Das HMB-W-Verfahren bei Menschen mit geistiger Behinderung und Demenz

Teilhabe 3/2015, Jg. 54 WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG rung des HMB-W-Verfahrens bei Menschen mit geistiger Behinderung und einer Demenzerkrankung, die ...
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Teilhabe 3/2015, Jg. 54

WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG

rung des HMB-W-Verfahrens bei Menschen mit geistiger Behinderung und einer Demenzerkrankung, die in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe leben, zu erhalten. Das HMB-W-Verfahren Christian Wolff

Uwe Gövert

Bettina Kuske

Sandra Verena Müller

Das HMB-W-Verfahren bei Menschen mit geistiger Behinderung und Demenz Darstellung der Ergebnisse von Experteninterviews 122

| Teilhabe 3/2015, Jg. 54, S. 122 – 128 | KURZFASSUNG Das HMB-W-Verfahren (Hilfebedarf von Menschen mit Behinderung im Bereich Wohnen) ist ein Instrument zur Ermittlung des Hilfebedarfs bei Menschen mit geistiger Behinderung im stationären Wohnbereich. Anhand des HMB-W-Verfahrens erfolgt die Finanzierung der Mitarbeiter(innen) der Einrichtungen durch die sogenannte Maßnahmepauschale. Mit dem Ziel, aktuelle Herausforderungen für Behinderteneinrichtungen im HMB-W-Verfahren bei demenzerkrankten Menschen mit geistiger Behinderung zu ermitteln und Lösungsvorschläge aufzuzeigen, führten wir Experteninterviews mit Mitarbeiter(inne)n in Behinderteneinrichtungen in Niedersachsen. Diese beobachten bei Menschen mit Demenzerkrankungen eine zeit- und personalintensive Betreuung und sehen dementsprechend einen hohen Hilfebedarf nach dem HMB-W-Verfahren. Die Kostenträger sehen laut Interviewpartner(innen) einen niedrigeren Hilfebedarf, da eine demenzerkrankte Person im fortgeschrittenen Stadium kaum an Förderungen teilnehmen kann. Hier zeigt sich eine Diskrepanz in der Wahrnehmung des Hilfebedarfs zwischen Kostenträger und Behinderteneinrichtungen. | ABSTRACT The HMB-W-method for people with disabilities and dementia – results of expert interviews. The HMB-W-method (needs of people with disabilities in residential homes) is used to determine the need for assistance of people with mental disabilities that live in the inpatient residential area of facilities for disabled people. Based on this method the funding of the activity is realized. The aim of our survey is to identify the challenges for disabled facilities in using the HMB-W-method and to determine procedures in handling disabled people with dementia and to show possible solutions. Dementia often means time intensive care and assistance for employees of facilities and is rated with a high need for assistance. Payers see, according to interviewees, a lower need for assistance, because a person suffering from dementia at an advanced stage can hardly participate in supporting measures. This creates a discrepancy in the perception of the need for assistance between disability organizations and cost objects.

Einleitung Aufgrund des medizinischen Fortschritts und des demografischen Wandels erreichen immer mehr Menschen mit geistiger Behinderung das Rentenalter. DIECKMANN und GIOVIS (2012, 12) errechneten einen Anstieg der Senior(inn)en mit geistiger Behinderung von 10 % im Jahr 2010 auf 31 % im Jahr 2030 am Beispiel des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe. Jede(r) zweite Bewohner(in) einer stationären Behinderteneinrichtung wird 2030 60 Jahre oder älter sein. Dadurch nehmen Alterserkrankungen, z. B. Demenz, zu. Bei einer Demenzerkrankung verändert sich der Betreuungs-, Pflege- und Hilfebe-

darf eines Menschen mit geistiger Behinderung (vgl. WOLFF, MÜLLER 2014, 397). Das wird die Einrichtungen der stationären Behindertenhilfe in den kommenden Jahren vor neue Herausforderungen stellen, für die die einzelnen Behinderteneinrichtungen bisher unterschiedlich gut gerüstet sind (vgl. MÜLLER, WOLFF 2012, 156). Ziel der Befragung war es, Informationen über die Herausforderungen der Mitarbeiter(innen) in der Durchfüh-

Das Verfahren zur Ermittlung des Hilfebedarfs von Menschen mit Behinderung im Bereich Wohnen (HMB-W-Verfahren) wurde von METZLER (1998), vom Zentrum zur interdisziplinären Erforschung der „Lebenswelten behinderter Menschen“ (Z.I.E.L.) der Universität Tübingen, entwickelt. Das HMB-W-Verfahren wird in sieben Bundesländern, Bayern, Berlin, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Niedersachsen, differierend in der Ausgestaltung, angewendet1 (NIEDIEK 2010, 336 ff.). Das Verfahren dient in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe der Ermittlung des Hilfebedarfs von Menschen mit geistiger Behinderung. Ziel des HMB-W-Verfahrens ist es, Menschen mit geistiger Behinderung in Gruppen von Leistungsberechtigten mit vergleichbarem Bedarf einzuteilen. Anhand der Gruppen von Leistungsberechtigten mit vergleichbarem Bedarf wird die Maßnahmepauschale nach § 76 Abs. 2 SGB 12 kalkuliert (vgl. Gesetze für die Soziale Arbeit 05.07.2013, 1945). In Niedersachsen gelten seit dem 08.03. 2011 die „Niedersächsischen Anwendungshinweise zum HMB-W-Verfahren“ (Gemeinsame Kommission 08.03.2011). Das HMB-W-Verfahren gliedert sich in sieben Bereiche: 1. 2. 3. 4.

Alltägliche Lebensführung Individuelle Basisversorgung Gestaltung sozialer Beziehungen Teilnahme am kulturellen und gesellschaftlichen Leben 5. Kommunikation und Orientierung 6. Emotionale und psychische Entwicklung 7. Gesundheitsförderung und -entwicklung (vgl. Gemeinsame Kommission 08.03.2011; NIEDIEK 2010, 149) Insgesamt werden diesen Bereichen 34 Items zugeordnet. Der Hilfebedarf wird anhand der Buchstaben „A“, „B“, „C“ und „D“, die unterschiedlichen Punktzahlen entsprechen, bewertet. Der Hilfebedarf für ein „A“, welcher null Punkten entspricht, wird gewährt, wenn ein(e) Teilnehmer(in) keine Unterstützung durch die Mitarbeiter(innen) be-

1 Weitere Hilfebedarfs-Feststellungsinstrumente sind u. a. der ITP (Integrierter Teilhabeplan) in Hessen,

in Rheinland-Pfalz der THP (Individuelle Teilhabeplanung), in Nordrhein-Westfalen und Thüringen der IHP (Individuelle Hilfeplanung). Eine Übersicht über die Hilfebedarfs-Feststellungsinstrumente befindet sich in NIEDIEK (2010, 336 ff.).

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nötigt, ein „B“, welches zwei oder vier Punkten entspricht, bei kleinen Hilfestellungen der Mitarbeiter(innen), ein „C“, welches mit drei oder sechs Punkten bewertet wird, bei der stellvertretenden Übernahme der Tätigkeit durch die Mitarbeiter(innen) und ein „D“, vier oder acht Punkte, bei der Umsetzung einer Fördermaßnahme (Gemeinsame Kommission 08.03.2011). Die vergebenen Itempunkte werden zu einem Gesamtpunktwert kumuliert. Der Gesamtpunktwert kann im Bereich von null bis 188 Punkten liegen. Die erreichte Gesamtpunktzahl der Teilnehmenden führt zur Eingruppierung in eine der fünf Hilfebedarfsgruppen. Anhand der fünf Hilfebedarfsgruppen erfolgt die Finanzierung der Maßnahmepauschale nach § 76 Abs. 2 SGB 12. Methode Im Zeitraum von Oktober bis Dezember 2011 führten wir zwölf Experteninterviews in vier Behinderteneinrichtungen in Niedersachsen mit jeweils vier Gruppen-, Einrichtungs- und Wohnbereichsleiter(inne)n. Die Interviewpartner(innen) wurden durch die Behinderteneinrichtungen ausgewählt. MÜLLER und WOLFF (2012, 154 ff.) führten bereits 2011 eine Befragung von Behinderteneinrichtungen in Niedersachsen durch. Themenschwerpunkte waren u. a. Demenzdiagnostik, Demenzsymptome bei Menschen mit geistiger Behinderung und problematisch erlebte Verhaltensweisen der Mitarbeiter(innen) der Einrichtungen bei demenziell erkrankten Menschen mit geistiger Behinderung und die Auswirkungen einer Demenz auf das HMB-W-Verfahren. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass eine Demenzdiagnose nicht automatisch zur Eingruppierung in eine höhere Hilfebedarfsgruppe nach dem HMB-W-Verfahren führt. Um detailliertere Daten zu erhalten, entwickelten wir für die Interviews einen Leitfaden zum übergeordneten Thema „Menschen mit geistiger Behinderung und Demenz“ mit 49 Fragen, die sich auf die sechs Bereiche: Arbeitsalltag, Diagnostik, Rahmenstruktur der Einrichtung, Hilfeplanung, Teilhabe und Zukunft, verteilten. Die Darstellung der Ergebnisse in diesem Artikel beschränkt sich auf die Interviewfragen zum Bereich der Hilfeplanung und der Antworten der Einrich-

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Tab. 1: Interviewfragen zum Bereich HMB-W-Verfahren

Nr.

Fragen zum Bereich HMB-W-Verfahren

36

Bildet das HMB-W-Verfahren die Situation von Menschen mit Demenz generell ab?

37

Welche Probleme treten bei der Anwendung des HMB-W-Verfahrens auf?

38

Was würden Sie am HMB-W-Verfahren verändern?

39

Welche Auswirkungen haben Demenzerkrankungen auf die Bewertung des HMB-W-Verfahrens?

40

Welche fördernden Strukturen sehen Sie beim HMB-W-Verfahren?

41

Welche Barrieren sehen Sie beim HMB-W-Verfahren?

123 tungs- und Wohnbereichsleiter(innen). Tabelle 1 zeigt die von uns gestellten Fragen zum Thema HMB-W-Verfahren. Die Auswertung der Experteninterviews erfolgte anhand der „Qualitativen Inhaltsanalyse“ nach GLÄSER und LAUDEL (2010) in den vier Schritten Extraktion, Aufbereitung, Auswertung und Interpretation. Im ersten Schritt, Extraktion, wurden anhand der Interviewtranskripte die Antworten der Mitarbeiter(innen) der Einrichtungen in selbst entwickelten grafischen Abbildungen dargestellt, die den gesamten Interviewtext enthielten. Mit Hilfe der grafischen Darstellungen wurden Sachdimensionen ermittelt, die im zweiten Schritt, Aufbereitung, zusammengefasst und wiederum als Grafik dargestellt wurden. Sachdimensionen, die nicht zusammengefasst werden konnten, blieben als Einzelergebnis bestehen. Im dritten Schritt, Auswertung, wurden Zusammenhänge, sogenannte Kausalmechanismen, identifiziert, beschrieben und grafisch dargestellt, die im vierten Schritt interpretiert wurden. Tabelle 2 (S. 124) zeigt die unterschiedlichen Charakteristika der befragten Einrichtungen. Erkennbar ist, dass keine der befragten Einrichtungen sich ausschließlich auf die Betreuung demenzkranker Menschen mit geistiger Behinderung spezialisiert hat.

Ergebnisse der Experteninterviews2 Im Folgenden werden die Kernaussagen der Interviews herausgearbeitet und mit Zitaten untermauert. Positive Entwicklungen durch die Einführung des HMB-W-Verfahrens Für die Interviewpartner(innen) impliziert die Einführung des HMB-W-Verfahrens eine Verbesserung der Planung und Durchführung der Hilfeplanung. Die Mitarbeiter(innen) der Einrichtungen können mit Hilfe des HMB-W-Verfahrens systematisch und zielorientiert Entwicklungsziele, individuell für einen Menschen mit geistiger Behinderung, ermitteln, planen und spezielle Aufgaben durchführen. „[…] die Einführung des HMB-WVerfahrens hat sicherlich dazu geführt, dass systematischer nach Entwicklungszielen geschaut wird […]“ (W4/403). Die Items des HMB-W-Verfahrens geben eine Struktur vor, an denen sich die Mitarbeiter(innen) der Einrichtungen orientieren können. Das Verfahren kann die Bereiche aufzeigen, in denen der Mensch mit geistiger Behinderung Unterstützung benötigt. Das HMB-W-Verfahren ermöglicht es den Mitarbeiter(innen), ihre Arbeit konzeptionell zu überdenken. Dazu gehört, die eigene Arbeit zu reflektieren, die Erarbeitung geeigneter Hilfsangebo-

2 Die Darstellung der Interviewergebnisse bezieht sich ausschließlich auf die Aussagen (Sichtweisen, Meinungen, Gefühle, Empfindungen, Praxiserfahrungen)

der Interviewpartner(innen). Die persönlichen Meinungen der Interviewpartner(innen) geben nicht automatisch die gesetzlichen Grundlagen wieder. Die Aussagen der Interviewpartner(innen) stehen nicht automatisch für die Meinung der Autor(inn)en. Die Sichtweise der Kostenträger zum Thema HMB-W und Menschen mit geistiger Behinderung und Demenz werden in diesem Artikel nicht separat dargestellt, da in diesem Bereich keine Daten erhoben wurden. Eine entsprechende Studie mittels qualitativer Forschungsmethoden wird als Desiderat formuliert. 3 W4/40 ist die vorgenommene Kodierung der befragten Interviewpartner(innen), der Einrichtung und der gestellten Interviewfrage.

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Tab. 2: Beschreibung der Einrichtungen hinsichtlich der Demenzerfahrung

Charakteristika der Einrichtungen

Checkliste der Einrichtungen und Interviewpartner(innen)

Einrichtung

1

2

3

4

Interviewpartner(innen)

E

W

E

W

E

W

E

W

Demenzspezialisierung

NEIN

NEIN

NEIN

NEIN

NEIN

NEIN

NEIN

NEIN

Wohnbereich für ältere Menschen mit geistiger Behinderung

NEIN

NEIN

JA1

NEIN

NEIN

NEIN

NEIN

NEIN

Integrierter Wohnbereich für ältere und jüngere Menschen mit geistiger Behinderung

JA

JA

JA1

JA

NEIN

NEIN

JA

JA

Pflegespezialisierung

NEIN

NEIN

JA

NEIN

NEIN

NEIN

NEIN

NEIN

Erfahrung mit Demenz

JA

JA

JA

JA

NEIN

NEIN

JA

JA

Erfahrung mit HMB-W

JA

JA

NEIN2

JA

NEIN

JA

JA

JA

Erfahrung mit HMB-W und Demenz

JA

JA

NEIN2

JA

NEIN

NEIN

JA

JA

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1 2

der Schwerpunkt liegt auf der Versorgung pflegebedürftiger Menschen mit komplexer Behinderung arbeiten nicht mit dem HMB-W-Verfahren, andere Finanzierungsart

te für den Menschen mit geistiger Behinderung, diese zu konzentrieren und eventuell neue Maßnahmen einzuleiten. Ziel ist es, Menschen mit geistiger Behinderung und ihren Wünschen an der Hilfeplanung zu beteiligen. Veränderungen in der Betreuung durch Demenzerkrankungen Die Interviewpartner(innen) beschreiben, dass durch die demenzielle Erkrankung Menschen mit geistiger Behinderung Fähigkeiten verlieren. Für die Mitarbeiter(innen) der Einrichtungen wird es zunehmend schwieriger, den demenzerkrankten Menschen im Gruppenalltag zu integrieren. Durch die Demenzerkrankung benötigen Menschen mit geistiger Behinderung intensivere Betreuung und Unterstützung sowie zunehmend mehr Anleitung durch eine(n) Mitarbeiter(in) der Einrichtung. „[…] ständig immer in kurzen Schritten immer wieder erinnern, dran bleiben […]“ (W2/36). „[…] es muss sehr viel Anleitung stattfinden, bis auch zur Übernahme […]“ (W2/36). Diese Tätigkeiten sind häufig mit einem hohen zeitlichen Aufwand durch eine engmaschige Begleitung verbunden.

„[…] extrem arbeits- und betreuungsintensive Situationen […], wo Essen angereicht werden muss […], sprich Eins zu Eins-Betreuungen […]“ (E1/38; W4/36; W4/38). Im fortgeschrittenen Demenzstadium benötigen die erkrankten Menschen mehr Unterstützung in der Durchführung der Pflege, den Einsatz von Hilfsmitteln, z. B. eines Pflegerollstuhls, bis zur medizinischen Unterstützung, z. B. das Anbringen einer Sonde zur Ernährung mittels perkutaner endoskopischer Gastrostomie (PEG). Eine Herausforderung für die Mitarbeiter(innen) der Einrichtungen ist es, geeignete Maßnahmen für demenzerkrankte Menschen zu entwickeln und zu etablieren. Einige erkrankte Bewohner(innen) möchten an den Angeboten nicht mehr teilnehmen. Bei fortgeschrittener Demenz steigt dadurch die Gefahr der Isolation der Bewohner(innen) in der Einrichtung. Das Lernen steht bei einer Demenzerkrankung nicht mehr im Vordergrund, sondern der Erhalt der noch vorhandenen Fähigkeiten, um den demenziellen Abbau so lange wie möglich hinauszuzögern.

Legende: E = Einrichtungsleiter(in) W = Wohnbereichsleiter(in)

„[…] ich möchte was erhalten und ich möchte den Abbau möglichst lange herauszögern, ich möchte nichts Neues mehr lernen, das ist halt das Entscheidende, dass man die Leute auch nicht jetzt noch piesackt damit, dass sie irgendwas neues lernen sollen […]“ (E4/40). Die Interviewpartner(innen) berichten, dass sie sich in einem Interessenkonflikt zwischen der Durchführung der Förderplanung nach dem HMB-WVerfahren und den Wünschen der Bewohner(innen) befinden. „[…] die Bewohner(innen) sind halt jeden Tag auch mal anders drauf, mal kaputter und mal nicht kaputter […] dass die arbeiten gehen, die einen später von der Arbeit kommen, teilweise das ich dann noch irgendwo diesen Druck habe, eine Förderplanung durchzuziehen, derjenige das aber eigentlich gar nicht will […] das ist für mich eine Schwierigkeit, da so den Balanceakt zu finden […]“ (E4/41). Hinzu kommt der Druck für die Mitarbeiter(innen) der Einrichtungen, eine Förderplanung zu etablieren und durchzuführen, damit dies im HMB-W-Verfahren als hoher Hilfebedarf kenntlich gemacht werden kann, auch wenn der Mensch mit geistiger Behinderung dies nicht möchte.

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Abb. 1: Veränderungen in der Förderplanung bei Menschen mit geistiger Behinderung und Demenz

Abb. 2: Schwierigkeiten in der Hilfebedarfseinschätzung der Behinderteneinrichtungen

HMB-W

Demenz

Förderungs- und Leistungsgedanke steht im Vordergrund

zeitintensive Betreuung

Demenz

stellvertretende Übernahme

Verlust von Fähigkeiten

Bewertung mit mittlerem Hilfebedarf

Personen können nicht mehr gefördert werden

Personen wollen nicht mehr gefördert werden

neue Ziel- und Maßnahmenplanung: Erhalt der Fähigkeiten + Verlangsamung des Abbaus

„[…] und dass Mitarbeiter(innen) sich darauf einstellen müssen, dass auch ein Erhalt von Fähigkeiten oder eine langsamere Verschlechterung ein Erfolg sein kann, dass das auch Ziel einer Maßnahme sein kann […]“ (W2/39). Herausforderungen in der Hilfebedarfseinschätzung nach HMB-W bei Demenzerkrankungen Das Verfahren deckt, aus Sicht der Mitarbeiter(innen) der Einrichtungen, den Bedarf und den Umgang mit einem Menschen mit geistiger Behinderung und Demenz nicht ab. Dennoch sehen sich Mitarbeiter(innen) mit einem entsprechenden Einsatz des Verfahrens konfrontiert. Der Aufwand der Einrichtung in der Betreuung wird durch die stellvertretende Übernahme nicht widergespiegelt. „[…] der Aufwand ist höher, als das in den Kategorien aufgeführt ist […]“ (E3/40; W2/36; W2/37; W4/36). Bei einer stellvertretenden Übernahme, auch wenn sie sehr zeit- und betreuungsintensiv für die Mitarbeiter(innen) der Einrichtungen ist, kann der höchste Hilfebedarf nicht geltend gemacht werden. Stattdessen werden einige Items mit einem niedrigeren Hilfebedarf bewertet. Dadurch entsteht bei den befragten Interviewpartner(n)innen der Eindruck, dass Menschen mit geistiger Behinderung und einer Demenz in der Bedarfs-

ermittlung nach dem HMB-W-Verfahren benachteiligt werden. „[…] dass man damit nicht auskömmlich arbeiten kann, weil überall nur „C“ steht und zum anderen, weil man dann den Leuten nicht gerecht wird […]“ (W3/36). „[…] es ist auch überhaupt nicht sinnvoll und angesagt, alles zu übernehmen, da tut man einem Demenzkranken keinen Gefallen […]“ (W3/36). Die Veränderungen in der Ziel- und Förderplanung stellen Einrichtungen vor das Problem, einen für sie adäquaten Hilfebedarf der an Demenz erkrankten Person mit geistiger Behinderung geltend zu machen.

niedrigere Hilfebedarfsgruppe

mögliche Versorgungsengpässe

(E3/37). „[…] das das Entwicklungspotenzial bei Menschen, die älter sind, eine geistige Behinderung und Demenz haben, bei den Leistungsträgern so nicht gesehen wird […]“ (W4/37). Abb. 1 zeigt, dass im Mittelpunkt der Hilfeplanung eines demenziell erkrankten Menschen nicht mehr eine Förderung steht. Maßnahmen, die den demenziellen Abbau verzögern, mit dem Ziel, noch vorhandene Fähigkeiten zu erhalten, verdrängen bisher etablierte Förderungen der Behinderteneinrichtungen.

„[…] dass es eben nicht mehr um Förderung in dem Sinne geht […]“ (W2/39).

Abb. 2 beschreibt, dass der Betreuungsaufwand bei einer Demenzerkrankung für die Mitarbeiter(innen) der Einrichtungen zunimmt, der Hilfebedarf sich aber nicht parallel entwickeln muss.

Einen geeigneten Förderschwerpunkt zu setzen fällt den Mitarbeiter(inne)n der Behinderteneinrichtungen bei fortschreitender Demenz zunehmend schwerer. Die Etablierung neuer Förderschwerpunkte, vor allem mit dem Ziel, die vorhandenen Fähigkeiten zu erhalten, kann zu einer unterschiedlichen Bewertung des Hilfebedarfs zwischen Einrichtungen und Kostenträgern führen:

Die Interviewpartner(innen) berichten, dass vielen Mitarbeiter(inne)n der Einrichtungen die Formulierung des Hilfebedarfs nicht leicht fällt. Die Beschreibung der Items kann sich entscheidend auf die Anerkennung der angestrebten Bewertung gemäß des HMB-W-Verfahrens auswirken und somit zu einer differenzierten Bewertung des Hilfebedarfs zwischen Einrichtungen und Kostenträger beitragen.

„[…] dass es dann auch manchmal schwierig ist einen Punkt anerkannt zu bekommen, den man gerne fördern möchte, weil da die Ressourcen für den Einzelnen nicht gesehen werden […]“

„[…] das ist schon manchmal ein Kunststück, das so detailliert zu formulieren und hinzubekommen, dass der Kostenträger das auch annimmt […]“ (E1/36).

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Die Mitarbeiter(innen) der Einrichtungen führen täglich mit dem demenziell erkrankten Menschen Aufgaben durch, die in mehreren Items des HMBW-Verfahrens abgebildet werden können. Der gleiche Hilfebedarf eines Menschen mit geistiger Behinderung darf jedoch nicht in mehreren HMB-W-Items geltend gemacht werden. Die gleiche Fähigkeit darf nicht in unterschiedlichen Kontexten gefördert werden, sonst wären es verbundene Bedarfe. Die verbundenen Bedarfe eines Menschen mit geistiger Behinderung und Demenz zu ermitteln und zu einem entsprechenden Item korrekt zuzuordnen, ist für die Mitarbeiter(innen) eine Herausforderung.

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„[…] das ist so ein Knackpunkt, wo dann schnell gesagt wird, wenn ihr das schon da oben mit angibt, sage ich mal als „D“ und da unten gibt ihr eure Hilfe auch schon wieder an, das geht aber nicht, das erkennen wir nur einmal an […]“ (E4/36). „[…] die Arbeit fällt doppelt an, sie fällt in dem Bereich an, […] und beim Toilettengang mache ich es schon wieder, vielleicht mit den gleichen Mitteln und den gleichen Wörtern und dem gleichen Einsatz, aber mehrmals am Tag […]“ (E4/36; E4/39). Der Bereich „Kommunikation und Orientierung“ des HMB-W Verfahrens befasst sich ausschließlich mit den kognitiven Fähigkeiten eines Menschen mit geistiger Behinderung. Bei kognitiven Fähigkeiten ist die Bewertung der Items als stellvertretende Übernahme durch eine(n) Mitarbeiter(in) der Einrichtung per Definition nicht möglich. Und dies obwohl in diesem Bereich viel Unterstützungsbedarf notwendig ist. „[…] dass es bestimmte Kategorien gibt, wo man eine stellvertretende Übernahme kategorisch ausschließt, wo sich aber trotzdem sehr personalintensive Situationen ergeben […]“ (W4/38). Durch den Verlust von Fähigkeiten und die Zunahme der Pflege demenzerkrankter Menschen, fällt es den Mitarbeiter(inne)n der Einrichtungen schwer, den tatsächlichen Pflegeaufwand im HMB-W-Verfahren adäquat zu beschreiben und abzubilden. Die Interviewpartner(innen) berichten, dass bei einer Demenzerkrankung einige Items nicht mehr zutreffen bzw. keine Rolle mehr spielen. Eine Förderung bzw. ein Erhalt der Fähigkeiten

wird bei fortgeschrittener Demenz kaum angestrebt und durchgeführt. „[…] ein Mensch mit einer Demenz ist irgendwann nicht mehr orientiert […]“ (E1/38). „[…] ob er noch verkehrssicher ist, solche Sachen spielen eigentlich keine Rolle mehr […]“ (E1/38). Der Hilfebedarf nach dem HMB-WVerfahren wird aus Sicht der befragten Mitarbeiter(innen) in zu großen Abständen überprüft. Der Überprüfungszeitraum beträgt drei Jahre. Demenzerkrankungen sind jedoch durch Abbauprozesse gekennzeichnet, die schneller erfolgen und deutlich kürzere Erfassungszeiträume benötigten. Die Veränderungen fließen verzögert erst nach Ablauf von drei Jahren in die Bedarfsbemessung ein. Diskrepanzen in der Hilfebedarfseinschätzung bei Menschen mit geistiger Behinderung und Demenz Aus Sicht der Mitarbeiter(innen) der Behinderteneinrichtungen ergibt sich durch die genannten Herausforderungen in der Hilfebedarfseinschätzung eine Diskrepanz zwischen den Einstufungen der Hilfebedarfsgruppe durch Kostenträger und Einrichtungen. „[…] dass da immer wieder eine Stufe rauskommt, das müsste eigentlich mehr sein, weil der Aufwand ist höher […] als das in den Kategorien aufgeführt ist […]“ (W2/37). „[…] das führt dann zu den geringeren Hilfebedarfsgruppen […]“ (W4/37). Aufgrund der Zunahme des personellen und zeitlichen Aufwands sehen die Mitarbeiter(innen) einen hohen Hilfebedarf. Die Interviewpartner(innen) berichten, dass Kostenträger den Hilfebedarf der demenziell erkrankten Person mit geistiger Behinderung jedoch anhand anderer Kriterien bewerten und zu einer anderen Einschätzung kommen: „[…] da wo der Leistungsträger keine Entwicklungsmöglichkeiten sieht, nicht die Hilfebedarfsgruppe vier oder die Hilfebedarfsgruppe fünf wirksam gemacht werden kann. Dadurch steht dem Leistungserbringer weniger Geld zur Verfügung […]“ (W4/41). „[…] HMB-W spiegelt den Personaleinsatz, den diese Menschen erfordern, […] nicht wider, also die Verpreislichung stimmt nicht […]“ (W4/39).

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Abb. 3 verdeutlicht die Differenz in der Bewertung des Hilfebedarfs zwischen Behinderteneinrichtungen und Kostenträger bei Menschen mit geistiger Behinderung und einer Demenzerkrankung. Übergeordnete Probleme Der folgende Abschnitt beschreibt laut Aussage der Interviewpartner(innen), welche Probleme durch eine niedrige Hilfebedarfsgruppeneinstufung bei Menschen mit geistiger Behinderung und Demenz sowie der Zunahme des Pflegebedarfs entstehen. Die Betreuung eines Menschen mit geistiger Behinderung und Demenz, die einen hohen pflegerischen Aufwand umfasst, möchten die Behinderteneinrichtungen dennoch weiterhin gewährleisten. Der demenziell erkrankte Mensch mit geistiger Behinderung soll nach Möglichkeit nicht in die Obhut eines Pflegeheims überstellt werden. „[…] es ist schwierig, eine vernünftige Hilfeplanung hinzubekommen, um nicht in die Hilfe zur Pflege hinein zu rutschen […]“ (E1/38; E1/41). „[…] wir müssen immer gucken, ist es nicht doch eher ein Pflegefall […]“ (W1/37). Die Interviewpartner(innen) wünschen sich, dass Menschen mit geistiger Behinderung lebenslang in ihrer Einrichtung, beziehungsweise an ihrem Wohnort, leben können. Eine Pflegebedürftigkeit bzw. eine Demenzerkrankung eines Menschen mit geistiger Behinderung sollte aus Sicht der Mitarbeiter(innen) nicht dazu führen, dass die betroffene Person ihren bevorzugten Wohnort verlassen muss.4 Daher kommen die Mitarbeiter(innen) der Einrichtungen zu der Schlussfolgerung, neue Betreuungs- und Wohnkonzepte aufzubauen, um eine Betreuung zu gewährleisten. Die Interviewpartner(innen) erzählen, dass durch niedrigere Hilfebedarfsgruppen eine Finanzierungslücke entsteht: „[…] dieses Haus und auch andere Einrichtungen, die mit dem Personenkreis arbeiten, sind hoch defizitär. Zurzeit ist es so, dass Einrichtungen mit demenziell erkrankten Menschen, die einen hohen Pflege- und Hilfebedarf haben, weit davon entfernt sind, kostendeckend zu arbeiten […]“ (W4/36).

4 Dem steht § 55 SGB XII Sonderregelung für behinderte Menschen in Einrichtungen entgegen: „Werden Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte

Menschen in einer vollstationären Einrichtung der Hilfe für behinderte Menschen im Sinne des § 43 a des Elften Buches erbracht, umfasst die Leistung auch die Pflegeleistungen in der Einrichtung. Stellt der Träger der Einrichtung fest, dass der behinderte Mensch so pflegebedürftig ist, dass die Pflege in der Einrichtung nicht sichergestellt werden kann, vereinbaren der Träger der Sozialhilfe und die zuständige Pflegekasse mit dem Einrichtungsträger, dass die Leistung in einer anderen Einrichtung erbracht wird; dabei ist angemessenen Wünschen des behinderten Menschen Rechnung zu tragen.“

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Abb. 3: Bewertung des Hilfebedarfs bei Menschen mit geistiger Behinderung und Demenz seitens Kostenträger und Behinderteneinrichtungen

In Ausnahmefällen besteht der Wunsch auf eine höhere Finanzierung, damit eine adäquate Betreuungsstruktur aufrechterhalten werden kann.

Demenz

Einrichtungen

Kostenträger

sehr personal- und zeitintensiv

geringer Hilfebedarf

hohe HBG

niedrige HBG

Diskrepanz

Einige Interviewpartner(innen) berichten über einen erhöhten Hilfebedarf von Menschen mit geistiger Behinderung und Demenz, der einen größeren Hilfebedarf beschreibt als bisher mit der Hilfebedarfsgruppe fünf geleistet wird. „[…] es geht über Hilfebedarfsgruppe fünf nichts hinaus. Wo wir sagen, es gibt aber einen Personenkreis, da muss man vielleicht Hilfebedarfsgruppe fünf plus oder Hilfebedarfsgruppe sechs verhandeln […]“ (W1/38). Veränderungsvorschläge für das HMB-W-Verfahren bei Demenzerkrankungen Zur Verbesserung der HMB-W-Items bei demenziell erkrankten Menschen mit geistiger Behinderung lassen sich aus den Interviewantworten zwei Arten von Veränderungsvorschlägen klassifizieren. Der erste Veränderungsvorschlag beinhaltet die Zusammenfassung einzelner Items, die eine Reduzierung der Gesamtzahl der Items zur Folge hat. „[…] kann man das nicht zusammenfassen, […] muss ich es so weit auseinander fächern, muss es dafür vier oder fünf Items nur allein was die Hygiene betrifft geben […]“ (E4/37). Der zweite Veränderungsvorschlag fokussiert auf die Ausdifferenzierung bestehender HMB-W-Items. „[…] ich würde viel mehr feinere Abstufungen machen, […] ich würde wahrscheinlich auf noch mehr Items gehen, dass man am Schluss weiß, was ist das für ein Mensch, wo ist der Bedarf […]“ (W2/38).

zu erfassen und den daraus resultierenden Hilfebedarf abbilden zu können.

Der Bereich der psychischen Erkrankungen müsste aus Sicht der Interviewpartner(innen) viel ausführlicher gestaltet sein und mehr Items umfassen. Die Herausforderungen in der Hilfebedarfsermittlung betreffen nicht nur Menschen mit geistiger Behinderung und einer Demenzerkrankung, sondern generell ältere Menschen mit geistiger Behinderung. Deshalb wünschen sich Behinderteneinrichtungen: „[…] dass noch mal speziell für ältere Menschen geguckt wird […]“ (W2/41). Dazu muss der Hilfebedarf nach neuen Leitlinien, speziell für ältere Menschen mit geistiger Behinderung, bewertet werden. Die Interviewpartner(innen) fordern, dass die Intensität des Hilfebedarfs berücksichtigt und dass gleichzeitig auf unterschiedliche Komorbiditäten eingegangen wird. Dazu müsste konsequenterweise auch der Begriff der stellvertretenden Übernahme überdacht werden. Weiterhin wünschen sie sich, dass verbundene Bedarfe in mehreren Items abbildbar sein müssten, wenn der Hilfebedarf mit den gleichen Mitteln durchgeführt wird, aber mit einer anderen Zielsetzung verbunden ist. Gleichzeitig sollten zusätzliche Unterlagen zur Ermittlung des Hilfebedarfs anerkannt werden. Umfassendere beschreibende Unterlagen werden vom Kostenträger kaum berücksichtigt. Die Interviewpartner(innen) sprechen sich dafür aus, dass der Hilfebedarf in kürzeren Abständen ermittelt wird, um so demenzspezifische Veränderungen

Fazit Die zuvor dargestellten Ergebnisse beziehen sich ausschließlich auf die Aussagen (Meinungen, Empfindungen, Gefühle, Praxiserfahrungen) der Mitarbeiter(innen) der Einrichtungen – Kostenträger wurden nicht befragt. Daher können keine Aussagen über die Sichtweise der Kostenträger getätigt werden, eine entsprechende Erhebung wäre wünschenswert, um den Sachverhalt in einem größeren Bezugsrahmen diskutieren zu können. Die Durchführung des HMB-W-Verfahrens wird von den befragten Interviewpartner(inne)n meist positiv bewertet. Ein Mensch mit geistiger Behinderung kann auf der Basis des ermittelten individuellen Hilfebedarfs gezielt in sämtlichen Lebensbereichen gefördert werden. Damit eine Anpassung der Bedarfsermittlung bei älteren Menschen mit geistiger Behinderung mit und ohne Demenz möglich wird, bedarf es einer guten Zusammenarbeit seitens Kostenträger und Einrichtungen im Umgang mit kurzfristigen und langfristigen Zielen bei demenziell erkrankten Menschen mit geistiger Behinderung und deren Abbildung im HMB-W-Verfahren. Bisher werden „Erhaltungsziele“ kaum von den Behinderteneinrichtungen als Förderziele definiert und von Kostenträgern selten anerkannt. Um diese Ziele im HMB-W-Verfahren abbilden zu können, müssten laut Interviewpartner(innen) adäquate Angebote für diesen Personenkreis in den Behinderteneinrichtungen entwickelt und etabliert werden. Somit wären „Erhaltungsziele“ im eigentlichen Sinne Förderziele, die mit einem entsprechenden Hilfebedarf bewertet werden müssten. Trotz der hohen Intensität der notwendigen Betreuung wird es für die Mitarbeiter(innen) der Einrichtungen immer schwieriger, einen hohen Hilfebedarf nach dem HMB-W-Verfahren geltend zu machen. Die zeitintensive Betreuung müsste sich im HMB-W-Verfahren niederschlagen. Hierzu sollte die Abbildung der verbundenen Bedarfe angepasst werden. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen MÜLLER und WOLFF (2012, 158 f.), die in ihrer Fragebogenerhebung feststellen, dass eine diagnos-

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tizierte Demenz nicht zu einem Anstieg höherer Hilfebedarfsgruppen führte. GÖVERT et al. (2013, 145 ff.) bestätigen mit ihren in Interviews gewonnen Daten die zeitintensive Betreuung der Demenzkranken und das Gefühl der Mitarbeiter(innen), den Bedürfnissen der Bewohner(innen) nicht mehr gerecht werden zu können. Um den zum Teil schnellen Abbauprozess der Demenz (vgl. BALL et al. 2008; MÜLLER, WOLFF 2012, 156 ff.) abbilden zu können, müssten die Zeitfenster der Bedarfsüberprüfung enger gefasst werden. Dadurch könnten Veränderungen der demenziellen Erkrankung früher erkannt und präventive Maßnahmen gezielt durchgeführt werden.

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Der Betreuungsschwerpunkt richtet sich im Spätstadium der Demenz auf die pflegerische und palliative Versorgung, welche ganz allmählich in den Fokus rückt (vgl. ANTRETTER, NICKLAS-FAUST 2014, 38 f.; MÜLLER, WOLFF 2012, 158 f.). Dies setzt eine Spezialisierung der Behinderteneinrichtungen auf die Pflege voraus, damit ein Mensch mit geistiger Behinderung und Demenz so lange wie möglich in einer Einrichtung der Behindertenhilfe betreut werden kann. Fehlt diese, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit eines Umzugs des Menschen mit geistiger Behinderung in eine andere stationäre Einrichtung. Die befragten Interviewpartner(innen) wünschen sich, dass ein Mensch mit geistiger Behinderung bis zum Lebensende in der Behinderteneinrichtung wohnen bleiben kann. Dadurch haben Menschen mit geistiger Behinderung die Möglichkeit, in ihrer vertrauten Umgebung zu verbleiben, sowie auf ein bestehendes soziales Netzwerk zurückzugreifen. Hinzu kommt, dass Altenpflegeeinrichtungen bisher nicht auf die Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung eingestellt sind. Dies wiederum bedeutet, dass Menschen mit geistiger Behinderung und Demenz in einer Hilfebedarfsgruppe abgebildet werden müssten, die den Betreuungsaufwand der Mitarbeiter(innen) der Einrichtungen widerspiegelt. Untermauert werden diese Aussagen von WOLFF und MÜLLER (2014, 400 f.) die feststellten, dass 25 % der Behinderteneinrichtungen angeben, dass ein Mensch mit geistiger Behinderung und Demenz teilweise eine permanente Zuwendung und Rund-um-die-Uhr-Betreuung benötigt. Aufgrund der Betreuungsintensität eines Menschen mit geistiger Behinderung und Demenz sehen die Interviewpartner(innen) einen hohen Hilfebedarf und empfinden, dass Kostenträger bei Menschen mit geistiger Behinderung

und Demenz, aufgrund der Abbauprozesse, einen niedrigeren Hilfebedarf sehen. Menschen mit geistiger Behinderung und Demenz benötigen gerade aufgrund der demenziellen Abbauprozesse Förderungen und Begleitung, so dass eine Teilhabe an der Gemeinschaft ermöglicht wird. Einrichtungen der Behindertenhilfe sind für diese Aufgabe, aufgrund ihrer Erfahrung in der Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung, optimal qualifiziert. Die Darstellung der Förderungen im HMB-W-Verfahren und deren Umsetzung durch die Mitarbeiter(innen) der Einrichtungen gewinnt immer mehr an Bedeutung. Die Durchführung entsprechender Förderungen und die Sicherung der Pflege sind relevant, um einem Umzug aus der entsprechenden Einrichtung vorzubeugen.5 L I T E R AT U R ANTRETTER, Robert; NICKLAS-FAUST, Jeanne (2014): Menschen mit geistiger Behinderung inmitten der Gesellschaft – was wollen und was brauchen sie? In: Bruhn, Ramona; Straßer, Benjamin (Hg.): Palliative Care für Menschen mit geistiger Behinderung. Interdisziplinäre Perspektiven für die Begleitung am Lebensende. Stuttgart: Kohlhammer, 36–39. BALL, Sarah L.; HOLLAND, Anthony J.; TREPPNER, Peter; WATSON, Peter C.; HUPPERT, Felicia A. (2008): Executive dysfunction and its association with personality and behavior changes in the development of Alzheimer's disease in adults with Down syndrome and mild to moderate learning disabilities. In: British Journal of Clinical Psychology 47 (1), 1–29. DIECKMANN, Friedrich; GIOVIS, Christos (2012): Der demografische Wandel bei Erwachsenen mit geistiger Behinderung. Vorausschätzung der Altersentwicklung am Beispiel von Westfalen-Lippe. In: Teilhabe 51 (1), 12–19. Gemeinsame Kommission (2011): Niedersächsische Anwendungshinweise zum HMB-W Verfahren. Verfahren der Zuordnung von Leistungsberechtigten zu Gruppen für Leistungsberechtigte mit vergleichbarem Hilfebedarf (Anlage 4 FFV LRV gem. § 79 Abs. 1 SGB 12). Beschluss GK FFV LRV 8. Sitzung. www.soziales. niedersachsen.de/startseite/behinderte_ menschen/eingliederungshilfe_behinderte_ menschen/bedarf-feststellung-desbedarfs-gruppen-fuer-leistungs berechtigte-mit-vergleichbarem-bedarf94870.html (abgerufen am 09.01.2014). Gesetze für die Soziale Arbeit (2013): Textsammlung. Baden-Baden: Nomos.

GLÄSER, Jochen; LAUDEL, Grit (2010): Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse. Wiesbaden: VS. GÖVERT, Uwe; WOLFF, Christian; MÜLLER, Sandra V. (2013): Geistige Behinderung und Demenz. Experteninterviews mit Fachkräften aus Einrichtungen der Behindertenhilfe. In: Tagungsreihe der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e. V.: „Zusammen leben – voneinander lernen“. Berlin: Deutsche Alzheimer Gesellschaft e. V., 143–148. MÜLLER, Sandra V.; WOLFF, Christian (2012): Demenzdiagnostik bei Menschen mit geistiger Behinderung. Ergebnisse einer Befragung. In: Teilhabe 51 (4), 154–160. NIEDIEK, Imke (2010): Das Subjekt im Hilfesystem. Eine Studie zur Individuellen Hilfeplanung im Unterstützten Wohnen für Menschen mit einer geistigen Behinderung. Wiesbaden: VS/Springer Fachmedien. WOLFF, Christian; MÜLLER, Sandra V. (2014): Die Lebenssituation von geistig behinderten Menschen mit Demenz in Einrichtungen der Behindertenhilfe. Ergebnisse einer Befragung in Niedersachsen und Bremen. In: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 47 (5), 397–402.

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Die Autoren: Christian Wolff Master of Arts in Social Work, Dipl. Sozialpädagoge/Sozialarbeiter, Tel.: 05331/93937370

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Uwe Gövert Master of Arts in Social Work, Tel.: 05331/93937270

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Dr. Bettina Kuske Dipl. Psychologin, Tel.: 05331/93937430

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Prof. Dr. Sandra Verena Müller Dipl. Psychologin, Tel.: 05331/93937270, Fax: 05331/93937272

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(Förderkennzeichen: 17S01X11).

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