Crossover Geschichte Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft von Viola B Georgi, Rainer Ohliger 1. Auflage

edition Körber-Stiftung 2009 Verlag C.H. Beck im Internet: www.beck.de ISBN 978 3 89684 336 4

schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG

Inhalt

Viola B. Georgi & Rainer Ohliger Geschichte und Diversität: Crossover statt nationaler Narrative?  ·  7

Theoretische Zugänge: Vielfalt im Geschichtsbewusstsein Bodo von Borries Fallstricke interkulturellen Geschichtslernens: Opas Schulbuchunterricht ist tot  ·  25

Nevim Çil Eine allzu deutsche Geschichte? Perspektiven türkischstämmiger Jugendlicher auf Mauerfall und Wiedervereinigung  ·  46

Carlos Kölbl Mit und ohne Migrationshintergrund: Zum Geschichtsbewusstsein J­ ugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft  ·  61

Johannes Meyer-Hamme »Dieses Kostüm ›Deutsche Geschichte‹«: Historische Identitäten Jugendlicher in Deutschland  ·  75

Viola B. Georgi »Ich kann mich für Dinge interessieren, für die sich jugendliche Deutsche auch interessieren«: Zur Bedeutung der NS-Geschichte und des Holocaust für Jugendliche aus Einwandererfamilien  ·  90

Rainer Ohliger »Am Anfang war …«: Multiperspektivische Geschichtsvermittlung in der ­Einwanderungsgesellschaft  ·  109

Biografische Reflexionen: Migration, Geschichte und Identität Sergey Lagodinsky Die Welten der Anderen: Die Wege einer jüdischen Familie nach und in ­Deutschland  ·  131

Basil Kerski Migrationsgeschichte als Demokratiegeschichte: Ein polnisch-irakisches Puzzle im Schatten deutscher Geschichte  ·  139

Preisträger des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten »Aus der Geschichte heraus kann man begreifen, als wer man wahrgenommen wird«: Gedanken über das Verhältnis von Geschichte und Identität  ·  154

Praxiserfahrungen: Geschichtsarbeit mit jungen Migranten Ufuk Topkara Interkulturelle Museumsarbeit mit Kindern und Jugendlichen: Erfahrungen aus dem Jüdischen Museum Berlin  ·  179

Martin Liepach Museen, Migranten, Moderne: Zugänge und Hürden  ·  194

Gottfried Kößler Migrationsgesellschaft und Erinnerungspädagogik: Das Konzept ­»Konfrontationen. Bausteine für die pädagogische Annäherung an Geschichte und Wirkung des Holocaust«  ·  210

Karoline Georg, Mirko Niehoff & Aycan Demirel Multiperspektivische Bildungsarbeit: Das Beispiel der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA e. V.)  ·  221

Elke Gryglewski Diesseits und jenseits gefühlter Geschichte: Zugänge von Jugendlichen mit ­Migrationshintergrund zu Shoa und Nahostkonflikt  ·  237

Autorinnen und Autoren  ·  249

Geschichte und Diversität Crossover statt nationaler Narrative? Von Viola B. Georgi & Rainer Ohliger

Unter dem Eindruck von Migration und Globalisierung ist Diversität zu einem nicht mehr wegzudenkenden Kennzeichen unserer heutigen Welt geworden. Diese Vielfalt spiegelt sich in allen Lebensbereichen moderner Gesellschaften wider. Auch historische Narrationen und Geschichtsbilder werden somit vielfältiger. Der soziodemografische und generationelle Wandel verändert zwangsläufig auch die Dimensionen und Formen nationaler Geschichts- und Erinnerungskultur. In der Einwanderungsgesellschaft entstehen als Folge neue und andere historische Bezüge und Identitäten. Räume für Überschneidungen und Überkreuzungen (crossing over) werden eröffnet. Crossover ist ein Begriff, der in der Musik, der Fotografie, der Medizin und der Technik für das Innovative steht, das sich aus der Vermischung, der Verschmelzung und der neuen Kombination bestehender Merkmale ergibt. Der Begriff ist auch für dieses Buch als titelgebender Leitbegriff gewählt worden, um zu verdeutlichen, dass historische Erzählungen und Geschichtsbilder in der Einwanderungsgesellschaft neue, bislang nicht vorhandene Formen annehmen können. Die Perspektive auf die Geschichte und aus der Geschichte wird gebrochen, Erzählungen werden neu strukturiert, Themen werden variiert, Neues kommt hinzu, Altes fällt weg, und das Kaleidoskop der historischen Betrachtung wird bunter. Die geteilten und gemeinsamen Erfahrungen, Erlebnisse und Erinnerungen, auf die Gemeinschaften und auch Gesellschaften gründen, werden von den nachwachsenden Generationen neu vermessen und justiert. Der jungen Generation, die insbesondere von der Vielfalt durch Einwande-

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rung bestimmt ist, fällt somit eine entscheidende Rolle bei der Verortung historischer Erinnerungen im kollektiven Bewusstsein einer sich globalisierenden Welt zu, die trotz allem noch in Nationalstaaten verfasst ist und überwiegend in den historischen Kategorien des Nationalen operiert. Die Nationalstaaten leben immer noch aus dem Fundus ihrer über mehrere Generationen gewachsenen nationalen Narrative und Meistererzählungen. Hier entsteht in Einwanderungsgesellschaften ein Spannungsfeld zwischen Globalität, Vielfalt und Nation, das produktive und innovative, aber auch konfliktträchtige neue Deutungen ermöglicht. Wenn Jugendliche aus Einwandererfamilien in Deutschland über Geschichte sprechen, ist dies mit sehr unterschiedlichen Erwartungen, Bedürfnissen und Erfahrungen verbunden. Es scheint unter diesen Jugendlichen einige Gemeinsamkeiten zu geben, die sich in den Begriffen »Anerkennung« und »Zugehörigkeit« fassen lassen. Die Jugendlichen beklagen häufig, dass die Geschichten ihres Herkunftslandes bzw. auch die spezifischen Geschichten ihrer Migration in der deutschen Einwanderungsgesellschaft zu wenig oder gar nicht vorkommen. Das führt zu einem Anerkennungsproblem. Wenn Geschichte identitätsrelevant ist, darf die Anerkennung der Geschichten der jungen Menschen aus eingewanderten Familien nicht ausbleiben. Als beispielhaft hierfür kann die Aussage des achtzehnjährigen Süleyman gelten: »Und man kann auch nicht verlangen, dass man praktisch als Einwanderer seine alte Geschichte irgendwie abstreift und in dieses Kostüm ›Deutsche ­Geschichte‹ reinsteigt. Das kann man einfach nicht verlangen. Und […] was ein wichtiger Schritt zum Beispiel für die Integration wäre, dass man die ­Geschichte der Einwanderer auch selber wahrnimmt.«  (Meyer-Hamme 2008, in diesem Band) Viele Jugendliche beklagen aber auch, dass ihnen die Teilhabe an »deutscher Geschichte« zuweilen nicht zugestanden werde, weil man ihnen als nicht herkunftsdeutschen Jugendlichen in Ermangelung an deutscher Familiengeschichte und nationaler Identifikation unterstellt, dass sie nicht in der Lage seien, sich »deutsche Geschichte« zu eigen zu machen. Das

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führt zu einem Zugehörigkeitsproblem. Wenn der sechzehnjährige Bülent bezogen auf seine Aneignung deutscher Geschichte beansprucht: »Ich kann mich für Dinge interessieren, für die sich deutsche Jugendliche auch interessieren« (Georgi 2003), bringt er sein Verlangen nach Anerkennung und Zugehörigkeit zum Ausdruck. Gleichzeitig kann die Nichtzugehörigkeit im Sinne ethnischer Herkunft bezogen auf das Geschichtsbewusstsein auch eine Entlastung darstellen. So resümiert die siebzehnjährige Hülya in ihrer Auseinandersetzung mit dem Holocaust in Deutschland, dass sie froh sei, nicht zur Täter-, Mitläufer- und Zuschauer­gesellschaft zu gehören (Georgi 2003). Jugendliche mit Migrationshintergrund – auch das ist eine Strategie im Umgang mit vielfältigen historischen Ressourcen und mehrfachen Identifikationen – positionieren sich kontextabhängig und selektiv zu bestimmten historischen Ereignissen. Sie machen Gebrauch von den ihnen zur Verfügung stehenden »historischen Optionen«. So beschreibt der siebzehnjährige Dragan aus Bosnien, dass er sich in den USA lieber als Bosnier anstatt als Deutscher ausgebe, wegen der NS-Geschichte und des daraus resultierenden negativen Image der Deutschen: »Wenn ich sage, ich komme aus Bosnien, wissen die meisten nicht, um was es geht. Das hat schon seine Vorteile. Und wenn man hier wohnt und die Staatsbürgerschaft annimmt, ist es gut, dass man das Andere trotzdem noch ist.«  (Georgi 2003: 202) Zudem lässt sich beobachten, dass Geschichtsbilder junger Menschen unterschiedlicher Herkunft durch aktuelle politische Konflikte in den Herkunftsländern aufgeladen werden, wie zum Beispiel im Falle des Nahostkonfliktes oder der Konflikte in Südosteuropa oder der Türkei. Exemplarisch hiefür stehen die spezifischen Geschichten und die daraus erwachsenden Geschichtsbilder Jugendlicher mit arabischem, palästinensischem und muslimischem Migrationshintergrund, die in jüngster Zeit häufig unter Antisemitismusverdacht geraten sind (vgl. hierzu die Beiträge in diesem Band von Gryglewski und Georg / Demirel / Niehoff).

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In modernen Einwanderungsgesellschaften begegnen sich vielfältige und vielfältig konkurrierende Vorstellungen, Perspektiven und Bewertungen von historischen Ereignissen. Unterschiedliche Gemeinschaften erinnern anders an ein und dasselbe Ereignis. Möglicherweise beziehen sie sich auch auf einen ganz anderen, für die jeweilige Gruppe wichtigen historischen Tatbestand. Dabei wird Geschichte auch zum Gegenstand der Verhandlung bzw. zum Ort der Aushandlung historischer Identitäten. In solchen Aushandlungsprozessen, die zugleich auch Aneignungsprozesse von Geschichte sind, werden Zugehörigkeiten zu bestimmten historischen Bezugsgruppen behauptet, gebildet, in Frage gestellt oder auch zurückgewiesen. Dies geschieht freilich nicht im luftleeren Raum, sondern im Rahmen einer in der Regel nationalstaatlich geprägten Geschichtspolitik, die sich auch in einem noch überwiegend nationalstaatlich ausgerichteten schulischen Geschichtsunterricht niederschlägt, der die Geschichte der Mehrheitsgesellschaft ins Zentrum historischer Betrachtungen und Erinnerungen stellt. Die hegemoniale Geschichte der Mehrheitsgesellschaft stellt aber in Einwanderungsgesellschaften nur eine Dimension von Geschichte dar, weshalb die Gefahr besteht, die Geschichte(n) anderer Gruppen auszugrenzen bzw. andere Gruppen gar nicht erst an der Auswahl und der Interpretation nationalgeschichtlich bedeutsamer Ereignisse teilhaben zu lassen. Die Geschichte der Anderen und die vielfachen Verschränkungen, Verschmelzungen und Überkreuzungen von Geschichte (crossover) werden meist nicht als Bestandteil der nationalen Erinnerungskultur anerkannt. Die Teilhabe an der Konstitution des kollektiven Gedächtnisses der Mehrheitsgesellschaft wird ausgeblendet. Damit wird die Entstehung eigenständiger Erinnerungsgemeinschaften begünstigt. Denn Geschichte wird als Trennungsmoment konstruiert und erlebt. Migrationsgeschichte, Herkunftsgeschichte, Familiengeschichte und die Geschichte der Aufnahmegesellschaft werden nicht auf ihre Gemeinsamkeiten, Zusammenhänge und Wechselwirkungen hin betrachtet, sondern verbleiben in unvereinbarer Differenz. Die Geschichten der Menschen begegnen sich kaum, weder im Alltag noch in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Es gibt scheinbar noch keinen oder noch zu wenig Raum für gelebte historische

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Interkulturalität, die auf unterschiedliche Blickwinkel (»Multiperspektivität«) und das Aushalten von Vielfalt, Widersprüchen und Gegensätzen basiert. Geteilte Erinnerungen und Erzählungen betonen bislang eher das Trennende, nicht das Gemeinsame und Verbindende. Das crossover von Geschichte scheint somit teils noch eher eine normative Forderung denn eine faktisch in der Breite verankerte und empirisch allgemein nachweisbare Tatsche zu sein.

Geschichtsdimensionen Diskutiert man über den Umgang mit Geschichte und Erinnerung in der deutschen Einwanderungsgesellschaft, erscheint es sinnvoll, mindestens sechs Dimensionen historischer Sinnbildung zu berücksichtigen (Georgi 2008 a und 2008 b): 1. Die Geschichte des Aufnahmelandes bzw. des Einwanderungslandes, die als Nationalgeschichte verfasst ist, also die öffentlichen Narrative der Mehrheit. 2. Die familiär tradierten Geschichten und Erzählungen der Repräsentanten der Mehrheitsgesellschaft, also die privaten Narrative der Mehrheit. 3. Die Geschichte der Herkunftsländer und Regionen der Migranten und Migrantinnen, die als Nationalgeschichten verfasst sind, also die öffentlichen Narrative der Minderheit. 4. Die familiär tradierten Geschichten und Erzählungen der Repräsentanten der Einwander-Communities, also die privaten Narrative der Minderheiten. 5. Die spezifischen Migrationsgeschichten der und über die Einwanderer-Communities, also die Narrative der Migration. 6. Die im doppelten Sinn geteilte – trennende und gemeinsame – ­Geschichte der Beziehungen von Einheimischen und Eingewanderten, also die geteilte Narrative.

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In der alltäglichen Konstruktion von Geschichtsbildern und historischen Erzählungen sind diese Dimensionen historischer Sinnbildung nicht klar voneinander zu trennen. Vielmehr sind sie in Bewegung, sie fließen in­ einander, fordern sich gegenseitig heraus und konkurrieren miteinander, besonders wenn es um die Erlangung historischer Deutungsmacht und die Ausformung des kollektiven öffentlichen Gedächtnisses geht. Sie bilden das soziale Feld des historischen crossover.

Gesellschaftliche Partizipation durch historisches Wissen Zur gesellschaftlichen Teilhabe gehört auch die Selbstverortung durch Aus­einandersetzung mit Geschichte. Dabei muss das Individuum sich seiner Geschichte in mindestens zweierlei Hinsicht vergewissern: mit Blick auf die je individuelle Lebensgeschichte und in Bezug auf die Geschichte der historischen Gruppen, denen man sich zugehörig fühlt. Kollektive und individuelle Geschichte(n) müssen in diesem Prozess der Selbstverortung wechselseitig integriert werden, d. h., Biografien müssen in den Kollektiverzählungen aufgehen können. Und kollektive Geschichte(n) müssen biografisch anschlussfähig gemacht werden. Hierin liegt zugleich die »Identitätskonkretheit« von Geschichte (Assmann 1992: 139). Mit Blick auf das historische Bewusstsein von Jugendlichen aus Einwandererfamilien – die im Zentrum des Bandes stehen – lassen sich mindestens fünf Varianten der Aneignung von Geschichte in der deutschen Einwanderungsgesellschaft als Hypothesen formulieren (Georgi 2003: 93). 1. Tradiertes Geschichtsbewusstsein: Jugendliche mit Migrationshinter­ grund orientieren sich an den historischen Traditionen ihres Herkunftslandes. Diese Orientierung bricht sich in der jeweiligen ethno-kulturellen oder ethno-religiösen Gruppengeschichte / Familiengeschichte und der Position, die diese Gruppe im Herkunftsland hatte (etwa Angehöriger der Mehrheit, einer Minderheit oder einer spezifischen sozialen Gruppe).

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2. Rezeptives Geschichtsbewusstsein: Jugendliche mit Migrationshintergrund übernehmen und rezipieren kollektive Deutungen der Ver­ gangenheit aus der Mehrheitsgesellschaft und »verstricken« sich damit quasi in deren Geschichtsbewusstsein. 3. Diasporisches Geschichtsbewusstsein: Jugendliche mit Migrationshintergrund verorten sich ausschließlich in der neu entstehenden ­Erinnerungskultur ihrer ethnischen bzw. Einwanderer- Community. Sie haben an einem diasporischen Geschichtsbewusstsein teil, das sie mit konstituieren und tradieren. 4. Hybrides oder multiples Geschichtsbewusstsein: Jugendliche mit Migra­ tionshintergrund bilden ein transnationales oder auch hybrides, aus Elementen unterschiedlicher Kollektivgedächtnisse zusammen­ gesetztes Geschichtsbewusstsein aus. 5. Geschichtsvakuum: Jugendliche mit Migrationshintergrund laufen Gefahr, durch das Wegfallen der Bezugsrahmen tradierter, am ­Herkunftsland ausgerichteter historischer Erinnerungen und Erzählungen sowie durch den Ausschluss vom Geschichtsbewusstsein des Einwanderungslandes geschichts- und erinnerungslos zu werden und in ein historisches Vakuum zu geraten. Die Optionen für die Herausbildung eines Geschichtsbewusstseins unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund sind also alles andere als linear. Sie sind inhaltlich, didaktisch und pädagogisch vielfältig. Und sie sind gestaltbar. Die Gestaltung ist eine wichtige bildungs- und geschichtspolitische Herausforderung, die bislang allerdings nur in Ansätzen diskutiert und angenommen worden ist.

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Die Beiträge des Bandes Der vorliegende Band diskutiert Fragen nach der Bildung historischer Identitäten in der deutschen Einwanderungsgesellschaft aus theoretischer und empirischer Perspektive und konzentriert sich dabei auf Jugendliche. Das erste Kapitel versammelt Beiträge, die sich mit der Konstitution und Verfasstheit von Geschichtsbewusstsein Jugendlicher in Einwanderungsgesellschaften befassen und stellt aktuelle Studien vor. Bodo von Borries vermisst in seinem Beitrag das verminte Feld des interkulturellen Geschichtslernens. Als Herausforderungen identifiziert er die Kulturalisierung von Gruppen, hybride Identitäten sowie die emotio­nale und kognitive Überforderung der Lernenden. Dabei differenziert er den Kulturbegriff und macht auf die Gefahr der Ethnisierung von Jugendlichen aus Einwandererfamilien durch die Festlegung von Kulturunterschieden beim Geschichtslernen aufmerksam. Zudem weist er auf die Unterschiedlichkeit der in Deutschland lebenden Jugendlichen mit Migrationshintergrund hin und unterstreicht, dass man auch die zunehmende Existenz hybrider Identitäten berücksichtigen müsse. Am Beispiel des »großen Türkenkriegs« der Habsburger zeigt er die Schwierigkeiten auf, der Selektivität und Perspektivität von Geschichtskonstruktionen im Unterricht gerecht zu werden. Er kritisiert die institutionell gestützte Durchsetzung eines nationalstaatlich geprägten dominanten und hegemonialen Geschichtsbildes. Nur ein interkulturelles Geschichtslernen könne die hier erzeugte Entfremdung der Lernenden verhindern. Von Borries spricht sogar von einer Kolonisierung der Lebenswelt. Schließlich unterbreitet er vier Modelle der Stoffauswahl und Themenzuspitzung: 1. Nationalgeschichte als Eintrittsbillett, 2. Menschenrechtsgeschichte als Zivilreligion, 3. Nahweltgeschichte als Orientierungshilfe, 4. Mentalitätsgeschichte als Identitätserweiterung. Der Autor arbeitet Letzteres als zukunftsweisend heraus.

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Nevim Çil präsentiert in ihrem Beitrag zentrale Befunde aus ihrer empirischen Studie »Topographie des Außenseiters: Türkische Generationen und der deutsch-deutsche Wiedervereinigungsprozess« (2007). Zeitgeschichtlicher Ausgangspunkt ihrer Analyse ist der Mauerfall und die folgende Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Die Autorin dokumentiert und rekonstruiert in ihrer Studie die Erfahrungen und Perspektiven der jungen türkischen Generation, deren Eltern seit 1961 als »Gastarbeiter« in die Bundesrepublik gekommen waren. Sie gibt Einblicke, wie die Nachkommen dieser Arbeitsmigranten aus der Türkei die Vor- und Nachwendezeit wahrnahmen und welche Bedeutung die Ereignisse von 1989 / 90 für ihre gesellschaftliche Verortung und die Konstruktion ihrer Zugehörigkeit im wiedervereinigten Deutschland hatte. Carlos Kölbl fragt in seinem Beitrag, was relevante kollektive Vergangenheit im Kontext von Migrationsgesellschaften eigentlich bedeutet. Er diskutiert kritisch die Kategorie »Migrationshintergrund«, um auf die Vielfalt der Personen und Gruppen zu verweisen, die diese Bezeichnung einschließt. In seiner Analyse jugendlichen Geschichtsbewusstseins stellt er fest, dass man weder bei Jugendlichen ohne, noch bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund von einem uniformen Geschichtsbewusstsein sprechen könne. Bezogen auf historische Lernprozesse in Einwanderungsgesellschaften benennt Kölbl wesentliche Schnittstellen historischen und interkulturellen Lernens, etwa das Gespür für Fremdheit, Differenz und Anderssein. Er entwickelt eine Reihe von Fragestellungen zur Erforschung des Geschichtsbewusstseins unter den Bedingungen von Migration und Globalisierung und konzipiert Leitlinien für ein interkulturell aufgeklärtes Geschichtsbewusstsein. Der Beitrag von Johannes Meyer-Hamme präsentiert Ergebnisse der empirischen Studie »Historische Identitäten und Geschichtsunterricht: Fallstudien zum Wechselspiel von kultureller Prägung, institutioneller Unterweisung und individueller Verarbeitung«. Untersucht wurde dabei, welche Formen historischer Identitäten in einer zunehmend heterogenen Gesellschaft rekonstruierbar sind, wie sie in der Schule ausgehandelt werden und ob die Unterrichtsinhalte als Identitätsangebote wahrgenommen werden. Der Autor stellt zwei ausgewählte Personen-Fallstudien vor:

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Süleymann und Dzenan. Im Vergleich der Geschichtsbezüge der beiden Jugendlichen arbeitet er unterschiedliche Niveaus historischen Denkens und Formen der historischen Sinnbildung heraus. Er resümiert, dass Konzepte historischen Lernens in einer Einwanderungsgesellschaft Fragen der Migration nicht nur in ihrer historischen Dimension thematisieren, sondern auch bei anderen Themen die durch Migration bedingte Pluralisierung der Deutungen in den Blick nehmen müssten. Der Beitrag von Viola B. Georgi basiert auf ihrer empirischen Studie »Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland« (2003). Ausgehend von der Bestandsaufnahme einer sich durch Migration, Globalisierung und Generationswechsel stärker pluralisierenden Geschichts- und Erinnerungskultur und einigen allgemeinen Überlegungen zu den veränderten Konstitutionsbedingungen von historischer Identitätsbildung in Migrationsgesellschaften, markiert die Autorin den gedächtnistheoretischen Bezugsrahmen ihrer Untersuchung und bündelt die Ergebnisse in Form von Typen. Auch werden zwei Fallbeispiele aus den Interviews (Hülya und Bülent) vorgestellt und interpretiert. Der Beitrag von Rainer Ohliger »›Am Anfang war …‹: Multiperspektivische Geschichtsvermittlung in der Einwanderungsgesellschaft« diskutiert anhand einiger konkreter Beisiele, wie sich die oft abstrakt bleibende Forderung nach Multiperspektivität anhand konkreter Perspektiven und historischer Zugänge in der Einwanderungsgesellschaft ausbuchstabieren ließe. Geschichtslernen in der Einwanderungsgesellschaft führt, so der Autor, zu einer »Multiperspektivität zweiter Ordnung«, die die Chancen birgt, nationale Narrative zu brechen und zu erweitern, indem neue Rahmungen, Fluchtpunkte und Anfangsmetaphern historischen Erzählens und Lernens gewählt werden. Die neu entstehenden Erlebnis-, Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaften finden allerdings noch keinen breiten Niederschlag in der Praxis historischen (schulischen) Lernens. Das zweite Kapitel liefert persönliche Perspektiven auf individuell und kollektiv bedeutsame, aber sehr unterschiedliche Vergangenheiten in der deutschen Einwanderungsgesellschaft. Die Beiträge von Sergey Lagodinsky und Basil Kerski spiegeln essayistisch

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die Erfahrungen von zwei Intellektuellen wider, die in ihrer Kindheit bzw. Jugend nach Deutschland kamen. Beide Autoren wanderten mit ihren Familien aus Polen (Kerski) bzw. aus der Russischen Föderation (Lagodinsky) in die Bundesrepublik ein, durchliefen große Teile ihrer schulischen und universitären Ausbildung in Deutschland und gehören heute zu einer sich formierenden jüngeren intellektuellen Elite von Migranten, die dem Land nicht nur den Spiegel seiner Einwanderungsgeschichte vorhält, sondern auch bedeutende Beiträge zu einer sich diversifizierenden intellektuellen Landschaft liefert. So unterschiedlich die Herkunft und der Zeitpunkt der Zuwanderung dieser beiden Autoren ist – Kerski kam 1979 in den westlichen Teil des vom Kalten Krieg geteilten Berlin, Lagodinsky kam 1993 in das wiedervereinigte Land –, so ähnlich sind doch die Analysen und Reflexionen über die Herausforderungen, die das »schwierige Vaterland« (Gustav Heinemann) mit seiner komplexen und widersprüchlichen Geschichte zur Bestimmungsgröße der eigenen historischen Identität werden lassen. Beide Autoren bereichern die Debatte um Geschichte und historische Erinnerung in der deutschen Einwanderungsgesellschaft um eine notwendige Perspektive, die nicht auf die Geschichte der Arbeitsmigration aus Südeuropa und der Türkei seit 1955 verengt werden kann. Ferner werden in diesem Buchabschnitt vier junge Preisträgerinnen und Preisträger des Geschichtswettbewerbs der Körber-Stiftung mit Mi­ grationshintergrund porträtiert: Michael Bugaev, Johanna Melissa Lukate, Milad Fahimi und Karolina Kaleta. Sie reflektieren in ihren biografischen Essays über die Wechselwirkungen von Einwanderung, Geschichte und Identität in Deutschland. Historische und kulturelle Identität ist, so alle Autoren gleichlautend, durch das Faktum der Einwanderung pluralisiert worden. Identität im Singular verliert ihre Eindeutigkeit und Bedeutung. Multiple Identitäten, oft allerdings auch gebrochen durch Erfahrungen mangelnder Anerkennung, sind die Realität im 21. Jahrhundert in Deutschland und Europa. Kapitel drei präsentiert ausgewählte aktuelle Beispiele der Geschichtsund Erinnerungsarbeit mit Jugendlichen in der Einwanderungsgesellschaft.

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Die ersten beiden Beiträge berichten von neuen Ansätzen einer interkulturell orientierten Museumspädagogik. Ufuk Topkara schildert und analysiert in seinem Beitrag die praktischen Zugänge, die das in BerlinKreuzberg beheimatete Jüdische Museum entwickelt hat, um insbesondere unter türkisch- und arabischstämmigen Schülern Interesse an der deutsch-jüdischen Geschichte und einem interkulturellen, aber auch interreligiösen Dialog zu wecken. Das von Erfolg, aber auch von anfänglichen Rückschlägen geprägte Projekt vermittelt anschaulich, welche Hürden in der praktischen und methodischen Arbeit zu nehmen sind, um die interkulturelle Öffnung von Museen schrittweise voranzubringen. Die Erfahrungen Topkaras, selbst Führer im Jüdischen Museum Berlin, zeigen, dass erfolgreiches interkulturelles historisches Lernen nur als Querschnittsaufgabe gedacht und in Kooperation verschiedener Institutionen und Sozialisa­tionsinstanzen umgesetzt werden kann. Wie solch eine Kooperation ausgestaltet werden kann, zeigt Martin Liepach mit seinem Beitrag am Beispiel des Jüdischen Museums in Frankfurt am Main. Der Autor schildert und analysiert die Erfahrungen und Ergebnisse des Projektes: »Auf den Spuren der Frankfurter Stadtgeschichte – Frankfurt als Stadt der Einwanderer«. Dabei handelt es sich um ein Unterrichtsprojekt der historischen Institute und Museen Frankfurts (Archäologisches Museum, Historisches Museum, Jüdisches Museum, Kindermuseum des Historischen Museums, Jugendbegegnungsstätte Anne Frank, Fritz Bauer Institut und Institut für Stadtgeschichte) in Kooperation mit allgemeinbildenden Frankfurter Schulklassen der Sekundarstufe I und II. In einer praxisorientierten Zusammenarbeit wird anhand von Sachquellen und Dokumenten die lange Dauer der Migrationsgeschichte der Stadt durch Schülerinnen und Schüler erforscht und erfahrbar gemacht. Die Stadtgeschichte wird so ein ganzes Schuljahr lang innerhalb des verbindlichen Regelunterrichts unter den Leitbegriff der Migration gestellt und als Querschnittsthema in das schulische historische Lernen eingebettet. Der Beitrag von Gottfried Kößler stellt das vom Fritz Bauer Institut (Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust) entwickelte Programm »Konfrontationen« vor. Das aus Bausteinen bestehende Bildungsmaterial zeichnet sich einerseits durch die

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Verbindung von historischem und moralischem Lernen aus. Andererseits werden die Lernenden durch auf die Teilnehmer ausgerichtete, selbstreflexive Methoden dazu angeregt, sich aktiv zu den historischen Ereignissen sowie den Entscheidungen und Handlungen der historischen Akteure zu verhalten. »Konfrontationen« bietet den Lernenden damit die Möglichkeit eines multiperspektivischen Umgangs mit historischen Erfahrungen und Deutungen. Kößler betont, dass es vor allem die gemeinsame Arbeit am Verständnis unterschiedlicher Erinnerungen und widersprüchlicher zeitgenössischer Quellen sei, die Chancen eines zeitgemäßen politischhistorischen Lernens für die Einwanderungsgesellschaft eröffne. Der Beitrag von Karoline Georg, Mirko Niehoff und Aycan Demirel greift ein vertrautes und zugleich neues gesellschaftlich brisantes Themenfeld auf, nämlich die Frage des Antisemitismus. Die Ausführungen basieren auf den Praxiserfahrungen der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA e.V.), die sich der multiperspektivischen Bildungsarbeit verschrieben hat und dabei insbesondere junge Muslime als Zielgruppe ins Auge fasst. Die Initiative konzipiert Bildungsangebote zu den Themenfeldern Antisemitismus, Nahostkonflikt und Islamismus für die offene Jugend­ arbeit und Schulen. Der gewählte Ansatz entspricht einem zeitgemäßen Präventionsansatz, der sich ganz bewusst auch den Projektionsflächen des Antisemitismus annimmt. Im Zentrum der pädagogischen Bemühungen steht eine Auseinandersetzung mit Ausdrucksformen des »sekundä­ ren Antisemitismus« und des »muslimisch geprägten Antisemitismus«. Die Autoren benennen und analysieren Lücken im deutschen Geschichts­ curriculum bezogen auf jüdische Geschichte und den Nahostkonflikt. Schließlich arbeiten sie auch die eng mit Anerkennung und Minderheitenstatus verwobenen Ursachenkomplexe für antisemitische Orientierungen junger Migranten heraus. Elke Gryglewskis Beitrag schildert ein außergewöhnliches Geschichts­ projekt mit palästinensischen und arabischen Jugendlichen aus Berlin, welches seinen Abschluss in einer Studienreise nach Israel und in die palästinensischen Autonomiegebiete findet. Das in Kooperation mit dem Haus der Wannsee-Konferenz und dem arabischen Jugendclub Karame e.V. durchgeführte Jugendprojekt beinhaltet sowohl die Beschäftigung mit der

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Geschichte der Palästinenser als auch der eigenen Familiengeschichte. Parallel dazu sollen sich die Jugendlichen mit der Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust sowie dessen Wirkungsgeschichte als wesentlichem Bestandteil der Geschichte der Mehrheitsgesellschaft auseinandersetzen. Gryglewski beschreibt konkret die Auseinandersetzung der Jugendlichen mit den Themen und analysiert dabei Lernprozesse, Irritationen und Provokationen. Dabei kommen die Bedürfnisse der Jugendlichen nach Zugehörigkeit und Identität deutlich zum Vorschein. Diesen Bedürfnissen könne nur durch eine Pädagogik der Anerkennung adäquat begegnet werden. Die Beiträge des Buches bilden ein Panorama der historischen Orientierung Jugendlicher unter den Bedingungen der deutschen Einwanderungsgesellschaft. Sie sollten als Anregung für weitere Betrachtungen, Forschungen und Debatten verstanden werden, um den Ort des Historischen in einer sich neu justierenden Gesellschaft zu bestimmen. Geschichte und Identität waren in den letzten zwei Jahrhunderten ein bestimmendes Duo für die Selbstbeschreibung und Verortung der deutschen Gesellschaft im Rahmen des Nationalen. Aus dem Duo ist ein Trio geworden: Migration ergänzt die historischen Erfahrungen, erweitert den historischen Blick und bestimmt gesellschaftliche Zugehörigkeiten neu. Dies gilt für die gesamte Gesellschaft, insbesondere aber für Jugendliche, deren Geschichtsbilder und Geschichtsbewusstsein sich erst konturieren. Das »Nachdenken über die deutsche Geschichte« (Nipperdey 1986) kann bei dieser Konturierung helfen, allerdings nur in seiner Erweiterung: Aus dem Nachdenken über die Nationalgeschichte wird dabei ein Nachdenken über Geschichte in ihrer Vielfalt, ihrer Multidimensionalität und auch ihrer Uneindeutigkeit. Das Kaleidoskop der Geschichte bietet neue bunte Bilder für das Auge des Betrachters. Das Gewohnte wird sich verändern. Das Veränderte wird vielfältiger. Das Vielfältige ist die Zukunft der Vergangenheit.

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Literatur Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische ­Identität in frühen Hochkulturen. München 1992. Georgi, Viola B.: Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland. Hamburg 2003. Georgi, Viola B.: In- Geschichte(n) -verstrickt: Biographische Geschichten als Gegenstand interkulturellen Lernens in der Migrationsgesellschaft. In: Lange, Dirk (Hrsg.): Migration und Bürgerbewusstsein. Perspektiven Politischer Bildung in Europa. Wiesbaden 2008 a, S. 131– 147. Georgi, Viola B.: Migration und Geschichte. Geschichtsaneignung und interkulturelles Lernen in der deutschen Einwanderungsgesellschaft. In: Schaarschmidt, Thomas (Hrsg.): Historisches Erinnern und Gedenken im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert. Frankfurt a. M., 2008 b, S. 109 – 131. Nipperdey, Thomas: Nachdenken über die deutsche Geschichte. Essays. München 1986.

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