Andreas Wirsching
Das 20. Jahrhundert zwischen Diktatur und Demokratie (Vortrag, gehalten am 12. Februar 2013 bei der KAS in Berlin zu Ehren des 70. Geburtstags von Rainer Eppelmann)
Die neuere historische Wissenschaft hat immer wieder und mit Recht davor gewarnt, sich von den politischen Zäsuren und Umbrüchen blenden zu lassen. Allzu sehr lauern in einer solchen Betrachtungsweise teleologische Versuchungen und die Gefahr, die Geschichte auf die großen Haupt‐ und Staatsaktionen zu verkürzen. Umgekehrt aber wird niemand bezweifeln, daß jede Betrachtung der deutschen und europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts unvollständig, ja blind bleibt, wenn sie nicht deren geradezu episches Widerspiel von Diktatur und Demokratie – und damit eben doch wieder die großen politischen Zäsuren – beachtet und konzeptionell ernst nimmt. Hier stehen wir also vor einem methodischen Dilemma zeitgeschichtlicher Betrachtung. Ich schlage vor, daß wir uns aus diesem Dilemma befreien, indem wir uns auf die Erfahrungsgeschichte von Diktatur und Demokratie konzentrieren. Ich werde also nicht primär über die großen Umbrüche selbst – von 1918 über 1933, von 1945/49 bis hin zu 1989/90 – sprechen, nicht primär über die große Politik, die großen Verfassungsfragen, aber auch nicht über die monströsen Verbrechen, die von den vielen Haupt‐ und Mittätern der Diktaturen des 20. Jahrhunderts begangen worden sind. Ich frage vielmehr nach der subjektiven Erfahrung der Akteure in der Geschichte: nach ihren Empfindungen und Emotionen, Hoffnungen und Erwartungen, aber auch nach ihren Enttäuschungen und Neuanfängen. Der Lebenslauf von Rainer Eppelmann, dessen 70. Geburtstag wir heute
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begehen, vermittelt uns hierzu reichlich Anlaß und breites Anschauungsmaterial. Denn er ist tief eingewoben in die deutsche Erfahrung von Diktatur und Demokratie im 20. Jahrhundert und er hat selbst nachhaltig und eindrücklich über diese seine persönlichen Erfahrungen nachgedacht. Bei der Vorbereitung meines Vortrags stellte ich fest, daß Ihre politische Biographie, sehr geehrter Herr Eppelmann, dazu inspiriert, sich der erfahrungsgeschichtlichen Dimension unseres Themas mittels dreier Gedankengänge anzunähern. Das möchte ich jetzt tun, und die Stichworte dazu lauten: erstens Emotion und Erwartung; zweitens Enttäuschung; drittens Neuorientierung in der demokratischen Komplexität. Zunächst also: Emotion und Erwartung. Alle Systemumbrüche in der deutschen und europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts waren getragen und begleitet von einer Veränderung der kollektiven Emotionen. Stets entstand etwas, was man emotional communities nennen könnte, Gefühlsgemeinschaften, deren Gleichklang dem politischen Systemwechsel vorausging bzw. ihn ermöglichte und begleitete. Aus dem Jahre 1918 kennen wir die zahlreichen Zeugnisse von schwerster Erschütterung und Depression, von Weinkrämpfen und Zusammenbrüchen, die gestandene Männer bei der Einsicht in das Unvermeidliche erfaßten: nämlich die unabwendbare Niederlage im Ersten Weltkrieg und das just zu einem Zeitpunkt, da die Hoffnungen auf den deutschen Sieg ihren Höhepunkt erreicht hatten. Zugleich aber keimten die Hoffnungen auf eine neue Ära demokratischer und sozialer Umgestaltung. Der 9. November 1918 setzte hochfliegende Erwartungen frei.
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Die Revolution regte die politisch‐soziale Phantasie an, und im „Traumland der Waffenstillstandsperiode“1, wie Ernst Troeltsch diese Phase genannt hat, hegten viele Deutsche geradezu utopische Hoffnungen. Bald aber dominierte in der so vielfach traumatisierten Gesellschaft der Weimarer Republik das Gefühl, in der Geschichte zu kurz zu kommen. Wenn sich in der Gegenwart nur allzu oft das Gefühl der Deklassierung und die blanke Not paarten, so entsprach dem die Hoffnung auf künftige Erlösung. Politische Sprache und Symbolik der Weimarer Kultur kennzeichnete daher ein „Modus der Verheißung“2, wie Bernd Weisbrod das treffend genannt hat, ja eine quasi‐messianische Sehnsucht. Und es war eben diese emotionale Atmosphäre, die Hitlers charismatische Wirkung auf einen großen Teil der deutschen Gesellschaft erklärt. Viele Deutsche begannen an das verheißene Bild der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft zu glauben, in dem das Unglück der Gegenwart überwunden und in der Zukunft Gerechtigkeit, Wohlergehen und Anerkennung erreicht werden würden. Halten wir also fest: Sowohl 1918 die Demokratie wie auch 1933 die Diktatur wurden mit überwältigenden Emotionen und hochfliegenden Erwartungen begrüßt. Ganz anders stellte sich die Situation in Deutschland nach 1945 dar. Aufgrund der totalen Niederlage und
der
vollständigen
Delegitimation
des
Nationalsozialismus
waren
die
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Ernst Troeltsch, Spektator‐Briefe. Aufsätze über die deutsche Revolution und die Weltpolitik 1918‐1922, hg. v. Hans Baron, Tübingen 1924, S. 69. 2 Bernd Weisbrod, Die Politik der Repräsentation. Das Erbe des Ersten Weltkrieges und der Formwandel der Politik in Europa, in: Hans Mommsen (Hg.), Der Erste Weltkrieg und die europäische Nachkriegsordnung. Sozialer Wandel und die Formveränderung der Politik, Köln u.a. 2000, S. 13‐41, hier S. 31.
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Erwartungshorizonte der Deutschen weitgehend auf null gestellt. Das gilt sowohl für die westdeutsche Demokratiegründung als auch für die Etablierung der DDR. Und machen wir uns nichts vor: Auch in Westdeutschland war es anfangs keineswegs ausgemacht, daß die Bundesrepublik den Menschen politische Stabilität, ökonomisches Wohlergehen und daher auch gesteigerte Möglichkeiten des privaten Glücks bringen würde. Um in Deutschland ein der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vergleichbares Maß an politischen Emotionen und Erwartungen anzutreffen, muß man schon bis in das Jahr 1989 gehen. Die Diktatur hatte aber noch eine andere, in dieser Form neue emotionale Grunderfahrung ins Spiel gebracht, und das war die Angst. Das NS‐Regime beruhte nicht nur auf begeisterter Zustimmung, sondern ebenso sehr auf Gewalt und Terror. Dementsprechend verbreitete sich unmittelbar nach dem 30. Januar 1933 die Angst als eine wichtige Ressource des Regimes. Angst bewirkt das Gegenteil von Hoffnung und Vertrauen. Eine optimistisch gestimmte Erwartung setzt die Menschen in Bewegung, Angst jedoch lähmt sie. Diese Erfahrung mußten die Deutschen in der Sowjetischen Besatzungszone und dann in der DDR ein zweites Mal binnen einer Generation machen. Denn der Zwangs‐, ja Gewaltcharakter des Sowjetkommunismus war ebenfalls schon längst zutage getreten. Er setzte sich nach 1945 und im Prinzip auch nach dem Tode Stalins fort. 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei: Diese Daten gerieten nicht in Vergessenheit, im Gegenteil, die Erinnerung an sie wirkte fort, verstärkte latente Ängste und weckte offene Gegensätze. Kommunistische Machthaber konnten sich ihrer Position ohne den Rückhalt durch die Rote Armee nicht sicher sein;
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umgekehrt mußten aktive Regimegegner immer mit physischer Unterdrückung rechnen. Niemals in freien Wahlen an die Macht gekommen, verkörperte der Kommunismus für die große Mehrheit der osteuropäischen Bevölkerungen ein Zwangs‐ und Unrechtssystem, und als solches mangelte es ihm strukturell und dauerhaft an Legitimität. Als ihre wichtigste emotionale Ressource blieb daher auch den kommunistischen Regimen letztlich nur die Angst ihrer Bevölkerung. Emotionsgeschichtlich wurde es dann zum Spezifikum des Jahres 1989, daß diese Angst katalytisch überwunden wurde, und die Sorge der Opponenten und Demonstranten wich, Leib oder gar Leben zu riskieren. Man muß sich die Überwindung der Angst im Jahre 1989 nachdrücklich vor Augen führen, um ihre historische Tragweite zu erkennen. Mehr als zwei Generationen – von 1933 bis 1989 – lebten die Ostdeutschen unter einem Regime der Angst. Joachim Gauck hat eindrücklich beschrieben, wie er als Pfarrer in Rostock ihre Überwindung erlebte.3 Für einen kurzen historischen Moment wurden die in politischen Verbänden und Demonstrationszügen mobilisierten Gesellschaften emotional gleichgerichtet. Es entstanden neue emotional communities, die neues Vertrauen erzeugten und in bis dahin nicht dagewesener Weise kollektives Handeln erlaubten. Solche emotionale Vergemeinschaftung gehörte zu den Grunderfahrungen des Jahres 1989, sei es bei den Leipziger Montagsdemonstrationen, sei es – schon länger etabliert – in den kirchlichen Versammlungen etwa in der Berliner Samariter‐Gemeinde, der Rainer Eppelmann als Pfarrer vorstand und von denen er in seinen Erinnerungen berichtet. 3
Joachim Gauck, „Wir sagen unserer Angst auf Wiedersehen!“: Von der Auflösung der Stasi zum Stasiunterlagengesetz, in: Eckart Conze et al. (Hrsg.), Die demokratische Revolution 1989 in der DDR, S. 170‐ 181.
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Interessant ist der international vergleichende Blick. Denn ganz sicher gab es in den Staaten und Gesellschaften des Warschauer Paktes unterschiedliche Gefühlshaushalte, und die kollektiv sich Bahn brechenden Emotionen waren politisch‐historisch unterschiedlich codiert. In der DDR überwog lange Zeit die Angst, und erst ihre kollektive Überwindung brachte im Herbst 1989 den entscheidenden Durchbruch. In Polen dagegen läßt sich ein gleichsam heroisch codierter Gefühlshaushalt beobachten, der den langjährigen Kampf von Solidarność ermöglichte und nicht zuletzt durch die Rolle Johannes Pauls II. beeinflußt war. „Habt keine Angst“: Diese Worte, die der Papst bei seiner ersten Ansprache 1978 in den Ostblock sandte, verfehlten zumindest in Polen ihre Wirkung nicht. Ich komme nun zu meinem zweiten Stichwort, und das lautet Enttäuschung. Enttäuschung ist eine Grundkategorie historischer Erfahrung, die meines Erachtens fundamental unterschätzt wird und noch genauerer Erforschung bedarf. Immer dann nämlich, wenn die Menschen gewaltige Hoffnungen hegten und dementsprechend ihren politischen Erwartungshorizont weit spannten, ebneten sie damit doch unvermeidlich den Weg zur Enttäuschung. Enttäuschung wird damit zu einer Grundemotion in der Geschichte der Demokratie wie in der Diktatur. Die Weimarer Republik etwa läßt sich geradezu paradigmatisch als eine Gesellschaft der Enttäuschten charakterisieren. Einerseits war der hochgesteckte Erwartungshorizont nicht nur des nationalen Lagers auf einen Sieg im Weltkrieg fundamental enttäuscht worden. Andererseits hatte die soziale und politische Bewegung der Novemberrevolution utopische Erwartungen auf eine
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politisch‐soziale – und auch moralische – Neuordnung geweckt, die nach Lage der Dinge ebenfalls nur enttäuscht werden konnten. Auch die Diktaturen lassen sich als Enttäuschungsgeschichten lesen. Stets beschworen sie in ihrer Propaganda den säkularen historischen Fortschritt für das Volk, scheiterten an ihren ideologischen Ansprüchen und lagen am Ende im Staub. Im NS‐Regime waren vor allem jene Nationalkonservative enttäuscht, die sich von Hitler die Versöhnung der inneren Gegensätze und den nationalen Wiederaufstieg erhofften, bald aber, und freilich viel zu spät, begriffen, daß seine Herrschaft Entrechtung und Gewalt bedeutete. Und mehr noch vielleicht läßt sich die Geschichte der DDR als eine einzige Enttäuschung begreifen; zumindest gilt dies für viele vormals überzeugte Kommunisten wie Wolfgang Leonhard, die sich schon Ende der 1940er Jahre vom SED‐Regime abwandten. Andere wie Robert Havemann blieben im Lande, verharrten aber in einer dissidenten Position. Ganz anders die frühe Bundesrepublik: Hier bestand kein Erwartungsüberschuß, im Gegenteil, vor dem Hintergrund der katastrophalen Lage des Jahres 1945 erzielten politische Verheißungsversprechen wenig Wirkung und es ging im Grunde zunächst einmal um das bloße Überleben. Dementsprechend hielt sich auch das Enttäuschungspotential in weitaus engeren Grenzen, als dies 1918/19 der Fall gewesen war. In anderen Ländern dagegen, wie etwa in Großbritannien, provozierte die reale Ausgestaltung der demokratischen Nachkriegsordnung vor dem Hintergrund
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hochgesteckter und moralisch aufgeladener Erwartungen – nach der Niederringung Hitlers – weitaus massivere Enttäuschungen. Vergleichbares galt dann für die Zeit nach 1989, worauf ich jetzt etwas näher zu sprechen kommen möchte. Mit dem Durchbruch zur Freiheit brach sich der „Gefühlsstau“4, von dem Hans‐Joachim Maaz für die DDR gesprochen hat, schlagartig Bahn. Aber dies hatte einen politischen Preis. Denn als die Freiheit erreicht war, ging auch die emotionale Kohärenz der gesellschaftlichen Bewegungen verloren. Das ist in praktisch allen kommunistischen Transformationsstaaten so gewesen. Ziel der sich formierenden Massenbewegungen des Jahres 1989 war die Beseitigung oder zumindest die Fundamentalreform der kommunistischen Regime. Mit dem Fall der Mauer in der DDR, dem Runden Tisch in Polen, dem Sturz des Kommunismus in Ungarn oder der Tschechoslowakei war dieses unmittelbare Ziel der Bewegung erreicht. Und wie so häufig in der Geschichte gelang es nicht, die in der Auseinandersetzung gestählten emotional communities in eine starke politische Bewegung zu überführen. Im Gegenteil, viele Gesinnungs‐ und Gefühlsgemeinschaften, die sich etwa in der Umbruchphase der DDR gebildet hatten, zerbrachen nun, und das war für viele die vielleicht bitterste Enttäuschung der friedlichen Revolution: daß sich nämlich der ebenso idealistische wie entbehrungsreiche, bürgerrechtlich erkämpfte und direkt‐demokratisch orientierte Schwung des Jahres 1989 und der darauf gründende Konsens der Oppositionszeit nicht in die neue Zeit hinüberretten ließ. Diese Enttäuschung blieb weder 4
Hans‐Joachim Maaz, Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR, Berlin 1990.
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den ostdeutschen noch den tschechischen Bürgerrechtlern, weder dem Neuen Forum in der DDR noch dem Bürgerforum in der Tschechoslowakei erspart. Und selbst die stolze Solidarność, die ja in Polen die Brücke geschlagen hatte zwischen Arbeitern und Intellektuellen, zerbrach an ihren inneren Widersprüchen. Nicht Tadeusz Mazowiecki, der feinsinnige Intellektuelle, erhielt bei den Präsidentschaftswahlen vom Dezember 1990 das Mandat zum Aufbruch in das neue Polen, sondern Lech Wałęsa, dessen Appell an die Einheit der Nation auf nicht wenige populistisch, antipluralistisch, machtehrgeizig und grobschlächtig wirkte. Auch Rainer Eppelmann hat solche Enttäuschungen persönlich erfahren. Die Bürgerbewegung in der DDR blieb uneins über der „Machtfrage“, also über der Frage einer Regierungsbeteiligung. Die Volkskammerwahl vom 18. März 1990 konstituierte dabei eine wichtige Scheidelinie. Rückblickend diagnostizierte Rainer Eppelmann, daß die Gemeinsamkeiten schon seit Oktober 1989 „zerbröselten“. Bald „vollzog sich […] eine Trennung von vielen meiner ehemaligen Freunde und Mitstreiter aus der Bürgerrechtsbewegung. […] Meine Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen und mich damit auch der Machtfrage zu stellen, haben viele von mir abrücken lassen. Die eine Gruppe wollte „Bewegung“ bleiben, die andere, zu der auch ich gehörte, wollte eine demokratische Partei.“5
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Rainer Eppelmann, Wendewege. Briefe an die Familie, hrsg. v. Dietmar Herbst, Bonn/Berlin 1992, hier zitiert: Brief an Evi, 10. April 1990, S. 5f.
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Tatsächlich verbreitete sich Anfang der 1990er Jahre überall in Mittel‐ und Osteuropa eine umfassende, durch Desillusionierung und Unzufriedenheit gespeiste Malaise. Sie entsprang keineswegs nur der Enttäuschung der Bürgerrechtler; vielmehr war auch die Masse der Bürger selbst enttäuscht, und die Zustimmung der Bevölkerung zur Demokratie und zur eigenen Regierung ging deutlich zurück. Von wirtschaftlichen Alltagsproblemen geplagt, mußten die Menschen in Osteuropa die Hoffnung auf eine rasche Verbesserung ihrer
Lage
aufgeben.
Transformationsländern
Soweit die
demoskopisch
Zufriedenheit
und
faßbar,
sanken
das
Vertrauen
in in
allen die
Problemlösungskompetenz der Demokratie und ihrer Repräsentanten deutlich ab. „Der euphorische Aufbruch des Jahres 1989 hat einer nüchternen und sorgenvollen Stimmungslage Platz gemacht. Enttäuschung, Erschöpfung, politische Apathie und nationalistische Emotionen prägen vielfach den mühsamen Alltag der neuen Demokratien in Ost‐Mitteleuropa“, so resümierten die Leiter eines großen demoskopischen Forschungsprojektes ihre Ergebnisse im Jahre 1992.6 Für jene Bürgerrechtler, die sich nach dem Umbruch in politischen Ämtern und Mandaten um den Aufbau mühten, bedeutete dies eine erhebliche, auch psychische Belastung. Zu ihnen gehörte auch Rainer Eppelmann, der am 3. Oktober 1991 – dem Tag der deutschen Einheit – selbst das fundamentale Paradox diagnostizierte, daß aus dem gewaltigen Freiheitsgewinn kollektive Enttäuschung geworden war: „Politisch haben wir alles erreicht, was wir in den Tagen der friedlichen Revolution auf unseren Transparenten 6
Peter Gerlich / Fritz Plaser / Peter A. Ulram (Hg.), Regimewechsel. Demokratisierung und politische Kultur in Ost‐Mitteleuropa, Wien u.a. 1992, S. III, das Vorwort der Herausgeber. Zur empirischen Begründung siehe die eingehenden Länderstudien in diesem Band.
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forderten. Am wichtigsten waren uns: Reisefreiheit – Demokratie – Stasi in die Produktion – die Einheit Deutschlands – freie Wahlen… Das alles haben wir heute. Dennoch macht sich bei vielen Bürgern Enttäuschung breit, obwohl es kaum einem von uns schlechter als vorher geht.“7 Abschließend möchte ich daher die Frage aufwerfen, wie sich diese vielfältigen Enttäuschungsprozesse und ihre Folgen historisch‐analytisch erklären lassen. Eine solche intellektuelle Anstrengung zu unternehmen, ist extrem wichtig, denn sonst gewinnen allzu leicht die simplen Schuldzuweisungen die Oberhand, etwa nach dem Muster: dieser oder jener Politiker ist eben ein Versager oder sogar ein Schuft, diese oder jene Regierungspartei hat gravierende Fehler gemacht und daher geradezu Schuld auf sich geladen. Wir kennen diese Schuldzuweisungen nur allzu gut aus der Geschichte – so etwa aus
der
Weimarer
Republik:
Vor
dem
Hintergrund
der
doppelten
Enttäuschungsgeschichte des Jahres 1918/19 sah sich die Sozialdemokratie mit Friedrich Ebert an der Spitze rasch dem Vorwurf des Arbeiterverrats auf der einen, dem Landesverrat auf der anderen Seite ausgesetzt. Auch Rainer Eppelmann litt unter dem Ressentiment, das ihm von seinen früheren, von ihm persönlich enttäuschten Mitstreitern in der Berliner Samariter‐Gemeinde entgegenschlug, nachdem er das Amt des Ministers für Abrüstung und Verteidigung der DDR übernommen hatte. „Einige Freunde von gestern“, so schrieb er im Juli 1990, „behandeln mich wie einen Aussätzigen, gar wie einen Feind.“8 7 8
Rainer Eppelmann, Wendewege, Brief an Evi, 3. Oktober 1991, S. 191. Rainer Eppelmann, Wendewege, Brief an Evi, 15. Juli 1990, S. 104.
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Diesem Phänomen liegt ein Mechanismus zugrunde, den ich mit meinem dritten und letzten Stichwort Neuorientierung in der Komplexität nenne. Denn die demokratischen Umbrüche des 20. Jahrhunderts bargen in dem Maße Enttäuschungen, in dem sich gehegte Erwartungen nicht an die faktische Komplexität und den grauen Alltag demokratischer Politik adaptieren konnten oder wollten. Umgekehrt standen jene Akteure, die ihre Erwartungen reduzierten und sich vor dem Hintergrund ihrer eigenen Enttäuschungen neu orientierten, vor der immensen Herausforderung, demokratische Komplexität zu ertragen und politisch zu bewältigen. Immer wieder – und besonders in der Weimarer Republik – hatten sie es dabei mit Demagogen zu tun, die sich der unausweichlich komplexen Wirklichkeit der modernen Massendemokratien kognitiv verweigern. Sie lehnten (und lehnen) es ab, die pluralistisch verfasste Realität freiheitlicher politischer Systeme zum Ausgangspunkt einer demokratisch legitimierten und sachbezogenen Politik zu machen. Statt dessen zwängen sie die politisch‐kulturellen und sozial‐ökonomischen Spannungen, Gegensätze und Konflikte, die den modernen Gesellschaften notwendig innewohnen, in die Kategorien eines pseudo‐moralischen Rigorismus hinein. Die unausweichliche Komplexität wird dann durch konkrete Schuldzuschreibungen vereinfacht. Hitler etwa brandmarkte den „künstlichen Zersetzungsprozeß der Komplizierung“, dem das öffentliche Leben unterliege. „Wohin wir heute blicken“, so deklamierte er 1927 unter dem „stürmischem Beifall“ seines Publikums, „werden die natürlichsten Vorgänge
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des Lebens, die selbstverständlichen Voraussetzungen des Lebens, so kompliziert dargestellt und künstlich so kompliziert, daß besonders die breite Masse eines Volkes gar keinen inneren Einblick mehr erhalten kann. Wir sehen, wie man hier planmäßig diese Verwirrung der Begriffe anstiftet, und zwar mit dem ausgesprochenen Zweck, dadurch Millionen von Menschen das gesunde natürliche Empfinden zu verwirren.“9 Solche ideologischen Zuspitzungen, wie sie in den totalitären Diktaturen zum System wurden, begründen die radikale Absage an den spezifischen Epochencharakter der Moderne, den nämlich die fortschreitende Steigerung der Komplexität kennzeichnet. Wir haben es in ihr mit der unaufhaltsamen Tendenz zu einer „abstrakten Gesellschaft“10 zu tun, um einen Begriff des niederländischen Soziologen Anton Zijderveld aufzunehmen. Deren Charakteristikum ist es, daß sich ihre Entscheidungsmechanismen immer weiter ausdifferenzieren und damit undurchsichtig, fragmentiert und fremdgesteuert erscheinen. Die Folgen solch ungreifbarer, scheinbar „abstrakter“ Mechanismen werden allerdings als höchst konkret empfunden. Eine kohärente soziale Kommunikation, in der kollektive Erwartungen, politisch‐soziale Willensäußerungen und Entscheidungen miteinander übereinstimmen, ist unter diesen Bedingungen nicht möglich. Tatsächlich sind in einer freien und pluralistischen Gesellschaft schon die bloße Zahl der Akteure, die Vielfalt ihrer Interessen und die Komplexität der Willensbildungsprozesse so weit angewachsen, dass eine gleichmäßige Befriedigung aller, im einzelnen höchst 9
Adolf Hitler, Reden, Schriften, Anordnungen. Februar 1925 bis Januar 1933, Bd. II/2 (August 1927 ‐ Mai 1928), hrsg. von Bärbel Dusik, München u.a. 1992, Dok. 203 (10.12.1927), S. 571f. 10 Anton C. Zijderveld, Die abstrakte Gesellschaft. Zur Soziologie von Anpassung und Protest, Frankfurt a. M. 1972.
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unterschiedlicher Erwartungen schlicht ausgeschlossen ist. Dissonanzen zwischen Willensbildung und Erwartungshorizonten – anders gesagt: Enttäuschungen – sind daher unvermeidlich und ein untrügliches Kennzeichen moderner Demokratien. Der graue Alltag der Demokratie gleicht mithin dem stets notwendigen Versuch, die Komplexität der politischen Welt kommunikativ zu reduzieren – ein Versuch der ebenso anstrengend ist, wie seine Resultate notwendig defizient bleiben. Eben dies prägte auch die Situation 1989/90. Als etwa Václav Havel Anfang Juli 1990 vom ersten frei gewählten Parlament der Tschechoslowakei als Staatspräsident bestätigt wurde, bemerkte er auf einmal, „daß ich deprimiert war. […]Wir begriffen, daß die Poesie zu Ende gegangen war und die Prosa begonnen hatte. Der Karneval war zu Ende, und der Alltag begann.“11 In allen postkommunistischen Staaten stellten die Bevölkerungen und Politiker bald fest, daß das Traumland des Übergangs genau dort endete, wo es galt, die Freiheit konkret zu gestalten: Gesellschaften mußten geordnet, politische Strukturen geschaffen und wirtschaftliche Risiken abgewogen und begrenzt werden. Und ehrt es nicht Akteure wie Václav Havel, ja macht es nicht geradezu ihre historische Größe aus, daß sie sich entsprechend neu orientierten? Daß sie sich auf eben diesen grauen demokratischen Alltag einließen, ihre Erwartungen entsprechend anpaßten und die Sisyphusarbeit der stets scheiternden demokratischen Kommunikation auf sich nahmen? Rainer Eppelmann gehört zu ihnen, und er hat diese Situation häufig selbst reflektiert. „Aus der Warte des Ministers – und […] des Bundestagsabgeordneten – sah die Welt 11
Václav Havel, Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele, Juli 1990, in: Ders., Angst vor der Freiheit. Reden des Staatspräsidenten, Reinbek 1991, S. 100‐107, hier S. 100f.
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komplizierter aus als aus dem Blickwinkel des Gemeindepfarrers“ gestand er sich 1993 nüchtern ein.12 Es war diese Geisteshaltung, die es Rainer Eppelmann erlaubte, das demokratische System des wiedervereinigten Deutschland trotz seiner Defizite anzunehmen und stets vehement zu verteidigen. Wo andere die demokratische Komplexität polemisch wendeten, etwa im Sinne des: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“ (Bärbel Bohley), warnte Rainer Eppelmann explizit vor Pauschalurteilen und forderte eben jene Rechtsstaatlichkeit auch für jeden einzelnen Mittäter der SED‐Diktatur ein.13 Ich glaube, es ist deutlich geworden, daß Rainer Eppelmann die Erfahrungsgeschichte von Diktatur und Demokratie im 20. Jahrhundert in geradezu paradigmatischer Weise verkörpert. In seiner politischen Biographie verbindet sich das Individuelle mit dem Allgemeinen, und entsprechend durchwoben ist sie von Emotionen und Erwartungen, Enttäuschungen und Neuorientierungen. Die Schlüsse, die er hieraus gezogen hat, sind höchst beachtlich und bilden eine Art demokratisches Lehrstück. Insgesamt zeugen seine Äußerungen und Handlungen von Weitsicht und Geduld, von Pragmatismus und der Bereitschaft zur Neuorientierung auch der eigenen Ansichten. Dies ermöglichte ihm sein bemerkenswert großes Maß an Optimismus und Versöhnungsbereitschaft. Dem wiedervereinigten Deutschland hat er damit einen bleibenden Dienst erwiesen.
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Rainer Eppelmann, Fremd im eigenen Haus. Mein Leben im anderen Deutschland, Köln 1993, S. 404. Siehe auch Rainer Eppelmann, Wendewege, Brief an Ulrike, 10. Juli 1990, S. 93‐100. 13 Rainer Eppelmann, Wendewege, Brief an Martin, 12. Juni 1990, S. 67.
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