizen – in Wein (Plin. nat. XVIII 158 f.). Alle Unterstützungsmaßnahmen endeten aber, nachdem die Samen ausgesät und »in die Erde gefallen« (zu dieser offenbar üblichen Formulierung auch Mk 4,4-8par.) waren. Da der Keimvorgang je nach Witterung 15-20 Tage dauerte, war dies eine längere Zeit des ungewissen Wartens, ob das Saatgut überhaupt keimfähig oder womöglich verdorben war – eine existenzielle Frage im Blick auf den nächsten Vegetationszyklus. Möglicherweise liegen hier die Ursprünge der antiken Vorstellung, dass das Samenkorn zu Grunde geht, bevor es neu wächst (dazu H. Braun 2 1967, 140 f.). So spricht Epiktet davon, dass das Samenkorn »vergraben wird« (katarug»nai kataruge¯nai, Epict. diss. IV 8,36), auch nach einem Plutarch-Fragment aus der Schrift »Zu den Werken Hesiods« muss (de… dei) das Samenkorn in der Erde verborgen (krufq»nai kryphthe¯nai) werden und verfaulen (sap»nai sape¯nai), »damit aus einem einzigen (¥x žnƒ@ ex henos) Weizenoder Gerstenkorn vielleicht eine große Menge (pl»qo@ ple¯thos) wird.« (Plut. frg. 104, nach LCL XV 212 f.). Das Korn schläft also nicht nur in der Erde, um irgendwann zu neuem Leben zu erwachen. Man ging in der Antike und auch speziell im Judentum vielmehr davon aus, dass das Samenkorn verfaulte und starb, und dann wieder mit neuem Leben aufging (vgl. mKil II,3; mChal I,1; tKil 1,16; nach Dalman 1932, 305). Die neutestamentliche Rede vom »Sterben des Korns«, wie sie neben Joh 12,24 auch in 1Kor 15,36 belegt ist (dazu unten), ist also zunächst nicht metaphorisch, sondern durchaus wörtlich gemeint. Es verwundert jedoch nicht, dass diese eher mythische Vorstellung von Sterben und Auferstehen des Samenkorns eng mit religiösem Symbolsinn verknüpft wurde, was im Folgenden zu untersuchen ist.

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Das Leben aus dem Tod Joh 12,24

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Der Vergleich zwischen dem Vorgang von Saat und Ernte in der Natur und dem Leben und Sterben des Menschen ist bald so alt wie die Menschheitsgeschichte. Entsprechend vielfältig sind auch die Bildfelder und Mythen, die die Grundaporie des menschlichen Lebens im Angesicht des Todes mit Vorgängen aus dem Vegetationszyklus verbinden. Im Folgenden sollen einzelne Aspekte benannt werden, die als Sprach- und Metaphernhintergrund zu einem Verständnis von Joh 12,24 beitragen können.

Weizen(ähre) in den Mysterienkulten In einigen »Mysterienkulten«, den religiösen Weihe- und Geheimriten der griech. Welt (vgl. dazu Giebel 3 2003; zum Überblick Klauck 1995, 77-128), wurde die Feier des neuen Lebens mit dem Symbol des Weizens verbunden. So wurde bei den seit dem 8. Jh. v. Chr. zu Ehren von Demeter, der Göttin der Feldfurcht, abgehaltenen »Euleusis-Mysterien« nach dem Zeugnis des Hippolyt auf dem Höhepunkt der Weihenacht eine Weizenähre gezeigt (Hipp. haer. V 8,39 f.). Die geschnittene Ähre sollte den Eingeweihten, den so genannten Mysten, ein »Inbild des aus dem Erdenschoß neu entstehenden Lebens« geben (Giebel 2004, 250 mit schöner Beschreibung des Ritus; ferner Burkert 2 1997, 274-327). Unmittelbar nach der Kornähre erschien dann die vom Gott der Unterwelt geraubte und totgeglaubte Tochter Demeters, Persephone, und zeigte ihren neugeborenen göttlichen Jungen. Die ›Schauenden‹ wussten nun, dass mit ihr die Fruchtbarkeit aus der Erdentiefe kommt, die auch für sie zum Getreidesegen und Reichtum wird. Eine weitere Inszenierung von Sterben und Neubelebung stellten auch die Isismysterien dar, in deren Zentrum der Isis-Osiris-Mythos stand. Die Göttin Isis hatte dem Mythos zu Folge den getöteten und zerstückelten Leib ihres Bruders und Gatten Osiris wiedergefunden und zusammengesetzt. Mit dem Lebenswasser benetzt erwachte Osiris zu neuem Leben und Isis konnte somit den Sohn Horus von ihm empfangen. Osiris wurde zum Gott des Totenreichs. Sinnbild von Sterben und Weiterleben war in den jährlich Ende Oktober/Anfang November, d. h. zeitgleich zum Aufgehen der Wintersaat, stattfindenden Mysterienfeiern auch hier das Getreidekorn, wie es besonders in der »Kornmumie« des Osiris zum Ausdruck kam. In die aus Lehm geformte und mit Leinenbinden umwickelte Mumie des Osiris wurden Gersten- und Weizenkörner gelegt. Wie jüngst nachgewiesen wurde, sprießten die Keimlinge dann aus der Mumie heraus (Sokiranski/Adrario 2003) und konnten für die Mysten somit zum sichtbaren Zeichen des neuen Lebens aus dem Toten werden (dazu Giebel 3 2003, 149-194; dies. 2004, 252 f.).

›Auferstehung‹ des Samenkorns Während die Riten der Mysterien eher von einer zyklischen Wiederkehr des neuen Lebens nach zwischenzeitlichem Tod ausgingen, findet sich die religiös übertragene Bedeutung des Keimvorgangs auch bei Auferstehungsvorstellungen, die ein Leben nach dem irdischen Tod verheißen. H. Braun hatte hierzu etwa auf den altpersischen Parsismus bzw. Mazdaismus, der Zarathustra-Religion, hingewiesen (H. Braun 2 1967, 141 f.). Nach dem Bundehesh 31 fragt Zarathustra den Ahura Mazda, wie die Wiederherstellung des 809

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Parabeln im Johannesevangelium

von den Elementen zerstörten Leichnams möglich sei. Ahura Mazda antwortet, dass die Gottheit ohne Stützen Neues zu schaffen vermag und bildet dabei eine Brücke zu Saat und Wachstum des Getreides. Ahura Mazda erwecke zu neuem Leben, ganz wie von ihm »das Getreide geschaffen ist, welches, nachdem es in die Erde gelegt ist, wieder hervorkommt und Wachstum erlangt.« Die Auferstehung des Leibes wird somit in Analogie zum Wachstum des Getreides, oder mit anderen Worten: zur Auferstehung des Getreides dargestellt. Auch innerhalb der rabbinischen Literatur wird mehrfach das Weizenkorn mit der Vorstellung von Auferstehung verknüpft. Im babylonischen Talmud ist etwa ein Dialog zwischen Rabbi Meir und Kleopatra überliefert, nach dem die Königin wissen will, ob man nach dem Tod mit oder ohne Kleider »wieder aufleben« wird. Der Rabbi antwortet: »Das ergibt die Schlussfolgerung aus dem Einfachen auf das Größere ausgehend vom Weizenkorn. Wenn das Weizenkorn, das nackt begraben wird, in so vielen Kleidern wieder aufwächst, um wie viel mehr gilt von den Gerechten, die in ihren Kleiden begraben werden, dass sie auch in ihren Kleidern wieder auferstehen werden.« (bSan 90b, vgl. bKet 111b mit Rab Chijja b. Joseph; PRE 33,17c mit R. Eliezer). Das Gleichnis steht insofern zu Joh 12,24 nahe, weil hier nicht nur die Aussaat in die Erde mit dem Begrabenwerden des Weizenkorns bzw. Wachstum und Auferstehung verglichen werden, sondern auch der Kontrast zwischen dem einfachen Weizenkorn und der vielfältigen Pflanze (noch nicht aber Frucht) zum Ausdruck kommt.

Glaubens-Frucht Zuletzt sei auf ein ganz anderes Bildfeld verwiesen, das allerdings ebenfalls im Hintergrund von Joh 12,24 stehen dürfte. Es ist die konventionalisierte Kopplung der Frucht mit religiösen Phänomenen, die sich bis in die deutsche Metapher der »Glaubensfrucht« fortgepflanzt hat. »Frucht« (karpƒ@ karpos) kann zunächst als Metapher allgemein für die Folge einer Handlung (Mi 7,13; Spr 1,31) oder speziell für den Ertrag der Arbeit (Spr 31,16.31) verwendet werden. Häufig wird dann die Frucht auch als Ziel und Ergebnis religiösen Handelns im weiteren Sinn verstanden, indem die Taten der Gerechtigkeit (Am 6,12) oder Gedanken (Jer 6,19) als Früchte bezeichnet werden. Ein schönes Bild malt der Psalmbeter vor Augen, indem er den Gläubigen mit einem Baum vergleich: »Er ist wie ein Baum, gepflanzt an Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und dessen Laub nicht verwelkt; alles, was er tut, gelingt ihm.« (Ps 1,3) Auch im zwischentestamentlichen Schriftum z. B. in der Apokalyptik (z. B. 1Hen 32,3-6) finden sich häufige Belege des Bildfeldes (dazu von Gemünden 1993, 94-101), wobei die Fülle der Frucht als Zeichen der Heilszeit interpretiert wird (3Bar 29,5; 1Hen 10,18 f.;26,5 f.; Sib III,619-623). Im Neuen Testament begegnet das Bildfeld im Kontext von Gerichtsworten (so z. B. in der Täuferpredigt Mt 3,8.10) oder bei Paulus im Zusammenhang von ethischen Ausführungen (Gal 5,22: Frucht des Geistes; Phil 1,11: Frucht der Gerechtigkeit) oder der Mission. So möchte Paulus zur röm. Gemeinde kommen, um »Frucht zu haben« wie unter den Heiden (Röm 1,3).

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Das Leben aus dem Tod Joh 12,24

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Christologisch-soteriologische Deutung (Tod Jesu) Die Parabel vom Weizenkorn bezieht die Vorstellung von Aussaat, Sterben und Fruchtbringen des Weizenkorns auf den Tod Jesu. So wird in bildlicher Rede eine Deutung dieses Todes gegeben, die bei einem authentischen Jesuswort (so Ensor 2002) prospektiv, beim vorausgesetzten Tod Jesu retrospektiv erfolgt. Der per se schwer fassbare Sinn des Todes Jesu soll für die Leser und Leserinnen in einem allgemein bekannten Bild aus der täglichen Erfahrung erschlossen werden (so auch Kaipuram 1993, 66 f.): Das Saatkorn stirbt, damit die neue Frucht wachsen kann. Dieser Erfahrungsbereich wird nun für eine religiöse Aussage nutzbar gemacht, es erfolgt also metaphorisch gesprochen eine Übertragung vom Sinnbereich der Vegetation auf den Tod Jesu, so dass eine religiöse Deutung entsteht. Fragen wir weiter, worin denn nun diese Sinnstiftung im Einzelnen liegt, dann bieten sich eine Reihe unterschiedlicher Details an: So ist zunächst die teleologische Ausrichtung des Todes zu nennen. Wie das Weizenkorn stirbt, um letztlich neue Frucht zu bringen, so ist auch der Kreuzestod Jesu nicht Selbstzweck, sondern dient einer höheren Zielrichtung. Zum Zweiten ist die Notwendigkeit des Todes zum Ausdruck gebracht. Nicht nur die konkrete Formulierung in negativen Bedingungssätzen (s. o.), auch die Belegung des Topos vom sterbenden Samenkorn in der Umfeldliteratur (z. B. Plut. frg. 104, s. o., anders von Gemünden 1993, 206) heben die Unausweichlichkeit des Vorgangs hervor. Das mit dem Verweis auf die ›Stunde‹ im Anschluss an die Gethsemane-Perikope (s. o.) oder dann in der Frage explizit formulierte ›Muss‹ (de… dei) der Kreuzigung bzw. Erhöhung (Joh 12,34), wird somit als natürliche Gesetzmäßigkeit nachvollziehbar. Im metaphorischen Kontext wird ferner die Paradoxie der Weizenkorn-Parabel aufgegriffen. Denn der Tod wird hier nicht als Durchlauf oder als Inkaufnahme mit Blick auf die künftige Auferstehung präsentiert. Es ist gerade die paradoxe Koinzidenz, das Ineinanderfallen des Gegensätzlichen, das hier zum Ausdruck gebracht ist. Der Tod selbst birgt das neue Leben, ist also Voraussetzung und bereits Anfang des Lebens, ist ›Leben aus dem Tod‹. So korrespondiert die Weizenkorn-Parabel ganz der paradoxen Aussage auf der Ebene der Raummetaphern, dass die tiefste Erniedrigung ›Erhöhung‹ genannt wird (s. o.). Die ›joh Kreuzestheologie‹ führt dabei in ihren paradoxen Strukturen – ganz analog zu Paulus in 1Kor – zu einer Umwertung aller Wertungen. Das Weizenkornwort ist folglich nicht einfach ein »Auferstehungsbild« (von Gemünden 1993, 204). Allerdings kann der Fernhorizont der Auferstehung für die Erstleser und -leserinnen vermutlich schon aus der Bildfeld-Tradition eingebracht werden. Denn auch hier wird das Wachstum des Samenkorns als ›Auferstehungszeugnis‹ betrachtet (s. o.). Ferner darf man die joh Vorstellung der Neuschöpfung bei der Auferstehung Jesu, wie sie in der Gartensymbolik oder beim Einhauchen des Geistes durch den Auferstandenen (Joh 20,22) benannt wird (dazu R. Zimmermann 2004a, 154-163), wohl auch in Joh 12,24 f. eintragen. Vor allem weist das metaphorisch parallelisierte »ewige Leben« (V. 25) oder die Erhöhung »aus der Erde« (V. 32) sowie das Bild der Frucht über die bloße Überwindung oder Umwertung des Todes im Kreuz hinaus. Der Tod Jesu erfüllt eine Funktion für andere, wird mit soteriologischem, heilschaffendem Sinn angereichert. Eine konkrete Sinnzuschreibung dieses Heils wir im Folgenden erläutert. 811

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Parabeln im Johannesevangelium

Ekklesiologisch-missionarische Deutung (Heiden) Die vielfältige Frucht des Weizenkorns, verbunden mit der Aussage, dass Jesus bei der Erhöhung »alle« zu sich ziehen werde (Joh 12,32), kann dahingehend gedeutet werden, dass der Tod Jesu sein Ziel insbesondere in der Neukonstitution der Jüngergemeinschaft oder sogar in der Mission entfaltet (so auch Rodríguez Ruiz 1987, 189 f.; ebenso Frey 1994, 260 u. a.). Unterstützend kann hierbei auf ein missionarisches Verständnis der Frucht-Metapher (Röm 1,3) oder speziell auf die sachverwandten Parabeln vom Sämann (Mk 4,3-20) oder vom Senfkorn (Mk 4,30-32) verwiesen werden, in denen Saat und Wachstum ebenfalls auf die missionarische Wirkung des Wortes bzw. der Botschaft vom Reich Gottes bezogen werden. Doch so selbstverständlich, wie Schnackenburg konstatiert (»Jesu Tod ist notwendig, um reiche Missionsfrucht einzubringen.« Schnackenburg II 4 1985, 480) ist der Zusammenhang nicht, denn dass das Wort eine werbende Kraft hat, mag einleuchten, aber gilt Entsprechendes auch vom Tod? Man wird deshalb zunächst die Frucht-Metaphorik von Joh 12,24 in den Horizont des gesamten Evangeliums einordnen müssen. Dabei kann man feststellen, dass eine enge, sogar sprachliche Verbindung zur Weinstock-Rede (Joh 15,1-8.16) besteht, wo ebenso die Formulierung karpŠn polÐn fffrein (karpon polyn pherein – reiche Frucht bringen; Joh 15,5, vgl. Joh 12,24c) benutzt wird. Von der Frucht ist ferner in der Parabel von Joh 4,35-38 (insbesondere V. 36, dazu die Auslegung) die Rede. Während in Joh 15 das Diktum von der Lebenshingabe (Joh 15,13) einen engen Bezug zu Joh 12,24 f. schafft, steht Joh 4,36 im Horizont der ›Samaritanermission‹. Entsprechend kann man folgern, dass bei der Frucht-Metaphorik bei Joh zumindest partiell sowohl an den Tod Jesu als auch an die Weitergabe des Evangeliums gedacht werden kann (vgl. auch Joh 15,16). In Joh 12,24 f. werden beide Stränge zusammengeführt, so dass man hier von einer missionarischen Dimension des Todes sprechen könnte (mit Berger 2003b, 48). Doch wer soll hier missioniert werden? An wen richtet sich die Botschaft? Lenken wir den Blick auf den weiteren kontextuellen narrativen Rahmen des Weizenkorn-Wortes (dazu Busse 2002, 196-200): Die Erzähleinheit beginnt mit Joh 12,20, wo von »Griechen« (4Ellhne@ Helle¯nes) die Rede ist, die zum Passafest nach Jerusalem hinaufgestiegen waren, um auf dem Fest anzubeten. Diese Griechen, gemeint sind auf der Ebene der erzählten Welt wohl gottesfürchtige Heiden (vgl. Joh 7,35), wollen Jesus »sehen« (V. 21), was sie über Philippus und Andreas an ihn herantragen (Joh 12,21 f.). Offenbar ohne auf diesen Wunsch näher einzugehen, hält Jesus eine Rede (Joh 12,23-32), die nur kurz durch die Himmelsstimme unterbrochen wird (Joh 12,28b.29). Im Herzen dieser Rede findet sich die Parabel vom ›sterbenden Weizenkorn‹, das folglich zumindest indirekt auch an die zuvor eingeführten Griechen adressiert sein dürfte. Die explizite Nennung der Griechen ist für Joh gewiss kein Zufall. Die Griechen sind auf der Ebene der Erzählwelt gerade die »Repräsentanten des kƒsmo@, soweit er zum Glauben an Gott kommt, Vertreter der zum Glauben kommenden Heidenwelt« (Frey 1994, 255; anders Draper 2000, der mit einer targum. Lesart von Jes 6,13 eher an die Diaspora-Juden denkt). Die Rede Jesu bietet auch inhaltlich eine Brücke zur griechischen Welt. Die Bildfeldtradition hat dabei deutlich gemacht, dass es in Joh 12,24 um weit mehr als um eine niederschwellige, an menschliche Grunderfahrungen anknüpfende Botschaft geht. Das Weizenkorn greift unmittelbar ein Kernsymbol der Mysterienkulte 812

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Das Leben aus dem Tod Joh 12,24

auf. Man wird kaum so weit gehen dürfen, das ›Suchen‹ der Griechen mit dem Suchen nach dem neuen Leben durch Demeter oder Isis zu identifizieren. Deutlicher ist hingegen der explizit formulierte Wunsch Jesus zu »sehen«, denn bei den Mysterienkulten geht es gerade um eine Schau. Höhepunkt der Liturgie ist z. B. das Sehen der Persephone, was die Mysten zu »Epopten« (Schauende) macht (Giebel 2004, 250). Dieses Sehen wird ihnen zwar im eigentlichen Sinn verwehrt, aber die Botschaft des Jesus-Weizenkorns führt zu einer vertieften Einsicht: Nicht der Mysterienkult, sondern der Tod Jesu erwirkt die Bewahrung des Lebens in Ewigkeit. Diese Botschaft gilt es besonders in der heidnischen Welt zu verkündigen. Für M. Ebner ist Joh 12,24-26 deshalb »als spirituelles Angebot insbesondere für all jene formuliert, die offen sind für Mysterienkulte« (Ebner 2004, 95). Nach Joh 7,35 waren es – so wird es mit joh Ironie formuliert – ausgerechnet die missverstehenden Jerusalemer, die die künftige Wirkung Jesu in der Heidenwelt ankündigen (Frey 1994, 251-253; Beutler 1990, 333-347). Nun kommt es zwar in der angeführten Szene Joh 12,20-36, die Schenke zu Recht mit »Jesu letzter Aufruf in der Öffentlichkeit« überschreibt (L. Schenke 1998, 241), noch nicht zu einer direkten Begegnung, aber doch zu einer indirekten. Und gerade das ist intendiert. Die für den Lesenden befremdlich wirkende Informationsweitergabe von einem Jünger auf den anderen entspricht ganz dem Erzählmodus joh Jüngerberufung (vgl. Joh 1,35-51). Entsprechend soll die Rede Jesu nun durch Jüngervermittlung an die Griechen weitergegeben werden. Dabei dürfte eine Nuance der Bildebene nicht unbedeutend sein. Während in den Mysterienkulten im Keimvorgang bzw. Aufwachsen schon die Durchbrechung des Todes sichtbar wird, weist das Weizenkornwort explizit auf die Frucht. Dabei wird in der Parabel mit Zeitraffer gearbeitet, denn zwischen dem Sterben des Weizenkorns und dem Fruchtbringen liegt eine beträchtliche Zeitspanne. Zeit, die – so könnte man die Pragmatik des Kontextes deuten – als Zeit der werbenden Mission von den Jüngern in der heidnischen Welt ausgefüllt werden soll. Auf der Ebene der Evangelienkommunikation ist das Christusbild vom ›sterbenden Weizenkorn‹ somit Teil der christologischen Verstehensstrategie für heidnische Adressaten. Das Geschenk des Lebens gilt allen, Juden wie Griechen (mit Theobald 2002, 129).

Asketisch-märtyriologische Deutung Zuletzt sei auf eine weitere Deutungsmöglichkeit hingewiesen, die noch einen anderen Akzent setzt: Die Frucht des Weizenkorns muss nicht notwendig auf eine kollektive Größe bezogen werden. Besonders das beigefügte Logion vom Lebensverlust bzw. -gewinn wurde aufgrund seiner Formulierung im Singular (V. 25a: der sein Leben Liebende … wird sein Leben bewahren) individualistisch gedeutet (so Ebner 2004, 93 f.) Die Vorstellung von der Lebenshingabe für andere oder für eine Sache ist nicht auf das Christusereignis begrenzt. Bereits im Alten Testament (Janowski 2005) und Frühjudentum finden sich derartige Vorstellungen bis hin zur jüdischen Martyriumsvorstellung (vgl. die Textsammlung bei van Henten/Avemarie 2002). Innerhalb der griech. Tradition ist hier vor allem an das stoische Konzept des »guten Todes« oder spezifisch dann an das Motiv des »Sterbens für die Freunde« zu denken, das auch für das JohEv eine Rolle spielt (vgl. Joh 15,13, vgl. Scholtissek 2004a). Nach diesem Verständnis wird Joh 12,24 von dem vermutlich primären Vers 25 her gelesen. Das Wort vom paradoxen Lebensgewinn 813

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Parabeln im Johannesevangelium

(aus Mk 8,35par.; so Theobald 2002, 400) wurde nachträglich mit Leben und Sterben des Weizenkorns verknüpft. Wer sein Leben zu bewahren sucht, verliert es, wer es aber hingibt, wird es retten, so lautete der Sinn des ursprünglichen Satzes, der vermutlich einen Topos aus der Mahnrede, der cohortatio des Feldherrn aufgreift (Theobald 2002, 97-129; Ebner 2004, 81). Lebensverzicht, hier sogar drastisch mit »Lebenshass« zum Ausdruck gebracht, kann paradoxerweise zum Lebensgewinn führen. Doch eine gänzlich unchristologische Lesart müsste Joh 12,24 f. aus dem Kontext isolieren (s. o.). Mehr im johanneischen Sinn dürfte es sein, doch von Joh 12,24 her zu denken und in der Lebenshingabe des Einzelnen eine imitatio Christi zu erkennen. Das Fruchtbringen besteht dann darin, dass Jesus Nachfolger findet, die seinem Beispiel des Sterbens für andere folgen (vgl. Joh 15,13). Besonders in einer Märtyrer-Theologie der frühen Kirche hat der Vers dann in dieser Weise eine Rolle gespielt (vgl. IgnRöm 4,1, s. u.) und es wurde sogar zu einer stehenden Überzeugung, dass die Märtyrer »Same« der Kirche seien (Becker 3 1991b, 400). So fremd diese Deutungsvariante auf den ersten Blick für die heutigen Leser/innen erscheinen mag, führen gerade neue Formen von Sexual-, Nahrungs- oder Arbeits-Askese ihren bleibenden Wahrheitsgehalt vor Augen. Nicht immer das ›Mehr‹ und die ›Fülle‹, sondern gerade auch das ›Weniger‹ und die ›Halbheiten‹ können zu Lebensgewinn führen. So hatte etwa auch Goethe diese Paradoxie des Lebensgewinns durchs Lebensverzicht in seinem Gedicht »Selige Sehnsucht« (Goethe, Westöstlicher Divan) aufgegriffen und in die sprachbildende Formel »Stirb und werde!« gegossen. Die hierbei völlig vom Christus-Vorbild abgelöste individualistische Maxime führt zugleich die Gefahr einer einseitig verkürzten Deutung von Joh 12,24 f. vor Augen. Die unterschiedlichen Deutungsansätze können freilich auch zusammengezogen werden. Die heilschaffende Bedeutung des Todes Jesu hat für die Gemeinde eine konstitutive Funktion und ist besonders auch auf die Einbeziehung der Heiden ausgerichtet. Die Lebenshingabe Jesu wird dann aber wie sonst im Evangelium (z. B. Joh 15,12-14) zum Modell für die Jünger/innen, was etwa in einer akuten Verfolgungssituation besonders an Relevanz gewinnt.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Wie nahe liegend und einleuchtend der Vergleich aus dem landwirtschaftlichen Erfahrungsbereich als Sinnbild für Tod und Auferstehung ist, wird daran deutlich, dass der Motivkreis wie auch das Wort in Joh 12,24 in unterschiedlichen Zusammenhängen im urchristlichen Schrifttum begegnen. So findet sich ein ähnliches Wort bei Paulus im Rahmen seiner Ausführungen zur Auferstehung in 1Kor 15,35-49 (dazu Riesenfeld 1961). Eine wechselseitige Beeinflussung zwischen 1Kor 15 und Joh 12 scheint mir allerdings nicht textlich nachweisbar, da Paulus das Bild für die Auferstehung der Christen fruchtbar macht und keinen christologischen Bezug herstellt. Möglicherweise beziehen sich Paulus und Joh unabhängig voneinander auf ein geprägtes Weisheitswort, das nach Paulus in 1Kor 15,36 so lautet: s± ˚ spefflrei@, o' z†wopoie…tai ¥Þn m¼ ⁄poq€n–h (sy ho speireis, ou zo¯opoieitai ean me¯ apothane¯ – was du säst, wird nicht lebendig, wenn es nicht stirbt). Eine mögliche Applikation des joh Wortes stellt hingegen eine Ausführung des 814

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Das Leben aus dem Tod Joh 12,24

Ignatius v. Antiochien in seinem Brief an die Römer dar, in der er sein anstehendes Martyrium mit dem Bild des Weizens verknüpft: Lasst mich der Fraß der wilden Tiere sein, durch die es möglich ist, zu Gott zu gelangen. Gottes Weizen bin ich (s…tƒ@ e§mi qeo‰ sitos eimi theou) und durch der wilden Tiere Zähne werde ich gemahlen, damit ich als reines Brot des Christus gefunden werde. (IgnRöm 4,1)

Auch in 1Clem greift der Verfasser auf Joh 12,24 zurück, als er über die künftige Auferstehung der Christen spricht: (4) (…) Wie und auf welche Weise geschieht die Saat? (5) Der Sämann ging aus und warf auf die Erde jedes der Samenkörner (Àkaston t¾n sperm€twn hekaston to¯n spermato¯n); diese fallen auf die Erde trocken und nackt und lösen sich auf (dialÐetai dialuetai). Danach lässt die machtvolle Fürsorge des Herrn sie aus der Auflösung auferstehen, und aus dem einen erwachsen viele und bringen Frucht. (1Clem 24,4 f.)

Die Auferstehung der Christen wird hierbei mit einer Synthese der unterschiedlichen Saat-Bilder des Sämann-Gleichnisses aus Mk 4, des Worts aus 1Kor 15 und Joh 12 erläutert. Vor allem Formulierungen am Ende deuten auf Joh 12,24 f. hin, denn der Kontrast zwischen dem »Einen« und den »Vielen« ist charakteristisch für die joh Fassung. Zuletzt sei auf eine Weizenkorn-Parabel aus dem Jakobusbrief des ersten Nag Hammadi-Kodex (EpJac NHC I p. 8,10-27) verwiesen (vgl. die Auslegung zur Stelle). Das Weizenkorn wird hierbei mit dem Wort verglichen, das gesät wird und neues Leben bringt. Obgleich auch hier – ähnlich wie in Joh 12,24 – von der Liebe und dem Kontrast zwischen dem einen und den vielen die Rede ist, zeigen sich gravierende Unterschiede: So geht es nicht um die Liebe zum eigenen Leben (wie in Joh 12,25), sondern um die Liebe zum Weizenkorn (»liebte er es, weil er viele Körner anstelle des einen sah«), vor allem fehlt aber der entscheidende Aspekt des Sterbens, der in EpJac mit keiner Silbe erwähnt wird. Die weitere Wirkungsgeschichte der joh Weizenkorn-Parabel ist reich, wobei Theobald die archetypische Kraft und Ästhetik dafür verantwortlich macht, dass sich Joh 12,24 »dem religiösen Gedächtnis der Christenheit auch ganz besonders nachhaltig eingeprägt hat« (Theobald 2002, 393). Selbst außerhalb der Kirche hat das Wort seine Wirkung entfaltet. Ein markantes wirkungsgeschichtliches Zeugnis besteht etwa darin, dass Dostojewski die Weizenkornparabel seinem Roman »Die Brüder Karamasow« als Motto vorangestellt hat. Dass ein Verständnis von Tod und Leben Jesu über die Wahrnehmung natürlicher Abläufe erwirkt werden kann, ist auch heute noch einsichtig. So ist das Weizenkornwort – wie damals für die Griechen – auch heute für Menschen, die mit theologischen Deutungsrastern der Tradition wie z. B. Sühne oder Opfer ihre Mühe haben, eine Möglichkeit, Sinn und Notwendigkeit des Todes Jesu besser zu verstehen. Dass dies sogar bereits im Kindergartenalter möglich ist, konnte jüngst durch eine Studie belegt werden (R. Zimmermann 2006b). So erklärt sich auch die Beliebtheit des Passionsliedes von Jürgen Henkys (Text): Korn, das in die Erde, in den Tod versinkt, Keim, der aus dem Acker in den Morgen dringt. 815

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Parabeln im Johannesevangelium

Liebe lebt auf, die längst erstorben schien: Liebe wächst wie Weizen, und ihr Halm ist grün. (EG 98,1)

Ruben Zimmermann

Literatur zum Weiterlesen H. Braun, Das »Stirb und Werde« in der Antike und im NT, in: ders., Gesammelte Studien zum Neuen Testament und seiner Umwelt, 2 1967, 136-158. J. Draper, Holy seed and the return of the diaspora in John 12:24, Neotestamentica 34 (2000) 347-359. M. Ebner, Überwindung eines »tödlichen« Lebens. Paradoxien zu Leben und Tod in den Jesusüberlieferungen, JBTh 19 (2004) 79-100. P. W. Ensor, The authenticity of John 12.24, EvQ 74,2 (2002), 99-107. M. Giebel, Weizenkorn und Weinstock. Todesüberwindung in antiken Mysterienkulten, JBTh 19 (2004), 245-257. P. von Gemünden, Vegetationsmetaphorik im Neuen Testament und seiner Umwelt, NTOA 18, Göttingen/Freiburg (Schweiz) 1993, 204-209. S. Kaipuram, Paroimiai in the Fourth Gospel and the Johannine Parables of Jesus’ Self-Revelation. With Special Reference to John 12,24: The Grain of Wheat, Rom 1993. A. Leinhäupl-Wilke, ›Die Stunde des Menschensohns‹ (Joh 12,23). Anmerkungen zur ›heimlichen Mitte‹ des Johannesevangeliums, in: M. Fassnacht u. a. (Hg.), Die Weisheit – Ursprünge und Rezeption. FS K. Löning, NTA.NF 44, Münster 2003, 185-210. M. Theobald, Herrenworte im Johannesevangelium, HBS 34, Freiburg i. Br. u. a. 2002, 393-401. R. Zimmermann, Jesus als Brot (Joh 6,35.48) und Weizenkorn (Joh 12,24). Wie Kindergartenkinder Christologie ›bilden‹, in: G. Büttner/M. Schreiner (Hg.): »Man hat immer ein Stück Gott in sich.« Mit Kindern biblische Geschichten deuten. Teil 2: Neues Testament, Stuttgart 2006, 122-138.

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