Das Interview als Performancekunst von Dr. Pascal Decker1 und Prof. Dr. Wolfgang Ullrich2 I. Einleitung Seit jeher ist das Verhältnis von Kunst und Strafrecht spannungsgeladen. Die Kunstfreiheitsgarantie soll dem Künstler eine möglichst staatsfreie und sanktionslose Entfaltung seiner Kreativität ermöglichen. Im Kontrast dazu stehen unter anderem strafrechtliche Bestimmungen (zum Beispiel §§ 86, 86a, 90a, 166 StGB), welche die Freiheit der Kunst tangieren können. Daher ist eine kontinuierliche Abgrenzung dieser Rechtssphären notwendig, die sowohl der Intention des Strafrechts als auch der Weiterentwicklung künstlerischer Darstellungsformen gerecht wird. In diesem Spannungsverhältnis darf insbesondere der Einfluss innovativer Kunstformen nicht verkannt werden. Dieser kontextuelle Zusammenhang kann wohl nur in der interdisziplinären Auseinandersetzung zwischen Kunst- und Rechtswissenschaft zu adäquaten Ergebnissen führen. Somit scheint eine metajuristische Auseinandersetzung mit dem Kunstbegriff unumgänglich zu sein. 3 II. Exemplarisch: Das Künstlerinterview Die Entwicklung von Kriterien, welche bestimmen, wann ein Werk Kunst ist und wann es sich um eine alltägliche Darstellung handelt, die lediglich den Schutz der Kunstfreiheit für sich beanspruchen will, ist ein hoch interessanter Forschungsgegenstand. Im vergangenen Jahr wurde dies besonders im Zusammenhang mit der Strafsache gegen den Künstler Jonathan Meese relevant. Meese hatte während eines Interviews, das zwei Redakteurinnen des Magazins „Der Spiegel“ im Vorfeld der Documenta 13 mit ihm vor einem studentischen Publikum in Kassel führten, wiederholt den rechten Arm zum sogenannten Hitlergruß erhoben. Darin sah die Staatsanwaltschaft Kassel einen Verstoß gegen § 86 a StGB. Ein Tatbestandsausschluss der Handlungen Meeses nach § 86 a Abs. 3 StGB in Verbindung mit § 86 Abs. 3 StGB, da diese der Kunst gedient hätten, kam nach Ansicht der Staatsanwaltschaft nicht in Betracht, weil ein Interview keine Kunst sein könne. Zwar wurde Meese durch das Amtsgericht Kassel vom Strafvorwurf freigesprochen – das Amtsgericht unterstellte die Interviewsituation dem Schutzbereich der Kunst gemäß Artikel 5 Abs. 3 GG. 4 Dennoch scheint die Frage, ob und wann das Interview eines Künstlers als Kunst gelten kann, weiter offen. 5 Dieser Artikel soll dazu dienen, die Möglichkeiten und Grenzen für eine Einordnung des Interviews als Kunstform interdisziplinär näher zu bestimmen. III. Allgemeines Definitionsverbot? Denkbar wäre es, dem Staat die Kompetenz zur Definition von Kunst grundsätzlich abzusprechen.6 Damit der Staat seinen objektiven Auftrag, Kunst zu schützen, erfüllen kann, ist 1

Rechtsanwalt und Partner der Sozietät dtb rechtsanwälte; der Autor bedankt sich bei Stud. iur. Maximilian Ilgner und Stud. iur. Moritz Wargalla für die Mitarbeit an diesem Beitrag. 2 Professor für Kunstwissenschaft und Medienphilosophie an der HfG Karlsruhe. 3 Eingehend: Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht – Zur Problematik satirischer Ehrverletzungen, Heidelberg 1989, S. 52 ff. 4 AG Kassel, NJW 2014, S. 801 ff.. 5 So äußerte Scheffler in einem Interview mit der Zeitschrift „Monopol“, es falle ihm schwer, eine Interviewsituation als eine künstlerische Performance einzuordnen, vgl. http://www.monopol-magazin.de/artikel/20107677/-Kunstund-Strafrecht-Viadrina-Frankfurt.html. 6 So etwa Knies, Schranken der Kunstfreiheit, 1967, S. 214 ff.

es allerdings erforderlich, Kunst von „Nicht-Kunst“ zu unterscheiden7. Es ergibt sich mithin im Gegenteil ein verfassungsrechtliches Definitionsgebot 8 , das Voraussetzung für die „praktische Realisierbarkeit der Kunstfreiheitsgarantie“9 und einen effektiven Grundrechtsschutz durch die Gerichte10 darstellt. Begrenzt wird dieses Gebot hingegen dadurch, dass der Staat keine Inhaltskontrolle vornehmen darf, um so zwischen guter und schlechter Kunst zu differenzieren. 11 IV. Verfassungsrechtlicher und strafrechtlicher Kunstbegriff Sicherlich ist es zunächst notwendig, grundsätzlich das Verhältnis von verfassungsrechtlichem und strafrechtlichem Kunstbegriff zu klären. Festzustellen ist, dass sich der strafrechtliche Kunstbegriff an den verfassungsrechtlichen Vorgaben zu orientieren hat. Dies ergibt sich schon aus der Verfassungsbindung der Exekutive, Legislative und Judikative gem. Art. 1 Abs. 3 GG. Das Schutzniveau darf im Strafrecht somit nicht geringer sein als im Verfassungsrecht. In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass jedes letztinstanzliche Urteil eines Strafgerichts im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a BVerfGG i.V.m. §§ 90 ff. BVerfGG) vollumfänglich auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüfbar ist. 12 Denkbar wäre allerdings, über das Verfassungsrecht hinaus, der Kunst im Strafrecht ein höheres Schutzniveau zukommen zu lassen. Dem Gesetzgeber steht im Rahmen seines Gestaltungsspielraums, der durch die Rechtsprechung des BVerfG konkretisiert und begrenzt wird, eine Ausgestaltung unbestimmter Rechtsbegriffe zu. Allein in der Abwägung zwischen Kunstfreiheit und einem Rechtsgut, das keinen Verfassungsrang genießt, wäre aber eine abweichende Definition im Strafrecht möglich. Praktische Relevanz dürfte dies allerdings nicht haben, da die Abwägung zwischen zwei Rechtsgütern von Verfassungsrang im Strafprozess eher Regel als Ausnahme ist und somit letztendlich wieder der Maßstab des Bundesverfassungsgerichts gelten würde. Mithin ist allein der verfassungsrechtliche Kunstbegriff im Strafrecht relevant. V. Verfassungsrechtlicher Kunstbegriff Der Versuch einer allgemeinen Definition des Kunstbegriffs gestaltet sich in der Jurisprudenz enorm schwierig und gleicht dem schildbürgerlichen Versuch, Sonnenlicht unter Zuhilfenahme einer Mausefalle einzufangen. 13 Für die rechtspraktische Anwendung ist eine erläuternde Begriffsbestimmung jedoch unumgänglich, so dass vom Bundesverfassungsgericht drei Kunstbegriffe parallel verwendet werden, um dem im Grundgesetz verorteten staatlichen Schutzauftrag gerecht zu werden. 1. Materieller Kunstbegriff Der materielle Kunstbegriff versteht Kunst als die „freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formsprache zur unmittelbaren Anschauung gebracht werden“ 14. Kunst ist somit Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers. Wendt/v. Münch/Kunig, Grundgesetz Kommentar, Band 1, 6. Auflage 2012, Art. 5 Rn. 89. Starck/v. Mangold/Klein/Stark, GG Kommentar, Band 1, 6. Auflage 2010, Art. 5 Abs. 3 Rn. 298. 9 Erbel, DVBl 1969, 864. 10 BVerfGE 67, 213 (224 f.) – Anachronistischer Zug; 75, 369 (377) – Strauß-Karikatur. 11 Henschel, NJW 1990, 1937 (1939). 12 Pieroth/Jarass/Pieroth, GG Kommentar, 12. Auflage 2012, Art. 93 Rn. 50, 57 ff. 13 Siehe dazu: Wie die Schildbürger ratseinig wurden, ein neues Rathaus zu bauen und was sich damit begeben hat , in: Dorenwell (Hrsg.), Schwank und Scherz für Haus und Herz, Reutlingen 1923; in Anlehnung an: Rosendorfer, Buchbesprechung von Peter Häberle, Das Grundgesetz der Literaten, JZ 1985, 176 (177). 14 BVerfGE 30, 173 (188 ff.) – Mephisto. 7 8

Um diese Persönlichkeit und ihren Wirkbereich zu schützen oder umso mehr als etwas Geheimnisvolles in Szene zu setzen, liefern Künstler, die oft demselben materiellen Kunstbegriff folgen, in Interviews kaum einmal die erwünschte Klärung. Vielmehr gehen sie im Allgemeinen sehr reflektiert mit dieser Äußerungsform um, ja von Beginn an haben sie Interviews häufig dazu genutzt, um be- und verfremdend zu wirken. Es gab zahlreiche Verweigerungsgesten (z.B. antwortete Ad Reinhardt in einem Interview 1965 auf jede Frage pauschal mit „Yes“), Formen der Übertreibung, gezielte Falschaussagen, originelle Reaktionsformen. Der Fotokünstler Hans Peter Feldmann hat z.B. 1972 auf Fragen in einem Interview nicht mit Worten, sondern mit dem Zeigen von Bildern geantwortet. Und Sigmar Polke steht unter Künstlern alles andere als allein, wenn er 1984 seinerseits in einem Interview bemerkte: „Ein Interview ist dann gut, wenn es innerhalb des Interviews eine eigene Logik gibt, wenn das Interview eine Kunstform wird.“15 Schon 1964 hat derselbe Sigmar Polke ein fiktives Interview zwischen seinem Künstlerkollegen Gerhard Richter und dem Kunstkritiker Anthony Twaites verfasst, das wegen der unüblichen Brisanz seiner Fragen und Antworten berühmt wurde (z.B.: „Glauben Sie an Gott? Ja, ich glaube an mich, ich bin der Größte, ich bin der Allergrößte!“).16 Vor allem aber macht es deutlich, welche Phantasien – Wünsche nach Radikalität und Provokation – die Gattung ‚Interview‘ bei Künstlern wecken kann. Sie hadern daher nicht selten mit den harmlos-konventionellen Fragen von Interviewern und versuchen, beim Redigieren der Interviews noch Zuspitzungen vorzunehmen. Beispielsweise im Fall von Gerhard Richter haben die veröffentlichten Interview-Texte nur wenig zu tun mit dem faktischen Gesprächsverlauf – in der Überarbeitung wird das Interview zu einem gänzlich artifiziellen Gebilde. 17 In jedem Fall ist zudem die persönliche Einstellung des Interviewers entscheidend. 18 Diese Einstellung hat Einfluss darauf, welche Fragen in welcher Art und Weise gestellt werden. Das Interview ist kein simples Gespräch 19 , sondern Produkt eines einmaligen Kommunikationsprozesses zwischen Fragesteller und Interviewtem. Festzustellen ist zudem, dass bei abgedruckten Interviews Fragensteller und Antwortender im Prozess des Redigierens ihre Eindrücke, Erfahrungen und Erlebnisse in der Formsprache des Frage-Antwort-Spiels zur unmittelbaren Anschauung bringen. Es hat somit eher literarisch-performativen als informativen Wert. 2. Formaler Kunstbegriff Nach dem formalen Kunstbegriff ist für die Klassifizierung eines Werkes als Kunst die Möglichkeit einer Gattungszuordnung notwendig.20 Problematisch könnte dieses Verständnis von Kunst allerdings dadurch sein, dass Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG die Kunst eher als materiellen und nicht als formalen Wert versteht 21 . Eine streng formale Anwendung und Auslegung des Kunstbegriffs könnte in der Folge schnell zu einem staatlichen Kunstrichtertum führen; ein Umstand, der gerade durch die schrankenfreie Garantie der Kunstfreiheit vermieden werden Diers, Infinite Conversation, oder: Das Interview als schöne Kunst betrachtet, in: Blunck/Diers/Obrist (H rsgg.), Das Interview. Formen und Foren des Künstlergesprächs, Hamburg 2013, S. 44. 16 Polke, Interview zwischen Anthony Twaites und Gerhard Richter (1964), in: Richter, Text, Frankfurt/Main 1993, S. 23. 17 Vgl. Gelshorn, Der Künstler spricht – Vom Umgang mit den Texten Gerhard Richters, in: Gelshorn (Hrsg.), Legitimationen. Künstlerinnen und Künstler als Autoritäten der Gegenwartskunst, Bern 2004, S. 127 ff. 18 So auch Schwarzer, in: Haas (Hrsg.), Alice Schwarzer, Journalistin aus Passion – Von der Volontärin zur Blattmacherin, S. 79. 19 So auch Obrist, Ad usum – Idee, Funktion und Kritik des Künstlerinterviews, in: Blunck/Diers/Obrist (Hrsgg.), Interview, S. 302. 20 BVerfGE 67, 213 (227) – Anachronistischer Zug; Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte, Staatsrecht II, 29. Auflage, Heidelberg 2013, Rn. 660. 21 Vgl. Scholz/Maunz/Düring, GG Band I, 69. Ergl. 2013, Art 5 Abs. 3 Rn. 24. 15

soll. 22 Es ist daher notwendig den Kunstbegriff bezüglich seiner Formgebung und Formensprache möglichst weit zu fassen. Man könnte Kunst somit als „jeden schöpferischen individuellen Akt sinnlicher anschaulicher Formgebung begreifen, der der objektivierte Ausdruck eines persönlichen Erlebnisses seines Schöpfers und auf kommunikative Sinnvermittlung nach außen gerichtet ist“ 23 . Bei der Abgrenzung von Kunst zu „Nicht-Kunst“ sollte aber auf womöglich formell unbestimmbare beziehungsweise formfreie künstlerische Ausdrucksweisen Rücksicht genommen werden.24 Trotz der oben geschilderten Problematik ist ein Werk aber in jedem Fall dann als Kunst zu klassifizieren, wenn es sich einer in der Kunstwissenschaft etablierten Ausdrucksform bedient: Heutzutage sind Interviews spartenübergreifend – von der Kunst bis zum Sport – ein so gängiges Format in allen Medien, dass darüber manchmal vergessen wird, wie relativ jung es noch ist. Interviews, so könnte man sagen, gehören zu den großen Erfindungen des 20. Jahrhunderts. Zwar gab es auch vorher schon zahlreiche mündliche Äußerungen berühmter Persönlichkeiten, doch wurden sie entweder ganz isoliert – als Sentenzen – oder eingebettet in Berichte, Geschichten, Deutungen publik. Von einem Goethe gibt es keine Interviews, aber die Aufzeichnungen Eckermanns. Dass ein ganzer Gesprächsverlauf aufgezeichnet und wiedergegeben wird und dass das Gespräch dabei das Ziel verfolgt, von einer berühmten Person möglichst viele interessante, originelle, markante Aussagen zu erhalten, besitzt also keinerlei Tradition in der Kulturgeschichte. Wann und von wem das erste Interview geführt und veröffentlicht wurde, ist unerforscht. Mit dem Boom des Journalismus im 19. Jahrhundert wird es zuerst üblich, berühmten Persönlichkeiten Fragen zu stellen. Doch ist man noch weit entfernt davon, diese sowie die Antworten abzudrucken. Vielmehr reduzierte man das Gespräch auf wenige zentrale Aussagen. So gerade auch im Bereich der bildenden Kunst, wo es seit Mitte des 19. Jahrhunderts zwar beliebt war, Künstler in ihrem Atelier zu besuchen und Interviews mit ihnen zu führen, wobei „in der nachfolgenden schriftlichen Berichterstattung […] diese nicht als solche dargestellt“ wurden. 25 So beschreibt es Christoph Lichtin, der 2004 das erste Standardwerk zum Künstlerinterview publizierte. Weiter zeigt er auf, dass auch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Äußerungen von Künstlern nahezu immer innerhalb von Reportagen zitiert wurden. Dass gerade die Aussagen von Künstlern auf großes Interesse stießen, liegt an dem damals stark werdenden expressionistischen Verständnis vom Künstlertum (das übrigens bis heute noch die Basis des materiellen Kunstbegriffs bildet!). Demzufolge drückt sich in dem, was ein Künstler macht, eine besondere Emotionalität, ein besonderes Weltverhältnis, eine besondere Haltung aus: etwas, das sich von anderen Menschen deutlich unterscheidet und allein deshalb von gesteigertem Interesse ist. Anders als für frühere Epochen zeichnet sich ein Künstler also nicht durch spezifisches Wissen oder technische Fertigkeiten aus, sondern weil er stärker, intensiver, reiner, wahrer, ursprünglicher etc. erlebt als andere Menschen. Doch nur da, wo der Künstler sich direkt ausdrückt, ist das Besondere an ihm – dieser Vorstellung zufolge – auch erfahrbar. Dies betrifft nicht nur sein Werk, sondern alles, was er tut, also auch seine sprachlichen Mitteilungen. Diese Auffassung wiederum verdankt sich der schon viel älteren Vorstellung, wonach Künstlertum eine Berufung – eine Form von Gnade – sei, also mehr als ein Beruf, nämlich etwas, das der Betreffende nicht aufgeben oder ablegen könnte, ja das ihn ganz und nicht nur in einer Dimension seines Lebens betrifft. Daher ist ein Künstler nicht nur Künstler, wenn er ein Bild malt, sondern auch in der Weise seiner Lebensführung oder eben in dem, was er sagt. Siehe dazu II. Scholz/Maunz/Düring, GG Band I, 69. Ergl. 2013, Art 5 Abs. 3 Rn. 29. 24 Hufen, Freiheit der Kunst, Baden-Baden 1982, S. 119. 25 Lichtin, Das Künstlerinterview. Analyse eines Kunstprodukts, Bern 2004, S. 17. 22 23

Liefert die Verkoppelung des Berufungsmythos mit einem expressionistischen Künstlerkonzept die ideengeschichtliche Grundlage dafür, dass ab der Mitte des 20. Jahrhunderts Interviews zu einer beliebten Textgattung werden, so wird dies durch die medialen Entwicklungen noch begünstigt. Aufnahmetechniken, aber natürlich auch die Erfindung von Radio, Tonfilm und Fernsehen führen dazu, dass es besser und vielfältiger möglich wird, Gespräche komplett aufzuzeichnen und wiederzugeben. Ab den 1960er Jahren gewinnen Interviews fast schlagartig an Bedeutung: „In diesem Zeitraum wird die kommunikative Tätigkeit nicht nur ein Nebenher der künstlerischen Tätigkeit, sondern es gibt Momente der Verschmelzung. Das Interview, das Gespräch, der Vortrag, also e ine Fülle verschiedener verbaler Kommunikationsformen werden zu einem wichtigen Gegenstand der Kunst selbst.“26 Das hat auch damit zu tun, dass viele Formen von Kunst in der Moderne einem breiteren Publikum Verständnisprobleme bereiten, Künstler also allein deshalb häufiger als in früheren Jahrhunderten um Aufklärung, Deutung, Erläuterung gebeten werden.Man hofft, von ihnen in der Sprache nachgeliefert zu bekommen, was sie in ihren Werken verweigern. In der Kunstwissenschaft ist somit anerkannt und unumstritten, dass es eine Kunstform „Interview“ gibt. Zusätzlich sei darauf verwiesen, dass unabhängig von der allgemeinen Existenz dieser Kunstgattung auch die Klassifizierung des einzelnen Kunstwerks durch einen Gutachter im Prozess ein zusätzliches Indizium für die Kunsteigenschaft ist. 27 3. Offener Kunstbegriff Der offene Kunstbegriff hingegen sieht als einziges Kriterium die Zugänglichkeit des Werkes für eine fortgesetzte Interpretation. 28 Insbesondere Interviews mit Künstlern können dieses Kriterium erfüllen. Häufig äußern sich Künstler in Bezug auf ihren Schaffungsprozess oder einzelne Werke, wodurch diese Aussagen selbst Teil dieses Prozesses werden und zur Interpretation eines Kunstwerkes oder Charakterisierung des Künstlerprofils herangezogen werden können. Die Aussagen im Interview sind wiederum einer fortgesetzten Interpretation durch das Fachpublikum zugänglich. Gerade die moderne avantgardistische Kunst hat es sich zum Ziel gesetzt, bestehende Konventionen in Frage zu stellen, um so die Grenzen der Kunst immer neu zu definieren.29 Ein in hohem Maße begrenzender Kunstbegriff lässt sich in gleicher Weise mit dem in der Kunstwelt bestehenden Ressentiment gegen gewöhnliche – dem evolutiven Schaffensprozess entgegenstehende – künstlerische Ausdrucksformen entkräften. 30 Im besonderen erfordert diese Zielsetzung auch von den Gerichten, sich gewöhnlichen Ausdrucksformen, wie beispielsweise dem Interview, als Teil eines künstlerischen Schaffensprozess zu öffnen und sich der fortwährenden Interpretierbarkeit eines Werkes nicht wegen seiner scheinbaren Gewöhnlichkeit zu verschließen. Auch innerhalb der Kunstwissenschaft gelten Künstlerinterviews nicht als Quellen, die man wörtlich nehmen darf, sondern die, wie die Werke selbst, immer einer eigenen Interpretation bedürfen. Lichtin spricht schon im Untertitel seines Buchs bezogen auf das Interview von einem „Kunstprodukt“, und Konsens innerhalb der Kunstwissenschaft ist die Bemerkung Julia Gelshorns, wonach das Interview „im besonderen Kontext der Kunstwelt […] auch als künstlerisches Produkt an sich verstanden werden“ müsse: „Als ein ‚Kunstwerk für si ch‘ sollte es Lichtin, Künstlerinterview, S. 73. Wendt/v. Münch/Kunig, GG Kommentar, Band 1, 6. Auflage 2012, Art. 5 Rn. 92; Pernice/Dreier, GG Kommentar, Band I, 3. Auflage 2013, Art. 5 Rn. 43. 28 BVerfGE 67, 213 (265) – Anachronistischer Zug. 29 BVerfGE 67, 213 (225) – Anachronistischer Zug. 30 BVerfGE 67, 213 (225) – Anachronistischer Zug. 26 27

daher in Beziehung gesetzt werden einerseits zu anderen Gattungen der Kunstliteratur und andererseits zu zeitgenössischen Strategien der Kunst.“ 31 VI. Geschütztes Verhalten Allgemein ist anerkannt, dass Art. 5 Abs. 3 GG alle mit der Herstellung von Kunst in Verbindung stehenden Vorgänge (Werkbereich) und die Präsentation bzw. Ausstellung des Werks (Wirkbereich)32 schützt.33 Dem Wirkbereich wird auch der Werbungsprozess zugerechnet, der nicht schon allein aufgrund seiner werbenden und somit womöglich kommerziellen Ausrichtung vom Schutzbereich der Kunstfreiheit ausgenommen wird. 34 Bei der „Verkunstung“ von Interviews sind einige Künstler konsequenter und radikaler als andere. Im aktuellen Standardwerk zum Künstlerinterview – 2013 erschienen – werden von den Herausgebern fünf Künstler genannt, bei denen das Künstlergespräch bzw. Interview auf jeden Fall „als eigenständige performative Kunstform, zumindest als mediale „Selbstinszenierung“ zu bewerten sei. Diese fünf seien Andy Warhol, Joseph Beuys, Martin Kippenberger, John Bock und Jonathan Meese. 35 Weiter wird das Künstlergespräch auch hier als „integraler Bestandteil künstlerischer Praxis“ gewürdigt, eine Grenzziehung zwischen einem Gemälde oder einer Installation einerseits und einem Interview andererseits wird als unangemessen abgelehnt. 36 VII. Weitere Anhaltspunkte für die Abgrenzung Ein Anhaltspunkt kann auch der Umstand sein, dass der Urheber selber sein Werk als Kunst betrachtet. 37 Auch kann die Beteiligung eines renommierten Künstlers am Interviewvorgang sicherlich Indizwirkung entfaltet. Werden Künstlerinterviews im Zuge von juristischen Auseinandersetzungen zu Gegenständen der Anklage oder zu Beweismitteln, sollte also grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass es sich hier um ein eigens gestaltetes Produkt handelt, mit dem sich der Künstler genauso darzustellen versucht wie mit Werken, anderen Publikationsformen oder auch dem Erscheinungsbild seiner Person. Gerade weil Kunst für die meisten auch heute noch als eine Sache der Berufung gilt, spricht in einem Künstlerinterview keine Privatperson. Hier spricht sich vielmehr der Künstler selbst aus: in all seiner Originalität, Idiosynkrasie, Eigenwilligkeit, Andersheit. Auch das öffentlichkeitswirksame Auftreten bietet wahrscheinlich einen Anhaltspunkt für die Einordnung eines Interviews als Kunst. Selbst ein möglicher politischer oder religiöser Zweck kann die Klassifizierung als Kunst nicht pauschal ausschließen.38 Geschützt wird in diesem Sinne nicht nur „l’art pour l’art“39 , sondern auch engagierte Kunst, die sich der Inszenierung einer bestimmten geistigen oder politischen Haltung verschrieben hat. Dies gilt in gleicher Weise auch für satirische Darstellungen. 40

Gelshorn, Two are better than one. Anmerkungen zum Interview und seinen Verfahren der Vervielfachung, in: Blunck/Diers/Obrist (Hrsgg.), Interview, S. 266. 32 BVerfGE 36, 321 (331) – Schallplatten; 81, 298 (305) – Nationalhymne; BVerfG-K, NJW 2001, 596 f. 33 BVerfGE 30, 173 (189) – Mephisto; 77, 240 (253) – Herrnburger Bericht; Müller, Freiheit der Kunst, S. 65 (97). 34 Vgl. BVerfGE 77, 240 (251) – Herrnburger Bericht; auch Pernice/Dreier, GG Kommentar, 3. Auflage 2013, Art. 5 Rn. 47. 35 Blunck/Diers, The Point of Interview. Zur Einführung, in: Blunck/Diers/Obrist (Hrsgg.), Interview, S. 9 f. 36 Vgl. Blunck/Diers, Interview, in: Blunck/Diers/Obrist (Hrsgg.), Interview, S. 16. 37 Kempen/Epping/Hillgruber, GG Kommentar, 2. Auflage 2013, Art. 5 Rn. 164; Wendt/v. Münch/Kunig, GG Kommentar, Band 1, 6. Auflage 2012, Art. 5 Rn. 91. 38 BVerfGE 67, 213 (227 f.) – Anachronistischer Zug; BVerfG-K, NJW 1990, 2541. 39 Scholz/Maunz/Düring, GG Band I, 69. Ergl. 2013, Art. 5 Abs. 3 Rn. 32. 40 BVerfGE 86, 1 (9) – TITANIC/“geb. Mörder“; BVerfG-K, NJW 2002, 3767. 31

Oft gibt es zusätzliche Indizien, die es umso eindeutiger werden lassen, dass ein Künstler selbst und gerade in einer Interview-Situation im Modus der Inszenierung, ja mit einem Anspruch als Künstler auftritt. So wird z.B. gerne der sonst übliche kolloquiale Charakter eines Interviews durchbrochen, dieses stellt also gerade kein ‚normales‘ Gespräch zwischen einem Fragenden und einem Antwortenden dar, sondern de(kon)struiert oder überhöht übliche Formen der Kommunikation. Oder der Künstler präsentiert sich insgesamt als artifizielle Figur, etwa durch den ausgefallenen Stil seiner Kleidung oder ein Attribut, das ihm zum Markenzeichen geworden ist (z.B. der Hut bei Joseph Beuys, der Adidas-Anzug bei Jonathan Meese). Oder der Künstler pflegt unabhängig vom konkreten Anlass eines Interviews immer denselben Stil des Antwortens, bedient sich also einer Art Kunstsprache. So bestehen beispielsweise mehrere hundert Interviews, die Jeff Koons im Lauf von mehr als dreißig Jahren gegeben hat, aus kaum mehr als fünfundzwanzig Begriffen, die immer wieder neu permutiert werden. 41 Sofern solche zusätzlichen Indizien vorliegen, sollte auch unstrittig sein, einzelne Interviewäußerungen als Kunst zu betrachten und im Falle einer juristischen Bewertung Art. 5 Abs. 3 GG zu berücksichtigen. Trotzdem ist zu beachten, dass solche Erwägungen nur unterstützende Argumente in einer rechtlich kontroversen Auseinandersetzung sein können und kein allgemeingültiges „Rezept“ liefern können. Gleichwohl wird es schwer sein, die Kunsteigenschaft eines umstrittenen Werkes zu verneinen, wenn mehrere der oben genannten Hinweise kumulativ vorliegen. Welche Kriterien hier in besonderer Weise zu berücksichtigen sind, ist durch eine Abwägung im Einzelfall zu entscheiden. VIII. Fazit Gerade weil Interviews eine relativ junge Gattung sind, ist damit zu rechnen, dass künftig noch mehr Künstler als bisher sie als für sich interessante Form ansehen, sie also mit eigenem Gestaltungsehrgeiz behandeln. Umso mehr wird diese ursprünglich eher werkferne Gattung zunehmend selbst zu Kunst und entsprechend schützenswert. Zugleich eignen sie sich immer weniger als Quellen und Dokumente, um z.B. etwas über die wahren Intentionen des Künstlers herauszufinden. Das in ihnen Verhandelte gehört vielmehr ebenso zu einer Welt der Fiktion wie die Illusionsräume auf Gemälden oder die Dialoge auf einer Theaterbühne. Die juristische Beurteilung wird diese Bedeutungsverschiebung von Künstlerinterviews zu berücksichtigen haben. Das führt nicht zu völliger Beliebigkeit. Vielmehr lassen sich aus einer kunstwissenschaftlichen Betrachtung verbindliche Anhaltspunkte für die Abgrenzung von Interviews, die zugleich künstlerische Performances sind, und normalen Interviews entwickeln.

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Vgl. Breucha, Die Interviews von Jeff Koons, Paderborn 2014.