Das 20. Jahrhundert zwischen Diktatur und Demokratie

Andreas Wirsching  Das 20. Jahrhundert zwischen Diktatur und Demokratie (Vortrag, gehalten am 12. Februar 2013 bei der KAS in Berlin zu Ehren des 70....
Author: Mathilde Fuchs
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Andreas Wirsching 

Das 20. Jahrhundert zwischen Diktatur und Demokratie (Vortrag, gehalten am 12. Februar 2013 bei der KAS in Berlin zu Ehren des 70. Geburtstags von Rainer Eppelmann) 

  Die neuere historische Wissenschaft hat immer wieder und mit Recht davor gewarnt, sich  von den politischen Zäsuren und Umbrüchen blenden zu lassen. Allzu sehr lauern in einer  solchen  Betrachtungsweise  teleologische  Versuchungen  und  die  Gefahr,  die  Geschichte  auf  die  großen  Haupt‐  und  Staatsaktionen  zu  verkürzen.  Umgekehrt  aber  wird  niemand  bezweifeln,  daß  jede  Betrachtung  der  deutschen  und  europäischen  Geschichte  des  20.  Jahrhunderts  unvollständig,  ja  blind  bleibt,  wenn  sie  nicht  deren  geradezu  episches  Widerspiel  von  Diktatur  und  Demokratie  –  und  damit  eben  doch  wieder  die  großen  politischen  Zäsuren  –  beachtet  und  konzeptionell  ernst  nimmt.  Hier  stehen  wir  also  vor  einem methodischen Dilemma zeitgeschichtlicher Betrachtung.    Ich  schlage  vor,  daß  wir  uns  aus  diesem  Dilemma  befreien,  indem  wir  uns  auf  die  Erfahrungsgeschichte  von  Diktatur  und  Demokratie  konzentrieren.  Ich  werde  also  nicht  primär über die großen Umbrüche selbst –  von 1918 über 1933, von 1945/49 bis hin zu  1989/90  –  sprechen,  nicht  primär  über  die  große  Politik,  die  großen  Verfassungsfragen,  aber  auch  nicht  über  die  monströsen  Verbrechen,  die  von  den  vielen  Haupt‐  und  Mittätern der Diktaturen des 20. Jahrhunderts begangen worden sind.  Ich frage vielmehr  nach der subjektiven Erfahrung der Akteure in der Geschichte: nach ihren Empfindungen  und Emotionen, Hoffnungen und Erwartungen, aber auch nach ihren Enttäuschungen und  Neuanfängen.  Der  Lebenslauf  von  Rainer  Eppelmann,  dessen  70.  Geburtstag  wir  heute 

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begehen, vermittelt uns  hierzu reichlich Anlaß und breites Anschauungsmaterial. Denn er  ist  tief  eingewoben  in  die  deutsche  Erfahrung  von  Diktatur  und  Demokratie  im  20.  Jahrhundert und er hat selbst nachhaltig und eindrücklich über diese seine persönlichen  Erfahrungen nachgedacht.    Bei der Vorbereitung meines Vortrags stellte ich fest, daß Ihre politische Biographie, sehr  geehrter  Herr  Eppelmann,  dazu  inspiriert,  sich  der  erfahrungsgeschichtlichen  Dimension  unseres Themas mittels dreier Gedankengänge anzunähern. Das möchte ich jetzt tun, und  die  Stichworte  dazu  lauten:  erstens  Emotion  und  Erwartung;  zweitens  Enttäuschung;  drittens Neuorientierung in der demokratischen Komplexität.    Zunächst  also:  Emotion  und  Erwartung.  Alle  Systemumbrüche  in  der  deutschen  und  europäischen  Geschichte  des  20.  Jahrhunderts  waren  getragen  und  begleitet  von  einer  Veränderung  der  kollektiven  Emotionen.  Stets  entstand  etwas,  was  man  emotional  communities nennen könnte, Gefühlsgemeinschaften, deren Gleichklang dem politischen  Systemwechsel  vorausging  bzw.  ihn  ermöglichte  und  begleitete.  Aus  dem  Jahre  1918  kennen wir die zahlreichen Zeugnisse von schwerster Erschütterung und Depression, von  Weinkrämpfen  und  Zusammenbrüchen,  die  gestandene  Männer  bei  der  Einsicht  in  das  Unvermeidliche erfaßten: nämlich die unabwendbare Niederlage im Ersten Weltkrieg und  das just zu einem Zeitpunkt, da die Hoffnungen auf den deutschen Sieg ihren Höhepunkt  erreicht hatten. Zugleich aber keimten die Hoffnungen auf eine neue Ära demokratischer  und sozialer Umgestaltung. Der 9. November 1918 setzte hochfliegende Erwartungen frei. 

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Die  Revolution  regte  die  politisch‐soziale  Phantasie  an,  und  im  „Traumland  der  Waffenstillstandsperiode“1,  wie  Ernst  Troeltsch  diese  Phase  genannt  hat,  hegten  viele  Deutsche geradezu utopische Hoffnungen.    Bald  aber  dominierte  in  der  so  vielfach  traumatisierten  Gesellschaft  der  Weimarer  Republik das Gefühl, in der Geschichte zu kurz zu kommen. Wenn sich in der Gegenwart  nur allzu oft das Gefühl der Deklassierung und die blanke Not paarten, so entsprach dem  die Hoffnung auf künftige Erlösung. Politische Sprache und Symbolik der Weimarer Kultur  kennzeichnete  daher  ein  „Modus  der  Verheißung“2,  wie  Bernd  Weisbrod  das  treffend  genannt  hat,  ja  eine  quasi‐messianische  Sehnsucht.  Und  es  war  eben  diese  emotionale  Atmosphäre,  die  Hitlers  charismatische  Wirkung  auf  einen  großen  Teil  der  deutschen  Gesellschaft  erklärt.  Viele  Deutsche  begannen  an  das  verheißene  Bild  der  nationalsozialistischen Volksgemeinschaft zu glauben, in dem das Unglück der Gegenwart  überwunden  und  in  der  Zukunft  Gerechtigkeit,  Wohlergehen  und  Anerkennung  erreicht  werden würden.    Halten wir also fest: Sowohl 1918 die Demokratie wie auch 1933 die Diktatur wurden mit  überwältigenden  Emotionen  und  hochfliegenden  Erwartungen  begrüßt.  Ganz  anders  stellte sich die Situation in Deutschland nach 1945 dar. Aufgrund der totalen Niederlage  und 

der 

vollständigen 

Delegitimation 

des 

Nationalsozialismus 

waren 

die 

                                                             1

 Ernst Troeltsch, Spektator‐Briefe. Aufsätze über die deutsche Revolution und die Weltpolitik 1918‐1922,  hg. v. Hans Baron, Tübingen 1924, S. 69.  2  Bernd Weisbrod, Die Politik der Repräsentation. Das Erbe des Ersten Weltkrieges und der Formwandel der  Politik in Europa, in: Hans Mommsen (Hg.), Der Erste Weltkrieg und die europäische Nachkriegsordnung.  Sozialer Wandel und die Formveränderung der Politik, Köln u.a. 2000, S. 13‐41, hier S. 31. 

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Erwartungshorizonte der Deutschen weitgehend auf null gestellt. Das gilt sowohl für die  westdeutsche  Demokratiegründung  als  auch  für  die  Etablierung  der  DDR.  Und  machen  wir uns nichts vor: Auch in Westdeutschland war es anfangs keineswegs ausgemacht, daß  die Bundesrepublik den Menschen politische Stabilität, ökonomisches Wohlergehen und  daher  auch  gesteigerte  Möglichkeiten  des  privaten  Glücks  bringen  würde.  Um  in  Deutschland ein der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vergleichbares Maß an politischen  Emotionen und Erwartungen anzutreffen, muß man schon bis in das Jahr 1989 gehen.    Die  Diktatur  hatte  aber  noch  eine  andere,  in  dieser  Form  neue  emotionale  Grunderfahrung ins Spiel gebracht, und das war die Angst. Das NS‐Regime beruhte nicht  nur  auf  begeisterter  Zustimmung,  sondern  ebenso  sehr  auf  Gewalt  und  Terror.  Dementsprechend  verbreitete  sich  unmittelbar  nach  dem  30.  Januar  1933  die  Angst  als  eine  wichtige  Ressource  des  Regimes.  Angst  bewirkt  das  Gegenteil  von  Hoffnung  und  Vertrauen.  Eine  optimistisch  gestimmte  Erwartung  setzt  die  Menschen  in  Bewegung,  Angst  jedoch  lähmt  sie.  Diese  Erfahrung  mußten  die  Deutschen  in  der  Sowjetischen  Besatzungszone und dann in der DDR ein zweites Mal binnen einer Generation machen.  Denn  der  Zwangs‐,  ja  Gewaltcharakter  des  Sowjetkommunismus  war  ebenfalls  schon  längst  zutage  getreten.  Er  setzte  sich  nach  1945  und  im  Prinzip  auch  nach  dem  Tode  Stalins  fort.  1953  in  der  DDR,  1956  in  Ungarn  und  1968  in  der  Tschechoslowakei:  Diese  Daten  gerieten  nicht  in  Vergessenheit,  im  Gegenteil,  die  Erinnerung  an  sie  wirkte  fort,  verstärkte  latente  Ängste  und  weckte  offene  Gegensätze.  Kommunistische  Machthaber  konnten  sich  ihrer  Position  ohne  den  Rückhalt  durch  die  Rote  Armee  nicht  sicher  sein; 

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umgekehrt mußten aktive Regimegegner immer mit physischer Unterdrückung rechnen.  Niemals  in  freien  Wahlen  an  die  Macht  gekommen,  verkörperte  der  Kommunismus  für  die  große  Mehrheit  der  osteuropäischen  Bevölkerungen  ein  Zwangs‐  und  Unrechtssystem,  und  als  solches  mangelte  es  ihm  strukturell  und  dauerhaft  an  Legitimität.  Als  ihre  wichtigste  emotionale  Ressource  blieb  daher  auch  den  kommunistischen Regimen letztlich nur die Angst ihrer Bevölkerung.     Emotionsgeschichtlich wurde  es  dann  zum  Spezifikum  des  Jahres  1989,  daß  diese  Angst  katalytisch überwunden wurde, und die Sorge der Opponenten und Demonstranten wich,  Leib oder gar Leben zu riskieren. Man muß sich die Überwindung der Angst im Jahre 1989  nachdrücklich  vor  Augen  führen,  um  ihre  historische  Tragweite  zu  erkennen.  Mehr  als  zwei Generationen – von 1933 bis 1989 – lebten die Ostdeutschen unter einem Regime  der Angst. Joachim Gauck hat eindrücklich beschrieben, wie er als Pfarrer in Rostock ihre  Überwindung erlebte.3 Für einen kurzen historischen Moment wurden die in politischen  Verbänden  und  Demonstrationszügen  mobilisierten  Gesellschaften  emotional  gleichgerichtet.  Es  entstanden  neue  emotional  communities,  die  neues  Vertrauen  erzeugten  und  in  bis  dahin  nicht  dagewesener  Weise  kollektives  Handeln  erlaubten.  Solche  emotionale  Vergemeinschaftung  gehörte  zu  den  Grunderfahrungen  des  Jahres  1989, sei es bei den Leipziger Montagsdemonstrationen, sei es – schon länger etabliert –  in den kirchlichen Versammlungen etwa in der Berliner Samariter‐Gemeinde, der Rainer  Eppelmann als Pfarrer vorstand und von denen er in seinen Erinnerungen berichtet.                                                               3

 Joachim Gauck, „Wir sagen unserer Angst auf Wiedersehen!“: Von der Auflösung der Stasi zum  Stasiunterlagengesetz, in: Eckart Conze et al. (Hrsg.), Die demokratische Revolution 1989 in der DDR, S. 170‐ 181. 

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 Interessant  ist  der  international  vergleichende  Blick.  Denn  ganz  sicher  gab  es  in  den  Staaten  und  Gesellschaften  des  Warschauer  Paktes  unterschiedliche  Gefühlshaushalte,  und  die  kollektiv  sich  Bahn  brechenden  Emotionen  waren  politisch‐historisch  unterschiedlich codiert. In der DDR überwog lange Zeit die Angst, und erst ihre kollektive  Überwindung brachte im Herbst 1989 den entscheidenden Durchbruch. In Polen dagegen  läßt  sich  ein  gleichsam  heroisch  codierter  Gefühlshaushalt  beobachten,  der  den  langjährigen  Kampf  von  Solidarność  ermöglichte  und  nicht  zuletzt  durch  die  Rolle  Johannes  Pauls  II.  beeinflußt  war.  „Habt  keine  Angst“:  Diese  Worte,  die  der  Papst  bei  seiner ersten Ansprache 1978 in den Ostblock sandte, verfehlten zumindest in Polen ihre  Wirkung nicht.    Ich  komme  nun  zu  meinem  zweiten  Stichwort,  und  das  lautet  Enttäuschung.  Enttäuschung  ist  eine  Grundkategorie  historischer  Erfahrung,  die  meines  Erachtens  fundamental  unterschätzt  wird  und  noch  genauerer  Erforschung  bedarf.  Immer  dann  nämlich, wenn die Menschen gewaltige Hoffnungen hegten und dementsprechend ihren  politischen Erwartungshorizont weit spannten, ebneten sie damit doch unvermeidlich den  Weg  zur  Enttäuschung.  Enttäuschung  wird  damit  zu  einer  Grundemotion  in  der  Geschichte  der  Demokratie  wie  in  der  Diktatur.  Die  Weimarer  Republik  etwa  läßt  sich  geradezu  paradigmatisch  als  eine  Gesellschaft  der  Enttäuschten  charakterisieren.  Einerseits war der hochgesteckte Erwartungshorizont nicht nur des nationalen Lagers auf  einen  Sieg  im  Weltkrieg  fundamental  enttäuscht  worden.  Andererseits  hatte  die  soziale  und  politische  Bewegung  der  Novemberrevolution  utopische  Erwartungen  auf  eine 

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politisch‐soziale – und auch moralische – Neuordnung geweckt, die nach Lage der Dinge  ebenfalls nur enttäuscht werden konnten.    Auch die Diktaturen lassen sich als Enttäuschungsgeschichten lesen. Stets beschworen sie  in  ihrer  Propaganda  den  säkularen  historischen  Fortschritt  für  das  Volk,  scheiterten  an  ihren  ideologischen  Ansprüchen  und  lagen am Ende  im  Staub.  Im  NS‐Regime  waren  vor  allem  jene  Nationalkonservative  enttäuscht,  die  sich  von  Hitler  die  Versöhnung  der  inneren Gegensätze und den nationalen Wiederaufstieg erhofften, bald aber, und freilich  viel  zu  spät,  begriffen,  daß  seine  Herrschaft  Entrechtung  und  Gewalt  bedeutete.  Und  mehr  noch  vielleicht  läßt  sich  die  Geschichte  der  DDR  als  eine  einzige  Enttäuschung  begreifen;  zumindest  gilt  dies  für  viele  vormals  überzeugte  Kommunisten  wie  Wolfgang  Leonhard, die sich schon Ende der 1940er Jahre vom SED‐Regime abwandten. Andere wie  Robert Havemann blieben im Lande, verharrten aber in einer dissidenten Position.     Ganz  anders  die  frühe  Bundesrepublik:  Hier  bestand  kein  Erwartungsüberschuß,  im  Gegenteil,  vor  dem  Hintergrund  der  katastrophalen  Lage  des  Jahres  1945  erzielten  politische  Verheißungsversprechen  wenig  Wirkung  und  es  ging  im  Grunde  zunächst  einmal  um  das  bloße  Überleben.  Dementsprechend  hielt  sich  auch  das  Enttäuschungspotential  in  weitaus  engeren  Grenzen,  als  dies  1918/19  der  Fall  gewesen  war.  In  anderen  Ländern  dagegen,  wie  etwa  in  Großbritannien,  provozierte  die  reale  Ausgestaltung  der  demokratischen  Nachkriegsordnung  vor  dem  Hintergrund 

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hochgesteckter  und  moralisch  aufgeladener  Erwartungen  –  nach  der  Niederringung  Hitlers –  weitaus massivere Enttäuschungen.    Vergleichbares galt dann für die Zeit nach 1989, worauf ich jetzt etwas näher zu sprechen  kommen  möchte.  Mit  dem  Durchbruch  zur  Freiheit  brach  sich  der  „Gefühlsstau“4,  von  dem  Hans‐Joachim  Maaz  für  die  DDR  gesprochen  hat,  schlagartig  Bahn.  Aber  dies  hatte  einen  politischen  Preis.  Denn  als  die  Freiheit  erreicht  war,  ging  auch  die  emotionale  Kohärenz  der  gesellschaftlichen  Bewegungen  verloren.  Das  ist  in  praktisch  allen  kommunistischen  Transformationsstaaten  so  gewesen.  Ziel  der  sich  formierenden  Massenbewegungen  des  Jahres  1989  war  die  Beseitigung  oder  zumindest  die  Fundamentalreform  der  kommunistischen  Regime.  Mit  dem  Fall  der  Mauer  in  der  DDR,  dem  Runden  Tisch  in  Polen,  dem  Sturz  des  Kommunismus  in  Ungarn  oder  der  Tschechoslowakei war dieses unmittelbare Ziel der Bewegung erreicht. Und wie so häufig  in  der  Geschichte  gelang  es  nicht,  die  in  der  Auseinandersetzung  gestählten  emotional  communities in eine starke politische Bewegung zu überführen.    Im  Gegenteil,  viele  Gesinnungs‐  und  Gefühlsgemeinschaften,  die  sich  etwa  in  der  Umbruchphase  der  DDR  gebildet  hatten,  zerbrachen  nun,  und  das  war  für  viele  die  vielleicht bitterste Enttäuschung der friedlichen Revolution: daß sich nämlich der ebenso  idealistische wie entbehrungsreiche, bürgerrechtlich erkämpfte und direkt‐demokratisch  orientierte  Schwung  des  Jahres  1989  und  der  darauf  gründende  Konsens  der  Oppositionszeit nicht in die neue Zeit hinüberretten ließ. Diese Enttäuschung blieb weder                                                               4

 Hans‐Joachim Maaz, Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR, Berlin 1990. 

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den ostdeutschen noch den tschechischen Bürgerrechtlern, weder dem Neuen Forum in  der  DDR  noch  dem  Bürgerforum  in  der  Tschechoslowakei  erspart.  Und  selbst  die  stolze  Solidarność,  die  ja  in  Polen  die  Brücke  geschlagen  hatte  zwischen  Arbeitern  und  Intellektuellen, zerbrach an ihren inneren Widersprüchen. Nicht Tadeusz Mazowiecki, der  feinsinnige Intellektuelle, erhielt bei den Präsidentschaftswahlen vom Dezember 1990 das  Mandat  zum  Aufbruch  in  das  neue  Polen,  sondern  Lech  Wałęsa,  dessen  Appell  an  die  Einheit  der  Nation  auf  nicht  wenige  populistisch,  antipluralistisch,  machtehrgeizig  und  grobschlächtig wirkte.    Auch  Rainer  Eppelmann  hat  solche  Enttäuschungen  persönlich  erfahren.  Die  Bürgerbewegung  in  der  DDR  blieb  uneins  über  der  „Machtfrage“,  also  über  der  Frage  einer  Regierungsbeteiligung.  Die  Volkskammerwahl  vom  18.  März  1990  konstituierte  dabei eine wichtige Scheidelinie. Rückblickend diagnostizierte Rainer Eppelmann, daß die  Gemeinsamkeiten  schon  seit  Oktober  1989  „zerbröselten“.  Bald  „vollzog  sich  […]  eine  Trennung  von  vielen  meiner  ehemaligen  Freunde  und  Mitstreiter  aus  der  Bürgerrechtsbewegung. […] Meine Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen und mich  damit  auch  der  Machtfrage  zu  stellen,  haben  viele  von  mir  abrücken  lassen.  Die  eine  Gruppe  wollte  „Bewegung“  bleiben,  die  andere,  zu  der  auch  ich  gehörte,  wollte  eine  demokratische Partei.“5   

                                                             5

  Rainer  Eppelmann,  Wendewege.  Briefe  an  die  Familie,  hrsg.  v.  Dietmar  Herbst,  Bonn/Berlin  1992,  hier  zitiert: Brief an Evi, 10. April 1990, S. 5f. 

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Tatsächlich  verbreitete  sich  Anfang  der  1990er  Jahre  überall  in  Mittel‐  und  Osteuropa  eine  umfassende,  durch  Desillusionierung  und  Unzufriedenheit  gespeiste  Malaise.  Sie  entsprang  keineswegs  nur  der  Enttäuschung  der  Bürgerrechtler;  vielmehr  war  auch  die  Masse der Bürger selbst enttäuscht, und die Zustimmung der Bevölkerung zur Demokratie  und  zur  eigenen  Regierung  ging  deutlich  zurück.  Von  wirtschaftlichen  Alltagsproblemen  geplagt, mußten die Menschen in Osteuropa die Hoffnung auf eine rasche Verbesserung  ihrer 

Lage 

aufgeben. 

Transformationsländern 

Soweit  die 

demoskopisch 

Zufriedenheit 

und 

faßbar, 

sanken 

das 

Vertrauen 

in  in 

allen  die 

Problemlösungskompetenz  der  Demokratie  und  ihrer  Repräsentanten  deutlich  ab.  „Der  euphorische  Aufbruch  des  Jahres  1989  hat  einer  nüchternen  und  sorgenvollen  Stimmungslage  Platz  gemacht.  Enttäuschung,  Erschöpfung,  politische  Apathie  und  nationalistische Emotionen prägen vielfach den mühsamen Alltag der neuen Demokratien  in  Ost‐Mitteleuropa“,  so  resümierten  die  Leiter  eines  großen  demoskopischen  Forschungsprojektes ihre Ergebnisse im Jahre 1992.6    Für jene Bürgerrechtler, die sich nach dem Umbruch in politischen Ämtern und Mandaten  um den Aufbau mühten, bedeutete dies eine erhebliche, auch psychische Belastung. Zu  ihnen gehörte auch Rainer Eppelmann, der am 3. Oktober 1991 – dem Tag der deutschen  Einheit  –  selbst  das  fundamentale  Paradox  diagnostizierte,  daß  aus  dem  gewaltigen  Freiheitsgewinn  kollektive  Enttäuschung  geworden  war:  „Politisch  haben  wir  alles  erreicht,  was  wir  in  den  Tagen  der  friedlichen  Revolution  auf  unseren  Transparenten                                                               6

 Peter Gerlich / Fritz Plaser / Peter A. Ulram (Hg.), Regimewechsel. Demokratisierung und politische Kultur  in Ost‐Mitteleuropa, Wien u.a. 1992, S. III, das Vorwort der Herausgeber. Zur empirischen Begründung siehe  die eingehenden Länderstudien in diesem Band. 

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forderten. Am wichtigsten waren uns: Reisefreiheit – Demokratie – Stasi in die Produktion  –  die  Einheit  Deutschlands  –  freie  Wahlen…  Das  alles  haben  wir  heute.  Dennoch  macht  sich bei vielen Bürgern Enttäuschung breit, obwohl es kaum einem von uns schlechter als  vorher geht.“7    Abschließend  möchte  ich  daher  die  Frage  aufwerfen,  wie  sich  diese  vielfältigen  Enttäuschungsprozesse und ihre Folgen historisch‐analytisch erklären lassen. Eine solche  intellektuelle  Anstrengung  zu  unternehmen,  ist  extrem  wichtig,  denn  sonst  gewinnen  allzu leicht die simplen Schuldzuweisungen die Oberhand, etwa nach dem Muster: dieser  oder  jener  Politiker  ist  eben  ein  Versager  oder  sogar  ein  Schuft,  diese  oder  jene  Regierungspartei  hat  gravierende  Fehler  gemacht  und  daher  geradezu  Schuld  auf  sich  geladen. Wir kennen diese Schuldzuweisungen nur allzu gut aus der Geschichte – so etwa  aus 

der 

Weimarer 

Republik: 

Vor 

dem 

Hintergrund 

der 

doppelten 

Enttäuschungsgeschichte des Jahres 1918/19 sah sich die Sozialdemokratie mit Friedrich  Ebert  an  der  Spitze  rasch  dem  Vorwurf  des  Arbeiterverrats  auf  der  einen,  dem  Landesverrat  auf  der  anderen  Seite  ausgesetzt.  Auch  Rainer  Eppelmann  litt  unter  dem  Ressentiment,  das  ihm  von  seinen  früheren,  von  ihm  persönlich  enttäuschten  Mitstreitern  in  der  Berliner  Samariter‐Gemeinde  entgegenschlug,  nachdem  er  das  Amt  des  Ministers  für  Abrüstung  und  Verteidigung  der  DDR  übernommen  hatte.  „Einige  Freunde von gestern“, so schrieb er im Juli 1990, „behandeln mich wie einen Aussätzigen,  gar wie einen Feind.“8                                                               7 8

 Rainer Eppelmann, Wendewege, Brief an Evi, 3. Oktober 1991, S. 191.   Rainer Eppelmann, Wendewege, Brief an Evi, 15. Juli 1990, S. 104. 

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  Diesem  Phänomen  liegt  ein  Mechanismus  zugrunde,  den  ich  mit  meinem  dritten  und  letzten Stichwort Neuorientierung in der Komplexität  nenne. Denn die demokratischen  Umbrüche  des  20.  Jahrhunderts  bargen  in  dem  Maße  Enttäuschungen,  in  dem  sich  gehegte  Erwartungen  nicht  an  die  faktische  Komplexität  und  den  grauen  Alltag  demokratischer  Politik  adaptieren  konnten  oder  wollten.  Umgekehrt  standen  jene  Akteure,  die  ihre  Erwartungen  reduzierten  und  sich  vor  dem  Hintergrund  ihrer  eigenen  Enttäuschungen  neu  orientierten,  vor  der  immensen  Herausforderung,  demokratische  Komplexität  zu  ertragen  und  politisch  zu  bewältigen.  Immer  wieder  –  und  besonders  in  der  Weimarer  Republik  –  hatten  sie  es  dabei  mit  Demagogen  zu  tun,  die  sich  der  unausweichlich  komplexen  Wirklichkeit  der  modernen  Massendemokratien  kognitiv  verweigern.  Sie  lehnten  (und  lehnen)  es  ab,  die  pluralistisch  verfasste  Realität  freiheitlicher  politischer  Systeme  zum  Ausgangspunkt  einer  demokratisch  legitimierten  und sachbezogenen Politik zu machen. Statt dessen zwängen sie die politisch‐kulturellen  und  sozial‐ökonomischen  Spannungen,  Gegensätze  und  Konflikte,  die  den  modernen  Gesellschaften  notwendig  innewohnen,  in  die  Kategorien  eines  pseudo‐moralischen  Rigorismus  hinein.  Die  unausweichliche  Komplexität  wird  dann  durch  konkrete  Schuldzuschreibungen vereinfacht.    Hitler  etwa  brandmarkte  den  „künstlichen  Zersetzungsprozeß  der  Komplizierung“,  dem  das  öffentliche  Leben  unterliege.  „Wohin  wir  heute  blicken“,  so  deklamierte  er  1927  unter dem „stürmischem Beifall“ seines Publikums, „werden die natürlichsten Vorgänge 

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des  Lebens,  die  selbstverständlichen  Voraussetzungen  des  Lebens,  so  kompliziert  dargestellt und künstlich so kompliziert, daß besonders die breite Masse eines Volkes gar  keinen  inneren  Einblick  mehr  erhalten  kann.  Wir  sehen,  wie  man  hier  planmäßig  diese  Verwirrung  der  Begriffe  anstiftet,  und  zwar  mit  dem  ausgesprochenen  Zweck,  dadurch  Millionen von Menschen das gesunde natürliche Empfinden zu verwirren.“9    Solche  ideologischen  Zuspitzungen,  wie  sie  in  den  totalitären  Diktaturen  zum  System  wurden,  begründen  die  radikale  Absage  an  den  spezifischen  Epochencharakter  der  Moderne, den nämlich die fortschreitende Steigerung der Komplexität kennzeichnet. Wir  haben es in ihr mit der unaufhaltsamen Tendenz zu einer „abstrakten Gesellschaft“10 zu  tun,  um  einen  Begriff  des  niederländischen  Soziologen  Anton  Zijderveld  aufzunehmen.  Deren  Charakteristikum  ist  es,  daß  sich  ihre  Entscheidungsmechanismen  immer  weiter  ausdifferenzieren  und  damit  undurchsichtig,  fragmentiert  und  fremdgesteuert  erscheinen. Die Folgen solch ungreifbarer, scheinbar „abstrakter“ Mechanismen werden  allerdings als höchst konkret empfunden. Eine kohärente soziale Kommunikation, in der  kollektive  Erwartungen,  politisch‐soziale  Willensäußerungen  und  Entscheidungen  miteinander  übereinstimmen,  ist  unter  diesen  Bedingungen  nicht  möglich.  Tatsächlich  sind in einer freien und pluralistischen Gesellschaft schon die bloße Zahl der Akteure, die  Vielfalt  ihrer  Interessen  und  die  Komplexität  der  Willensbildungsprozesse  so  weit  angewachsen,  dass  eine  gleichmäßige  Befriedigung  aller,  im  einzelnen  höchst                                                               9

  Adolf  Hitler,  Reden,  Schriften,  Anordnungen.  Februar  1925  bis  Januar  1933,  Bd.  II/2  (August  1927  ‐  Mai  1928), hrsg. von Bärbel Dusik, München u.a. 1992, Dok. 203 (10.12.1927), S. 571f.  10  Anton C. Zijderveld, Die abstrakte Gesellschaft. Zur Soziologie von Anpassung und Protest, Frankfurt a. M.  1972.  

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unterschiedlicher  Erwartungen  schlicht  ausgeschlossen  ist.  Dissonanzen  zwischen  Willensbildung und Erwartungshorizonten – anders gesagt: Enttäuschungen – sind daher  unvermeidlich und ein untrügliches Kennzeichen moderner Demokratien. Der graue Alltag  der  Demokratie  gleicht  mithin  dem  stets  notwendigen  Versuch,  die  Komplexität  der  politischen Welt kommunikativ zu reduzieren – ein Versuch der ebenso anstrengend ist,  wie seine Resultate notwendig defizient bleiben.     Eben dies prägte auch die Situation 1989/90. Als etwa Václav Havel Anfang Juli 1990 vom  ersten  frei  gewählten  Parlament  der  Tschechoslowakei  als  Staatspräsident  bestätigt  wurde, bemerkte er auf einmal, „daß ich deprimiert war. […]Wir begriffen, daß die Poesie  zu Ende gegangen war und die Prosa begonnen hatte. Der Karneval war zu Ende, und der  Alltag  begann.“11  In  allen  postkommunistischen  Staaten  stellten  die  Bevölkerungen  und  Politiker bald fest, daß das Traumland des Übergangs genau dort endete, wo es galt, die  Freiheit  konkret  zu  gestalten:  Gesellschaften  mußten  geordnet,  politische  Strukturen  geschaffen  und  wirtschaftliche  Risiken  abgewogen  und  begrenzt  werden.  Und  ehrt  es  nicht  Akteure  wie  Václav  Havel,  ja  macht  es  nicht  geradezu  ihre  historische  Größe  aus,  daß  sie  sich  entsprechend  neu  orientierten?  Daß  sie  sich  auf  eben  diesen  grauen  demokratischen  Alltag  einließen,  ihre  Erwartungen  entsprechend  anpaßten  und  die  Sisyphusarbeit der stets scheiternden demokratischen Kommunikation auf sich nahmen?  Rainer  Eppelmann  gehört  zu  ihnen,  und  er  hat  diese  Situation  häufig  selbst  reflektiert.  „Aus  der  Warte  des  Ministers  –  und  […]  des  Bundestagsabgeordneten  –  sah  die  Welt                                                               11

  Václav  Havel,  Rede  zur  Eröffnung  der  Salzburger  Festspiele,  Juli  1990,  in:  Ders.,  Angst  vor  der  Freiheit.  Reden des Staatspräsidenten, Reinbek 1991, S. 100‐107, hier S. 100f. 

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komplizierter  aus  als  aus  dem  Blickwinkel  des  Gemeindepfarrers“  gestand  er  sich  1993   nüchtern ein.12    Es  war  diese  Geisteshaltung,  die  es  Rainer  Eppelmann  erlaubte,  das  demokratische  System  des  wiedervereinigten  Deutschland  trotz  seiner  Defizite  anzunehmen  und  stets  vehement  zu  verteidigen.  Wo  andere  die  demokratische  Komplexität  polemisch  wendeten, etwa im Sinne des: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“  (Bärbel Bohley), warnte Rainer Eppelmann explizit vor Pauschalurteilen und forderte eben  jene Rechtsstaatlichkeit auch für jeden einzelnen Mittäter der SED‐Diktatur ein.13    Ich glaube, es ist deutlich geworden, daß Rainer Eppelmann die Erfahrungsgeschichte von  Diktatur  und  Demokratie  im  20.  Jahrhundert  in  geradezu  paradigmatischer  Weise  verkörpert.  In  seiner  politischen  Biographie  verbindet  sich  das  Individuelle  mit  dem  Allgemeinen,  und  entsprechend  durchwoben  ist  sie  von  Emotionen  und  Erwartungen,  Enttäuschungen  und  Neuorientierungen.  Die  Schlüsse,  die  er  hieraus  gezogen  hat,  sind  höchst beachtlich und bilden eine Art demokratisches Lehrstück. Insgesamt zeugen seine  Äußerungen  und  Handlungen  von  Weitsicht  und  Geduld,  von  Pragmatismus  und  der  Bereitschaft zur Neuorientierung auch der eigenen Ansichten. Dies ermöglichte ihm sein  bemerkenswert  großes  Maß  an  Optimismus  und  Versöhnungsbereitschaft.  Dem  wiedervereinigten Deutschland hat er damit einen bleibenden Dienst erwiesen. 

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 Rainer Eppelmann, Fremd im eigenen Haus. Mein Leben im anderen Deutschland, Köln 1993, S. 404.  Siehe auch Rainer Eppelmann, Wendewege, Brief an Ulrike, 10. Juli 1990, S. 93‐100.  13  Rainer Eppelmann, Wendewege, Brief an Martin, 12. Juni 1990, S. 67. 

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