Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation
Journal for Sociology of Education and Socialization 20.
Jahrgang /
Heft 1/2000
Klaus Hurrelmann: 20 Jahre ZSE. Was leistet eine
interdisziplinäre, themengebundene
Fachzeitschrift?
Twenty Years ZSE. What are the Achievements ofan Interdisciplinary Subject-Orientated Journal?
and
3
Jürgen Zinnecker: Würdigung der Arbeiten der Preisträgerinnen des ZSE-Förderpreises Acknowledge of the Articles ofthe Award Winners
6
Beiträge/Contributions Katharina Liebsch: Vorsätzlicher Verzicht. Argumentative und
symbolische Strategien der Herstellung eines religiösen Identitätstyps Resolving Renunciation. Rhetorical and Symbolic Strategies to Esta¬ blish Religious Identifies
11
Sabine Andresen:
„Das Jahrhundert des Kindes" als Vergewisserung. Ellen Keys Echo im „
pädagogischen Diskurs der Moderne Century ofthe Child ". Ellen Key 's Echo in Modern Educational
\
The
22
Discourse
Peter Rieker:
Jugendalter. Ein multiperspektivischer Beitrag zur Sozialisationsforschung Ethnocentrism and Youth: A Multiperspective Contribution to ReEthnozentrismus im
search in Socialisation
,
39
Papastefanou: ein vernachlässigter Gegenstand Auszug aus dem Elternhaus der Entwicklungspsychologie Youth Adults Leaving Home -A Neglected Subject in Developmental Psychology Christiane
Der
-
,
C 55
Ludwig Stecher: Entwicklung der Lern- und Schulfreude im Übergang von der Kind¬ heit zur Jugend Welche Rolle spielt die Familienstruktur und die ^Qualität der Eltern-Kind-Beziehungen? Development ofInclination to Learning and Schooling in the Transi¬ Which Role Play Family Structure and tion from Childhood ofYouth Quality ofParent-Child-Relationship -
-
70
Rezension/Book Reviews
Sammelbesprechungen K. Lüscher über das B.
„aktuelle" Problem der Generationen Dippelhofer-Stiem über „Qualität und pädagogisches Profil im Ele¬
mentarbereich"
89 92
Einzelbesprechungen L. Bauer über F. Haselbeck
„Lebenswelt Schule"
96
Aus der Profession/Inside the Profession
Workshop Methoden P. Strehmel über die
Qualitative Längsschnittanalyse
98
Tagungsbericht H. M. Griese über die
Frühjahrstagungen 1997, 1998, 1999 des Bie¬ Jugendforschung
lefelder Zentrums für Kindheits- und
101
Forschungsbericht K.
Lüscher über den
Forschungsschwerpunkt „Gesellschaft
und
Familie"
106
Magazin Aus der
berg"
.
Jugendstudie „Jugend '99 in
Sachsen und Baden-Württem¬
108
.
Aus dem
Österreichischen Familienbericht
'99
110
Markt
Growing into the 21st Century: Forschungsprojekte
110
Veranstaltungskalender Frühjahrstagung forschung
u. a.
2000 des Zentrums für Kindheits- und
Vorschau/Forthcoming Issue
Jugend¬ 111
111
20 Jahre ZSE
-
Was leistet eine interdiszi¬
plinäre, themengebundene
Fachzeitschrift?
Die Zeitschrift ZSE
geht in ihren 20. Jahrgang. Ob Zufall oder nicht, nach 20 geschäftsführende Herausgeberschaft wieder an mich zurück¬ gekehrt. Anlass für kurze Überlegungen, wie eine kleine, fachlich spezialisierte, themengebundene und interdisziplinär orientierte Fachzeitschrift heute am Wis¬ senschaftsmarkt positioniert sein kann. Jahren ist die
Fachzeitschriften wie die ZSE werden von einem unabhängigen Kreis von Wis¬ senschaftlerinnen und Wissenschaftlern
herausgegeben. Bei der ZSE wird das Forschungsgebiet der Sozialisations- und Lebenslaufforschung durch Gisela Trommsdorff, Martin Kohli und mich vertreten, die Kindheits- und Jugend¬ forschung durch Helga Zeiher, Jürgen Zinnecker, Helmut Fend und ab diesem Heft Michael-Sebastian Honig, die Familienforschung durch Rosemarie NaveHerz und Kurt Lüscher und die Erziehungs- und Bildungsforschung durch HansGünter Rolffund Ludwig von Friedeburg. Die Aufgabe von uns Herausgebe¬ rinnen und Herausgebern ist es, die Verbindung in unsere jeweilige Fachgrup¬ pe herzustellen und Qualitätssicherung für eingehende Beiträge in unseren Kom¬ petenzgebieten zu betreiben. Wir
Herausgeberinnen
und
Herausgeber kommen alle von staatlichen
Univer¬
sitäten. Für eine Fachzeitschrift wie die ZSE arbeiten wir mit einem kommer¬
ziell orientierten
Verlag
zusammen.
Hierdurch
ergibt sich ein Spannungsver¬
hältnis, das ich in den letzten 20 Jahren als sehr produktiv empfunden habe. Das liegt auch an der Person des Verlegers Lothar Schweim, der einen ausge¬
sprochenen Sensus für neue fachliche Strömungen im Bereich von Sozialisa¬ Erziehung hatte und hat, und der immer wieder daraufgedrängt hat, innovative Wege zu gehen. Mit seinem norddeutschen Charme hat er uns so manches Mal auf neue Entwicklungen aufmerksam gemacht und gemahnt, sie tion und
nicht
zu
neue
fachliche
verschlafen. Das hat der Zeitschrift gut getan, hat immer wieder für
Impulse gesorgt.
Die ZSE ist das
Beispiel einer im deutschen Sprachraum seltenen Fachzeit¬ deswegen, weil sie eine interdisziplinäre Orientierung hat. Die Her¬ ausgeberinnen und Herausgeber kommen aus der Pädagogik, der Soziologie und Psychologie. In den für die ZSE konstitutiven Forschungsgebieten Sozia¬ lisation, Erziehung, Jugend, Kindheit, Familie und Bildung ist eine enge dis¬ ziplinare Arbeitsweise wenig sinnvoll. Deswegen wollten wir von Anfang an die Verbindung der Disziplinen, und sie war auch immer in der Zusammen¬ setzung des Herausgeberkreises abgebildet. schrift auch
Die
sind
Schwierigkeiten der interdisziplinären Orientierung einer Fachzeitschrift allerdings nicht zu verschweigen. Sie werden immer dann deutlich, wenn
ZSE, 20. Jg. 2000, H.
1
3
das Einwerben von Fachbeiträgen des wissenschaftlichen Nachwuchses geht. Wissenschaftlicher Nachwuchs in Deutschland ist gezwungen, sich in den Bahnen einer Einzeldisziplin zu qualifizieren und die disziplinare Identität unter Beweis zu stellen. Interdisziplinäres Arbeiten wird bei der Bewertung von Dis¬ sertationen und Habilitationen nicht unbedingt positiv zu Buche schlagen, weil die Beurteilungsstandards in der Regel aus der Tradition des eigenen Faches stammen. Mit dieser Schwierigkeit hat eine Zeitschrift wie die ZSE zu kämp¬ fen, zugleich hat sie natürlich auch die Chance, die disziplinare Verengung von Fragestellungen zu überwinden, indem sie ein Forum für offene fachliche Zugangsweisen anbietet. Wir Herausgeberinnen und Herausgeber haben den Eindruck, diesen Forumscharakter in den letzten Jahren geleistet zu haben.
es um
Die ZSE hat sich immer auch als eine Fachzeitschrift wahrgenommen, die Beiträ¬ sondern auch für ge nicht nur für die Wissenschaftlergemeinschaft beisteuert, eine interessierte Fachöffentlichkeit aus Praktikerinnen und Praktikern in den verschiedenen Berufen, die mit den Arbeitsgebieten der ZSE in Berührung ste¬ hen. Entsprechend sind die Themen der ZSE auf Resonanz gerade auch in der Berufspraxis von Erzieherinnen und Erziehern, Lehrerinnen und Lehrern, Bera¬
tungsfachleuten, Fachleuten der Sozialarbeit und der Sozialplanung gestoßen. Durch die 'Schwerpunktthemen' konnten wir entsprechende Akzente setzen und solche Gebiete aufnehmen, die sowohl in der wissenschaftlichen als auch in der praxisbezogenen Diskussion von Bedeutung sind. Ein Auszug aus der
Liste der -
-
-
-
-
Schwerpunktthemen
in den letzten zehn
zeigt diese Orientierung:
Jugend im sozialen Wandel Entwicklung des Bildungssystems Alternsforschung Hochschulforschung Lernen am Arbeitsplatz
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
Wandel der Vater- und Mutterrolle Kinder und Medien
Psychosoziale Belastung in der Adoleszenz Schule als Organisation Kindheit und Kulturvergleich Aggression, Rechtsradikalismus, Ausländerfeindlichkeit Interdisziplinäre Gewaltforschung Evaluation von Bildungseinrichtungen Qualität von Lehre und Studium Ökonomische Verhältnisse der Kinder Generationen in der Familie
Religion, Sozialisation und Biographie Sozialisation
von
Emotionen
Kinderschutz
Fachbeiträgen darum bemüht, die politischen Impli¬ Forschungsergebnisse herauszuarbeiten. Damit ist sie ein Forum für den Transfer von wissenschaftlichen Forschungsergebnissen in eine inter¬ essierte Öffentlichkeit. In den nächsten Jahren ist zu prüfen, ob diese Trans¬ ferleistung noch ausgeweitet werden kann. Voraussetzung hierfür ist die Über¬ prüfung der Fachbeiträge durch Gutachterinnen und Gutachter und ein wis¬ senschaftlich strenges Auswahlverfahren der publizierten Beiträge. Die Qua-
Die ZSE hat sich in ihren kationen der
4
ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
Herausgeberkreises ist hierfür die entscheidende Garantie. Wir Ergänzungen des Herausgeberkreises vornehmen, um fachliche Neu¬ entwicklungen entsprechend kompetent abzubilden. Wir werden auch die Kri¬ terien für die Auswahl der Beiträge weiter standardisieren, um uns an die inter¬ national üblichen Gepflogenheiten des 'Peer Review' bei Fachzeitschriften anzu¬ gleichen. lifikation des werden
In Kürze werden wir
Überlegungen anstellen,
ob die in der ZSE
publizierten
Beiträge über den Verlag oder über einen Pressedienst auch im Internet für eine interessierte Öffentlichkeit aufbereitet werden können. Hierdurch soll die Dissemination der Untersuchungsergebnisse vergrößert werden, um nicht nur einen naturgemäß kleinen fachlichen Adressatenkreis, sondern auch den großen Kreis der wissenschaftlich geschulten und sensiblen Praktikerinnen und Praktiker zu erreichen, der für die Fachzeitschrift ZSE von großer Bedeutung ist. Trotz aller wirtschaftlichen
ta-Verlag gehalten,
Schwierigkeiten
von
Fachverlagen hat der
Juven¬
Engagement für die ZSE über 20 Jahr hinweg nicht nur konstant sondern ständig weiter erhöht. Die Verteilung von Preisen an Auto¬
sein
rinnen und Autoren der ZSE ist ein solcher Schritt. Das soll
uns Herausgebe¬ Herausgebern Verpflichtung sein, Profil und Leistungsfähigkeit der ZSE weiter zu stärken und zu schärfen, um den Charakter einer fachkompe¬ tenten spezialisierten Fachzeitschrift zu halten und die Ausstrahlung der ZSE
rinnen und
weiter
zu
Für die
erhöhen.
Herausgeberinnen
und
Herausgeber:
Klaus Hurrelmann, Universität Bielefeld
ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
Würdigung der Arbeiten ZSE-Förderpreises
der
Preisträger
des
Aus Anlass ihres 20jährigen Bestehens hat die ZSE erstmalig einen Förder¬ preis für Nachwuchswissenschaftlerlnnnen vergeben. Die ersten drei prämierten Beiträge werden in diesem Heft der ZSE publiziert. Der Preis wurde
Verlag gestiftet, ist mit insgesamt DM 3.000,vergeben werden. Die Jury setzte sich aus Vertre¬ terinnen des Verlages und der Herausgeberinnen zusammen. Die Preisverlei¬ hung fand im Rahmen eines Jubiläumsworkshops in Weinheim statt. Preisfähig waren ausschließlich Originalarbeiten in deutscher oder englischer Sprache zu Themen der Soziologie der Erziehung und Sozialisation, die nicht älter als ein vom
Juventa
dotiert und soll alle 5 Jahre
Jahr sind
jahr
von
Wissenschaftlerinnen, die bei Einsendeschluss das 40. Lebens¬
noch nicht vollendet hatten und noch nicht Professorinnen sind.
Der Verleger des Juventa Verlags, Lothar
Schweim, begründete die Zielsetzung
Herausgeber und Verlag wollten mit diesem junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft¬ ler in ihrer Arbeit zu bestärken. Wissenschaftliche Beiträge gerade auch aus den Sozialwissenschaften müssen so weit als möglich öffentlich gemacht und mit einem Akzent versehen werden. Der Preis solle junge Wissenschaftlerin¬ nen und Wissenschaftler zudem ermutigen, an dem Projekt der Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation mitzuarbeiten. Er solle ein Signal setzen, dass die etablierte ZSE auch nach 20 Jahren eine junge Zeitschrift ist. Und der Preis solle öffentlich demonstrieren, dass Wissenschaft nötig ist. des Preises und verlieh die Preise. Preis einen
Beitrag leisten,
Der 1. Preis
ging
an
Dr. Katharina Liebsch
für ihren
um
aus
Hamburg
Beitrag
Vorsätzlicher Verzicht.
Argumentative und symbolische Strategien der Herstellung eines religiösen Iden¬ titätstypus Der 2. Preis wurde
geteilt. Es erhielten ihn aus Heidelberg
Dr. Sabine Andresen
für ihren
Beitrag
„Das Jahrhundert des Kindes,, als Vergewisserung. Ellen
Keys
Echo im
pädagogischen
Diskurs der Moderne
und Dr. Peter Rieker
für seinen
aus
Leipzig
Beitrag
Ethnozentrismus im Ein
Jugendalter. multiperspektivischer Beitrag
Der 3. Preis wurde ebenfalls Dr. Christiane 6
Papastefanou
zur
Sozialisationsforschung
geteilt. Es erhielten Ludwigshafen
ihn
aus
ZSE, 20. Jg. 2000, H.
1
für ihren
Beitrag
Der Auszug
Ein
aus
dem Elternhaus.
vernachlässigter Gegenstand
der
Entwicklungspsychologie
und
Dipl.
Soz.-wiss.
Ludwig Stecher aus Siegen Beitrag Entwicklung der Lern- und Schulfreude im Übergang von der Kindheit zur Jugend. Welche Rolle spielt die Familienstruktur und die Qualität der ElternKind-Beziehungen? für seinen
Laudationes
zur
Preisverleihung
1. Preis Dr. Katharina Liebsch.
„Vorsätzlicher Verzicht. Argumentative und symbolische Strategien der Her¬
stellung eines religiösen Identitätstypus" Katharina Liebsch arbeitet
zur
Zeit als Wissenschaftliche Assistentin
an
der
Universität Hamburg, Institut für
Soziologie. Sie promovierte 1993 an der Uni¬ versität Osnabrück bei Frau Carol Hagemann-White mit einer Arbeit über die Möglichkeiten der sozialwissenschaftlichen Verwendung der Psychoanalyse. Ein zentrales Forschungsgebiet war bisher die geschlechterdifferente Soziali¬ sation. Die eingereichte Arbeit entspricht ihrem neuesten Forschungsinteres¬ se, das sich auf religionssoziologische Fragen bezieht. eingereichte Arbeit „Vorsätzlicher Verzicht" arbeitet mit dem Instrumen¬ biographischer Fallrekonstruktion. Die 29 Jahre alte Anke Büken, aktu¬ evangelikale Christin, erzählt ihr Bekehrungserlebnis, wie sie dazu kam,
Die
tarium ell
das Gelübde auf den Verzicht vorehelichen Geschlechtsverkehrs
zu
zeichnen und sich in der Gemeinschaft bibeltreuer Protestanten
beheima¬
ten. Frau Liebsch
zu
unter¬
stellt diese individuelle
biographische Narration in den kul¬ importierten öffentlichen Kampagne und Unterschriftensammlung „Wahre Liebe wartet" (True love waits) dieser religiösen Randgruppe. Frau Liebsch legt die narrativen, poetischen und rhe¬ torischen Muster frei, die die Erzählerin nutzt, um ihre biographische Erfah¬ rung für sich selbst zu organisieren und glaubwürdig nach außen zu präsen¬ tieren. Abschließend fragt sie nach dem Potential, das kognitive Entdifferenzierung und emotionale Askese für die Herausbildung von Identität bereithal¬ turellen Kontext der 1994
aus
den USA
ten.
Jury hat sich aus folgenden Gründen entschlossen, Frau Liebsch den ersten zu verleihen. Die Arbeit greift auf wissenschaftlich originelle Art und in einer sprachlich überzeugenden Weise ein zentrales Problem moderner Lebensgestaltung auf: Wie lässt sich persönliche Identität in einer der Iden¬ titätsbildung eher abträglichen soziokulturellen Umwelt gewinnen? Originell ist der Versuch, dieses Problem am Beispiel des religiösen Fundamentalismus zu demonstrieren, der sich ja als eine der vier grundlegenden Antworten auf die voranschreitende Modernisierung-neben Traditionalismus, Modernismus, Postmodernismus verstehen lässt. Frau Liebsch zeigt sehr überzeugend, wie auch die fundamentalistische Orientierung Anknüpfungspunkte an den Modernisierungsdiskurs sucht, um diese Haltung zu „normalisieren" und ihr Die
Preis
-
ZSE, 20. Jg. 2000,
H. 1
7
zu verleihen. (Paradox: Auch der sich.) Originell oder wenn Sie das lieber ist ferner die Verknüpfung von biographischer For¬ hören: innovativ schungstradition, psychoanalytischen Gedankengängen und Modellen der interaktionistischen Text- und Erzählforschung. Verbindendes Moment ist die Perspektive auf die Eigenaktivität der Biographieträger, die biographischen Sinn auf kunstvolle Weise im Rahmen kommunikativer Selbstdarstellung"herstellt" und Realität verleiht. Die Autorin zeigt sich, so meinte die Jury, dieser Kom¬ plexität wissenschaftlich voll gewachsen.
rhetorische, biographische Glaubwürdigkeit Fundamentalismus modernisiert
-
-
2. Preis Dr. Sabine
Andresen, Universität Heidelberg, Erziehungswissenschaftliches
Seminar
„Das Jahrhundert des Kindes als Vergewisserung. Ellen Keys Echo im pädago¬
gischen
Diskurs der Moderne"
Sabine Andresen ist
gegenwärtig Habilitationsstipendiatin
an
der Universität
Sie hat Lehramt, Diplom-Pädagogik studiert und über „Weibliche Stimmen zu Geschlecht und Sexualität in der bürgerlichen Jugendbewegung"
Heidelberg. promoviert.
Frau Andresen
fragt in ihrem mit dem zweiten Preis bedachten Beitrag nach Rezeptionsgeschichte des 1900 veröffentlichten Jahrhundertbuches von Ellen Key, der schwedischen Lehrerin und Radikalreformerin. „Das Jahrhun¬ der
dert des Kindes" fand insbesondere in Deutschland ein starkes,
zum
Ende des
Jahrhunderts wieder verstärktes Echo. Die Autorin stellt Key in den Kontext des „pädagogisches Diskurses" der Moderne und nutzt ihn als Spiegelung, oder wie sie
es
ausdrückt, „Vergewissung".
gefiel die lockere, essayistische Art, in der Frau Andresen ihre pädago¬ gikgeschichtliche Gelehrsamkeit versteckt. Preiswürdig erschien die Art, wie ein Thema der novellierten ZSE, nämlich die Bestimmung von Kindheit im Diskurs der Generationen und der pädagogischen Moderne, hier aufgegriffen wurde. Inhaltlich erschien uns die Kategorie der „Ambivalenz der Moderni¬ sierung" besonders angemessen, die Frau Andresen zugrundelegt, um positi¬ ve und negative Wertigkeiten in der pädagogisch-gesellschaftlichen Utopie von Ellen Key gleichermaßen und wohlbalanciert herauszuarbeiten. (Dieser Prü¬ fung unterliegen die Nietzscheanischen Neuen Menschen, das durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts diskreditierte Eugenikkonzept, die Umkeh¬ rung des Geschlechterverhältnisses, die Vergöttlichung von Kind und Heim.) Auch der Spiegeleffekt, der in der Geschichte der Rezeption eines populären Stichwortes und des Werkes selber zutragetritt, hat gefallen: Am Ende erschaf¬ fen sich die pädagogischen Leser und Leserinnen ihre Ellen Key und ihr Jahr¬ hundert des Kindes durch den Prozess der Rezeption selbst ob diese Rezep¬ toren nun Klaus Hurrelmann, Dieter Lenzen, Michael-Sebastian Honig, Lud¬ wig Gutlitt, oder Hermann Nohl heißen. Der Jury
-
Der zweite zweite
Preisträger ist
Dr. Peter Rieker mit dem
Beitrag:
„Ethnozentrismus im Jugendalter. Ein multiperspektivischer Beitrag
zur
Sozialisationsforschung" 8
ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
Peter Rieker arbeitet
nalen Arbeitsstelle
schwerpunkte u.a. Beziehungen an.
gegenwärtig am Deutschen Jugendinstitut, in der Regio¬ Leipzig. Er ist Diplom-Soziologe und gibt als Arbeits¬ Soziologie abweichenden Verhaltens und interethnische
Preisträger untersucht
Wege der „emotionalen Jugend, die zu einer ethnozentrischen Einstel¬ lung fuhren können. Das geschieht mittels qualitativer Fallstudien und in Aus¬ einandersetzung mit nicht eindeutigen Forschungsergebnissen aus der Tradi¬ tion quantitativer Einstellungsforschung. Die Arbeit ist aus dem Hildesheimer DFG-Projekt (Projektleiterin Christel Hopf) hervorgegangen, in dem Attach¬ ment-Ansatz und Ethnozentrismus-Forschung miteinander verknüpft wurden. Die elf von fünfundzwanzig jungen Männern, die ethnozentrische Tendenzen in qualitativen Interviews geäußert haben, werden auf die Qualität ihrer kind¬ lichen Beziehungen zu Eltern, die Qualität der Beziehungen zu Gleichaltrigen (Freunden, Partnern, neben Cliquen) hin beschrieben. Anhand von kontrasti¬ ven Fallvergleichen wird plausibel gemacht, dass unterschiedliche Pfade zum Ethnozentrismus führen können. Der eine Pfad führt über wenig verlässliche Eltern-Kind-Beziehungen zu wenig befriedigenden Peer-Beziehungen in der Adoleszenz. Unangenehme Gefühle aus diesen Beziehungskonstellationen kön¬ nen dann auf feindliche Außengruppen gerichtet bzw. verschoben werden. Aber auch der entgegengesetzte Weg ist empirisch im Einzelfall belegbar: Verläss¬ liche Eltern-Kind-Beziehungen führen zur Identifikation mit und Übertragung Der
im Kern unterschiedliche
Sozialisation" in Kindheit und
von
elterlichen Werten
von
den
Jugendlichen
-
d.h. in diesem Fall fremdenfeindlichen
in ihren
-
und werden
Cliquen ausgelebt.
Die
Jury prämiert die überzeugende, von linguistischer Prätention sich fern¬ Anwendung qualitativer Interview- und Auswertungstechniken. Es gelingt dem Autor im Rahmen kontrastiver Fallanalysen, gewisse Widersprüche und Ungereimtheiten im Feld der mit großen Stichproben quantitativ arbei¬ tenden Ethnozentrismus-Forschung aufzuklären. Der Preisträger arbeitet ziel¬ gerichtet an der Aufklärung eines gesellschaftlichen Problems, vermeidet dabei haltende
aber Fallstricke eines allzu strikten Determinismus in der Sozialisationsfor¬
schung. 3. Preis
(geteilt)
Ludwig Stecher, Universität Siegen. „Entwicklung der Lern- und Schulfreude im Übergang von der Kindheit zur Jugend. Welche Rolle spielen die Familienstruktur und die Qualität der ElternKind-Beziehungen?" Ludwig Stecher ist Diplom-Sozialwissenschaftler und arbeitet an der Univer¬ sität-GH Siegen im Bereich Bildungs- und Sozialisationsforschung. In seiner empirischen Studie verschränkt er aktuelle Fragestellungen der Familien- und der Bildungsforschung miteinander. Er fragt einerseits nach den möglichen Pro¬ blemen und Entwicklungsschwierigkeiten von Kindern und Jugendlichen in Scheidungs- und alleinerziehenden Familien; und er fragt nach der Entwick¬ lung von Lern- und Schulfreude im Übergang von der Kindheit zur Jugend. Er versucht Antworten auf der Basis einer Längsschnittstudie und mit den Mit¬ teln empirischer Forschung und bewegt sich damit im ursprünglichen wissen¬ schaftlichen Kern- und Programmbereich der Zeitschrift ZSE. ZSE, 20. Jg. 2000,
H. 1
9
Die
Jury
war
besonders angetan
hier verschiedene moderne
von
der Exaktheit und Souveränität, mit der Verfahren wie personbezogene Clu¬
empirische
steranalyse, hierarchische lineare Modelle (HLM) oder Strukturgleichungs¬ (Lisrel) im Kontext einer Längsschnittstudie miteinander verknüpft werden wobei das didaktische Geschick des Autors, die Logik dieser Ver¬ fahren plausibel zu machen, bewundernswert ist. Herr Stecher gelangt durch phantasievolle Kombination verschiedener Untersuchungsverfahren dazu, auf empirischem Weg eine Entscheidung zwischen alternativen Hypothesen her¬ beizuführen.. So vermag er etwa nachzuweisen, dass die Beeinträchtigung von Schulfreude weniger eine direkte Wirkung der Familienstruktur ist, sondern also Scheidung dass die beeinträchtigenden Wirkungen der Familienstruktur oder alleinerziehende Elternschaft erst auf indirektem Weg durchschlägt, über eine Beeinträchtigung der familialen Interaktion und Kommunikation. modelle
-
-
-
Dr. Christiane
„Der Auszug
Papastefanou
für die Studie:
dem Elternhaus. Ein
aus
vernachlässigter Gegenstand
der Ent¬
wicklungspsychologie" Papastefanou ist von Haus aus Psychologin, deren Forschungs¬ schwerpunkt die Familienentwicklungspsychologie ist. Sie ist gegenwärtig Lehr¬ beauftragte an Mannheimer Hochschulen und freiberuflich als Psychothera¬ peutin tätig. Christiane
Trennung von jungen entwicklungspsychologischer Perspektive. Empirische Basis bilden ausführliche explorative Interviews mit Müttern, Vätern und Zielkind in 56 Familien, wobei Quer- und Längsschnitterhebungen kom¬ biniert werden. Verglichen werden Eltern- und Kindperspektiven in Familien, Die
preiswürdige
Arbeit beleuchtet die räumliche
Erwachsenen und ihren Eltern
aus
das Kind bereits ausgezogen ist, mit Familien, wo das Kind noch zu Hau¬ lebt. In einer follow-up Studie wird die Bewältigung des Auszuges bei denen
wo se
geprüft, die
zum
ersten
Zeitpunkt noch
nicht ausgezogen waren. Im Beitrag subjektive Erleben des familiären
konzentriert sich die Verfasserin auf das
Lebensereignisses und auf die Entwicklung der Eltern-Kind-Beziehung, die hierdurch ausgelöst wird. Die Arbeit ist sorgfältig mittels eines Literaturbe¬ richtes kontextualisiert.
Jury findet die intensiven und komplexen Explorationen in das Zeitfens¬ Familienereignisses preiswürdig, die sorgfältig dazu genutzt werden, blinde Flecken in der Familienentwicklungspsychologie aufzuhellen. Die Kombination mit einer follow-up Studie erhöht den Wert der ursprünglichen Querschnittvergleiche. Die Preisträgerin macht überzeugend plausibel, dass hier ein lohnendes Forschungsfeld zu eröffnen ist, an der Schnittstelle systemischer Familienanalyse und lebenslaufbezogener Entwicklungspsychologie. Die
ter dieses
Jürgen Zinnecker, Universität Siegen
10
ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
Katharina Liebsch
Vorsätzlicher Verzicht Argumentative und symbolische Strategien der Herstellung eines religiösen Identitätstypus Resolving Renunciation. Rhetorical and Symbolic Strategies to Establish Religious Identities
Aufsatz geht der Frage nach, mit Hilfe welcher rhetorischer Muster und sym¬ Strategien religiöse Identitäten stabilisiert werden. Am Beispiel der Erzählung einer evangelikalen Christin werden symbolische, narrative, poetische und rhetorische Muster veranschaulicht, die als Strategien der Organisation und Präsentation von Erfahrung genutzt werden. Dabei wird deutlich, daß die religiöse Rhetorik Momente des Verzichts und der Beschränkung hervorhebt, die als kogni¬ tiv-emotionale Regressionsbewegung des Verzichts charakterisiert und in ihren idenDer
bolbcher
titätsstabilisierenden Elementen beschrieben werden. Thb
essayfocusses on the issue ofrhetoric patterns and symbolic strategies in nar¬ of religious identities. With the help ofan interview with a female evangeli¬ cal Christian symbolic, narrative, poetic and rhetoric patterns are illustrated. It then becomes obvious that the evangelical rhetoric serves as a strategy to organize and present experience. The rhetoric emphasizes renunciation and limitation and can be characterized as a affective-kognitive form of regression. Nevertheless, this pattern of renunciation helps to stabilize identities. ratives
1.
Einleitung
Begriff der „Identität" verwendet, ist damit konfrontiert, daß in sozio¬ logischen Theorien häufig die Rede ist von „Bastelbiographien", Prozessen der Freisetzung aus Rollen- und Traditionsgefügen, der Zunahme von „Wahl¬ handlungen" im individuellen Lebenslaufund von „multiplen Selbsten". Wir leben, so heißt es zum Beispiel bei Beck 1993, Habermas 1985 und Giddens Wer den
1990, in Zeiten der
Überforderung,
der Unübersichtlichkeit und des Risikos.
Vorgaben verschwinden und Orientierungen werden schwieriger und zudem begründungsbedürftig. Die Kategorie der „Identität" ist in vielen theo¬ retischen Debatten abgelöst worden von einer Thematisierung der „Stile", der „kulturellen Praktiken" oder der „Inszenierungsweisen". Damit ist die Per¬ spektive der Herstellung und der Handlung wie auch der Vielfalt und der Dif¬ ferenzen in den Blick gerückt. Demgegenüber ist Identität eine Kategorie, die gerade jene Eindeutigkeit und Definitionsfähigkeit als Ziel benennt, deren all¬ gemeine Existenz die soziologischen Zeitdiagnosen bestreiten. Deshalb erscheint die Bezugnahme auf die Kategorie der Identität nicht selten als ten¬ Klare
denziell unangemessen, unerfüllbar oder für manche sogar als Relikt vergan¬ gener Zeiten. ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
11
Dies
gilt
auch für den kulturellen
Bereich, der seit einigen Jahren wieder
stärkte Aufmerksamkeit erfahrt und dessen sinnstiftende
Wirkung
ver¬
in den Pro¬
Biographisierung und der Sozialisation immer wieder thematisiert Religion (z.B. Scholl 1992, Knoblauch/ Krech/Wohlrab-Sahr 1998, Zinnecker 1998). Religiöse Praxisformen zielen zentral darauf ab, Identitäten herzustellen und abzusichern und derartige Bemühungen erscheinen vor dem Hintergrund der eben erwähnten Thesen von der Identitätsdiffusion und den „vielfältigen Teil-Selbsten" (Bilden 1997) als erklärungsbedürftig. So sind sie einerseits Handlungen, die aktiv gewählt und gewünscht werden. Andererseits erklärt sich die Wahl eines religiös begründeten Identitätsentwurfs heutzutage nicht mehr von selbst. Es stellt sich die Frage, wie und warum Religiosität ent¬ gegen der beschriebenen Zeitdiagnosen zur Darstellung und argumentativen Absicherung von Identitäten benutzt wird. zessen
der
werden: die
Fragen möchte ich im folgenden am Beispiel von evangelikalen Chri¬ nachgehen. Meine Ausführungen basieren auf Überlegungen, die im Rah¬ men einer empirischen Untersuchung über die Öffentlichkeitsarbeit bibeltreu¬ Diesen sten
er
Protestanten in Deutschland entstanden sind. Diese
Öffentlichkeitsarbeit ist
den Bereichen Familie, Geschlechterverhältnis und Identität und man konnte deren Positionen in den letzten Jahren auch immer konzentriert auf Themen
aus
wieder in Zeitungen und in den Nachmittags-talkshows der Fernsehsender ver¬ nehmen. Dabei
waren
zwei
Organisationen
den Medien vertreten, nämlich
bzw. Zusammenschlüsse öfter in
einen die Unterschriftenaktion „Wahre Lie¬ be wartet" und zum zweiten die Männeraktion „Promise Keepers". Beide haben ihre
Ursprünge
zum
in den USA und arbeiten seit 1994 auch in der
Bundesrepu¬
blik. Während sich in den USA im letzten Jahr 200.000 Männer nach einem Aufruf der „Promise
Keepers" in Washington D.C. versammelten und über ihre
väterliche und ehemännliche Verantwortung räsonierten, trafen sich in der Bun¬
desrepublik
zu
einer ähnlich
konzipierten Veranstaltung gerade
3500 Männer.
Ähnlich sind die Zahlenverhältnisse in Bezug auf die Bekenntnisaktion „True love waits". In den USA hat die
baptistisch initiierte Aktion 350.000 Menschen
dazu gebracht, ein Gelübde auf den Verzicht vorehelichen Geschlechtsverkehrs zu
unterzeichnen. In Deutschland
bringt
es
die Aktion
„Wahre Liebe wartet"
auf ungefähr 3000 Unterschriften. Wir haben
es
hier also nicht mit einem
neuen
Trend oder einer Massenbewe¬
gung zu tun, sondern mit einem Sinn- und Deutungsangebot, das unter vielen anderen eine eher randständige Stellung einnimmt. Interessant ist der evange¬ likale Diskurs in der
Bundesrepublik weniger aufgrund seiner Verbreitung, son¬
dern weil hier entgegen der gängigen soziologischen Zeitdiagnosen traditionale familien-, geschlechter- und identitätspolitische Reglementierungen und
Ordnungsprinzipien argumentativ abgesichert werden. Die rhetorischen und argumentativen Mechanismen dieses Identitätsdiskurses sollen deshalb nach¬ folgend genauer geschildert und analysiert werden. Dazu werde ich
Beispiel einer Interviewpartnerin evangelikaler Identität verdeutli¬ che. Anke bedient sich zweier rhetorischer Strategien, die als typisch bezeich¬ net werden können. Da ist einmal das „Zeugnis-Geben", eine Art ÖffentlichMachung der eigenen Erfahrungen und Darstellung einer Kurzversion der Lebensgeschichte, die anderen als Beispiel dienen soll. Zum anderen grenzt
namens
12
so
vorgehen,
daß ich
am
Anke die rhetorische Konstruktion
ZSE, 20. Jg. 2000, H.
1
Anke sich gegen einen gesellschaftlichen mainstream ab, den sie als asozial, unmoralisch und egoistisch charakterisiert, um ihre eigenen Formen der Selbstkontrolle und der Reglementierung boltheoretischen
haftigkeit
Erklärungsansatzes
zu legitimieren. Mit Hilfe eines sym¬ sollen in einem zweiten Schritt die Sinn¬
und Funktionalität dieser auf Verzicht und
Beschränkung
basieren¬
den rhetorischen Identitätskonstruktion beleuchtet werden.1
2. Ein
Fallbeispiel:
neuen
Leben
Zeichen und Wunder auf dem
Weg
zu
einem
Anke Büken ist 29 Jahre alt und arbeitet sehr engagiert als Büroleiterin in einer
Versicherungsagentur in einer westdeutschen Kleinstadt. Als Aktivistin bei der Unterschriftenaktion „Wahre Liebe wartet" ist sie seit deren Gründung 1994 auf die eine oder andere Weise
an
verschiedenen Aktionen der Öffentlich¬
beteiligt. Sie macht zum Beispiel Kinder- und Jugendarbeit, ver¬ anstaltet samstägliche Infotische in der städtischen Fußgängerzone, die gegen Abtreibung und für Enthaltsamkeit argumentieren. Sie verteilt Flugblätter gegen Pornographie und pornographische Kunst und hat ihre Ansichten bei einer talkshow im Sender RTL 2 vertreten. Im Interview verbalisiert sie das Anliegen keitsarbeit
der Aktion „Wahre Liebe wartet": Durch den Verzicht auf vorehelichen Geschlechtsverkehr soll eine neue Form der Lebensführung propagiert und eine
„echte" Identität erarbeitet werden. Es geht darum, „anders zu leben", „eigene Leben zu leben" und sich durch Enthaltsamkeit des eigenen Werts bewußt zu werden. Anke vertritt die Ansicht, daß es persönlich bereichernd und gesellschaftlich notwendig sei, die Idee der sexuellen Enthaltsamkeit zu neue
das
stärken und wiederzubeleben. Sie betont, daß sie weder männer- noch sexfeindlich sei und daß sie auch nicht für eine Feministin gehalten werden möchte. Sie sagt, daß Sexualität den Men¬
„gegeben ist und etwas Schönes" sei. Sie brauche aber, so führt Anke geschützten Raum, weil man sich in der „sexuellen Hingabe" sehr „preisgibt". Sexualität ist für sie gleichbedeutend mit Sich-nicht-mehr-schützen-Können. Sexualität, so schlußfolgert sie, gehöre in die Ehe. Begeistert erzählt sie, daß es für sie eine schöne Vorstellung sei, daß ein Mann sagt, 'Ich warte, bis wir verheiratet sind'. Sie berichtet, daß sie in ihrem heutigen Leben Sexua¬ lität nicht vermisst. Sex, so ihre Erläuterung, fehlt ihr nicht, weil sie ausgegli¬ chen ist und weil sie sich nicht damit beschäftigt. Sie hat einen guten Job, der sie „ausfüllt" und ihr Spaß macht. Sie meidet Kneipen, Alkohol und Orte, an denen laute Musik gespielt wird, weil sie denkt, daß sie „dort nicht hingehört". Ihr Ort ist die Gemeinde und dort gibt es „Gemeinschaft" mit Männern, „so schen
aus, einen
ganz normal
eben", sagt sie.
Im Interview beschreibt Anke die
Erfahrung
einer
neuen
Religiosität,
die ihr
Leben grundlegend umstrukturiert. Sie unterscheidet in ein Leben vor der Bekeh¬ rung und ein Leben nach der
1 Diese
Bekehrung. Anke berichtet, daß
sie im Alter
von
Vorgehensweise, die die rhetorische Konstruktion von Identität in den Blick
nimmt, konstruiert den Gegenstand der Ausführungen auch selbst mit. Meine Cha¬
unberücksichtigt, die psychische Faktoren der Identitätskonstruktion verweisen und ist konzentriert auf argumentative und rhetorische Darstellungen in ihrer Erzählung.
rakterisierung
des Interviews mit Anke läßt Erzählweisen
auf soziale und
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13
„Entscheidung fürs Leben getroffen hat". Zu dieser Zeit lebt Beziehung mit einem Mann in einer Einliegerwohnung im Haus ihrer älteren Schwester. Die Schwester bewegt sich in evangelikalen Kreisen und bekehrt sich schließlich. Ein Jahr später ist es auch bei Anke soweit: Sie 23 Jahren eine
Anke in einer
formuliert: „Also ich bekenn mich zum Glauben meines Christus, ganz ein¬ fach ich bin Christ, ich habe mich für Jesus Christus entschieden." Das Leben nach ihrer hat sich
Bekehrung
beschreibt sie als
grundlegend
verändert. Der Freund
ihr getrennt, weil sie ihm fremd geworden war. Sie hat ihre alten Bekannten nicht mehr angerufen, hat sich anders gekleidet, zwanzig Kilos zuge¬ von
und eine Umschulung begonnen. Sie ist eine Zeitlang arbeitslos und vorübergehend in einem christlichen Lebenszentrum. Dort werden orien¬ tierungsbedürftige Menschen aufgenommen und missionarisch unterwiesen. nommen
lebt
Sie hilft bei der Hauswirtschaft und im Büro dieses Zentrums und befreundet sich mit der Tochter des
Leiter-Ehepaars,
die ihre beste Freundin wird. Heute,
erzählt sie, hat sie sich von ihrer Freundin entfremdet, weil diese geheira¬ tet hat. Die Freundin wurde von einem Mann aus der Gemeinde gefragt, ob sie so
ihn heiraten möchte, und hat daraufhin im Gebet, im Gespräch mit Gott „geprüft", ob sie diesen bis dato relativ unbekannten Mann heiraten kann, und nach zwei Wochen in die Heirat eingewilligt. Anke und die Freundin sehen sich weiterhin jeden Montag im Bibelkreis der freikirchlichen Gemeinde, aber die Exklusivität ihrer Freundschaft ist dahin. Sie haben sich nicht mehr soviel sagen, ihre Interessen sind andere
zu
geworden.
In der freikirchlichen Gemeinde lernt sie dann Frauen
kennen, mit denen sie „die anders leben". Sie beschreibt diese Frauen als „freier, unkomplizierter" und aktiver. Mit Frauen, so sagt Anke, könne man „noch 'n Stück Kind sein" und „Spaß haben". Auf einmal, so erinnert sie sich, war die sich wohlfühlt und
„Ausgefülltheit unkompliziert". Heute wohnt sie gemeinsam mit drei Frauen in einem Haus. Sie erlebt die Wohngemeinschaft als einen Halt, wie den, den sie einmal bei ihren Eltern gehabt hat. Sie denkt, daß Menschen einen Rah¬ men
da.
brauchen: „Wenn man ganz allein da steht, das ist, ist dann auch ne Gefahr Generell. Es ist nicht unbedingt natürlich so ganz allein zu sein".
Irgendwie.
Anke ist sehr engagiert in der Jugendarbeit und möchte dazu beitragen,
Jugend¬ Erfahrungen von Scham und Trennung zu ersparen. Als einen wichtigen Schritt dazu begreift sie die sexuelle Enthaltsamkeit, die sie als ein persönliches und politisches Konzept versteht. Sie ist davon über¬ zeugt, daß Menschen „zu-sich-kommen", wenn sie dieses Konzept in ihr Leben integrieren und daß es Erfahrungen „reinigt" und „wahrhaftig macht". Die gesi¬ cherte Überzeugung, der Vorsatz zu verzichten, etabliert, so Ankes Erfahrung, lichen heute schmerzhafte
ein Gefühl des Selbstbewusstseins und der Klarheit. Sie fühlt sich seither nicht mehr in alles
„reingedrängt" und nicht länger „unnatürlich". Deshalb findet wichtig, laut und stolz zu sagen: „Ich will bereit sein zu warten und den anderen damit ehren, daß ich warte. Und auch er ehrt mich damit, daß er wartet. Und, ja, das ist es wert". sie
es
heute
3. Konstruktion
von
gruppenspezifischen Anke
präsentiert einen
Authentizität durch rhetorische Muster der Moral und des
alltagsweltlichen Verzichts
autonom und selbstbestimmt
gewählten Identitätsent¬ Bezug-
wurf. Sie hat sich für ein „Leben mit Jesus Christus" entschieden. Ihre 14
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nähme auf die
evangelikale Religion ermöglicht ihr genau das, was laut sozio¬ logischer Zeitdiagnose in unserer Gesellschaft zunehmend wichtiger wird: Eine individuell begründete Wahlhandlung. Sie „wählt" eine Identität und sie stat¬ tet sie mit entsprechenden Stilen und Ritualen aus. Sie positioniert sich im Feld der Lebensstile, indem sie zum Beispiel in einer Frauen-Wohngemeinschaft wohnt, Öffentlichkeitsarbeit zu politisch umstrittenen Themen macht, in ihrer Erwerbsarbeit engagiert und erfolgreich ist und sich öffentlich dazu bekennt, keinen Sex zu haben und auch keinen zu wollen. Die Präsentation ihrer Lebens¬
geschichte könnte als die Darstellung einer „Bastelexistenz" (Hitzler/Honer 1994) verstanden werden, wenn Anke die verschiedenen Einstellungen und Prak¬ tiken nicht religiös homogenisieren würde. Die gemeinsame Klammer ihrer Lebensstile ist der immer wiederkehrende Verweis auf das „Authentische" ihres Lebens und auf die „Moralität" ihrer Lebensführung; nicht umsonst heißt die
Aktion, bei der sie sich engagiert „Wahre Liebe wartet". Mit Hilfe der christlichen Ethik inszeniert Anke eine authentische und
lische Identität. So stellt sie
mora¬
Beispiel ihren beruflichen Erfolg als Aus¬ druck ihres Glaubens und ihrer religiös begründeten Freundlichkeit anderen Menschen gegenüber dar. Akzeptiert und integriert fühlt sie sich erst als Mit¬ glied ihrer religiösen Gemeinschaft. Erst als sie gläubig wurde, so erzählt sie, begann der Sinn, das Leben, das In-Sich-Ruhen, das Gefühl von der eigenen Bedeutsamkeit. Sie organisiert ihr Leben und die einzelnen Verhaltensweisen planend, reflektierend und sinnsuchend so, daß ihr Leben zunehmend gottge¬ fällig wird. zum
Im Interview mit Anke
geht es weniger darum, wer sie eigentlich ist, sondern darum, Argumente für ein gläubiges Leben zu präsentieren. Anke erzählt kaum, was ihr passiert und wiederfahren ist, sondern sie bebildert die Sinn¬ haftigkeit ihrer Religiosität. Sie ,gibt Zeugnis und sie nutzt das Interview, um Argumente für die sexuelle Enthaltsamkeit anzubringen: Man kann nicht ent¬ täuscht werden, braucht sich nicht schlecht oder mißbraucht zu fühlen, man lebt gesünder, ohne Aids, Geschlechtskrankheiten und Schwangerschaftsab¬ eher
"
brüche.
Sinnstiftung, von der Anke berichtet, funktioniert aufder Grundlage und Legitimation, einer argumentativen Absicherung, einer Ideologie oder neutraler formuliert mit Hilfe zugrundeliegender Deutungsmuster. Es braucht zur Stabilisierung von Ankes Verhaltensvorstellung eine Rationalisie¬ rung. Die Rationalisierung vollzieht sich über die Rhetorik des Glaubens und einer möglichst wortgetreuen Lesart der Bibel. Der verbal-diskursive Begrün¬ dungsaufwand ist hoch und ziemlich ausdifferenziert. Ein komplexes Deutungs¬ und Legitimationsschema wird zur Stabilisierung dieses Verhaltens herange¬ zogen. Das Postulat der Enthaltsamkeit ist dabei ein symbolischer Mechanis¬ mus und eine diskursive Strategie bei der Konstruktion von Identität. Die rhe¬ torische Figur dazu, das hatten wir gesehen, ist die formelhafte Beschwörung des Zusammenhangs von Ehre, Selbst-Wert und Enthaltsamkeit „Ich will den Diese
Basis einer -
-
anderen ehren, damit daß ich warte. Und auch tet. Ja, das ist es wert".
er
ehrt mich
damit, daß
er war¬
Durch eine
häufige Wiederholung dieses Glaubenssatzes und die aktive, ver¬ Propagierung dieser Sichtweise wird die Enthaltsamkeit zu etwas Nor¬ malem, Alltäglichem und Selbstverständlichem. Dazu gehört auch, daß es der bale
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15
Einzelperson überlassen bleibt, die postulierte Enthaltsamkeit in Zusammen¬ hang mit eigenem Wissen und Gewissen zu organisieren und die richtigen Inter¬ pretationen vorzunehmen und die 'richtigen' Entscheidungen zu fällen. Was als 'richtig' und was als 'falsch' gilt, wird durch die Bezugnahme auf Gott und auf die Bibel geklärt. Besonders deutlich wird diese Praxis an dem von Anke berichteten Verhalten ihrer Freundin, die, bevor sie einen Mann heiratete, den sie gar nicht kannte, diese Entscheidung im Gebet, im Zwiegespräch mit Gott, diskutierte. Offenbar war diese Freundin in der Lage, in einem stillen Zwie¬ gespräch mit einem imaginären Gegenüber Kriterien für eine Entscheidung zur Heirat zu finden. Der kommunikative Austausch mit nicht-realen Figuren, wie Jesus und Gott, wird zu einem wichtigen und handlungsleitenden Akt. Die Aus¬ einandersetzung mit Bibeltexten bestimmt die alltagsweltlichen Verhaltens¬ weisen. Das Wort Gottes ist so stark, daß eine ganz eigene Realität entsteht. Wir haben
es
hier also mit der
Wirkungsmächtigkeit
eines Diskurses
zu
tun,
der für
Außenstehende, d.h. Nicht-Gläubige, nur eingeschränkt nachvollzieh¬ bar ist. Diese Selbstdarstellung ist maßgeblich ausgerichtet an einem religiö¬ sen Milieu, das durch eine typische Art der Kommunikation geprägt ist. Die Interviewte verwendet ein milieuspezifisches Wissen und bestimmte Regeln und Formen von Kommunikation aus dem religiösen Kontext. Sie greift zurück auf textuelle und thematische Elemente, Stilmittel und Lautmelodien. Diese sprachlichen oder rhetorisch-diskursiven Muster bringen konventionelle Handlungsmuster, kommunikative Wiederholungen und soziale Bedeutung her¬ vor,
an
denen sich Handelnde orientieren können. Kommunikation wird auf
diese Weise erleichtert. Sie wird mittels mehr oder Muster in
weniger vorbestimmter
halbwegs verläßliche, bekannte und gewohnte Bahnen gelenkt,
ver¬
festigt, formalisiert und durch bestimmte Repertoires von Redeweisen einge¬ grenzt (Luckmann 1986). Symbolische, nanative, poetische und rhetorische Muster ermöglichen es der Erzählenden, die Geschichte ihrer Konversion und ihr argumentatives Plädoyer für Enthaltsamkeit zu präsentieren. So gesehen sind diese rhetorischen Muster Strategien, die Sprechende und Zuhörende mit einem evangelikalen Denkstil und Diskurs zur Organisation von Erfahrung aus¬ statten.
Das
„Zeugnis-Geben" ist eine Strategie, lebensgeschichtliche Erfahrung zu orga¬ umzuorganisieren. Das typische Erzählmuster ist eine Dreitei¬ lung der Lebensgeschichte in ein als unglücklich geschildertes Leben vor der Bekehrung, ein glückliches Leben nach der Bekehrung und eine verwirrende, kaum verbalisierbare Erleuchtungserfahrung. In Gesprächen und Begegnun¬ gen mit evangelikalen Christen wird dieses Muster immer wieder präsentiert (Ulmer 1988). Es ermöglicht den Erzählenden, die religiöse Sprache zu erler¬ nen und sie auf die eigene Geschichte und ihre Identität anzuwenden. Das Muster bietet einen Orientierungsrahmen bei der Erzählung der Lebensgeschichte. Es ermöglicht die Überbrückung von Lücken und die Glättung von Wider¬ sprüchen. Es bietet zudem eine Form, in der Übereinstimmung und Ähnlich¬ keit mit anderen dargestellt werden kann.
nisieren bzw.
Dabei werden bestimmte stilistische und rhetorische
Formulierungen, wie „Sich
Figuren angewendet.
In
für Jesus Christus
entscheiden", „in einer gesun¬ den Gemeinschaft mit Gott leben" und das immer wieder erwähnte „Anders Leben" wird Christus oder auch Gott als der persönliche Retter dargestellt. Hier 16
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wird die übernatürliche Welt Gottes oder Jesus als real, erfahrbar und wahr¬ haftig angesehen. Wenn man sich als „Sünder" versteht, an die Vergebung der Sünden
glaubt, und diese „Wahrheit" oder „Realität" sprachlich zum Ausdruck
bringt und über Worte erfahren und kommunizieren kann, dann kann man auch gerettet und wiedergeboren werden. Als quasi neugeborener Mensch spricht man
dann die
giösen
Sprache
Gottes. Nach der
Bekehrung bedient man sich des reli¬ grundlegend.
Diskurses. Dieser verändert die Realität dann
Bedeutungsverschiebungen, die die Welt so effizient verändern, läßt die evangelikale Sprechen ein performativer Akt ist (Austin 1962). Durch Worte wird hervorgebracht und erst konstituiert, was als Beschreibung der Realität gilt. Das Bibelzitat „Jeder, der eine Frau ansieht, um sie zu begeh¬ ren, hat ihr gegenüber in seinem Herzen schon Ehebruch begangen" (Matthäus 5, Vers 27-28) ist eine performative Äußerung, weil sie im evangelikalen Milieu ein Phänomen durch die Benennung ins Leben ruft: Indem die Sprechenden in ihren alltäglichen Sprechakten diese sprachliche Konvention immer wieder zitieren, verschaffen sie ihr Autorität und Realitätsgehalt. Diese
These zu, daß das
Durch
derartige Sprechakte
werden
„Denkstile" (Mannheim 1926) konstitu¬
iert. Die ausgesprochenen Worte schaffen einen gemeinsamen Erfahrungsraum der
beteiligten
Individuen. Diese Gemeinsamkeiten werden in Interaktionen
Ausdruck
gebracht und erfahren und entfalten ihre performative Wirkung
zum
im Prozess des Zitierens und des Wiederholens bestimmter Normen. Indem
Anke und ihre Mitstreiter immer wieder Enthaltsamkeit
sprechen,
von
dem
etablieren sie einen
heilsbringenden Segen der Erfahrungsraum für die
neuen
Indem sie die Welt zweiteilen in einen hedonistischen und promiskuitiven mainstream aufder einen Seite und eine kleine Gruppe, die wahr¬
Sprechenden.
haft, enthaltsam und anders lebt, versuchen sie ihre Religiosität zu normali¬ sieren. Sie beleben den romantischen Code von der „Wahren Liebe" und bewah¬ ren die geschichtsträchtige Idee von Sexualität und Wahrheit, für die ja Fou¬ cault gezeigt hat, daß sie spätestens seit dem dritten Jahrhundert christlich geprägt ist (Foucault 1984).
Bezugnahme auf inhaltliche Muster und Vorgaben des gesellschaft¬ Zeitgeists eine Normalisierungsstrategien der religiösen Rhetorik, die zu deren kommunikativer Wirksamkeit beiträgt: Indem zum Beispiel allgemein verbreitete Topoi vom Wertewandel, vom Politikverlust und vom Mangel an Gemeinschaft aufgegriffen werden, werden religiöse Anliegen in einen welt¬ lichen Zusammenhang gestellt. Dies sieht bei der Aktion „Wahre Liebe war¬ tet" folgendermaßen aus. Ich zitiere aus der Werbebroschüre der Aktion: So ist die lichen
„'Wahre Liebe wartet' wendet sich
an
unverheiratete Menschen, die in einer
Zeit des raschen Werteverfalls noch immer bereit sind, sich mit Alternativen zu der von unserer Gesellschaft gelebten Realität auseinanderzusetzen (...). Seit
grenzenlose Sexualisierung und Erotisierung unserer Gesell¬ Gange, die sich in Gesetzen und gesellschaftlichen Initiativen nie¬ dergeschlagen hat, die unsere Welt und das Leben des einzelnen völlig verän¬ derten. Der Sexualisierung weiter Bevölkerungskreise folgte die allgemeine Akzeptanz vorehelichen Geschlechtsverkehrs, sogenannte 'wilder Ehen' und schließlich die Legalisierung der Abtreibung. Die Folgen: Die Hinwendung zum Ego und zur Befriedigung eigener Bedürfhisse läßt seitdem die Zahl der Bezie¬ hungsdramen explodieren, der Mensch verkommt immer mehr zum jederzeit Jahren ist eine
schaft im
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17
austauschbaren Lustobjekt. Die
Scheidungswelle ist so groß wie nie zuvor. Über
300.000 ungeborene Menschenleben werden jährlich in der Bundesrepublik
getö¬
tet. Doch der
Zug scheint abgefahren zu sein. Selbst Aids konnte die Sex-Wel¬ le nicht stoppen im Gegenteil. Das hemmungslose Ausleben der Triebe trotz Aids wird bereits regierungsamtlich empfohlen. Dem Vollzug der noch vor weni¬ gen Jahren gesellschaftlich akzeptierten Werte wird eine technische Problem¬ lösung vorgezogen Kondom statt Verzicht." (Christians for truth 1995:2) -
-
Hier wird ein
religiöses Anliegen, nämlich das Postulat der Keuschheit, durch Bezugnahme auf populäre Thesen vom Werteverfall und der Individuali¬ sierung normalisiert, d.h. anschlußfähig für eine breitere Öffentlichkeit gemacht. Die Schlagwörter vom Wertewandel, vom Traditionsverlust und der Individualisierung werden aufgegriffen, die soziologische Idee von der Inter¬ nalisierung von Normen fortgeführt und an eine Rhetorik der Krise, des Man¬ gels und der unerfüllten Wünsche angeknüpft. So wird ein Beitrag im politi¬ schen Auseinandersetzungsprozeß um Geschlechterordnungen, um die Regu¬ lierung von Sexualität und und die Gestaltung von Familien etabliert. die
Anke nimmt in diesem Prozeß
Stellung und knüpft an ein Denken an, daß Iden¬ begreift, als einen intrinsischen Wert oder Zustand, der ausgedrückt wird und in Entscheidungen und Handlungen präsentiert wird. Ihre Bezugnahme auf „Identität" als institutionalisierte Form der Lebensführung ist für sie funktional und konstruktiv. Es gibt für ihr Konzept vom persönlichen Glück gute Gründe. Sie findet bei ihrer Suche nach Sinn und persönlicher Ent¬ wicklung in der Gemeinschaft mit Gleichgesinnten Unterstützung und sozia¬ le Beziehungen. Die Rituale in der religiösen Gemeinschaft wie Beten und die Orientierung an göttlicher Autorität geben ihr die Möglichkeit, Gemeinschaft mit anderen zu erfahren, bestätigt zu werden und sich auf diese Art selbst zu erfahren. Die idealisierte Vision einer zukünftigen Harmonie und Zweisamkeit, die „wahre Liebe", auf die sie wartet, ermöglicht es ihr, sich als etwas Besonderes zu begreifen.
tität als einen inneren Kern
Ankes Suche nach „Identität" kann demzufolge auch als ein kommunikativer Code, ein institutioneller Diskurs der Lebensführung betrachtet werden, der einer
speziellen Methode folgt. Ankes rhetorische Konstruktion von Identität Mehrdeutigkeiten und Ambivalenzen von sprachlichen Bezeich¬ nungen. Bewegungen und Dynamiken im Prozeß symbolisch-diskursiver Bezeichungen und Bedeutungen werden dadurch angehalten, Sinnzusammen¬ hänge vereinheitlicht und Denken und Sprache ausschließlich für die Schließungen von Bedeutungen und Erfahrungen benutzt. Es geht primär dar¬ um, Bilder und Vorstellungen von Verzicht und Beschränkung heranzuziehen, um die Sicht der Welt des/der Betrachtenden einer Umschreibung und Verän¬ derung zu unterziehen, sie als identitätsstabilisierend zu rechtfertigen. Verzicht und Beschränkung bedeuten für die kognitive Ebene eine (vorübergehende) Entdifferenzierung von kognitiven Strukturen. Emotional verlangen sie eine Zurücknahme von affektiver Beteiligung samt eines Nach-Innen-Nehmens von Lust und Begehren. Dieser duale Prozess ist nichts per se Pathologisches, son¬ dern auch ein regulierender Bestandteil des Alltags. Er bedeutet ein Stück Ent¬ lastung von der alltäglichen Deutungs- und Interpretationsarbeit, findet des Nachts in Träumen statt und äußert sich tagsüber in Form von Tagträumerei¬ en und bei unkonzentrierten, halbbewußten Tätigkeiten. Im Falle von Stress vermeidet
18
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und Krisen und bei
systematischer Aktivierung dieses Verzichtsprozesses durch spirituelle Aktivitäten kann er jedoch verfestigte, methodisierte Formen annehmen. Er wird zu einer Strategie des vorsätzlichen Verzichts.
religiöse
4. Die rende
und
Regressionsbewegung Strategie
des Verzichts als identitätsstabilisie-
Die
Forderung, auf bestimmte lebensweltliche Aktivitäten vorsätzlich zu ver¬ zichten, produziert einen Mangel an emotionaler Aufmerksamkeit und kogni¬ tiver Deutungsarbeit bei den tabuisierten Themen. Auf diese Weise entsteht ein Bruch mit der bislang erfahrenen Realität und es kommen neue Erfahrungen zustande, die durch die Heranziehung etablierter Symbolsysteme, wie zum Bei¬ spiel das des Christentums, neue Deutungen und Leitlinien zur Verfügung stel¬ len. Die herangezogenen neuen Rhetoriken und Deutungsmuster gestalten und orientieren Affekte und Wahrnehmungen, indem sie sie benennbar machen und ihnen auf diese Weise einen Deutungszusammenhang, einen Sinn, geben. Dies gilt im Prinzip für alle Symbolsysteme und das Charakteristikum des religiö¬ sen Symbolsystems liegt vor allem darin, daß es sich per definitionem von einem alltäglichen Deutungszusammenhang unterscheidet und die Individuen befähigt, ihre Wahrnehmungen mit einem spezifischen, sprirituell-religiösen Diskurs zum Ausdruck zu bringen. So werden bei der religiösen Erleuchtung die eigenen Handlungen und Erlebnisse mit Hilfe eines religiösen Sinn- und Symbolsystems zu „Erfahrung" verarbeitet; beispielsweise werden im tägli¬ chen Gebet die alltäglichen Handlungen einer Bewertung unterzogen und in Prozessen von „Wiedergeburt" und Konversion wird die gesamte Lebensge¬ schichte neu kommentiert und evaluiert. Die Psychoanalyse zeigt, daß Bilder und Fiktionen bei der Entstehung des Realitätsbewußtseins bzw. bei dem, was wir als „Erfahrung" bezeichnen, eine Funktion übernehmen. Sie machen Erleb¬ nisse benennbar und sie können bei der Interpretations- und Deutungsarbeit als strukturierendes Symbol für andere Erlebnisse dienen. Es ist möglich, daß Bilder und Vorstellungen zu fiktionalen Erinnerungen werden und ein Raster oder Muster bilden, das dabei hilft, andere, nachfolgende Erlebnisse wahrzu¬ nehmen und deutend zu verstehen. Sie strukturieren einen komplizierten Vor¬ gang von bewußten und unbewußten Erlebnissen (Freud 1909). Dazu benötigen Individuen affektiv-kognitive Schemata, die sie im Verlauf ihrer
Sozialisation entwickeln und die sie je nachdem, welche Erfahrungen sie gemacht haben, dazu neigen lassen, auf die von der Religion vorgegebenen Bilder und Vorstellungen so zu reagieren, als ob sie selbst im Besitz derarti¬ ger Vorstellungen und Bilder seien. So gesehen wäre es nicht als notwendige Voraussetzung anzusehen, daß die speziellen Vorstellungen, die der/die Gläu¬ bige äussert auch in seiner/ihrer Seele und Lebensgeschichte entstanden sind. Es braucht dann beispielsweise keine selbst erlebte negative Erfahrung im Umgang mit Sexualität, um den symbolischen Komplex der sexuellen Ent¬ haltsamkeit in die persönliche Geschichte zu integrieren. Vielmehr wäre es dann denkbar, daß Personen diese Bilder und Vorstellungen als für sich passend emp¬ finden, wenn sie mit diesen Vorstellungen konfrontiert werden und wenn die¬ se in Entsprechung zu ihren affektiv-emotionalen Schemata stehen. Fiktive Erin¬ nerungen, mythische Bilder wie auch Vorstellungen aus Filmen und Büchern sind gleichermassen Mittel zur Manipulation psychischer Strukturen. Sie kön¬ nen den Umriss der erworbenen Weisen des Denkens und Fühlens ansprechen, ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
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projektive Aufmachung erhellend wirken und tätig 'wahrhaftigen Erkenntnis und (Whitehead 1987). Erfahrung', die in und durch religiöse Bearbeitung erreicht werden kann, rela¬ tiviert und der Blick wird frei für die Frage, welche anderen Mechanismen an der imaginären Identitätsproduktion beteiligt sind. sichtbar machen und als
sein
Die
Damit ist die Idee einer
Inhalte, die durch Bilder und Symbole transportiert werden, bilden inne¬
psychische Zustände wie auch kollektive öffentliche Meinungen ab. Indi¬ gesehen, ist der Rückgriff auf eine neue symbolische Ordnung, wie sie zum Beispiel in der Konversion zur Anwendung kommt, eine Art mit Bedeu¬ tungsverlust und Orientierungslosigkeit eines Individuums umzugehen. Kol¬ lektiv betrachtet repräsentieren die christlichen Symbole und Deutungsmuster eine Verbindung mit Geschichte und Kultur; sie verweisen auf zweitausend Jah¬ re Tradition und abendländische Kultur. Über die Symbole werden also indi¬ viduelle und kollektive Ebene miteinander in Beziehung gebracht: Einerseits werden Kollektiv-Symbole mit der Intimität der Einzelperson aufgeladen, ande¬ rerseits erhalten persönliche Befindlichkeiten ihren Platz in einer kollektiven symbolischen Ordnung. So gesehen finden religiöse und rituelle Ereignisse als individuelle Prozesse der Strukturierung von Kognitionen und Emotionen immer in der ideologischen, symbolischen und damit kollektiven Sphäre statt. re,
viduell
Dabei ist die Vereinfachung und Entdifferenzierung von mentalem Material ein wichtiger Mechanismus. Formen von Verdichtung gehen nicht selten mit dem Verschwimmen von herkömmlichen Grenzen (zum Beispiel denen zwischen Personen, Kreaturen und Bewertungen) und einer vereinfachten Kausalität, in der Widersprüchliches leichter zusammengebracht werden kann, einher. In der religiösen (und auch in der therapeutischen) Erfahrung findet eine Umbesetzung von sinn- und realitätsslxukturierenden Objekten oder Dingen statt. Ener¬ gie wird abgezogen bzw. auf solche Objekte verschoben, die weniger struktu¬ riert und differenziert sind. Dabei sind der kognitive und der emotionale Appa¬ rat wie zwei Seiten einer Medaille: Wenn die Realitätswahrnehmung aufgrund eines kognitiven Ungleichgewichts gestört wird, verändert sich auch die emo¬ tionale Besetzung des Ortes der Aufmerksamkeit und umgekehrt. Die neu ent¬ standene Wahrnehmung oder neue Realität wird nicht selten als wichtiger, ech¬ ter und bedeutsamer als die alte erfahren. Die Energie wird von der alten Welt abgezogen und in die neue investiert. So erscheint die religiöse-mystische Erfah¬ rung aufder kognitiven Ebene als eine Kondensation struktureller Ebenen, die sich als grosse Einsichten und in Form wichtiger und pathetischer Bilder dar¬ stellt. Aufder emotionalen Ebene zeigt sich dieser Prozess als eine Intensivie¬ rung und Vergrösserung von Gefühlen und Erlebnisqualitäten. Bilder und Vorstellungen von Verzicht und Beschränkung ermöglichen eine Bewegung der kognitiven und emotionalen Auflösung eines Sinnkomplexes, die eine kognitiv-emotionale Neustrukturierung hierarchisch einfacherer Art nach sich zieht. Für die verzichtende Person wird ein Teil der bisher existie¬
renden Welt verbannt, während eine als reicher empfundene neue Teilrealität anvisiert wird. So wird Verzicht, wie die Mystiker und Mystikerinnen uns vor
Augen führen, zu einem Weg der Erfüllung und der Erleuchtung (Walker Bynum 1996). Dies ist jedoch kein rein psychologischer Vorgang. Er wird begleitet und unterstützt von einem kulturellen Apparat und sozialen Settings. So stel¬ len symbolische Traditionen des Christentums Deutungen für soziale und kul20
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turelle
Verfügung, die den spezifischen Gemütszuständen entsprechen. Ein ganzes Glaubenssystem, eine Doktrin oder Ideologie unterstützt die jeweiligen psychischen Zustände der Erleuch¬ teten und der Erkennenden. Dabei werden einige Inhalte hervorgehoben und andere zur Seite geschoben. Der Prozeß des Verzichts wird in bestimmte Bah¬ nen gelenkt und von anderen abgelenkt. Ein bestimmter Typus von befriedi¬ gender Realität oder kompensierender Illusion wird als Sinnelement 'ausge¬ liehen' und als Produkt der Suggestion angeeignet. Dies läßt den Verzicht sinn¬ voll erscheinen und zu einem Prozeß der positiv bewerteten Selbstkorrektur Widersprüche
zur
des Rituals strukturell
werden.
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Dr. Katharina
Liebsch, Institut für
Platz 1,20146
Hamburg
ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
'
Soziologie der'Uhiversität Hamburg, •
Allende
"i.
'¦'
21
Sabine Andresen
?5
Das Jahrhundert des Kindes" als
serung. Ellen Keys Echo im Diskurs der Moderne
Vergewis¬ pädagogischen
„The Century ofthe Child". Ellen Key's Echo in Modern Edu¬ cation Discourse
Die Schwedin Ellen
Key veröffentlichte 1900
„Das Jahrhundert des Kindes", das 1902
in Schweden ein Buch mit dem Titel
in Deutschland erschien.
Vor dem Hin¬
tergrund der Jahrhundertwendefanden allenthalben sozialwissenschaftliche Bilan¬ zierungen der Moderne statt. Dabei zeigte sich auch, daß die programmatische In¬ szenierung Keys bis heute an Gültigkeit nichts eingebüßt hat. Die pädagogbche Zunft nimmt den Slogan beim Wort, deutet ihn positiv und akzeptiert ihn als offenen Ma߬ stab der Bewertung. Zentral sind dafür Keys Ausführungen zur Schule der Zukunft, die jedoch, und das wird häufig übersehen, ein an der Rassenhygiene orientiertes Bild
vom neuen
Menschen
voraussetzen.
Gegenwärtig dominiert das Bewußtseinfür einen Umbruch im Hinblick aufdas Verhälmis der Generationen, und im sozialwissenschaftlichen Kontext ist das Abzulö¬ sende mit dem Topos vom „Jahrhundert des Kindes unwiderruflich verbunden. Keys Werk ist demnach aus modernisierungstheoretischer Perspektive zu betrachten. In dem Beitrag geht es um die Rezeptionsgeschichte eines pädagogischen Leitgedan¬ kens, aber auch um die ambivalente Struktur der Theorie Ellen Keys. "
Ellen
Key, who was born in Sweden, published in 1900 a book called The Century ofthe Child", which was translated and edited in Germany 1902. As the 20th Cen¬ tury draws to a close, it seems appropriate to have a look at social-scientific topics. On the whole it seems safe to say that the soundness ofKey 's suggested ideas have proven themself. In a retrospective view educational scientists find the 20th Century indeed was the Century ofthe Child", in as much as the school ofthefuture. How¬ ever you have to keep in mind that Key was aproduct ofher time in assuming eugenics for example. Today the main point ofdiscussion deab with the relationships ofgene¬ rations and this topics in social-scientific context is irrevocably linked with the topos ofthe Century ofthe Child". Key 's ideas shouldn 't be looked atjust as historical documents, but also from a modernbtic point ofview. Thb work deab not only with the impact on Key 's work on educational topics through¬ out the 20th Century, but abo examines closely Key 's ambivalent structure of theo¬ ry itself. „
„
„
1. Bestreben nach
Bilanzierung
und Bedürfnis nach
Befreiung
Im Jahr 1900 veröffentlichte Ellen Key in Schweden ein epochales Buch:
„Das
Jahrhundert des Kindes". Zwei Jahre später erschien das Werk in Deutschland, wurde zum pädagogischen Klassiker und erreichte eine enorme Popularität. Mit der im Titel 22
propagierten
Vision wurden Eltern und Professionelle
glei-
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1
chermaßen
angesprochen. „Allen Eltern, die hoffen, im neuen Jahrhundert den zu bilden", ist ihren Studien als Motto vorangestellt. (Key 1992) Die Schwedin gehört zu den Initiatoren eines reformpädagogischen Dis¬
neuen
Menschen
kurses über den
neuen
Menschen und die
neue
Schule. Darüber hinaus moti¬
vierte sie
Zeitgenossen zur Selbstreflexion über deren Familie, Erziehung und Persönlichkeitsbildung. Rainer Maria Rilke und seine Frau Clara Rilke-West¬ hoff sind ein herausragendes Beispiel für eine moderne Beziehung und für das Bemühen um professionelle Unterstützung als reflexive Vergewisserung des Selbst. Der Briefwechsel Keys mit Rilke ist Ausdruck moderner Individuali¬ sierungsprozesse, „die sich den Rilkes als Drang und Zwang zur Selbstver¬ wirklichung auferlegen." (Winkler 1997, S. 503) In der Reformpädagogik geht es dementsprechend um eine Theorie der Erziehung, die auf „die unaufhaltsa¬ me Verflüssigung der modernen Welt, auf Individualisierung und den Verlust der Subjektivität" (Ebd., S. 504) reagiert und neue pädagogische Antworten entwickelt. Nach Michael Winklers Lesart resultiert aus der Individualisierung der Erwachsenen, der Eltern, eine institutionalisierte pädagogische Betreuung. Damit legitimiert die reformpädagogische Rhetorik einer Erziehung vom Kin¬ de aus zudem die Möglichkeit, sich aus der Verantwortung stehlen zu können: „Im Ergebnis bedeutet dies mit den Worten Rilkes, die Kinder den Wildgän¬ aber vielleicht stellt dies sogar die bessere Alternative in sen zu überlassen einem Jahrhundert des Kindes dar, in dem offensichtlich alles daraufhin ange¬ legt war und ist, eben diese Kinder zu vergessen." (Ebd.) -
Winkler reiht sich in die aktuelle sozialwissenschaftliche Bilanzierung der Moder¬ ne vor dem Hintergrund der Jahrhundertwende ein. Dabei zeigt sich, daß die programmatische Inszenierung Keys bis heute an Gültigkeit nichts eingebüßt hat. Die pädagogische Zunft nimmt den Slogan beim Wort, deutet ihn grund¬ sätzlich positiv und akzeptiert ihn als offenen Maßstab der Bewertung. Zentral sind dafür Keys Ausführungen zur Schule der Zukunft, die jedoch, und das wird häufig übersehen, ein an der Rassenhygiene orientiertes Bild vom neuen Men¬ schen voraussetzen. Aus diesem Grund ist eine durchweg positive Anlehnung an Keys pädagogischer Utopie äußerst kritisch zu bewerten.
Rilke, der sich der väterlichen Aufgabe nicht stellte und dies mit seiner künst¬ lerischen Sensibilität
begründete, gehörte zu den ersten, die den Diskurs der Bilanzierung und Prognose eröffneten. In seiner bereits im Erscheinungsjahr verfaßten Key Rezension drückt er prophetisch die Hqffhung aus, daß man -
die Menschen dieses Jahrhunderts einmal danach beurteilen werde, wie sehr sie an der Verwirklichung dieses Traumes gearbeitet haben. (Rilke 1902 /1993,
255) Der Slogan vom „Jahrhundert des Kindes" fordert offenbar aufgrund epochalen Anspruchs zum Resümieren heraus. Der Blick zurück in die Zukunft ist dabei, wie in Rilkes Fall, durch eine gegenwartsorientierte Daseinsdiagnose gelenkt. Ellen Key, eine zu Lebzeiten kontrovers diskutierte Theoretikerin, setzt die Pädagogik advokatorisch unter Druck. Aber die Rede vom Ende dieses Jahrhunderts intendiert möglicherweise auch das Bedürfnis nach Befreiung von kaum integrierbaren Mehrdeutigkeiten. So manifestiert sich in Keys Werk der ambivalente Zusammenhang einer Sakralisierung des Gene¬ rationsverhältnisses einerseits und einer Ablehnung der christlichen Tradition S.
seines
sowie der väterlichen Autorität andererseits. Darüber hinaus stellt sich die lich
begründet
Frage, wie die Rede vom Ende der Epoche eigent¬
wird. Der Umstand des Jahrhundertwechsels ist kein hinrei-
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1
23
chender Grund, selbst
wenn man
das Erscheinen des Buches als Zäsur für die
definiert, also eine Rede vom Auftakt mit der vom Ende korrespondiert. Die Befreiung des Kindes habe um 1800 ihren Anfang genom¬ men, urteilt Ingeborg Weber-Kellermann, „doch die Entwicklung war allmäh¬ lich, und es verging noch das ganze 19. Jahrhundert, bis sich endgültig ein ande¬ res Klima entwickelte, bis das Jahrhundert des Kindes anbrach." (Weber-Kel¬ lermann 1976, S. 99) Gegenwärtig dominiert allenthalben das Bewußtsein für einen Umbruch im Hinblick auf das Verhältnis der Generationen, und im sozial¬ wissenschaftlichen Kontext ist das Abzulösende mit dem Topos vom „Jahr¬ hundert des Kindes" unwiderruflich verbunden. Keys Werk ist demnach aus modernisierungstheoretischer Perspektive zu betrachten, und in diesem Sinne liest auch Michael-Sebastian Honig ihren pädagogischen Klassiker als „Pro¬ gramm einer Modernisierung von Kindheit". Er versteht die schwedische Pädagogin als Begründerin einer der Humanisierung verpflichteten und am Kind orientierten generationalen Ordnung.(Honig 1996) Erst im zwanzigsten Jahr¬ hundert ist von einer modernen Kindheit zu sprechen. Das heißt, daß die eigen¬ ständige Rolle des kindlichen Subjektes anerkannt und das Kind prinzipiell vom Zwang der ökonomischen Reproduktion befreit wurde. Gleichwohl gibt es bis heute eklatante Widersprüche zwischen dem propagierten Prinzip und der sozialen Realität von Kindern. Diese veranlaßten bereits Key zu einer Mischung aus sozialpolitischer Anklage und philosophischer Verheißung.
moderne Kindheit
gestiftete Mythos vom Kind Reformpädagogik der Jahrhundertwende. Honig betont seine Bedeutung für die Generalisierung von Kindheit als Epoche des Lernens und der Entwicklung. Familie und Schule wären demnach auch bei Key existenti¬ ell in den populären Gedanken einer Gesellschaftsreform durch Erziehung ein¬ gebunden. Ferner problematisiert Honig die generelle Uneinlösbarkeit des Mythos, dessen Kern eine Idee von der Natur des Kindes ist. Der Naturbegriff geht der kindlichen Lebenswirklichkeit zwangsläufig immer voraus und bleibt ihr fremd. Dennoch begleitet der Mythos den Diskurs als Maßstab pädagogi¬
Der von der schwedischen Lehrerin und Publizistin
überlebte die
scher Kritik bis heute. Als zuweilen diffuse Konstruktion stellt
er eine Art Suböffentlicher und wissenschaftlicher Diskurse über Kindheit und Erziehung dar. (Oelkers 1996) Deshalb ist es notwendig, die pädagogische Vergewisse¬
text
rung über das Generationsverhältnis und den Sozialstatus Kind durch Keys „Jahrhundert des Kindes" kritisch zu hinterfragen, wenn nicht gar zu dekon¬
struieren.
2. Zur
Rezeptionsgeschichte
eines
pädagogischen Slogans
Im Januar 1999 resümiert Klaus
Hurrelmann, daß die Kindheitstage im „Jahr¬ gezählt seien. Hurrelmann liest Keys Programm als Plä¬ doyer für eine „konsequente natürliche Erziehung in Anlehnung an Rousseau." Sie sei für „das Wachsenlassen des Kindes und für eine Schule, die Arbeits¬ und Erlebnisräume hierfür bereitstellt."(Hurrelmann 1999) Die Kehrseite der zunächst positiven Entwicklung ist durch Isolierung, Entkindlichung und Über¬ lastung gekennzeichnet. „Kindheit als Schonraum im Lebenslauf- das gibt es kaum noch." (Ebd.) Vor allem mit dem Reformstillstand in den Schulen geht Hurrelmann ins Gericht, weil nichts von Keys Vorstellungen umgesetzt wor¬ den ist. Dies zu ändern, wäre der richtige Schritt am Ende des Jahrhunderts. Noch, so Hurreimanns pointierter Schlußsatz, habe man ein Jahr Zeit. hundert des Kindes"
24
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Die Reflexion über
Key in Gewerkschaftsorganen hat Tradition. Im November Allgemeine Deutsche Lehrer-Zeitung der GEW das „50-jähri¬ Zu den wenigen hellsichtigen ge Jubiläum eines aufrüttelnden Buches: Büchern, die an der Jahrhundertwende die Geister Europas beunruhigten, gehört das Buch von Ellen Key. Im Dezember dieses Jahres sind es genau 50 Jahre, seitdem die erste Auflage in Stockholm aus der Presse kam... Wenn Ellen Key auch oft nur Gedanken aussprach, die in der Luft lagen, so hat doch die damals Fünfzigjährige mit ihren ebenso glänzenden wie warmherzigen Ausführungen die große Literatur bedeutsam beeinflußt."(Schliephacke 1950, S. 285) Der Autor sieht die pädagogische Kultur an einem Scheideweg, blickt aus der Per¬ spektive der Schwedin zurück und hofft auf eine Vollendung: „Möge dieses Jubeljahr", so schreibt er, „dazu beitragen, daß heute die Leser... in der zwei¬ 1950 feiert die
...
ten Hälfte
säumt
des Jahrhunderts das mit verwirklichen helfen,
wurde."(Ebd.,
S.
was
in der ersten
ver¬
287)
beiden Artikeln ist nicht
Das Interessante
an
Schattendasein
der
nur der Versuch, Key aus ihrem geisteswissenschaftlichen Geschichtsschreibung zur Reformpadagogik herauszuholen und ihren epochalen Anspruch zu erneuern,
interessant ist
allem der Blick auf das, was in diesen Texten nicht gesagt zugrunde liegt. So wird 1950 Keys eindeutige Stellungnah¬
vor
wird, ihnen aber me zur
Eugenik
ebenso wie ihre kritische Position
zur
Ehe sowie
zur
traditio¬
nellen Geschlechterhierarchie
verschwiegen. Unbenannt bleiben all jene Phä¬ nomene, die kurz nach der Gründung der Bundesrepublik nicht thematisierbar waren oder generell als unantastbare, quasi naturgegebene Ordnungen galten. Vor allem ihre Kritik
am
deutschen Geist der Jahrhundertwende dürfte 1950
nicht ohne
Wirkung geblieben sein: „Die Seelen der Deutschen werden schon im Kindergarten für die Uniform einexerziert, und überhaupt ist es überall die Schule mit ihrem Kameraden- und Korpsgeist, die der öffentlichen Gewis¬ senlosigkeit den Weg bahnt. So gelangt die moderne Gesellschaft dahin, die Denn die großen Verbrechen aller vergangenen Zeitalter zu reproduzieren Gewissenlosen, die die verbrecherische Richtung angeben, würden niemals die Masse in Bewegung setzen können, wenn sie nicht bis auf weiteres eben Mas¬ se wäre, dazu geschaffen, kollektiven Ehrgesetzen, kollektiven patriotischen Gefühlen, kollektiven Pflichtbegriffen zu folgen."(Key 1992, S. 169) Das Kind lerne loyal gegen den Korpsgeist zu sein, aber verlerne, aufsein eigenes Gewis¬ sen zu hören. „Es lernt ein Auge zudrücken, beschönigen, verleugnen, was der eigene Kameradenkreis, das eigene Korps, das eigene Land sündigt."(Ebd.) Darüber, wie diese Passage nach den Erfahrungen mit der Hitlerjugend und der nationalsozialistischen Schule 1950 gelesen und mit Keys eugenischen The¬ sen in Verbindung gebracht wurde, schweigt der Autor. ...
Hinwendung Erwähnung Wert zu sein. Stattdessen betont er, und das ist durchaus eine auch für Key zentrale Position, die Gefahren für die phy¬ sische und psychische Gesundheit moderner Kinder. Key thematisiert dies mit dem Instrumentarium der Sozialhygiene vor dem Hintergrund der Industrie¬ gesellschaft, Hurrelmann aus der Perspektive einer differenzierten Gesund¬ heitswissenschaft im Kontext der Technologie- und Informationsgesellschaft. Beide geben damit eine spezifische Einschätzung über die Moderne wieder und plädieren für eine Humanisierung der kindlichen Lebenswelt. Auch dem Gesundheitswissenschaftler Hurrelmann scheint Keys zur
Rassenhygiene
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1
keine
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Die
Interpretation moderner Strukturen und der Blick auf das Kind dominie¬ Rezeptionsgeschichte, die insgesamt großen Schwankungen unterlag. Vor allem im ersten Jahrzehnt und in den neunziger Jahren unseres Jahrhun¬ derts setzte sich die Erziehungswissenschaft mit der Schwedin auseinander. Die eher marginale Rezeption zwischen 1926 (ihrem Todesjahr) und 1992 (der Neuauflage ihres Buches) hat unterschiedliche Gründe und hängt nicht zuletzt mit der Geschichtsschreibung zusammen. Eine in den siebziger Jahren neu ent¬ fachte Diskussion und die Neuauflage ihres Buches 1978 sind zweifellos im Licht einer antiautoritären Deutung zu sehen. Vor allem in Deutschland wur¬ de und wird Key wie nirgendwo sonst rezipiert und diskutiert. Doch dabei redu¬ zierte man sie zur Stichwortlieferantin, deren zentrale Topoi vom „Recht des ren
die
Kindes, seine Eltern zu wählen" oder von den „Seelenmorden in den Schulen" den
Anspruch der Reform durch Erziehung erneuern halfen. Eine kontrover¬ se, ja polarisierende Diskussion fand, bis auf wenige Ausnahmen, nur bis zum Ersten Weltkrieg statt. Seit dem Erscheinen des
,Emile', so ist 1905 in einer deutschen Lehrerzeitung lesen, sei kein Buch über Erziehungsfragen mit größerem Jubel begrüßt wor¬ den als Keys Klassiker. (Günther 1905, S. 257) Dieser Rezensent, begeistert und enthusiastisch, thematisiert geschickt zustimmungsfähige Aspekte und ver¬ schweigt beispielsweise Keys Antimilitarismus, was wiederum 1950 vor dem zu
Hintergrund der Entmilitarisierung Deutschlands besonders betont wird. Ihre pazifistische Gesinnung offeriert Key bereits auf den ersten Seiten mithilfe der Metapher vom neuen Jahrhundert als eines „nackten Kindleins, das sich zur Erde hinabsenkt Waffen
-
aber sich erschrocken zurückzieht bei dem Anblick des mit
gespickten Balles."(Key 1992, S. 11)
Das nackte Kind ist ein
Symbol
für den Aufbruch, es ist die Erneuerungsverheißung der Erwachsenen. (Baa¬ der in Liebau u. a.1996) Das Kind erscheint als Messias, als Befürworter des
Pazifismus, als Vertreter des Neuen, das für Key prinzipiell mit jedem Kind in die Welt tritt. • Diese Metapher versinnbildlicht eine Glücksverheißung im Unter¬ schied zu dem Maroden und Morbiden aller früheren Generationen. „Der Mythos vom göttlichen Kind kommt einer Art anthropologischen Archetypus gleich. Die Geburt markiert den Eintritt in das Drama der Zeit." (Nordhofen 1998, S. 243) In Kindern sieht Key die Seelen der Gesellschaft, und sie macht mit den Ansprüchen der Wissenschaftlichkeit und Prophetie zugleich die ewig Unter¬ drückten zu Trägern des Aufbruchs. Deshalb gehörte Key für manche Zeitge¬ nossen zu den Großen des Geistes und des Herzens. An ihr entzünde „sich der ideale Enthusiasmus für den neuen Menschen und eine neue Zeit.... In klaren, tiefen Tönen klingt dieser erhebende Gedanke der Moderne durch ihre Schriften."(Günther 1905, S. 257) In dieser Interpretation verkörpert Key den Vor¬ schein des modernen neuen Menschen, nicht zuletzt wegen der Übereinstim¬ mung
von
Lehre und Leben.
1905 wird sie demnach als moderner Mensch
gedeutet,
vor
allem wegen der
Harmonie ihres Charakters.2 Darin kommt die Sehnsucht der Jahrhundertwende
1
Vgl.
hierzu auch die Theorie
von
Hannah Arendt und die
Interpretation Micha
Brumliks. 2
Arendt, Hannah: Vita Activa oder Vom tätigen Leben. München 1981; Brumlik, Gerechtigkeit; ders., Die Zukunft pädagogischer Utopien. Die negative Rezeption von Zeitgenossen wird S. 32 f. thematisiert.
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zum
Ausdruck, die
an
Konflikten und
Widersprüchen
nicht
arme
Epoche
zu
harmonisieren. 1950 scheinen Widersprüche und Ambivalenzen gar nicht arti¬ kulierbar zu sein. Stattdessen wird das „Jahrhundert des Kindes" wieder gele¬
eindeutiger Aufruf zum Neuanfang mit klaren Zielen verstanden. begreifen die Sozialwissenschaften die Wider¬ sprüchlichkeit der Moderne als konstitutiv und benennen die Gleichzeitigkeit von Chancen und Risiken, Bindung und Individualisierung. Ambivalenz wird als Grundphänomen in den Blick genommen. Das Bewußtsein für und die Ana¬ lyse von ambivalenten Strukturen kennzeichnet auch den Kommentar Hurrei¬ manns. Doch daß bereits die Formulierung eines Jahrhunderts des Kindes und die Anlehnung daran ambivalent sein muß, benennt er nicht. Im Gegenteil erneu¬ ert Hurrelmann Keys Aufruf im Grundton einer Endzeiterwartung, indem er zu schnellen Taten aufruft. Der emphatische Schlußsatz seiner sozialwissen¬ schaftlichen Zeit- und Theoriediagnose, „noch ist ein Jahr Zeit", bleibt in die¬ sem Kontext erklärungsbedürftig. sen
und als
Am Ende dieses Jahrhunderts
folgenden geht es deshalb darum, die ambivalente Struktur der Theorie Keys beleuchten, die Brüche ihrer Argumentation zu deuten sowie wesentliche Aspekte ihres Ansatzes zu dekontextualisieren, um dadurch die Tragweite ihrer Rezeption im pädagogischen Selbstverständigungsprozeß aufzuzeigen. Im
zu
3. Neue Menschen in einem
neuen
Generationsverhältnis
klagt Key, daß trotz des kulturellen und zivilisatorischen Fort¬ gelungen sei, „dem Kampfe ums Dasein edlere Formen zu ver¬ leihen." (Key 1992, S. 11)3 Key demonstriert Kenntnisse über sozialdarwini¬ stische und eugenische Redewendungen und integriert die Rassenhygiene bzw. Eugenik in ihr Generationen- und Geschlechterkonzept. Traditionelle Lehren und Auffassungen, vor allem die des Christentums, hält Key für überholt. Sie versucht, ihre Leserinnen und Leser von einer Umwandlung der Menschen¬ natur durch ein Bewußtsein von der „Heiligkeit der Generation" zu überzeu¬ gen. In einer für die Reformpädagogik nicht ungewöhnlichen Argumentati¬ onsfigur verwirft sie eine dominante Traditionslinie und erzeugt nicht zuletzt dadurch Modernisierungseffekte. (Oelkers 1994) Bereits 1899 schritts
es
nicht
Ziel allen Bemühens habe die
Hervorbringung
die
zu
eines höheren
Typus Mensch, Körperkult bei¬ tragen könne. Zur Heiligkeit der Generation gehört die Heiligkeit des Kör¬ perlichen, was bei Key in Veränderung und Umwertung des geschlechtlichen Zusammenlebens gipfelt.
Veredelung
des Menschen
sein,
wozu
auch der antike
Key nach einer Umkehrung traditioneller Erziehungsverhältnis¬ Ungeborenen durch die Metapher der Heiligkeit den sie infantilisiert den Mann und macht die Frau Erwachsenen, gegenüber zur Erziehenden, sie marginalisiert den modernen Erziehungsstaat zugunsten der Familie und verknüpft nicht zuletzt die Vorstellung von Entwicklung durch Erziehung mit den Postulaten der zeitgenössischen Rassenhygiene. Ferner strebt se.
3
Sie erhöht die Kinder und
Vgl. Neue
auch
Key, Ellen. Requiem (1899). Essays. Berlin 1901, S. 143-163.
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1
In: Dies: Die
Wenigen
und die Vielen.
27
Zugleich versucht sie den delten Widerspruch von
in zahlreichen
zeitgenössischen Diskursen behan¬ aufzuheben,
Individualismus und Gemeinwesen
indem sie das Recht auf Individualität und Persönlichkeit zur Basis einer höhe¬ ren
Gesellschaft macht.4 Die
ihrer
Hoffnung auf Individualismus bildet den Kern Jugendlichen als den zu Erziehen¬ als den Lehrenden die Kraft des radikalen Neuanfangs zuge¬
Erziehungsutopie,
den und Frauen
weil Kindern und
standen wird. In ihrem Bemühen um den neuen Menschen bezieht sich Key wie viele ihrer Zeitgenossen auf Friedrich Nietzsche. Sie übernimmt dessen Vorstellungen einer epochalen Krise und orientiert sich an seiner ambivalenten Haltung zur Religiosität.(Breuer 1995) Ihre Auffassung des Religiösen zeigt sich unter ande¬ rem an
der Überhöhung der Individualität als innere, wahrhafte Seele des Men¬ an ihrem Begriff des Ästhetischen. Schönheit ist dann ein Aus¬
schen sowie
druck des Göttlichen, so daß sich bei Key eine deutliche Hinwendung zur Ästhetisierung des Religiösen zeigt. Ihre Texte zeugen zudem von einer religiösen Aufladung der ästhetischen Sphäre.
Key reflektiert bereits 1893/94 über Nietzsche und verknüpft seine Philoso¬ phie mit ihrer eigenen Religionskritik. Ferner fühlt sie sich durch ihn in ihrer prophetischen Überzeugung bestätigt und findet Antworten auf die politisch bedeutsame Frage des Verhältnisses von Selbstbehauptung und Selbstaufop¬ ferung. Das allem übergeordnete Interesse ist jedoch die Suche nach dem Glück des Menschen, worauf im „Jahrhundert des Kindes" alle pädagogischen und sozialen Intentionen zielen. Die systematische Suche nach dem Glück und sei¬ nen Bedingungen erhebt Key zur Handlungsmaxime und Erkenntniskategorie der Religionen und Wissenschaften. Letztere konfrontiert sie in Anlehnung an Herbert Spencer mit der Forderung, daß das Streben nach Wahrheit dem Glück der Menschheit verpflichtet sei.(Key 1992, S. 23) In diesem Kontext steht auch ihre These, „dass, bevor man ein Selbst zu geben hat, man erst ein Ich werden muß".5 Die Entwicklung der Persönlichkeit ist demnach eine individuelle Vor¬ aussetzung zum glücklichen Leben. An dieser kontrovers diskutierten und viel¬ fach kritisierten These Keys zeigt sich exemplarisch die Problematik der wis¬ senschaftlichen und politischen Diskussion über die Interpretation des Fort¬ schritts moderner Gesellschaften und der darin begründeten Position des Sub¬ jekts. Key lag mit ihrer Einschätzung moderner Entwicklung nicht grundsätzlich falsch. So prognostiziert sie eine Annäherung der Generationen und fordert ein kameradschaftliches Verhalten der Eltern gegenüber ihren Kindern. Gleichwohl problematisiert Key die Nivellierung des Generationenunterschieds und befürchtet vor allem einen unangemessenen Umgang mit Kindern. „Was man", so schreibt sie unter dem Stichwort Heimatlosigkeit, „mit Grund als einen Fort¬ schritt im Familienleben der Jetztzeit hervorheben kann, der vertraulichere Ver¬ kehr zwischen Eltern und Kindern, hat nur teilweise die rechte Richtung genom¬ men. Er hat mehr die Folge gehabt, daß die Kinder mit den Gewohnheiten und 4
Key, Ellen. Die Wenigen und die Vielen (1895). In: Dies. Die Wenigen und die Vielen, S. 9-75; Dies. Selbstbehauptung und Selbstaufopferung (1893-1894). In: Ebd., S. 74-127. 5 Key, Selbstbehauptung und Selbstaufopferung, S. 78.
28
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Vergnügungen der Eltern die Großen spielen können..."(Key 1992, S. 138 f.) Das Aufeinanderzubewegen der Generationen kann allerdings auch als Infantilisierung der Erwachsenen gedeutet werden. In diesem Sinne schreibt Erikson in den siebziger Jahren: „Als ich jung war, war viel vom Jahrhundert des Kindes die Rede. Ist es zu Ende? Wir hoffen, es ist ruhig in die Geschich¬ te eingegangen. Inzwischen sind wir durch so etwas wie ein Jahrhundert der Jugend hindurchgegangen. Doch wann wird das Jahrhundert der Erwachsenen anfangen?" (Ladenthin 1998, S. 228)6 Volker Ladenthin spitzt die Eriksonsche Sichtweise in seiner Key Interpretation zu: Ihr Text habe die Erzeugung von Intensität zum Ziel und in eben jener Intensität liege die Charakterisierung des Kindes begründet. Daß Erzieher wieder selbst Kinder werden müßten, um zu erziehen, sei die von Key erhoffte Symbiose vom Kind und vom Erwachsenen im intensiv erlebten Augenblick. Deshalb wolle Key die rastlose und bewegte Schule. „In der Vorstellung des intensiven Augenblicks erschließt sich das 20. Jahrhundert Wenn Kindheit nichts anderes ist als der Augenblick der Inten¬ dann leben wir in genau jenem Jahrhundert des Kindes, das Ellen Key in sität, dem Stil ihrer Prosa hat erscheinen lassen. Dann ist Kindheit keine Frage des Alters, sondern eine Frage des Weltverhältnisses."(Ladenthin 1998, S. 239 f.) Kindheit ist aber auch bei Key mehr als ein Augenblick der Intensität, und man kann gerade nicht von einer ästhetisierenden Auflösung von Sinn, sondern muß vielmehr von einer kommunikativen Produktion von Deutungs- und Sinnzu¬ sammenhängen sprechen. So ist Keys Ideal der Familienerziehung vor allem durch das Kommunikations- oder Dialogprinzip gekennzeichnet. Die „Fami¬ lie als Verhandlungshaushalt" ist demnach eine von Key bereits 1900 formu¬ lierte Idee und geht einher mit der Kritik an patriarchalen Familienstrukturen zugunsten einer Demokratisierung familiärer Verhältnisse. In Schweden wird -
...
mittlerweile,
so
ist im vierten Band
zur
„Geschichte der Familie"zu lesen, der
Dialog als Erziehungsprinzip in Kindergarten, Schule und Familie praktiziert, weil man der Auffassung ist, daß Kinder durch Diskussionen und nicht durch Strafen überzeugt werden müßten. Die Durchsetzung führen die Autoren auf die Wirkung Keys zurück, weil „deren Buch sich gegen die extrem strenge Erziehung wandte, der man Kinder unterwarf. Statt disziplinierter kleiner ...
Erwachsener wollte sie Kinder sehen, die wirklich das Recht hatten, Kinder zu sein."(Gaunt/Nyström 1998, S. 158) An dieser Einschätzung zeigt sich eine opti¬ mistische Sichtweise ihrer Wirkung im
eigenen Land. Keys Ansichten würden Erziehung A.S. Neills konespondieren. Doch der Vergleich mit Summerhill vermag nur partiell zu überzeugen, denn ihre schulpädagogischen Vorbilder waren die Landerziehungsheime von Cecil darüber hinaus mit der antiautoritären
Reddie und Hermann Lietz.
4. Ellen
Keys Eugenikrezeption
Georg Brandes kombinierte die Evolutionstheorie Darwins mit Nietz¬ und als eine Art Ermächtigungstheorie vom Übermenschen, erscheint der Versuch, die Wissenschaft zum Subjekt einer neuen bewußten Schöpfung zu machen. (Nordhofen, S. 249) Brandes Text über Nietzsche hat auf Keys Theorie großen Einfluß gehabt. (Brandes 1890) Key verurteilt reli¬ gionskritisch die Milde der christlichen Gesellschaft und damit die Kirche als Der Däne
sches
6
Idee
Erikson, Erik H.: Dimensionen einer
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1
neuen
Identität. Frankfurt/M. 1974, S. 137.
29
Trägerin sozialer Wohlfahrtspflege. Diese gehe soweit, daß sie das Leben des psychisch und physisch unheilbar kranken und mißgestalteten Kindes zur stünd¬ lichen Qual für das Kind selbst und seine Umgebung verlängere. „Erst wenn ausschließlich die Barmherzigkeit den Tod gibt, wird die Humanität der Zukunft sich darin zeigen können, daß der Arzt unter Kontrolle und Verantwortung schmerzlos ein solches Leiden auslöscht."(Key 1992, S. 30) Mit dieser ein¬ deutigen Forderung nach Euthanasie geht Key weiter als Rassenhygieniker ihrer Zeit.7 In ihrer
provokanten Formel vom „Recht des Kindes, seine Eltern zu wählen", verbirgt sich die radikale Idee der Umkehrung des Generationsverhältnisses. Dieses Leitmotiv beinhaltet den Anspruch der zukünftigen Generation auf garan¬ tierte Gesundheit an Körper und Geist sowie die Ablehnung elterlicher Unantastbarkeit.(Andresen/Baader, S. 7) Elternschaft beginnt für Key lange vor Zeu¬ gung, Schwangerschaft und Geburt. Die Idee vom „Recht des Kindes" ist ein zentraler Gedanke des reformpädagogischen Diskurses und pädagogischen Selbstverständnisses und wird bis heute mit Ellen Key in Verbindung gebracht.(Honig 1996) Oelkers und Honig weisen nach, daß diese reform¬ pädagogische Konstruktion maßgeblich zur Institutionalisierung eines histo¬ risch-spezifischen Kindheitsmusters beigetragen habe, aber zugleich bis heu¬ te eine Logik des Versprechens berge.(Honig 1996; Oelkers 1994) Key selbst spitzt ihren Rechtsbegriff jedoch auf rassenhygienische und sittliche Positio¬ nen zu und untermauert ihre Vorstellungen mit dem zeitgenössischen natur¬ wissenschaftlichen Diskurs. Dabei mystifiziert sie naturwissenschaftliche, vor allem rassenhygienische Kategorien, weil sie die „Heiligkeit der Generation", die „Heiligkeit des Körperlichen" oder die „Göttlichkeit der Fortpflanzung" postuliert.fKey 1992, S. 12, 15, 17) Keys Werk sind Mythos und Moderne dialektisch aufeinander bezogen.(Bohrer 1983, S. 8ff.) Die ästhetische Aufladung des Leibes und seiner Funktionen verbindet Key mit ihrem philosophischen Gewährsmann Nietzsche.(Mattenklott 1983, S. 140 ff.) Zugleich finden sich bei ihr RemythisieIn
rungen, die
nisierung
aus
der Konfrontation mit der Moderne entstehen und zu einer Femi¬
menschlicher Verhältnisse führen. Ebenso aber vertraut sie auf die
Instrumente der Naturwissenschaft und deren
Entzauberungsgehalt, was kei¬ Widerspruch gesehen werden muß, sondern aus ihrer ambivalen¬ Deutung der Moderne resultiert.
nesfalls als ten
Vor allem
geht es ihr um eine „Steigerung der Bevölkerungsqualität", die nach Konzepten der Rassenhygieniker durch „positive und negative Eugenik", also durch Fortpflanzungsbegünstigung der „genetisch Starken" und Fortpflanzungsverbot der „genetisch Minderwertigen", erreicht werden sollte. Vor allem die Fortpflanzungsverhinderung hält Key für zentral, weshalb sie bei der Ehe in ihren moralischen und juristischen Dimensionen ansetzt.8 den
Ihre
persönliche Aufgabe sieht Key letztlich in der Erziehung zur Einsicht Notwendigkeit „negativer Eugenik". Deshalb versucht sie, sich zwar
in die
7
Binding, Karl/Hoche, Alfred: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Leipzig 1920. Key, Ellen: Über Liebe und Ehe. Essays. Berlin 1905, S. 152-182.
Lebens. 8
30
ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
umfassend über den wissenschaftlichen und
sozialpolitischen
Diskurs zu infor¬
mieren, aber zugleich die für sie letztlich unumstößlichen Erkenntnisse in einen ethischen Rahmen In Anlehnung
an
zu
integrieren.
Francis
Galton, verurteilt Key den zivilisierten Menschen für
seine moralischen Schwächen. Zivilisation, das ist Konsens der rassenhygie¬ nischen Diskurse, behindere das Recht der Natur, welche ausmerzen müsse.
Key eignet sich diese Vorstellung an und trifft damit auch einen oppositionel¬ len Nerv ihrer Zeit, die avantgardistische Kritik an der Moderne.(Hepp 1992) Die Zivilisation muß demnach der Kultur, der zivilisierte Mensch dem Kul¬ turmenschen weichen.(Breuer 1995, S. 5) Die Degenerations- und Entar¬
tungsthese
Rassenhygiene wird also begleitet von einem naturwissen¬ mystisch inspirierten Kulturoptimismus.
der
schaftlich und
Keys Eugenikrezeption
ist ohne die
hervorgehobene Stellung der Frau Notwendigkeit zur grenzüber¬ kollektivistischen Zeitgeist durchdrungen. von
ihr
als Mutter nicht denkbar. Ihr Diskurs über die schreitenden Individualität ist
vom
Betonung der Rechte von Frauen und Kindern führt damit zu wider¬ sprüchlich anmutenden Theorien über Individualismus und Kollektivismus, denen sowohl die Hoffnung auf Modernisierung als auch eine antimodernisti¬ sche Haltung zugrunde liegen. Die
Key setzt auf die Aneignung und professionelle Vermittlung von Wissen bei denjenigen, die existentiell am Entstehungs- und Erziehungsprozeß des neu¬ en Menschen beteiligt sind. Die Medizin und die Kinderpsychologie müßten kontinuierlich neues Wissen hervorbringen und die Mädchen und Frauen umfas¬ send aufklären. Elternschaft, so Elisabeth Beck-Gernsheim, habe sich am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts zweifellos zur verantwortungsvollen Aufgabe ent¬ wickelt. Eltern erweisen sich wie nie zuvor als pädagogisch aufgeklärt und infor¬ miert. Vor allem Frauen der Mittelschicht attestiert Beck-Gernsheim eine gewis¬ senhafte Selbstprüfung ihrer Persönlichkeit auf die Tauglichkeit zur Mutter¬ schaft. Elternhandeln werde darüber hinaus heute zunehmend als kompensa¬ torische Weltverbesserung verstanden, was mit Keys Leitmotiv „allen Eltern, die hoffen, im neuen Jahrhundert den neuen Menschen zu bilden" durchaus korrespondiert.(Beck/Beck-Gernsheim 1990, S. 155 ff) 5. Die
Demokratisierung
des Geschlechterverhältnisses
„Es gibt Worte, die wie Gesang locken. Und eines dieser Worte ist das Weib
Hervorbringung des neuen Menschen sowie die Vollendung Menschengeschlechts stehen im Zeichen der Weiblichkeit. In ihrem 1895 publizierten Text „Mißbrauchte Frauenkraft" wirft Key der Frauenbewegung ihres Landes vor, die Frau in die männlich dominierte Arbeitswelt integrieren zu wollen, gleichen Lohn für gleiche Arbeit zu fordern, aber Frauenarbeits¬ schutzgesetze abzulehnen. Key wie auch die gemäßigte bürgerliche Frauen¬ bewegung in Deutschland verweisen stattdessen auf die besondere Beschaf¬ fenheit des weiblichen Geschlechts und verlangen einen umfassenden Schutz für die zukünftige Mutter. Dahinter verbergen sich unterschiedliche Vorstelder Zukunft."9 Die
des
9
Key, Ellen.
Das Weib der Zukunft. In: Dies.
ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
Essays.
Berlin
1905, S. 27
-
S. 37.
31
lungen vom Sozialstaat und einer Staatsbürgerinnenschaft. Key entwirft ein utopisches Programm zur Gestaltung des Geschlechterverhältnisses, das Dif¬ ferenz
fortführt, aber die Hierarchie zugunsten der Frauen auflöst.
gelingen, die Widersprüche Polarisierungen befreien, Kul¬ tur und Natur in sich harmonisieren, solidarisch und individualistisch zugleich sein. Für Key ist die Frau Trägerin einer neuen Ethik, einer vollkommenen Sitt¬ lichkeit. Männliche Werte und das männliche Wesen hingegen werden zum Gegenstand der Kritik. Nietzscheanisch fordert die Lebensreformerin eine Umwertung aller Werte. Gegen Militarismus, Einseitigkeit der Vernunft, Kol¬
Nur der Frau werde
es
im Jahrhundert des Kindes
der Moderne auszuhalten. Sie werde sich
von
lektivismus, Pflicht und Autorität setzt sie Pazifismus, Ganzheitlichkeit und Seelenfülle, Individualismus, Glück und Gerechtigkeit, Werte, die dem Weib¬ lichen eingeschrieben seien. In einer Rezeptionstradition, die
von
über Herman Nohl bis
zu
Dieter Lenzen reicht, wird
Friedrich Paul¬
Key im Sinne Feminisierung der Pädagogik gelesen.(Andresen/Baader 1998) sen
einer
Geschlechtergrenzen zugunsten von Mädchen provozierte eine Reihe polarisierender Schriften zur Erziehung der Geschlechter. So beklagt Friedrich Paulsen, ein erklärter Gegner Keys, eine drohende Verweichlichung durch Verweiblichung der Pädagogik, was aber nicht nur Frauen bewirkten. Dementsprechend sieht Paulsen in Ludwig Gurlitt das männliche Pendant zu Key.(Paulsen 1908) Auch Herman Nohl stellt einen Zusammenhang zwischen Gurlitt und Key her, er jedoch vor allem wegen ihrer einvernehmlichen Zurückweisung autoritärer Pädagogik. (Nohl 1963) Das Aufbrechen traditioneller
und Frauen
Key bediene die Backfische, Gurlitts Bücher,
so
Paulsen, würden von allen 1908, S. 15) Der
Untersekundanern im Deutschen Reich verschlungen.(Paulsen
Vergleich
mit Gurlitt, dem radikalen Schulreformer und überzeugten Befür¬ Wandervogels, läßt sich als Sensibilität für einen sich neuartig ent¬
worter des
Zusammenhang von Generation und Geschlecht mittels Erziehung interpretieren. Daß Gurlitt zentrale Merkmale der Moderne wie Hierarchie, Bürokratismus und Kapitalismus anzweifelt, weil sie eine Erziehung zur Mann¬ haftigkeit behinderten, fällt bei den Kritikern der Feminisierung nicht ins Gewicht. Insgesamt geht es in der Pädagogik der Jahrhundertwende wieder¬ holt um die Bedingungen der Männlichkeit und einer angemessenen Interpre¬ tation derselben. Bei Gurlitt ist Männlichkeit gekennzeichnet durch Helden¬ tum und durch den „Mut frisch zu leben und tapfer zu sterben".(Gurlitt 1906, S. 10)10 Wie Key bezieht er sich auf Pestalozzi, Rousseau, Goethe und Nietz¬ sche, auf Carlyle, Emerson und Ruskin. Doch im Unterschied zu Key bewer¬ tet Gurlitt diese Anleihen als Schwäche der eigenen, der deutschen Kultur. Der reformpädagogische Diskurs in Deutschland ist demnach auch verwoben mit faltenden
einer Attitüde des Verfalls, dies um so mehr, wenn die Kritik an der vaterlän¬ dischen Kultur mit einem Niedergang von Männlichkeit gedacht wird.(Mosse
1985) Gurlitt hebt bedauernd hervor, daßjene fremden Autoren den Deutschen zu sagen hätten als die eigenen. „Wie anders sollte man erklären können, daß z. B. die Erziehungsschriften der Schwe¬ din Ellen Key in Deutschland rein verschlungen werden, während hervorra¬ gende deutsche Pädagogen kaum Gehör finden."(Gurlitt 1906, S. 102)
mehr über ihr eigenes Denken und Fühlen
10 Gurlitt zitiert hier Ernst Moritz Arndt.
32
ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
Key ist
für Gurlitt trotzdem eine der
wenigen weiblichen Hoffnungsträgerin¬ Religionskritik und ihren Persönlichkeitsbegriff. Ferner glaubt er sich mit ihr im Kampf gegen das falsche Pflichtbe¬ wußtsein in den Schulen, ebenso wie mit Berthold Otto und John Dewey, ver¬ bunden. Der Schulreformer empfindet Key als eine Theoretikerin und Prophetin, die im Sinne Carlyles ihre Anschauung überzeugend vorlebt. Zwischen dem Geist Gurlitts und dem Keys bestehen Ähnlichkeiten, die sich an Themen der Religionskritik und Umdeutung von Religiosität ebenso zeigen wie an ihrem Plädoyer für neue Schulen. Allerdings geht es Gurlitt primär um die Rettung der Mannhaftigkeit, während Key auf einen neuen Frauentypus zielt. Dieser wird jedoch „erst gegen Schluss des zwanzigsten Jahrhunderts hervorzutreten" beginnen und durch eine herausragende Liebesfähigkeit zu erkennen sein.1' nen.
Er verweist
vor
allem auf ihre
Der verfeinerte Mensch der Zukunft werde
einsehen, „welchen Reichtum das
Leben durch Liebe erhalten kann, wenn diese ein menschenwürdiges Glück wird, dadurch daß sie ein künstlerisches Schaffen ist, ein religiöser Kult und
-
schließlich neuen
-
ein Ausdruck der
vollzogenen Einheit
der Liebenden in einem
Wesen, einem Wesen, das einstmals wirklich für das Leben wird dan¬
können."(Key 1992, S. 45) Glück, Ästhetik, religiöser Kult und Hervor¬ bringung des neuen Menschen wirken als Parameter einer neuen, lebenslan¬ gen Erziehung, denn Key zielt auf die Umgestaltung der Sitten und Gefühle und im Vergleich damit werde der Einfluß der Gesetzgebung immer gering sein. ken
eigentümlicher Synthese von Eugenik, Liebeskult, Göttlichkeit des Kin¬ verbergen sich zentrale Widersprüche. Sie gip¬ feln in folgender Vision: „Dann wird man das Kind, das in einer lieblosen Ehe geboren oder durch die Schuld der Eltern mit körperlicher oder geistiger Krank¬ heit belastet ist, als Bastard betrachten, und wären dessen Eltern auch vom Papst in der Peterskirche getraut! Und nicht auf die unvermählte, zärtliche Mutter eines strahlend gesunden Kindes wird der Schatten der Mißachtung fallen, son¬ dern auf die legitime oder illegitime Mutter eines durch die Missetaten seiner Vorgänger entarteten Wesens."(Ebd., S. 26) In Keys
des und antichristlicher Ethik
Key zieht hier auch das Kind für seine sittlichen und genetischen Daseinsbe¬ dingungen zur Verantwortung, kriminalisiert es und kehrt damit einen wesent¬ lichen Gedanken des bürgerlichen Generationsverhältnisses in sein Gegenteil. Das Kind hätte demnach nämlich nicht nur das Recht, sondern geradezu die Pflicht, glücklich geboren zu werden. Ferner steht ihm nicht per se die Schutz¬ funktion der Erwachsenen zu. Ebenso wie die Mutter kann es von Beginn an mit Schuld beladen sein, wodurch die von Key angeprangerte Auffassung einer sündigen kindlichen Seele säkularisiert wieder in Erscheinung tritt. Da das Kind zum Retter stilisiert wird und der Frau die Umsetzung neuer sittlicher Ideale zukommt, verhindert das Versagen dieser beiden den Durchbruch zum „Jahr¬ hundert des Kindes", wodurch sie ihre Heiligkeit verwirken. 6. Die Familie als Heim Eine ihrer wesentlichen
psychosozialen Kategorien für das neue Generationenwechselseitige Perspektivenübernahme der Fähigkeit der Erwachsenen, sich in das Kind hineinzu-
und Geschlechterverhältnis ist die Geschlechter und die
11
Key, Ellen:
Das Weib der Zukunft. In:
ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
Essays. 1905,
S. 28.
33
und hier gibt es eine Georg Simmel die gegenseitige Anerkennung der Individua¬ lität und das Wissen um die Bedeutung von Kommunikation. Nur über Kom¬ munikation sei, so Simmel, Einzigartigkeit thematisierbar.(Allert 1998) Auch Key entwickelt ein Gespür für das modernitätstheoretisch bedeutsame Verhältnis von Gemeinsamkeit und Differenz. Ohnedies erkennt sie den Zwang der Moder¬ ne, sich selbst als Persönlichkeit hervorbringen zu müssen. Wie Giddens hebt auch Key die Bedeutung der intimen Beziehung für die Modernisierung und Demokratisierung von Gesellschaften hervor. (Giddens 1993; Hahn/Burkhart 1998) Im Hinblick auf das Generationsverhältnis ergeht an die Erwachsenen die Aufforderung, die Intensität des Kindes zu erkennen, also „selbst wie das Kind zu werden, sich von dem Kinde ebenso ganz und einfältig ergreifen zu lassen, wie dieses selbst vom Dasein ergriffen wird". (Key 1992, S. 77) Für Ladenthin zeigt sich gerade in dieser Maxime ein Ausdruck grenzenloser Inten¬ sitätssteigerung im „Jahrhundert des Kindischen", Meike Baader deutet dies als Rückgriff auf die romantische Kindheitskonstruktion, Michael-Sebastian Honig liest Key im Licht der Kindheitsforschung und deren Paradigma von Kindern als Akteure.(Ladenthin 1998; Baader 1998; Honig 1996)
versetzen. Für das
Parallelität
Geschlechterverhältnis bedeutet dies
zu
-
-
....
Perspektive des Kindes die Welt zu betrachten, gelingt dem Maler und Designer Carl Larsson, einem Landsmann und Zeitgenossen Ellen Keys, in
Aus der
besonderer Weise. Larssons Kunst ist eine
Ästhetisierung der Ideen im „Jahr¬
hundert des Kindes", sein privates Leben die konkrete Umsetzung des Fami¬ lienideals. Sein Haus, Familienraum und Arbeitsplatz, steht inmitten einer wun¬
derbaren, paradiesischen Natur und vollendet die modernitätskritische Gro߬ stadtflucht. Seinen Bildern ist eine Form der „negativen Erziehung" inhärent, und zwar als Beobachtung der freien Entwicklung von Kindern, wie sie auch
Key
in
Anlehnung
an
Rousseau formuliert hat.
Key erhofft sich von der Familie als Heim eine individualistische und psycho¬ logische Erziehung, aber vor allem soll sie der Ort einer glücklichen Kindheit sein und die Unangepaßtheit bewahren. Die kinderlose Autorin reflektierte eige¬ nen Angaben zufolge schon früh über Erziehung: „Damals wie jetzt bestand mein Erziehungsideal darin, daß die Kinder fröhlich sein und sich nicht zu fürch¬ ten brauchen sollen! Die Furcht ist das Unglück der Kindheit." (Key 1992, S. 119) Daran habe sich auch wenig geändert, seit eine größere Vertrautheit zwi¬ schen Eltern und Kindern herrsche, letztere am Erwachsenenleben intensiver teilhaben. Gerade die moderne Entwicklung einer Annäherung der Lebensal¬ ter, nehme den Kindern ihre Kindheit. Key befürchtet im Vorgriff auf Ent¬ grenzungsprozesse, daß Kindheit sich immer weniger in festen Mustern des Lebenslaufs vollzieht. Sie bringt dies in einer Art Gefährdungsdiskurs über die
DeStandardisierung
des Lebenslaufs
zum
Ausdruck.
Key, beeinflußt von Nietzsches Geschichtsbegriff, betreibt dabei keineswegs eine Verklärung der Vergangenheit, sondern sucht zukunftsorientiert nach dem richtigen Ort der Kindheit. Glück und Schönheit im privaten Heim und der familiären Schule sind zentrale Säulen ihrer pädagogischen Utopie. Sie zielt damit auf das Zurückdrängen tendenzieller Institutionalisierung und Verinse¬ lung von Kindheit. Fundament des
neuen
34
außeralltägliche Liebe eines nahezu voll¬ gemeinsamen Kind vollendet. Seine Seele ist
Heims ist die
kommenen Paares, die sich im
ZSE, 20. Jg. 2000,
H. 1
die Frau und Mutter, die mit ethischer Konsequenz und Unverwechselbarkeit erzieht und liebt. Für die Kinder ist das Heim der Ort des Glücks und bewahrt sie vor den „Seelenmorden in den lichen Ambitionen
zum
Schulen".(Key 1992, S. 143-163) Allen staat¬ Übermensch nur aus der Idylle eines
Trotz wird der
solchen Heims hervorkommen. Es ist die Schnittstelle des neuen Generatio¬ und Geschlechterverhältnisses und der Mittelpunkt einer an Lebensreform,
nen-
Eugenik und Ästhetik orientierten neuen Erziehung. Die propagierten Rechte des Kindes und ihre Akzeptanz sind untrennbar mit dem Familienheim ver¬ bunden. Honig sieht in der UN-Konvention über die Rechte von Kindern ein Dokument der kulturübergreifenden Verbindlichkeit eines Kinderbildes, das Key entfaltet hat.(Honig 1996, S. 14) Das aber ist nur eine Seite der Medail¬ le, weil es Key eben nicht um die Formulierung und Durchsetzung universa¬ ler Rechte ging. Das Recht des Kindes bezieht sich ausschließlich auf die Indi¬ viduen, die in den eugenischen und ethischen Schöpfungsmythos passen. Das Zentrum ihrer Utopie ist demnach die Perfektionierung des Menschen durch Eugenik und Erziehung. Key diskutiert den naturwissenschaftlich fundierten eugenischen Eingriff in Zeugung und Elternschaft sowie die Entwicklung der idealen Anlage des Kindes durch Erziehung. Der neuen Erziehung geht der neue Mensch als Produkt von Rassenhygiene und einem modernen Geschlech¬ terverhaltnis immer schon voraus. „Das Jahrhundert des Kindes" zur pädago¬ gischen Vergewisserung heranzuziehen, ist demnach nicht zuletzt wegen der Gentechnologie ethisch äußerst fragwürdig. Somit wäre abschließend die Fra¬ ge zu stellen, wie wir uns zukünftig in unserem pädagogischen Selbstverstän¬ digungsprozeß den Brüchen und der Zwiespältigkeit dieses populären Slogans stellen.
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Dr. Sabine Andresen, Erziehungswissenschaftliches Seminar der Universität Hei¬ delberg, Akademiestraße 3, 69117 Heidelberg, e-mail:
[email protected]
berg.de
38
ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
Peter Rieker
Ethnozentrismus im Ein
Jugendalter
multiperspektivischer Beitrag zur Sozialisationsforschung1 Multiperspective Contribution to
Ethnocentrism and Youth: A Research in Socialisation
Untersuchungen zur politischen Sozialisation Jugendlicher werden jeweils unter¬ zu machen, aufweiche Weise soziopolitische Orientierungen entwickelt oder übernommen werden, müssen jedoch verschiedene Aspekte berücksichtigt und aufeinander bezogen werden. Im vorliegenden Beitrag werden diverse Sozialisationsbedingungen benannt und in Bezie¬ hung zueinander gesetzt, die beijungen Männern mit ethnozentrbchen Orientierungen in Zusammenhang stehen: Beziehung zu den Eltern, Beziehungen zu Gleichaltrigen, Kontakte zu rechtsgerichteten Gruppen. In drei Fallanalysen werden unterschied¬ liche Erfahrungshintergründe deutlich, die jeweils zu einer ethnozentrbchen Ori¬ entierung beitragen können. Dabei zeigen sich Indikatoren für ein Bedingungsgefüge, in dem unterschiedliche Sozialisationsinstanzen miteinander und mit Ethno¬ zentrismus in Zusammenhang stehen. Auf diese Webe wird deutlich, wie emotiona¬ le und kognitive Erfahrungen in verschiedenen Sozialbeziehungen zusammenwirken und so zu einer ethnozentrbchen Orientierung beitragen können. In
schiedliche einzelne Akzente betont. Um verständlich
In research
on the development ofpolitical attitudes in adolescents there are com¬ monly emphazized different Single aspects of socialisation. To obtain an extensive understanding of the processes ofthe development of socio-political attitudes, re¬ search has to take into consideration different experiences and their interrelations. Thb article identifles different factors that are connected to ethnocentric orienta¬ tions of young males and analyses their interrelations: Relationship with parents, quality ofpeer-relations, and contact to right-wing attitudes in peer-groups. Three case-analyses make clear that quite different backgrounds ofpersonal experiences can contribute to the development ofan ethnocentric orientation. A multiperspec¬ tive analysb in this way shows the conditional structures, in which different aspects of socialbation are connected to each other and to ethnocentric orientations. So it becomes clear that ethnocentric orientations must be conceptualized as combined result of emotional and cognitive aspects of experiences in various relationships.
Im vorliegenden
Beitrag sollen zentrale Bedingungen für die Entwicklung bzw. Orientierungen2 im Jugendalter geklärt wer-
die Übernahme ethnozentrischer
1 Für
Anregungen und Kritik
an
einer ersten
ke ich Christine Glander-Rieker, Susanne
Fassung des vorliegenden Textes dan¬ Rippl, Christiane Schmidt und Christi¬
Seipel. Anlehnung an William G. Sumner wird unter Ethnozentrismus eine ablehnen¬ de Haltung gegenüber Menschen verstanden, die als fremd oder andersartig erlebt werden, aber auch eine Überhöhung der jeweiligen Eigengruppe, deren Perspekan
2 In
ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
39
den.
Zugrundegelegt wird dabei eine subjektorientierte Betrachtungsweise, es darum geht, wie Ethnozentrismus in persönlichen Beziehungen gefor¬
wobei
dert und vermittelt wird. Die
Beschränkung
auf diesen Bereich der Sozialisa¬
tion bedeutet jedoch nicht, daß andere Aspekte für unwichtig erachtet werden.3
Forschungsliteratur findet sich der Verweis auf die Notwendigkeit, ver¬ Sozialisationsbedingungen zu berücksichtigen, um die Akzeptanz ethnozentrischer Orientierungen durch Jugendliche verständlich zu machen. In der
schiedene
Die hierzu bisher unternommenen Versuche sind aber auf methodischer Ebe¬
Qualität der Erhebung betreffend -, außerdem wer¬ Aspekte dabei kaum zueinander in Beziehung gesetzt. In der vorliegenden Arbeit bemühe ich mich, diese Einschränkungen zu ver¬ meiden, indem ich mich a) auf Daten einer gründlichen Erhebung mittels qua¬ litativer Interviews beziehe,4 b) Informationen aus dem Datenmaterial fallbe¬ zogen vergleichend auswerte und zwar zu unterschiedlichen Sozialisationbedingungen und c) diese dabei nicht als voneinander isolierte Faktoren betrach¬ te, sondern als Teile eines Bedingungsgefüges. ne
unbefriedigend
-
z.B. die
den die verschiedenen
Die vorliegende Analyse zielt in erster Linie auf die Differenzen innerhalb der Teilgruppe ethnozentrisch orientierter Befragter und berücksichtigt die Gemeinsamkeiten dieser Teilgruppe gegenüber Befragten, die sich nicht eth¬ nozentrisch äußern, nur am Rande. Im Zentrum steht hier die Kontrastierung einzelner Fälle, in denen unterschiedliche Erfahrungen bzw. Bedingungen zur Entwicklung einer ethnozentrischen Orientierung beitragen. Durch diese fall¬ vergleichende Betrachtung zeigt sich zunächst, welch unterschiedliche Aspek¬ te mit Ethnozentrismus in Zusammenhang stehen. Außerdem ergeben sich Hin¬ weise darauf, daß einzelne Bedingungen für sich genommen nicht zur Erklärung herangezogen werden können, sondern daß sie ihren spezifischen Einfluß erst im Zusammenhang mit anderen Faktoren entwickeln.
allgemeiner Bewertungen gemacht werden (Sum1959,13). Gegenüber anderen, populäreren Konzepten z.B. Rassismus, Frem¬ hat das Ethnozentrismus-Konzept den Vorzug, daß das Ver¬ denfeindlichkeit hältais zu „den anderen" hier systematisch mit dem Verständnis der Eigengrup¬ zur ausfuhrlicheren Diskussion dieser Fragen sie¬ pe in Beziehung gesetzt wird tiven und Interessen zum Maßstab ner
-
-
-
he auch Rieker 1997, 14 ff. 3 Zum Stellenwert sozialstruktureller
Deprivation für rechtsextreme und ethnozen¬ Hopf 1994. Auf die Bedeutung situativer Anre¬ gungen und auf die Auswirkungen der Dynamik in Gleichaltrigengruppen hat Hel¬ mut Willems hingewiesen (Willems 1993). Gertrud Nunner-Winkler hat Ethno¬ zentrismus darüber hinaus mit bestimmten kognitiven Prozessen in Verbindung gebracht (Nunner-Winkler 1995). Das Datenmaterial der vorliegenden Arbeit stammt aus dem Forschungsprojekt „Soziale Beziehungen in der Familie und Persönlichkeitsentwicklung", das von trische
4
Orientierungen siehe
1991 bis 1993
am
W.
Institut für Sozialwissenschaften der Universität Hildesheim
durchgeführt und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wurde. An der Datenerhebung und den Auswertungsarbeiten waren neben dem Autor die¬ ses Textes Christel Hopf und Christiane Schmidt beteiligt, die das Projekt auch leiteten; zahlreiche Interviews wurden von Regina Breymann geführt und an den Auswertungsarbeiten haben Martina Sanden-Marcus und Nicola Röhricht mitge¬ wirkt.
40
ZSE, 20. Jg. 2000,
H. 1
1. Zum
Forschungsstand
Vorliegende Forschungsarbeiten zu solchen Bedingungen, die Ethnozentrismus im Jugendalter fordern, berücksichtigen unterschiedliche Aspekte der Sozia¬ lisation. So konnte u.a. gezeigt werden, daß es sinnvoll ist, die emotionalen Beziehungen in der Familie genauer zu betrachten. Schon in den klassischen Studien zur Autoritären Persönlichkeit werden Vorurteile gegenüber den Angehörigen ethnischer Fremdgruppen mit bestimmten Erfahrungen in der Her¬ kunftsfamilie in Zusammenhang gebracht. Dazu gehören hierarchisch geord¬ nete
Familienverhältnisse, bei denen sich die Kinder den elterlichen Vorstel¬
lungen unterzuordnen haben. Auf mangelnde Anpassung der Kinder wird sei¬ Disziplinierung reagiert, so daß Ethnozentriker auch vermehrt über körperliche Bestrafung berichten (Adorno et. al. 1969, 384 ff). Entsprechende Zusammenhänge werden aber nicht nur aus den USA für die
tens der Eltern mit strikter
berichtet, sondern auch aus Deutschland für die Zeit der Weimarer Republik (Karstedt 1997, 239). In aktuelleren Untersuchungen zum Ethno¬
40er Jahre
zentrismus
Jugendlicher wird die Verbundenheit mit den Eltern
werden Informationen
zum
erfaßt bzw.
familiären Miteinander erhoben. Dabei
es
zeigt sich
ganz ähnliches: Wer sich ethnozentrisch äußert, berichtet eher nicht von einem befriedigenden Verhältnis zu seinen Eltern (Kracke et al. 1993,980 f), sondern
Umgangston in der Familie (Fend 1994, 153). Darüber neueren Untersuchung festgestellt werden, daß sich ethnozentrische Orientierungen vermehrt bei Personen finden, die ihre Eltern ein Zusammenhang, der auch schon bei Adorno und Kollegen idealisieren wurde. Es gibt allerdings auch Fälle, in denen bei Ethnozentrikern postuliert keine Tendenzen zur Idealisierung zu erkennen sind, sondern diese ihren Eltern gegenüber Gleichgültigkeit oder Wut zum Ausdruck bringen (vgl. C. Hopf 1993, 459 ff). von
einem autoritären
hinaus konnten in einer
-
berücksichtigen sind ferner die Einstellungen der Eltern, die unter Umstän¬ bezug auf ethnozentrische Orientierungen sind die Resultate hinsichtlich der Übereinstimmung mit den Eltern uneindeutig. Matthias Wellmer beschreibt, daß 50% der von ihm untersuchten Jugendlichen mit ethnozentrischer Orientierung angeben, ihre Eltern hätten ganz ähnliche Einstellungen, während nur 11% derjenigen, die sich nicht ethnozentrisch äußern, von ihren Eltern ethnozentrische Einstellungen berichten (Wellmer 1995, 39). Bei einer Befragung, die zu Beginn der 80er Jahre im Raum Frankfurt/Main durchgeführt wurde, zeigten sich Zusammenhänge zwischen ausländerfeind¬ lichen Positionen Jugendlicher und entsprechenden Aussagen ihrer Eltern, die ebenfalls befragt worden waren. 67% der Eltern von Jugendlichen, die als rechts¬ extrem eingeschätzt wurden, plädierten dafür, Ausländer wieder in ihre Hei¬ matländer zurückzuschicken. Allerdings wurde diese Meinung auch von 42 % der Eltern solcher Jugendlicher vertreten, die sich selbst gegen solche Rück¬ führungsmaßnahmen aussprachen (Fend 1994, 153 f). Der Einfluß der Eltern auf die politischen Orientierungen ihrer jugendlichen Kinder ist demnach unein¬ deutig.
Zu
den Vörbildfunktion haben. In
In
bezug
auf fremdenfeindliche
Orientierungen
wird vielfach davon ausge¬
gangen, daß Jugendliche sich eher am Freundeskreis orientieren als an der Fami¬ lie, der in politischen Fragen eine geringe Gesprächsdichte attestiert wird (Heit¬ meyer et al.
1992, 580). Vor allem ethnozentrisch eingestellte Jugendliche tei-
ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
41
len diese Ansicht: Sie
geben häufiger als nicht-ethnozentrisch orientierte Jugend¬
liche an, nicht durch die Eltern, sondern durch Parteien, Gruppen und Bewe¬ gungen beeinflußt zu sein (Heitmeyer et al. 1995,376 f). Obwohl es gute Grün¬
gibt, solchen Aussagen kritisch gegenüberzustehen, erscheint es sinnvoll notwendig, Vorbilder unter Gleichaltrigen, an denen sich im Jugendalter orientiert wird, in die Betrachtung mit einzubeziehen. Bezogen auf Ethnozen¬ trismus wird angenommen, daß bestimmte Jugend-Subkulturen eine integrie¬ de
und
rende und identitätsbildende Funktion haben und
zwar
in der Weise, daß hier
fremdenfeindliche Normen vermittelt bzw. Hemmschwellen und Gewissens¬ regungen
abgebaut
werden
(Erb 1993, 278; Willems 1993, 177).
gibt es auch Anzeichen dafür, daß bestimmte Strukturen bzw. Qualitäten der Beziehungen zu Gleichaltrigen mit Ethnozentrismus in Zusam¬ menhang stehen. Ethnozentriker legen auch in persönlichen Beziehungen weni¬ ger Wert auf Individualität als auf äußerliche Kriterien oder formale Zugehörig¬ keiten (Adorno et al. 1969,418). Für die eigene Identität ist unter diesen Umstän¬ den die Identifikation mit der peer-group entscheidend; gleichzeitig werden die Angehörigen anderer Gruppen anonymisiert, was ihre Diskriminierung ermög¬ licht (Klatetzki 1993, 357 f). Wie man aus Forschungen zur Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen weiß, sind die sozialen Kontakte in diesen peer-groups eher unverbindlich, gleichzeitig werden aber auch kaum Kontakte außerhalb dieser Gruppen unterhalten (Kühnel 1995,138 f). Da Jugendliche mit ethnozentrischer Orientierung häufig auch keine bzw. keine befriedigenden partnerschaftlichen Beziehungen unterhalten (Heitmeyer et al. 1992), vermutet man bei diesen Per¬ sonen grundsätzliches Mißtrauen und Kontaktunsicherheit (Richter 1992,230). Darüber hinaus hätten diese jungen Männer den Eindruck, keine sexuelle Befrie¬ digung eneichen zu können, was das Bedürfnis nach einer „männlichen Ersat¬ zidentität" zur Folge habe und z.B. zur Übernahme einer rechtsextremen Ideo¬ logie führen könne (Streeck-Fischer 1994, 264). Darüber hinaus
liegt damit eine Reihe von Forschungsergebnissen vor, die die Akzeptanz eth¬ Orientierungen mit diversen Sozialisationsbedingungen in Zusammenhang bringen. Verschiedentlich wird die Ansicht vertreten, daß es nicht reicht, einzelne Faktoren zu untersuchen, sondern daß jeweils mehrere Aspekte berücksichtigt werden müssen, um den Bedingungen gerecht zu werden, die Ein¬ stellungen und Verhaltensweisen Jugendlicher beeinflussen und speziell ethno¬ zentrische Orientierungen fordern. Diese Erkenntnis wird für das Zusammen¬ spiel verschiedener Soziahsationsinstanzen (Kühnel 1995, 142; Oswald 1992, 319) sowie in bezug auf das Zusammenwirken emotionaler Beziehungen und politischer Einstellungen (Fend 1994; Kracke et al. 1993) formuliert.
Es
nozentrischer
Vorliegende Untersuchungen, die sich bei der Erforschung ethnozentrischer Ori¬ entierungen auf unterschiedliche Sozialisationsbedingungen beziehen, weisen allerdings diverse Unzulänglichkeiten auf. So werden Informationen zur Qua¬ lität emotionaler Beziehungen nur durch wenige standardisierte Items erhoben (z.B. bei Kracke et al. 1993, 978), d.h. die Validität dieser Angaben erscheint fraglich. Aber auch die Operationalisierung emotionaler Beziehungen, wie sie in qualitativen Untersuchungsteilen vorgenommen wird, erscheint teilweise äußerst fragwürdig z.B. dann, wenn man unspezifische Informationen über Unterhaltungen in der Familie als Indiz eines guten Verhältnisses zu den Eltern wertet (Wellmer 1995, 39) oder wenn man die Information, Eltern und Kinder -
42
ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
würden selten miteinander
sprechen, als Anzeichen des geringen Einflusses des (Heitmeyer et al. 1992, 580). Außerdem werden ver¬ schiedene untersuchte Aspekte in der Regel bloß nebeneinander gestellt bzw. nacheinander genannt (z.B. bei Fend 1994, 153). In diesen Fällen kann nicht deutlich werden, ob diese verschiedenen Faktoren, die Rechtsextremismus bzw. Ethnozentrismus begünstigen, miteinander in Zusammenhang stehen und wenn ja, in welcher Dynamik sie mit- oder gegeneinander wirken. Elternhauses betrachtet
Im Rahmen der
vorliegenden Arbeit wird der Versuch unternommen, der Fra¬ entsprechenden Zusammenhängen nachzugehen, um auf diese Weise neue Erkenntnisse zum Zusammenspiel unterschiedlicher Bedingungen zu gewinnen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Fragen der Struktur bzw. Qualität verschiedener sozialer Beziehungen; im Rahmen der Falldarstellungen werden darüber hinaus auch die inhaltlichen bzw. kognitiven Aspekte des hier rele¬ vanten Bedingungsgefüges aufgegriffen. ge nach
2. Zum Ansatz der
Untersuchung5
In methodischer Hinsicht
liegt der vorliegenden Untersuchung ein qualitativer geht hier also nicht um repräsentative Ergebnisse, son¬ dern um eine detaillierte, fallbezogene Rekonstruktion des Zusammenwirkens unterschiedlicher Sozialisationsbedingungen. Sie basiert aufder Befragung von 25 jungen Männern aus Niedersachsen, die Haupt- oder Realschulen besucht Ansatz
zugrunde.
Es
haben und als Auszubildende oder Facharbeiter zumeist in Berufen des metall¬ verarbeitenden Gewerbes arbeiten. Alle ten
Befragten stammen aus äußerlich intak¬
Familien, die der unteren Mittelschicht zuzurechnen sind und nicht von auf¬
fälligen Benachteiligungen (z.B. Arbeitslosigkeit) betroffen sind. jungen Männer waren zum Befragungszeitpunkt zwischen 17
ten
ren
Die
befrag¬
und 25 Jah¬
alt und lebten zumeist noch im elterlichen Haushalt.
Mit
jedem Befragten haben wir drei teilstandardisierte Einzelinterviews geführt, denen ein Leitfaden zugrundelag. Im ersten Interview ging es vor allem um aktuelle soziale Beziehungen innerhalb und außerhalb der Familie, im zwei¬ ten um soziale Beziehungen in der Kindheit des Befragten und im dritten um deren soziale und politische Orientierungen. Durch systematische Nachfra¬ gestrategien und dadurch, daß wir zu den relevanten Punkten sowohl allgemeine Bewertungen als auch ganz konkrete Erfahrungen erfragten, versuchten wir, den Stellenwert der uns gegebenen Informationen transparent zu machen. In diesem Aufsatz stütze ich mich auf das im Hildesheimer Projekt
gesammelte Ergebnisse unserer gemeinsamen Auswertung. Dies betrifft die Resultate zu den emotionalen Beziehungen in der Familie, wobei es hier allerdings nicht um den für die gemeinsame Projektarbeit zentralen Ansatz der Attachment-Forschung geht (vgl. hierzu Hopf et al. 1995, 107 ff). Für die weitergehende Analyse, auf die ich mich hier vor allem beziehe, war es not¬ wendig, speziellere Kategorien z.B. die Beziehungen zu Gleichaltrigen betrefMaterial und auch auf einzelne
-
5 Ausführliche Informationen
zum
Datenerhebung
methodischen
und
Vorgehen,
d.h.
zur
Auswahl der
Auswertung finden sich in anderen Publi¬ kationen aus dem Kontext des Hildesheimer Projektes (Hopf et al. 1995, 22 ff; Rieker 1997,41 ff; Schmidt 1997).
Befragten,
zur
ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
zur
43
fend
zu entwickeln bzw. zu prüfen. Sofern es dabei um die Generierung neu¬ Konzepte ging, sind diese Analyseschritte dem offenen Kodieren vergleichbar, wie es in der Methodenliteratur verschiedentlich beschrieben wird (vgl. Becker/Geer 1979, 144; Strauss 1994, 57 ff). Im Zuge eines Verdichtungspro¬ zesses entstand ein Kodierschema zur systematisch vergleichenden Analyse bzw. zum „selektiven Kodieren" (Strauss 1994, 63 f). -
er
2.1
Erläuterung zu
den in die Analyse
einbezogenen
Dimensionen
Bestimmung soziopolitischer Orientierungen wurden zunächst Äuße¬ berücksichtigt, die auf Ethnozentrismus, d.h. auf die Abwertung von Fremdgruppen und die Glorifizierung von Eigengruppen abzielen. Im Gegen¬ zug wurden unter dem Begriff pluralistische Orientierung auch solche Äuße¬ rungen identifiziert, in denen in bezug auf Eigen- und Fremdgruppen eine balan¬ cierte, auf Gemeinsamkeiten gerichtete Sichtweise zum Ausdruck kommt, bei der individuelle Besonderheiten im Vordergrund stehen und nicht Gruppen¬ zugehörigkeiten. Berücksichtigt man ethnozentrische und pluralistische Ele¬ mente und bezieht sie fallweise aufeinander, dann lassen sich folgende Orien¬ tierungen unterscheiden:6 Bei die rungen
•
ethnozentrisch
Abwertung von Fremdgruppen + Glorifizierung der Eigen¬ (11 Fälle); teilweise ethnozentrisch Abwertung von Fremdgruppen (4 Fälle); widersprüchlich -Abwertung von Fremdgruppen + pluralistische Äußerun¬ gen (4 Fälle); pluralistisch Pluralistische Äußerungen (6 Fälle). -
gruppe
•
•
•
-
-
In die
vorliegende Untersuchung wurden verschiedene Sozialisationsbedin¬ einbezogen. Hinsichtlich der Beziehung zu den Eltern beziehen wir uns hier in erster Linie auf die Erfahrungen, die aus der Kindheit berichtet werden. Zentral ist in diesem Kontext die Dimension der liebevollen Zuwendung. Wenig liebevolle Zuwendung durch die Eltern ist bei den Befragten in unserer Unter¬ suchung in der Regel mit der Erfahrung verbunden, von den Eltern aktiv zurück¬ gewiesen worden zu sein. Empirisch festzustellen sind dabei die folgenden Vari¬ gungen
anten: •
•
•
•
wenig liebevolle Zuwendung durch beide Elternteile (9 Fälle); wenig liebevolle Zuwendung durch den einen, mittlere liebevolle Zuwendung durch den anderen Elternteil (4 Fälle); mittlere liebevolle Zuwendung durch beide Elternteile (4 Fälle); viel liebevolle Zuwendung durch einen, mittlere liebevolle Zuwendung durch den anderen Elternteil (6 Fälle).
Hinsichtlich der
Beziehungen zu Gleichaltrigen wurde zunächst versucht, die Bedeutung verschiedener sozialer Bezüge zu erkennen. Vor allem ging es dar¬ in die alle eingebun¬ um, inwieweit die jungen Männer neben ihren Cliquen den waren noch andere Beziehungen zu Gleichaltrigen unterhalten. Dabei zeigten sich folgende Konstellationen: -
-
6 Detaillierte Informationen
zur
Bestimmung dieser einzelnen Dimensionen und zu
ihrer Kombination im Rahmen verschiedener Orientierungsweisen finden sich bei Rieker 1997,
44
speziell
S. 116 ff.
ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
abgesehen
•
Cliquenkontakten
von
sind
gegenwärtig keine Beziehungen
zu
erkennen, die für die Befragten bedeutungsvoll sind (9 Fälle);
abgesehen
•
von
Cliquenkontakten werden Freundschaftsbeziehungen
unter¬
halten, die als tragfähig und individuell ausgeprägt beschrieben werden (3
Fälle); abgesehen von Cliquenkontakten wird eine partnerschaftliche Beziehung zu
•
einer Frau beschrieben
-
wobei hier zwischen verbindlichen und
unver¬
Beziehungen unterschieden werden kann (7 Fälle); abgesehen von Cliquenkontakten werden sowohl individuelle Freund¬ schaftsbeziehungen unterhalten als auch eine partnerschaftliche Beziehung zu einer Frau (6 Fälle).
bindlichen •
3.
Ergebnisse7
die elf Befragten mit ethnozentrischer Orientierung als Teil¬ vergleicht die von ihnen berichteten Erfahrungen in zentralen Berei¬ chen der Sozialisation mit den Erfahrungen der sechs jungen Männer, die sich eindeutig nicht ethnozentrisch äußern und hier als Pluralisten bezeichnet wer¬ den -, dann zeigt sich zunächst, daß erstere in ihrer Kindheit deutlich weniger liebevolle Zuwendung durch ihre Eltern erfahren haben. Ethnozentriker erwecken darüber hinaus den Eindruck, ihre Beziehungen zu Gleichaltrigen eher unverbindlich zu gestalten, d.h. zumeist werden nur Cliquenbeziehungen unterhalten. Dagegen sind individuelle Freundschaften und verbindliche Beziehungen zu Partnerinnen bei diesen Probanden selten und es kommt gar Betrachtet
man
gruppe und
-
nicht vor, daß sowohl verbindliche Freundschaften als auch eine partner¬ schaftliche Beziehung zu einer Frau unterhalten werden. Die Pluralisten unter¬
halten neben
Gruppenkontakten
zur
Hälfte individuelle Freundschaften und
Partnerbeziehungen; drei dieser Befrag¬ ten unterhalten neben ihren Gruppenkontakten sowohl freundschaftliche als auch partnerschaftliche Beziehungen. Außerdem finden sich bei fast allen Befragten, die ethnozentrisch argumentieren, Erfahrungen mit solchen sozia¬ len Zusammenhängen unter Gleichaltrigen, die inhaltliche Anknüpfungs¬ punkte zum Ethnozentrismus aufweisen konkret handelt es sich dabei in der Regel um Kontakte zu Skinheadgruppen. Bei den Pluralisten fehlen entspre¬ chende Erfahrungen. berichten fast alle
von
verbindlichen
-
feststellen, daß die Befragten, die eine ethnozentrische Ori¬ entierung zum Ausdruck bringen, bestimmte Gemeinsamkeiten aufweisen, die besonders auffällig sind, wenn man sie mit den Erfahrungen derjenigen ver¬ gleicht, die eindeutig keine ethnozentrische Orientierung aufweisen. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch auch ersichtlich, daß sich hinsichtlich der Bedingungen ihrer Sozialisation innerhalb der Gruppe der Ethnozentriker deut¬ liche Unterschiede zeigen. Es läßt sich also
7 Aus Gründen der
Übersichtlichkeit beschränke ich mich hier auf zusammenfas¬
den beiden Teilgruppen der Ethnozentriker und der Pluralisten. Angaben vollständige Übersicht zu den hier betrachteten Aspekten der Sozialisa¬ bezogen auf alle Befragten siehe Hopf et al. 1995,194 ff sowie Rieker 1997,
sende
zu
Für eine
tion
240 ff.
ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
45
Tabelle 1:
entierung Fall
Bernd
Carsten
Hans
Mark
Sozialisationsbedingungen junger fallbezogene Übersicht Eltern
Aktuelle
Kontakte
in der Kindheit.
zu
Gruppierungen
Wenig liebevolle Zuwendung durch
Clique/
beide Eltern.
keine Partnerschaft
Mittlere liebevolle
Clique/
Zuwendung durch beide Eltern.
Freundschaft/ keine Partnerschaft
Viel bzw. mittlere
Clique/
liebevolle
Freundschaft/unverb. Partnerschaft
Beziehung
zu
Zuwendung.
Wenig liebevolle Zuwendung durch beide Eltern.
Norbert
Viel bzw. mittlere
liebevolle Sebastian
Männer mit ethnozentrischer Ori¬
-
Nicht
Zuwendung.
zugeordnet.
Beziehungen Gleichaltrigen keine
zu
rechten
Aktuell bedeutsam
Freundschaft /
Clique/
keine
keine
keine
Aktuell bedeutsam
Früher bedeutsam
Früher bedeutsam
Freundschaft/ verb.Partnerschaft
Clique/ Freundschaft/ keine Partnerschaft Clique/
keine
Ohne
Bedeutung
Aktuell bedeutsam
Freundschaft/ keine Partnerschaft Thomas
Wenig liebevolle Zuwendung durch beide Eltern.
Udo
Wenig liebevolle Zuwendung durch beide Eltern.
Uwe
Wenig liebevolle Zuwendung durch
Clique/
keine
Aktuell bedeutsam
Freundschaft/ verb. Partnerschaft
Clique/
keine
Ohne
Bedeutung
Freundschaft/ keine Partnerschaft
Clique/ Freundschaft/
Früher bedeutsam
keine Partnerschaft
beide Eltern. Volker
Wenig
bzw. mittlere
liebevolle
Xaver
Zuwendung.
Clique/
keine
Mittlere liebevolle
Clique/ keine
Zuwendung
Freundschaft /
durch
beide Eltern.
Früher bedeutsam
Freundschaft/ keine Partnerschaft Aktuell bedeutsam
keine Partnerschaft
Tabelle 1 verdeutlicht, daß junge Männer, die sich ethnozentrisch orientieren, sowohl hinsichtlich der Erfahrungen, auf die sie mit den Eltern in der Kind¬ heit zurückblicken, als auch in Hinblick auf die jeweils unterhaltenen Kontak¬ te zu Gleichaltrigen deutlich differieren. Im folgenden werden drei Fälle eth¬ nozentrisch Orientierter genauer dargestellt, die sich hinsichtlich dieser Bedin¬ gungen deutlich voneinander unterscheiden. Dabei wird versucht, die Art und Weise zu beleuchten, in der verschiedener Sozialisationsbedingungen inein¬ andergreifen und auf unterschiedliche Weise zu einer ethnozentrischen Orien¬
tierungsweise beitragen. 46
ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
3.1 Bernd In den Erzählungen aus der Kindheit verdeutlicht der 22jährige Bernd eine über¬ wiegend lieblose Haltung der Eltern. Als Kind wurde er regelmäßig geschla¬ gen: Die Mutter hat im Bedarfsfall dem Vater der von Bernd als „Vollstrecker" bezeichnet wird Bescheid gegeben und zugesehen, wenn dieser den Sohn -
-
Vor dem Vater, der als aufbrausend und gewalttätig beschrieben wird, hatte Bernd regelrecht Furcht, konkret z.B. davor, ihn durch sein Spiel
verprügelte. beim
sonntäglichen Mittagsschlaf zu stören. Gewalt und Aggression innerhalb von Bernd jedoch nicht als solche thematisiert, sondern außen verlagert.
der Familie werden nach Es
gibt
im Falle Bernds
plausible Hinweise dafür, daß das Verhalten der Eltern
für solche Verschiebungen als modellhaft anzusehen ist. So charakterisiert Bernd das Verhalten seiner Mutter zwar als „behütend", doch ist damit nicht gemeint, daß er als Kind in schwierigen Situationen Trost oder Zuwendung erhielt, son¬ dern daß die Mutter sich
aggressiv gegen andere wand: Bernd berichtet z.B., Spielen mit einem anderen Kind hingefallen ist, was seine Mut¬ ter dazu veranlaßte, das andere Kind zu schlagen. Da Bernd noch weitere, ganz ähnliche Beispiele schildert, entsteht der Eindruck, daß er in einer Familie auf¬ gewachsen ist, in der aggressives Verhalten gegen andere nicht nur normal war und modellhaft vorgelebt wurde, sondern in der Aggression als Ausdruck von Zuneigung galt sei es in der Weise, daß der Vater es gut gemeint habe, wenn er ihn verprügelte oder in der Weise, daß die Aggression der Mutter gegen ein anderes Kind als Liebesbeweis empfunden wurde. daß
er
beim
-
Eine direkte Vorbildfunktion der Eltern in
bezug
auf die
politischer
Orientie¬
rung Bernds ist nicht festzustellen. Einerseits erzählt Bernd von politischen Streitgesprächen mit seinem Vater, der die SPD wähle. Andererseits seien Vater
und Sohn
ungeachtet der ansonsten unterschiedlichen politischen Positionen bezug „Ausländerproblem" einer Meinung. Mit seiner Mutter hat Bernd offensichtlich Meinungsverschiedenheiten, zu denen er sich im Inter¬ view allerdings nicht näher äußern möchte. -
-
in
auf das
Als
Jugendlicher hat Bernd zunächst einer Gruppe Skinheads angehört und Mitglied und Funktionär einer rechtsextremen Partei. Zur Zeit der Interviews gehört er einer Clique an, in der er auch noch Kontakt zu verschie¬
war
danach
denen früheren Kameraden hat. In individuelleren Freundschaften fühlt sich Bernd nicht wohl:
„Ich hab(e) immer so 'ne kleine Distanz drin, 'en bißchen (...) laß ich immer Luft drin". Eine Partnerin hat Bernd nicht, was er damit erklärt, bisher noch keine „anständige Frau" getroffen zu haben. Seine bisherigen Beziehungen zu Frauen schildert er als wenig dauerhaft und unbe¬ friedigend. Wovon er konkret enttäuscht ist, wird jedoch nicht deutlich. Abstand
Für Bernd steht die
hältnis
Beziehung zu seinen Eltern
in einem
antagonistischen
Ver¬
Kontakten, die er zu Gleichaltrigen unterhält. In den Konflikten, die er schildert, steht er dabei eindeutig aufder Seite der Eltern und wendet sich zu
den
-jedenfalls
in seinen Phantasien
genossen, die
es
wagen, die
-
mit äußerster Brutalität gegen Gesinnungs¬ Eltern zu kritisieren.
politische Einstellung seiner
3.2 Xaver In den
Erzählungen des 18jährigen Xaver stehen angenehme Erinnerungen an unangenehmen Erfahrungen mit den Eltern gegenüber, die
die frühe Kindheit ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
47
für die
spätere Kindheit
Verhältnis
zu
und die
Jugendjahre geschildert
werden.
Speziell
im
seinem Vater wird ein Bruch deutlich: Aus der Kindheit wird von
einem liebevollen Vater berichtet, zu dem eine innige Bindung bestand, und für die Jugendjahre beschreibt Xaver einen schlecht gelaunten, ungerechten
Vater,
zu
dem
er
nach
eigenem
hung
überhaupt keine Bezie¬ Beziehungen zu Aspekte
Bekunden inzwischen
mehr hat. Obwohl auch unerfreuliche
in den
den Eltern zum Teil ausführlich und konkret beschrieben werden, entsteht zusam¬ mengenommen nicht der Eindruck einer überwiegend bedrohlichen Atmosphäre. Dazu trägt bei, daß es hier keine Indizien für regelmäßige und schmerzhafte
Prügel durch die
Eltern
gibt.
Für den Vater schildert Xaver einen
er
Während dieser
Gesinnungswandel:
noch bei der Bundeswehr war, politisch rechts eingestellt war, sei inzwischen eine „rote Sau", womit gemeint ist, daß er die SPD wählt. Die
früher, als
er
Schilderungen aus der Kindheit enthalten im Falle Xavers keine Indizien für Handlungsweisen der Eltern, die zwischen Eigen- und Fremdgruppenan¬ gehörigen systematisch differenzieren. Allerdings werden massive Konflikte zwischen den Eltern beschrieben, die fast zur Scheidung führten. Die Streit¬ kultur der Eltern, denen es in Xavers Augen um die Durchsetzung eigener Inter¬ essen, nicht um Verständigung geht, schildert Xaver einprägsam. zu Gleichaltrigen ist Xaver gegenwärtig auf eine Clique fixiert, die er als gewalttätig und rechtsextrem beschreibt. Abgesehen von die¬ ser Gruppe unterhält er keine Freundschaften, so daß er die Anführer seiner Clique, von denen er mit Ehrfurcht und Bewunderung spricht („Für die wür¬ de ich mein Leben geben."), gleichzeitig als seine besten Freunde bezeichnet. Auch aus den zurückliegenden Jahren berichtet Xaver nicht von individuell
In seinen Kontakten
akzentuierten Freundschaften, sondern von sozialen Aktivitäten in Skinhead¬ gruppen, über die er sich rückblickend jedoch sehr abfällig äußert. Eine Part¬ nerin hat Xaver
nicht;
er
mit einer Freundin nichts
befürchtet
anfangen
Einschränkungen und
zu
hat den
Eindruck,
können.
Gleichaltrigen voneinander sogar gegenseitig auszuschließen. Schon als kleines Kind habe er sich selbständig Freunde gesucht und ohne Betei¬ ligung der Eltern mit diesen gespielt. Die Beziehung zu seiner Mutter hat sei¬ nen Äußerungen zufolge ihren liebevollen Charakter verloren, als er im Alter Für Xaver sind seine
Beziehungen
zu
Eltern und
isoliert, teilweise scheinen sie sich für ihn
von
11 oder 12 Jahren
zum
ersten Mal eine Freundin hatte.
3.3 Norbert Auf konsistente und glaubhafte Weise schildert Norbert ein befriedigendes und
positiv bewertetes Verhältnis
zu
den Eltern. Als Kind
war er
häufig
mit seiner
Mutter zusammen, die ihm in schwierigen Situationen geholfen hat, ihn trö¬ stete und sich liebevoll um ihn gekümmert hat. Das Verhältnis zum Vater ist vor
allem durch
Respekt geprägt und
in bestimmten
Situationen, z.B.
wenn er
schlechte Zensuren erhielt, hatte er auch Angst vor dessen Reaktionen. Kör¬ perliche Bestrafungen beschränkten sich auf seltene Gelegenheiten, bei denen einen „leichten Schlag in den Nacken" erhielt. Norbert vermittelt den Ein¬ druck, auch als 19jähriger noch ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern zu haben.
er
Verschiedentlich berichtet Norbert, seinem als streng beschriebenen Vater sehr ähnlich zu sein, viel von ihm gelernt zu haben und sich an ihm zu orientieren. 48
ZSE, 20. Jg. 2000, H.
1
Beispiel
Am
des Grußverhaltens verdeutlicht
er exemplarisch, wie konsequent Vorgaben umsetzt. Im Gegensatz zu anderen Kindern, die noch nicht einmal 'Guten Tag' sagen könnten, habe er von seinen Eltern bei¬ gebracht bekommen, sich zu benehmen und auch zu grüßen. Seiner Schwester hat er dann das Grüßen beigebracht: „Früher als kleines Kind, so in Sachen Gehorsam oder so, wenn wir irgendwo lang gegangen sind und einer sagt 'gu¬ ten Tach' und sie hat nicht zurückgegrüßt, dann hab ich sie mir schon immer gepackt und ihr erstmal einen erzählt, ne?" Hinsichtlich des 'guten Benehmens' er
die elterlichen
hat das enge und emotional stabile Verhältnis zu den Eltern offenbar dazu bei¬ getragen, daß Norbert die Wertvorstellungen seiner Eltern nicht nur übernommen
hat, sondern sie auch aktiv vertritt, z.B. gegenüber der Schwester. Im Verhältnis
zu
Gleichaltrigen pflegt
Norbert verbindliche
individuelle
Freundschaften. In bestimmten Situationen
präferiert
quenleben: Mit Begeisterung spricht
massiven Auftreten einer Forma¬
tion
er vom
er
allerdings
das Cli¬
20 Leuten. Für Norbert waren rechtsgerichtete Bezugsgruppen zu kei¬ Zeitpunkt relevant, sondern er wendet sich explizit gegen Skinheads oder Hooligans. Seiner Meinung nach gehören solche „Sondergrappen, diese die nur Ärger machen ..." bzw. sich nicht Außenseiter...", fügen ...", nicht auf die Straße...", sondern in 'ne Anstalt". In einer partnerschaftlichen Beziehung lebt Norbert zur Zeit des Interviews nicht. In einer vergangenen Bezie¬ hung fühlte er sich „angebunden" und in seinen Interessen eingeengt, so daß er gegenwärtig kein Interesse an einer engeren Bindung zu einer Frau hat. von
nem
„...
„...
„...
„...
Für Norbert standen die
Beziehungen
zu
Eltern und
Gleichaltrigen
von
jeher
in einem harmonischen Verhältnis zueinander, d.h. sein soziales Umfeld ist dies¬ bezüglich homogen und transparent. Eltern und Freunde kennen und akzep¬ tieren sich
daß Eltern ihren jugendlichen Kindern und deren Verfügung stellen und auf die Freundesgruppen ein¬ auf jüngere Kinder gut aufzupassen.
wechselseitig,
Freunden ihr Eigentum
wirken, z.B. 3.4
so
zur
Vergleichende Fallbetrachtung
Entwicklung oder Übernahme ethnozentrischer Orientierungen steht in den geschilderten Fällen in verschiedenen Kontexten. Die
Angesichts der durch Zurückweisung gekennzeichneten Erfahrungen, die Bernd aus seiner Kindheit berichtet, und seiner von Idealisierung gekennzeichneten Darstellung des Verhältnisses zu den Eltern, bietet sich zunächst die Displacement-These an, um die Affinität zum Ethnozentrismus verständlich zu machen. Negative Gefühle gegenüber den Eltern werden innerhalb dieser Bezie¬
hungen
nicht
zugelassen, sondern auf andere Sozialbeziehungen verschoben gegenüber Ausländern zum Ausdruck. Die unbefriedigen¬ den Beziehungserfahrungen in der Familie dürften hier außerdem dazu bei¬ tragen, daß Bernd nicht bereit oder nicht fähig ist, verläßliche Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzubauen. Insofern ist es unwahrscheinlich, daß seine ethno¬ zentrische Orientierung durch die unverbindlichen Gruppenkontakte geprägt ist, die er unterhält. Dagegen ist anzunehmen, daß er sich unter Gleichaltrigen genau solche Grappen ausgesucht hat, die seiner durch die Elternbeziehung geprägten Disposition entsprechen. und kommen z.B.
Im Falle Xavers ist weder das emotionale Familienklima durchgängig von unan¬ genehmen Erfahrungen gekennzeichnet, noch wird eine aggressive Haltung ZSE,
20.
Jg. 2000, H. 1
49
der Eltern gegen nicht zur Familie gehörende Personen deutlich, wie sie in den Erzählungen Bernds zum Ausdruck kommt. Allerdings sind die aktuellen Bezie¬
hungen
in der Familie in den
Augen
Xavers durch
heftige
Konflikte geprägt:
Sowohl im Verhältnis zwischen Xaver und den Eltern als auch im Verhältnis der Eltern zueinander.
Zusammengenommen dürfte Xavers Erfahrungshinter¬
grand dennoch zu einer, im Vergleich zu Bernd, emotional stabileren Basis bei¬ getragen haben, die auch nicht ohne Auswirkungen auf die Beziehungen zu Gleichaltrigen bleibt. Obwohl die Hinwendung Xavers zu rechtsradikalen Bezugsgruppen in erster Linie ein Ausdruck des Protests gegen die Wertvor¬ stellungen der Eltern zu sein scheint, hat seine gegenwärtige Clique emotio¬ nal größeres Gewicht, als z.B. bei Bernd. Die stabile und verläßliche
Beziehung zu den Eltern, von denen Norbert als Zuwendung erhalten hat, und die auch im Jugendalter fortbe¬ steht, hat offenbar dazu beigetragen, daß Norbert neben seinen Gruppenkon¬ takten auch verbindliche, individuell akzentuierte Freundschaften unterhält. Hier gibt es also verschiedene Sozialbeziehungen, die sich aufgrund ihrer Verbind¬ lichkeit als orientierungsleitend anbieten. Allerdings äußert sich Norbert weder über die politischen und sozialen Orientierungen in seiner Familie noch über die Einstellungen, die in Freundschafts- oder Cliquenbeziehungen dominieren. Bei genauer Betrachtung präsentiert Norbert jedoch diverse Elemente, die eine gewisse Affinität zu ethnozentrischen Differenzierungen aufweisen, auch wenn Kind liebevolle
sie sich inhaltlich denen sozialen die
von
diesen unterscheiden. So erzählt Norbert
aus
Bezügen von dichotomisierenden Unterscheidungen
Normalen, die sich
zu
benehmen wissen
-
und „die anderen"
-
verschie¬
in „uns"
-
die soziale
Konventionen nicht einhalten. In diesem Fall wird besonders
deutlich, daß es für die Analyse der Entwicklung ethnozentrischer Orientierungen nicht ausreicht, die politischen Einstellungen der jeweiligen Bezugspersonen zu berücksichti¬ gen, sondern daß auch die in relevanten Sozialbeziehungen gesammelten Erfah¬ rungen der Ab- und Ausgrenzung einbezogen werden müssen. 4.
Schlußbetrachtung
Die
vorliegende Darstellung hat gezeigt, daß verschiedene Sozialisationsbedin¬ gungen berücksichtigt werden müssen, um die Entwicklung ethnozentrischer Ori¬ entierungen im Jugendalter angemessen verstehen zu können. Dabei können hier die folgenden Aspekte unterschieden und aufeinander bezogen werden.
Emotionale Aspekte der Sozialisation: Konzentriert
man sich auf Befragte, die Orientierung aufweisen, dann fallt der hohe Anteil der¬ jenigen auf, deren frühe und aktuelle Sozialbeziehungen sich durch geringe Verläßlichkeit und Unverbindlichkeit auszeichnen. Daraus läßt sich ableiten, daß derartige Beziehungserfahrungen für die Entwicklung oder Übernahme ethnozentrischer Orientierungen offenbar von hoher Relevanz sind. Dabei hat sich gezeigt, daß es weniger die Vielfalt sozialer Bezüge bzw. die Beschrän¬ kung auf nur wenige Beziehungen ist, die Auswirkungen auf die Orientierun¬ gen der Jugendlichen hat, sondern daß es auf die Qualität dieser Beziehungen ankommt. So läßt sich z.B. feststellen, daß vor allem diejenigen auf die Viel¬ zahl ihrer sozialen Kontakte verweisen, denen es an verläßlichen Beziehungen fehlt (Rieker 1997,197 f). In vorliegenden Netzwerkanalysen z.B. zur Gewalt¬ bereitschaft bei Jugendlichen (vgl. Kühnel 1995) wird zwischen quantitati¬ ven und qualitativen Aspekten nicht deutlich genug unterschieden.
eine ethnozentrische
-
-
50
ZSE, 20. Jg. 2000, H.
1
Bezieht
man
sich nicht
rung, sondern auf die
nur
auf die
Befragten
mit ethnozentrischer Orientie¬
gesamte Untersuchungsgruppe, dann zeigen sich Ver¬
bindungen zwischen liebevoller Zuwendung durch die Eltern in der Kindheit und der Einbindung in individuelle Freundschafts- und Partnerschaftsbezie¬ hungen besonders eindrucksvoll: Alle Befragten, die zumindest von einem Elternteil viel liebevolle Zuwendung erfahren haben, unterhalten individuell akzentuierte Freundschafts- und/oder Partnerbeziehungen.8 Fehlen in den Berichten aus der Kindheit solche Hinweise auf liebevolle Zuwendung und domi¬ nieren demgegenüber eher Erfahrungen der Zurückweisung durch die Eltern, dann sind individuelle Beziehungen zu Gleichaltrigen seltener und werden eher als unverbindlich beschrieben. Dies spricht für einen Zusammenhang zwischen den Erfahrungen, die in frühen Sozialbeziehungen gemacht wurden, und der Qualität späterer Beziehungen wie es z.B. im Rahmen der Attachmentfor¬ schung postuliert wird (vgl. Hopf/Hopf 1997, 53 ff). -
Inhaltliche/kognitive Aspekte der Sozialisation: Diskutiert man die Frage der Transmission bestimmter Orientierungsmuster, z.B. die Weitergabe der elter¬ lichen Einstellung gegenüber Ausländern an die Kinder, reicht es nicht aus, sich auf Parteipräferenzen oder politisch-ideologische Einstellungen zu bezie¬ hen. Es erscheint hier notwendig, nach spezifischeren Vorbildern bzw. Model¬ len zu suchen. In Hinblick auf ethnozentrische Orientierungen können ent¬ sprechende Anregungen daher nicht nur in fremdenfeindlichen Äußerungen sondern auch in Verbindung mit bestimmten Verhaltensweisen der Eltern gese¬ hen werden, sofern hier Differenzierungen zwischen Eigen- und Fremdgrup¬ pen getroffen und umgesetzt werden, z.B. durch einseitige Interventionen in kindlichen Spielsituationen. Im Hinblick auf Gleichaltrigengruppen wurde deut¬ lich, daß ethnozentrische Prinzipien nicht nur dann transportiert werden kön¬ nen,
wenn
dann,
dabei fremdenfeindliche Inhalte kommuniziert werden, sondern auch
wenn
ein
Ausgrenzung
bildungs-
oder
schichtspezifischer Dünkel zur Abwertung und
anderer Personen führt.
Emotionale und
inhaltliche/kognitive Bedingungen:
Um die
Wirkungsweise
inhaltlicher bzw. kognitiver Vorbilder angemessen verstehen zu können, ist es darüber hinaus notwendig, das emotionale Verhältnis zu den für die Sozialisa¬ tion relevanten Personen schiedene •
zu
Wirkungsweisen
berücksichtigen.
Es lassen sich dann ganz
ver¬
erkennen.
Mangel gekennzeichnetes Verhältnis unangenehme Gefühle, die im Verhältnis
So kann ein seit früher Kindheit durch zu
den Eltern dazu
beitragen,
daß
den Eltern entstehen, auf Außenseiter verschoben werden, so wie dies im Rahmen der Displacement-These formuliert wurde. Im Fall Bernd ist dieser zu
Wirkungsmechanismus plausibel nachzuvollziehen. Ob und inwieweit Ein¬ stellungen und Verhaltensweisen der Eltern unter diesen Umständen prägenden Einfluß entwickeln, erscheint fraglich, kann hier aber nicht ausgeschlossen werden. 8 Es wäre auch
denkbar, daß gerade die Bereitschaft zum Aufbau und zur Pflege partnerschaftlicher Beziehungen mit steigendem Alter zunimmt, so daß wir es hier mit einem Alterseffekt und nicht mit den
Auswirkungen früher Bindungserfah¬ Befragten ohne partner¬ schaftliche Beziehung sind im Durchschnitt genauso alt wie diejeinigen, die solch eine Beziehung unterhalten. rungen
zu
tan haben. Dies ist
ZSE, 20. Jg. 2000, H.
1
jedoch
nicht der Fall: Die
51
•
Auch
problematische Erfahrungen in der Familie, die erst mit der späteren Jugendzeit assoziert sind d.h. Enttäuschung über Erfahrun¬ der Vernachlässigung die z.B. im Zusammenhang mit heftigen Streite¬
Kindheit oder gen
-
reien zwischen den Eltern stehen Wut bzw. Haß auf verschiedene
können sich in der Weise auswirken, daß Objekte gerichtet wird, seien es die Eltern -,
oder Außenseiter, die sich gegen eine Stigmatisierung nicht wirkungsvoll zur Wehr setzen können. Die Berichte Xavers können auf diese Weise gedeutet werden. Protest gegen die Wertvorstellungen der Eltern ist in diesen Fällen offenbar ein zusätzlicher Antrieb für die gewählten Orientierungsweisen. •
Darüber hinaus können sich aber auch emotional
befriedigende Beziehungen Orientierungen auswirken. Solch stabile Beziehungen bieten die Grundlage dafür, daß Einstellungen und Ver¬
zu
den Eltern fordernd auf ethnozentrische
haltensweisen der Eltern übernommen werden. Im hier beschriebenen Fall Nor¬ bert
zeigt sich,
wie die konventionellen Wertmaßstäbe der Eltern durch den
Sohn umgesetzt und
praktiziert werden. Vor diesem Hintergrund wirken For¬ schungsergebnisse plausibel, nach denen die Übereinstimmung zwischen Eltern und ihren jugendlichen Kindern in puncto Fremdenfeindlichkeit mit einem guten Verhältnis zwischen beiden Seiten einhergeht (Wellmer 1995, 39). Bezieht
man
diese
läßt sich ein Modell skizzieren, das Übernahme ethnozentrischer Orientierungen durch
Aspekte aufeinander,
bzw.
die
Akzeptanz Jugendliche als Ergebnis der Wechselwirkung bedingungen verständlich macht. Im Rahmen dieser
Konzeption wird
verschiedener Sozialisations¬
hier zunächst
am
emotionalen Verhältnis
den Eltern angesetzt. Ein aus der Sicht der Jugendlichen verbindliches Ver¬ hältnis zu den Eltern, das sich in den Erinnerungen an die Kindheit durch lie¬ zu
bevolle
Zuwendung auszeichnet, wirkt sich in zweifacher Hinsicht aus: Die Fähigkeit zur Etablierung verbindlicher, individuell akzentuierter Beziehun¬ gen zu Gleichaltrigen wird gefordert und es wächst die Bereitschaft, sich an den Wertvorstellungen der Eltern zu orientieren. Wenn die Beziehung zu den Eltern dagegen als unverbindlich erlebt wird und die Erinnerungen an die Kind¬ heit durch Erfahmngen der Vernachlässigung und Zurückweisung emotiona¬ ler Bedürfnisse gekennzeichnet ist, hat dies andere Folgen: Im Jugendalter wer¬ den vor allem unverbindliche, kaum individuell akzentuierte Beziehungen zu Abbildung
1: Modell
verschiedene
zur Entwicklung soziopolitischer Orientierungen Sozialisationserfahrungen des Jugendalters
durch
Qualität der Beziehungen zu Gleichaltrigen Wirkung inhaltlicher Vorstellun¬ gen und Vorgaben abhängig von der Beziehungsqualität
Qualität der
Beziehungen zu
Soziopolitische Orientierung
den Eltern
Wirkung inhaltlicher Vorstellun¬ gen und Vorgaben abhängig von der Beziehungsqualität 52
ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
Gleichaltrigen aufgebaut und man grenzt sich in seinen politischen bzw. sozia¬ len Vorstellungen stärker von den Eltern ab. Während für diejenigen, die ver¬ läßliche Beziehungen in der Familie und zu Gleichaltrigen unterhalten, davon auszugehen ist, daß ihre Wertvorstellungen durch diese Bezüge entscheidend geprägt werden, muß diese Frage für diejenigen, die unverbindliche Beziehungen unterhalten, hier zunächst offen bleiben. Obwohl diejenigen, die ethnozentri¬ sche Orientierungen vertreten, fast alle über Kontakte zu rechtsgerichteten peergroups verfügen, kann nicht ausgeschlossen werden, daß sich in diesen Grap¬ pen Jugendliche mit ähnlichen Erfahrungen in bisher wenig befriedigenden sozialen Beziehungen zusammenfinden, und sich dort gegenseitig stabilisie¬ ren. Bei diesen Jugendlichen wären dann vor allem emotionale Mangelerleb¬ nisse dafür verantwortlich, daß sie sich am Ethnozentrismus orientieren, also an solchen Vorstellungen, die durch Abgrenzung, Entwertung und Diffamie¬ rung anderer Menschen
gekennzeichnet
Durch die hier skizzierten
che/kognitive Aspekte
sind.
Überlegungen,
in denen emotionale und inhaltli¬
in
bezug auf unterschiedliche Sozialisationsinstanzen identifiziert und aufeinander bezogen werden konnten, läßt sich die Entwick¬ lung bzw. die Übernahme einer ethnozentrischen Orientierung im Jugendalter nachvollziehen. Die Befragten unserer Untersuchung lebten allerdings zumeist noch im elterlichen Haushalt; dadurch wird verständlich, daß die Bezie¬
hungen
zu
den Eltern hier intensiv
waren
und offenbar
gravierenden Einfuß
hatten, nicht zuletzt auf die Gestaltung der Beziehungen zu Gleichaltrigen. Nicht die Beziehung zu den Eltern dürfte sich für die befragten jungen Männer späteren Jahren verändern, sondern auch der Stellenwert anderer Sozialbe¬ ziehungen. Besonders interessant wäre es daher, lebensgeschichtlich spätere Erfahrungen in wichtigen sozialen Beziehungen einzubeziehen, z.B. dauer¬ haftere Partnerbeziehungen, Erfahrungen mit Elternschaft. Die in diesem Kon¬ text zentralen Fragen lauten: Verändert sich die Bedeutung und der prägende Einfluß früher Beziehungen durch solche späteren Erfahrungen? Wenn ja durch welche Erfahrangen werden Beziehungen modifiziert und wie wirkt sich das neue Beziehungsgefüge hinsichtlich der Akzeptanz ethnozentrischer Orien¬ tierungen aus? Um einer Antwort auf diese Fragen näher zu kommen, wäre es wichtig, den hier eingenommenen Blickwinkel durch eine längsschnittliche Betrachtungsweise zu ergänzen. nur
in
-
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mit einem
Beitrag
von
Paul B.
Hill)
Rieker, Deutsches Jugendinstitut, Regionale Arbeitsstelle Leipzig,
Stallbaumstr. 9, 04155 e-mail:
[email protected]
54
-
Leipzig
ZSE, 20. Jg. 2000, H.
1
Christiane
Papastefanou
ein ver¬ Auszug aus dem Elternhaus nachlässigter Gegenstand der Entwicklungs¬ psychologie Der
Young Adults Leaving lopmental Psychology
-
Home
-
A
Neglected Subject
in Deve¬
vorliegende Beitrag beleuchtet die räumliche Trennung von jungen Erwachse¬ aus entwicklungspsychologischer Perspektive. In einem Quer¬ schnitt wurden Familien, in denen bereits ein Kind selbständig lebte, mit Familien verglichen, in denen diese noch im Elternhaus wohnen. Ergänzend wurden letztere in einem Längsschnitt ein zweites Mal untersucht, nachdem sie ausgezogen waren. Ein breites Spektrum an Merkmalen des individuellen Erlebens sowie der ElternKind-Beziehung wurden abgedeckt. Die sehr aufwendige Methodik (Tiefeninterviews und Fragebogen) erlaubte es nur, eine Stichprobe von 56 Familien zu befragen. Im Einklang mit den Ergebnissen anderer Autoren kommen die meisten Eltern und Kin¬ der gut mit der Trennung zurecht. Die räumliche Ablösung stärkt das Gefühl der Kinder, sich abgelöst zu haben, wenngleich ein Teil von ihnen gar nicht auf eine endgültige Ablösung hinarbeitet. Sowohl Eltern ab auch Kinder bewerten den Aus¬ zug als einen wichtigen Lebensabschnitt, der ihnen einen Gewinn an persönlicher Freiheit und Eigenständigkeit beschert. Die Beziehung profitiert von dem „gesun¬ den Abstand", wenngleich sie in vielen Fällen schon vorher so positiv bewertet wur¬ de, daß der Entwicklungsspielraum nach oben ausgeschöpft schien. Zumindest hilft die räumliche Trennung, sich aus der Eltern-Kind-Struktur zu lösen und die Bezie¬ hung aufeiner gleichberechtigteren Ebene zuführen. Die Ergebnisse werden im Hin¬ blick auf den skizzierten Forschungsstand diskutiert. Der nen
und ihren Eltern
In this
study, young adults' leaving parental home is consideredfrom the view-point of developmental psychology. Two groups offamilies are compared cross-sectionally: one, in which already one child had left home, and another one, in which fami¬ lies still live with all their children. A longitudinal perspective was added by questioning again the later group after the child left home. A wide ränge of aspects mea¬ suring individual development andparent-child-relationships were included. 56fami¬ lies were studied by means ofexhaustive in-depth interviews and questionnaires which were applied to parents and their children. In line with the results reported by other authors, young adults and their parents cope with their spatial Separation rather easily. For some young adults, living on their own strengthens theirfeelings ofauto¬ nomy, while others do not strive for total emotional independence. Parents as well as their children experience thb life event as a beneficial devlopmentalphase, yielding bilateral gains in personal freedom. The parent-child-relationship is judged more positively after children 's leaving home. Very often, though already prior to moving out, it is regarded as so positively that there b not much room left to improval. Structurally, the parent-child-relationship changes in direction ofgreater mutuality after Separation. Results are discussed in the light of actual research findings. ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
55
1.
Problemstellung
Auszugsverhalten in seinem historischen Wandel bildet einen traditionel¬ Forschungsinhalt der Soziologie. Entwicklungspsychologen hingegen igno¬ rierten dieses Entwicklungsereignis fast völlig, kein einziges Lehrbuch nimmt dazu Stellung. Diese Vernachlässigung erstaunt insofern, als der Auszug für vie¬ le Jugendliche die erste einschneidende Lebensveränderung darstellt. Sie erschließen sich ein neues Umfeld, in welchem sie vielfältige Anforderungen ohne direkte Unterstützung ihres gewohnten sozialen Netzes bewältigen müs¬ sen. Nicht selten stellen sich daher Gefühle von Einsamkeit, Heimweh und Ver¬ unsicherung ein, und zumindest vorübergehend Übergangsprobleme, bis die Inte¬ gration erfolgt ist. Generell gilt zwar der Auszug als Symbol des Erwachsen¬ werdens, jedoch gleichsam losgelöst vom jugendlichen Individuationsprozeß. Das
len
Lebensspanne wurden in der Entwicklungspsychologie gewichtet als die Mitte, was umso erstaunlicher ist, als das Erwachsenenalter den längsten Abschnitt im Leben ausmacht. Ausgenommen
Anfang
und Ende der
bis heute stärker
sind im frühen Erwachsenenalter der Übergang
zur
Elternschaft und die beraf¬
liche Sozialisation, während das mittlere Erwachsenenalter uns häufig unter dem Stichwort "mid-life crisis" begegnet. In der Soziologie wird der Auszug als
von Spätjugendlichen als eingebettet in Bedingungen betrachtet. Die elterliche Perspek¬ tive wurde von einer Forschungsrichtung aufgegriffen, die als "empty nest"Forschung bekannt geworden ist. Aufder Beziehungsebene schließlich findet sich eine Reihe von Studien, in denen Veränderungen der Eltern-Kind-Bezie¬ hung im Zusammenhang mit dem Auszug untersucht werden. Schwerpunkte in der Forschung zur Eltern-Kind-Beziehung im Erwachsenenalter sind die emo¬ tionale Bindung und intergenerative Hilfsbeziehungen (s. Papastefanou, 1997).
biographisches Ereignis
im Leben
bestimmte sozial-strukturelle
Darüber hinaus scheint
Auszug die Familie
es
sinnvoll, die Familienebene einzubeziehen, da der
Veränderungen struktureller und dynami¬ gemeinsame Familienleben endet, die "post-launch relationship" folgt anderen Mustern. In der „geschrumpften" Familie bilden als Ganze mit
scher Art konfrontiert. Das
sich
neue
Konstellationen bzw. sind die Eltern im „leeren Nest" gezwungen, neu zu organisieren. Daher verfolgt die vorgestellte Studie
ihre Partnerschaft
eine familientheoretische
Perspektive, mit dem Ziel, das konkrete Zusam¬ menspiel zwischen kindlichen und elterlichen Ablösungsmustern abzubilden. Die zunehmende Tendenz junger Menschen
(zumindest in den alten Bundes¬ ländern), länger im Elternhaus zu verweilen, weckte in den 80er Jahren das Interesse (Wagner/Huinink 1991; Weick 1993). Als Risikofaktoren für einen verspäteten Auszugs kristallisierten sich u.a. ein höheres Bildungsmilieu, feh¬ lende Bindungsbereitschaft und männliches Geschlecht heraus. Psychologisch gesehen ist diese Tendenz im Kontext eines allgemein verlängerten Übergangs zum
Erwachsenenalter
zu
verstehen, wie
er
heute in den meisten westlichen
Industriegesellschaften zu beobachten ist. Lange Ausbildungszeiten und Hür¬ den beim Berafseinstieg erschweren Heranwachsenden den Weg in die Unab¬ hängigkeit. In der Folge ist eine Art Zwischenphase (Post-Adoleszenz) ent¬ standen. Schnaiberg und Goldenberg (1989) sprechen von "incompletely launched young adults", die weder ökonomisch auf eigenen Füssen stehen, noch eine eigne Wohnung unterhalten. Zumindest in den USA mehren sich kürzlich For56
ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
schungsaktivitäten hierzu, beispielsweise widmete die Zeitschrift "New direc¬ development" diesem Phänomen einen eigenen Band. Die Her¬ ausgeber pointieren einführend: "Leaving home and experiencing physical distance and emotional autonomy from parents are primary transitions for ado¬ lescents as they become independent adults. As yet, little is known about this process and the extent to which it influences overall adjustment and family rela¬ tions" (Graber/Dubas 1996, 1). Ähnliches gilt für das Phänomen des verspä¬ teten Ausziehens, das 1997 im "Journal of family issues" thematisiert wurde. Auch in Deutschland erfährt die besondere Situation von Spätausziehern kürz¬ lich mehr Aufmerksamkeit (Nave-Herz 1997; Zinnecker/Strozda/Georg 1997). tions for child
vorliegende Arbeit setzt bei diesem Forschungsdefizit an, unter besonde¬ Beachtung der Entwicklungsperspektive. Die räumliche Trennung wird im Erleben von jungen Erwachsenen und ihren Eltern sowie in ihrer Bedeutung für die Eltern-Kind-Beziehung näher beleuchtet. Wenngleich es sich um einen exploratorischen Ansatz handelt, orientieren wir uns an familienentheoretischen und entwicklungspsychologischen Konzepten. Die
rer
2.
Forschungsstand
2.1
Hintergründe
aus
psychologischer Perspektive
des Auszugs
aus
der Sicht junger Erwachsener
In der
soziologischen Forschung wird das Auszugsalter junger Menschen mit soziodemographischen Variablen, allen voran Geschlecht, Bildung und Fertilitätsverhalten, in Beziehung gesetzt. Erst seit kurzem werden auch psychologische Variablen einbezogen, so wie beispielsweise die Rolle von Kosten-Nutzen-Erwartungen bei der Auszugsmotivation (Weick 1993). Solan¬ ge die Vorteile der vertrauten Familienumwelt (Versorgung, Ansprache) gegenüber den Unsicherheiten und Anforderungen des Alleinlebens überwie¬ gen, fällt die Entscheidung zugunsten des Elternhauses aus. Der „Netto-Gewinn" wird als zu gering eingeschätzt, vor allem in Mittelschichtfamilien (Schnaiberg/Goldenberg 1989). Da Eltern ihren Kindern ein hohes Maß an Autono¬ mie gewähren, ist eine neue Form "des teil-selbständigen Zusammenlebens" (Fend 1998) möglich. Nach Shehan und Dwyer (1989) sehen junge Erwach¬ sene die elterlichen Versorgungsleistungen als ihr gutes Recht an. Die Haupt¬ zahlreichen
gründe für den Verbleib unteren
im Elternhaus sind finanzieller
Einkommensgruppen ermöglicht
Natur, in Familien der
dies den Kindern oft erst
kostspieli¬
ge Ausbildungen (Shehan/Dwyer 1989). Der Gesamteindrack zur motivatio¬ nalen Lage ist, daß heutzutage das Autonomiestreben an Bedeutung gewinnt,
während
Bindungsabsichten
zunehmend in den
Hintergrund
treten
(Gier-
veld/Liefbroer/Beeknik 1991; Young 1987). Unter der
Entwicklungsperspektive aufschlußreich
ist die
Bedeutung von
sog.
Vorläufer-Aktivitäten der wohnungsmäßigen Ablösung. Junge Erwachsene, die lange bei ihren Eltern wohnen, weisen "adoleszente Verspätungen" auf, und
besonders im Kontakt zum anderen Geschlecht (Zinnecker et al. 1997). Dies verdeutlicht, daß die Ablösung an der Schwelle zum Erwachsenwerden nicht unabhängig von der jugendlichen Individuation gesehen werden kann. zwar
Einen anderen
Schwerpunkt
zepts. Die Ablösung ZSE, 20. Jg. 2000, H.
1
von
Analysen des Ablösungskon¬ typische Entwicklungsaufgabe des
bilden inhaltliche
den Eltern
-
als
57
fordert
herangewachsenen Kindern, ihre Abhängigkeit wenn ihnen dies gelungen ist, können jun¬ intime der Familie eingehen. Bei der Ablö¬ außerhalb Erwachsene Bindungen ge sung handelt es sich um ein vielschichtiges Geschehen, ähnlich wie die jugend¬ liche Autonmiewerdung, die sich auf verschiedenen Ebenen (emotional, mora¬ lisch, verhaltensmäßig) vollzieht. Ablösung im frühen Erwachsenenalter bein¬ haltet verschiedene Facetten: rechtliche, haushalts-/wohnungsmäßige, ökono¬ misch-finanzielle, soziale und affektive Ablösung (Vascovics 1997). In einer empirischen Analyse identifizierte Moore (1987) anhand der Äußerungen Spät¬ jugendlicher folgende Komponenten, nach der Wichtigkeit geordnet: "selfgovernance", "graduation", "starting a family", "financial independence", "disengagement", "school affiliation", "separate residence", "emotional detachment". Es fällt auf, daß räumliche und emotionale Ablösung von den Eltern einen unteren Rangplatz belegen. Im Zusammenhang mit unserer Fra¬ gestellung ist interessant, daß die Selbstbestimmung mit Verhaltensindikato¬ ren der Ablösung korrelierte, was die Autoren dahingehend interpretieren, daß die räumliche Distanz das Gefühl der Selbstbestimmung stärke. Jugendalters von
-
den Eltern
2.2 Studien
zu
zum
von
den
überwinden. Erst
elterlichen
Auszugserleben
Auf Seiten der Eltern hat sich die es
"empty nesf'-Forschung etabliert, deren Fokus ist, wie Eltern den Auszug ihres letzten Kindes verarbeiten. Dieser For¬
schungszweig wurzelt im Krisenparadigma, wurde aber später von Lebens¬ laufforschern weiterverfolgt. Dem Erleben von Frauen wurde dabei mehr Beach¬ tung geschenkt, da ihre ausgeprägte Familienorientierung eher Verlustreaktio¬ nen erwarten ließ. Vor tiefenpsychologischem Hintergrund galt der Verlust der Muttenolle als Auslöser eines universellen "empty nest-Syndroms", das sich in Form der klassische Depressionssymptomatik manifestiert (Fahrenberg 1986; Roberts/Lewis 1981). heutigen Forschungsstand aus gesehen sind diese frühen Ergebnisse auf¬ grand ihrer methodischen Unzulänglichkeiten sehr zu relativieren und können nur für eine kleine Risikogruppe Gültigkeit beanspruchen. Neuere Studien ver¬ mitteln überwiegend ein positives Bild, und zwar für beide Eltern gleichermaßen: die meisten bewältigen die räumliche Trennung von ihren Kindern problem¬ los und kosten, von der elterlichen Verantwortung entlastet, die neuen Freiräu¬ me aus. Nicht untypisch sind gemischte Gefühle: einerseits wird als schmerz¬ lich empfunden, daß der alltägliche Kontakt mit den Kindern wegfällt; ande¬ rerseits wird klar gesehen, daß die individuelle und partnerschaftliche Ent¬ wicklung profitieren. Als spezifisch für die Väter identifizierten Lewis, Freneau und Roberts (1979) als weitere Gefühlsqualität "neutral", die auf eine gewisse Indifferenz, aber auch auf ein Unvermögen, sich persönlich mitzutei¬ len, hinweisen kann. Statt des an sich schon subtil bewertenden Begriffs "lee¬ res Nest" ist heute der neutralere Begriff "post-parentale Phase" üblicher. Vom
In jedem Fall
hängt das elterliche Auszugserleben von vielfältigen Einflußgrößen
ab, die nur teilweise bekannt sind. Übereinstimmend wird das Ausmaß an "role-
involvement" als Einflußgröße herausgestellt, weil eine Fixierung auf die Eltern¬
rolle die Verarbeitung dieses Übergangs beeinträchtigt. Vertreter der "role stress"Theorie erachten das Ausmaß
größe
ist, wird vorhergesagt, daß 58
Rollenbelastung als entscheidende Einflu߬ generell als belastend einzuschätzen der Auszug die elterliche Lebenszufriedenheit veran
auf das Erleben. Da die Elternrolle
ZSE, 20. Jg. 2000, H.
1
(White/Edwards 1990). Bedeutsam sind ferner Persönlichkeitsmerk¬ male, die Lebensumstände, aber auch Beziehungsvariablen (Fahrenberg 1986; Papastefanou, 1997).
bessert
Heutzutage, wo der Auszug der erwachsenen Kinder oft auf sich warten läßt (s. o.), dauert es länger, bis Eltern ihrer Pflichten enthoben sind und zum Zwei¬
personen-Haushalt
zurückkehren. Vor allem Mittelschicht-Eltern
können
kaum damit rechnen, daß ihre Kinder mit Erreichen der Volljährigkeit unab¬ hängig sind und das Feld räumen. Selbst wenn diese allein leben, finden die
Hilfeleistungen oft noch lange kein Ende (s.u.). Mit ihrem libera¬ Erziehungsverhalten tragen sie allerdings selbst zu dieser Entwicklung bei. Darüber, wie es Eltern im "vollen Nest" ergeht, gibt es bisher nur Einzelbe¬ funde, die einerseits in Richtung Belastung (Clemens/Axelson 1985), ande¬ rerseits in Richtung Akzeptanz der Situation und Zufriedenheit weisen (Aquilino/Supple 1991). elterlichen len
2.3 Studien über Arbeiten über die
Familienbeziehungen
Eltern-Kind-Beziehung
im
Ablösungsprozeß
im Erwachsenenalter sind bis heu¬
te dünn gesät, wovon nur die emotionale Beziehungsqualität ausgenommen ist.
Insgesamt wird diesbezüglich ein positives Bild gezeichnet: erwachsene
Kin¬
stehen in engem Kontakt und fühlen sich einander emotional verbunden (z.B. Fooken 1985; Troll 1989). Ein Teil
der und Eltern
-
insbesondere Mütter
-
der Forschung rekurriert auf die Attachment-Theorie. In diesem Rahmen inter¬
pretiert Kenny (1987) die räumliche Trennung von den Eltern als Beispiel eines "Strange-situation-Test" nach Ainsworth. In Kennys Studie zeigte sich, daß der Wechsel in die neue Umgebung (hier: College) in Abhängigkeit von der Bin¬ dungsqualität an die Eltern unterschiedlich gut bewältigt wird. Sicher gebun¬ dene Spätjugendliche fühlen sich in dieser Situation herausgefordert, neue Erfah¬ rangen zu sammeln, während bei unsicher gebundenen das Belastungsmoment überwiegt. Entgegen den Vorhersagen der Bindungstheorie, daß angstauslö¬ sende Situationen das Bildungsbedürfnis von Kindern intensivieren, kamen Berman und Sperling (1991) bei einer Gruppe von Studenten zu dem Ergeb¬ nis, daß sich das Bindungsbedürfnis im Verlauf des Studienbeginns nicht ver¬ änderte bzw. bei einigen sogar abnahm. Die
folgenden Studien
gen, meist
aus
behandeln
trennungsbedingte Beziehungsveränderun¬
der Sicht der Jugendlichen,
nur
vereinzelt werden auch die Eltern
einbezogen. Amerikanische Studien konzentrieren sich auf Collegeanfänger, wobei typischerweise Studenten, die ein College in einer anderen Stadt besu¬ chen ("commuter") mit jenen verglichen werden, die ein College am Heimat¬ ort besuchen ("boarder" oder "residentials"). Viel zitiert wurde die Längs¬ schnittstudie von Sullivan und Sullivan (1980), deren Hauptergebnis lautet, daß "commuter" im Vergleich zu "boarders" die Beziehung zu ihren Eltern durch¬ gängig günstiger beurteilten und sich selbst als unabhängiger wahrnahmen. Die¬ se Veränderungen werden auf die räumliche Trennung zurückgeführt, da die beiden Gruppen sich im Pretest der Beziehungsqualität nicht unterschieden. Die Befunde der breiter angelegten Studie von Flanagan und Mitarbeitern (1993) weisen in die gleiche Richtung: "commuter" erleben sich als unabhängiger und sind mit der Beziehung zu ihren Eltern zufriedener, wohingegen "residentials" ihre Eltern als restriktiver, feindseliger und zurückweisender beschreiben. ZSE, 20. Jg. 2000,
H. 1
59
Schließlich bestätigt auch eine aktuelle Replikationsstudie (Holmbeck/Durbin/Kung 1995) diesen Gesamteindruck: "Commuter" fühlten sich ihren Müt¬ tern näher, wiesen höhere Autonomiewerte und ein besseres Selbstwertgefuhl auf, die Beziehung zu den Eltern wird als weniger konflikthaft charakterisiert. Die Autoren geben jedoch zu bedenken, daß es sich hierbei nur um einen kurz¬ fristigen "honeymoon effect" handeln könnte, bedingt durch die neu gewon¬ nene Freiheit. Da die Nacherhebung relativ kurz nach dem Auszug (6 Mona¬ te) erfolgte, lassen sich keine langfristigen Prognosen ableiten. Einen weiteren Schwerpunkt bilden die intergenerativen Hilfsbeziehungen. Bengtson und Kuipers (1971) stellten die Hypothese auf, daß die gegensätz¬ lichen Bedürfnislagen von Kindern und Eltern in dieser Familienphase zu einem Ungleichgewicht führen. Die Eltern wollen die Beziehung aufrechterhalten, während die Kinder im Zuge der Ablösung zunehmend auf Distanz gehen. Nach dem "Prinzip des geringsten Interesses" (Waller 1937) haben die erwachsenen Kinder Macht über das Beziehungsgeschehen, weil sie weniger an der Beziehung interessiert sind. Tatsächlich ist der Austausch von Ressourcen unausgewogen, man spricht vom "einseitigen Investitionsfluß" (Fooken, 1985). Die Eltern erbringen zahlreiche Unterstützungsleistungen, sowohl in materieller (regelmäßige oder gelegentliche finanzielle Zuwendungen) als auch immaterieller (arbeitsmäßig und psycho-sozial) Hinsicht (Vascovics 1997). Der Autor gibt aber zu bedenken, daß die kindlichen Gegenleistungen unter¬ schätzt würden. Der jeweilige Einsatz erfolgt selektiv, in Abhängigkeit von der Bedürftigkeit des Gegenübers. Auch im Zusammenleben tragen die erwachsenen Kinder gerade soviel bei, wie sie durch ihre Anwesenheit an Kosten und Arbeit verursachen (Spitze/Ward 1995). Als charakteristisch gilt schließlich eine bereits in der Adoleszenz beginnende Entwicklung in Rich¬
tung höherer Partnerschaftlichkeit. Wie diese konket aussieht, wird aber kaum erläutert.
Über die dyadische Analyseebene hinaus, d.h. auf der Ebene der Gesamtfa¬ milie, gibt es kaum Untersuchungen. Bis heute orientieren sich nur wenige Stu¬ dien explizit an familientheoretischen Konzepten (z.B. Familien als sich ent¬ wickelnde Systeme). Gerade in der Ablösungsphase wäre es vielversprechend, die zu
wechselseitige Beeinflussung zwischen den einzelnen Familienmitgliedern erfassen. Das "Entlassen der Kinder
aus
dem Familienverband" ist eine der
zentralen Familienentwicklungsaufgaben in der "launching phase"
(Duvall/ Mil¬ Komplexität des Forschungsgegenstandes behindert jedoch die empirische Umsetzung. Konkrete Beziehungsdynamiken lassen sich nur über direkte Beobachtung familialer Interaktion angemessen abbilden, wie dies etwa Kreppner (1998) realisiert hat.
ler
1985).
Die
vorliegenen Studie wurde versucht, die räumliche Trennung von Eltern möglichst vielen verschiedenen Aspekten zu beleuchten. Dabei wurden sowohl individuelle als auch Beziehungsveränderangen, sowie der Wandel im Familienleben abgebildet. Die Variablenauswahl orientierte sich an Merkmalen, die von der Forschung vorgegeben waren. Da damit jedoch nicht das ganze Spektrum relevanter Variablen abgedeckt werden konnte, wurden darüber hinaus zusätzliche Aspekte berücksichtigt, die bisher nicht themati¬ siert wurden. Für die Ersterhebung sind diese in einer umfangreichen Veröf¬ fentlichung zusammengefasst (Papastefanou, 1997). Dieser Beitrag konzenIn der
und Kindern unter
60
ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
aus dem Datenpool, wobei erstmalig längs¬ Ergebnisse berichtet werden. Die skizzierten theoretischen und empirischen Beiträge legen zwei Schwerpunkte nahe: 1) wie erleben Eltern und Kinder ihre räumliche Trennung und was bedeutet diese für ihre indivi¬ duelle Entwicklung? 2) welche Rolle spielt der Auszug für die emotionale und strukturelle Qualität ihrer Beziehung?
friert sich auf einen Ausschnitt
schnittliche
3. Methode
Forschungsprojekt "Familien in der Ablösephase" wird am Lehrstuhl Erzie¬ hungswissenschaften II der Universität Mannheim von der Autorin und Stu¬ dierenden durchgeführt. Im Kern handelt es sich um einen Querschnittvergleich von Familien mit zuhauselebenden Kindern und Familien, in denen bereits ein Kind ausgezogen war. Die Stichprobe wurde nach den Quoten "Wohnsituati¬ on" und "Geschlecht" der jungen Erwachsenen gezogen, wobei das Schnee¬ ball-Prinzip zur Anwendung kam. Angesichts des enormen Aufwandes der Datenerhebung musste die Zahl der teilnehmenden Familien gering gehalten werden (s. Tab. 1). Von 56 Familien wurden nach Möglichkeit jeweils beide Eltern und die Kinder befragt. Alle Familien waren zum ersten Mal mit einem Auszug eines Kindes konfrontiert, wobei 40 Familien ein weiteres Kind hat¬ ten ("pre-empty nest"), während in 16 Einzelkind-Familien der erste gleich¬ zeitig der letzte Auszug war ("empty nest"). Voraussetzung war, daß der Aus¬ zug ca. zwei Jahre zurückliegen sollte. Dieser Zeitraum erschien angemessen dafür, daß sich die Familienbeziehungen neu etablieren konnten. Nach Abschluß der Hauptuntersuchung wurden sukzessive Nachbefragungen mit den¬ jenigen Familien durchgeführt, deren anfänglich im Elternhaus lebendes Kind inzwischen ausgezogen war. Auf diese Weise wurde der Querschnittvergleich um den längsschnittlichen Aspekt ergänzt, um dem Prozeßcharakter der Ablö¬ sung besser gerecht zu werden. Die follow-up-Erhebung konnte erst kürzlich abgeschlossen werden. Das
Tab. 1.
Stichprobe (Anzahl
der teilnehmenden
Familien)
Hauptuntersuchung (1990) allein lebend
im Elternhaus lebend
N=29
N=27
follow-up (1992-1998) allein lebend N=22
Es handelte sich
überwiegend um Mittelschichtfamilien aus dem Rhein-NeckarKreis, deren Bildungs- und Einkommensniveau überdurchschnittlich hoch ist. Auch die Wohnsituation der Familien stellt sich als sehr gut dar. Die bereits allein lebenden Studentinnen wohnten überwiegend in einer eigenen Wohnung oder in verschiedenen Formen semi-autonomen Wohnens. Die Mütter waren durchschnittlich 48 Jahre, die Väter 51 Jahre und die Kinder 22 Jahre alt. Die Ehen der Eltern sind als sehr stabil zu bezeichnen (durchschnittliche Dauer 24
Jahre). dest
Bei der
jungen Erwachsenen, alles Studierende, Zeitpunkt der Ersterhebung.
noch
ledig, zumin¬
nicht auf vorhandene Instrumente
zurückgegrif¬
Die
zum
Fragestellung konnte
fen werden,
so
daß wir
ZSE, 20. Jg. 2000, H.
1
uns
für eine mündliche
waren
Befragung
entschieden. Die 61
Hauptdatenbasis bilden 162 Tiefeninterviews (1-2 Stunden) mit den einzelnen Familienmitgliedern im Querschnitt, sowie 56 Interviews im follow-up. Die transskribierten Interviews wurden nach einem eigens entwickelten Katego¬ riensystem ausgewertet, das sich, so weit vorhanden, an den Variablen anderer Autoren anlehnt. Die Reliabilitäten der Kategorien liegen im üblichen Rah¬ men (Kappas zwischen .71 und .78). Inhaltlich wurden neben dem
Hintergrund und dem Erleben des Auszugser¬ erfragt: Familienleben, Eltern-Kind-Beziehung, eignisses eheliche Beziehung der Eltern und die persönliche Situation der einzelnen Fami¬ lienmitglieder. Weiterhin bearbeiteten alle Familienmitglieder eine Reihe von Fragebögen zu individuellen Merkmalen und Beziehungsaspekten (s. Papa¬ stefanou 1997), von denen hier nur zwei berücksichtigt werden: der "Family Assessment Measure" (FAM, Kreppner/Silverberg 1992) und eine für das frühe Erwachsenenalter adaptierte Fassung des "Fragebogens für Entwicklungsauf¬ gaben im Jugendalter" (Dreher/Dreher 1984). Um den exploratorischen Cha¬ rakter der Studie zu unterstreichen, konzentrieren wir uns nachfolgend auf qua¬ litative Auswertungen (z.B. chi 2). vier Themenkomplexe
Auf der indviduellen Ebene werden drei
Schwerpunkte gewählt: das indivi¬ Kindern, die Bedeutung des Auszugs im Lebenslauf sowie das subjektive Gefühl der Ablösung bei den jungen Erwach¬ senen. Auf der Beziehungsebene werden drei Akzente gesetzt: die emotiona¬ le Qualität, die Beziehungsstruktur und die „Familienstärken" (FAM). duelle
4.
Auszugserleben
von
Eltern und
Ergebnisse
4.1 Der Auszug im Erleben
von
Eltern und Kindern
Die meisten
Familienmitglieder äußerten sich im Interview dahingehend, daß Trennung nicht schwer gefallen sei (s. Tab. 2). Als posi¬ tiv wird die Entspannung bewertet, die der räumliche Abstand mit sich bringt. Dadurch erübrigen sich die alltäglichen Reibereien, die das Zusammenleben belasteten. Konfrontiert mit den anfallenden Alltagsroutinen des Alleinlebens, können die jungen Erwachsenen ihre Eltern teilweise besser verstehen. Für sie steht der Autonomiegewinn im Vordergrund, d.h. nicht mehr Rücksicht neh¬ men zu müssen. Auch die Eltern ihrerseits begrüßen es sehr, ihr Leben freier gestalten zu können und Ruhe im Haus zu haben. Eine Mutter meint bei¬ spielsweise, der Auszug ihres Sohnes sei "wie 'ne Erlösung". Daneben spricht ein gewisser Prozentsatz Trennungsschwierigkeiten an (s. Tab. 2), wie fol¬ gende Äußerung einer Mutter veranschaulicht: "Es ist nicht leicht gefallen, ihn ziehen zu lassen, das ist ganz klar. Da war Wehmut im Spiel. Ich bin mit der Trennung immer noch nicht fertig geworden, ich hätte ihn gern da". In diesem Fall lag der Auszug zum Zeitpunkt der Befragung bereits zwei Jahre zurück. Vereinzelt wurden Leere und Einsamkeit beklagt ("Man vermißt, daß kein Leben mehr in der Bude ist"). Auch einige erwachsene Töchter vermis¬ sen das Gespräch mit den Eltern. Hinter "gemischten Gefühlen" verbergen sich Ängste und Unsicherheiten auf der einen, Freude und Entspannung auf der anderen Seite. Typisch ist folgende Bemerkung: "Einerseits klasse, ande¬ rerseits ich war behütet, wollte das auch bleiben, ich hatte Probleme, erwach¬ ihnen die räumliche
sen zu
62
werden". ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
Tab. 2.
Auszugserleben
der einzelnen
Familienmitglieder
Kinder
Mütter
Väter
Positiv
75,0
60,0
71,8
Negativ
4,2
24,0
12,8
Gemischt
20,8
16,0
15,4
Auszugserleben
Tendenziell zeichneten sich beim
Auszugserleben geschlechtsspezifische
Unterschiede ab: Söhne lösen sich leichter vom Elternhaus, und auch den Eltern fällt der Abschied
von
ihnen leichter.
Von besonderem Interesse
ist, welchen Stellenwert der Auszug im Gesamtprozeß
der Ablösung einnimmt. Neben einer inhaltlichen
griffs",
die
an
anderer Stelle beschrieben wird
Analyse des "Ablösungsbe¬ (Papastefanou, 1997), fragten
wir im Interview die allein lebenden
jungen Erwachsenen, ob bzw. wann sie gehabt hätten, "abgelöst zu sein". Verneinungen (47,8%) und Bejahungen (52,2%) dieser Frage waren fast gleich verteilt, wobei männliche Jugendliche sich etwas häufiger (60,9%) als "abgelöst" bezeichneten als ihre weiblichen Peers (43,5%). Etwa ein Viertel (24,4%) der jungen Erwachsenen stellte eine zeitliche Verbindung zwischen diesem Gefühl und ihrem Auszug her. Dagegen schätzte sich ein anderer Teil (28,9%) schon vor dem Auszug als "abgelöst" ein („Innerlich war ich schon vorher ausgezogen"). Ein erheblicher Prozentsatz der erwachsenen Kinder (46,7%) bezeichnete sich jedoch trotz Alleinlebens nicht als "abgelöst", z.B. sagt ein Sohn dazu: "Ablösung ist nicht irgendwas, was man irgendwie erreicht, ist immer mehr oder weniger aktuell". Ergänzend seien hier Ergebnisse des "Fragebogens für Entwicklungsaufgaben" erwähnt. Die Aufgabe "sich von den Eltern lösen" wurde vor dem Auszug als wichtiger eingeschätzt, scheint also mit dem Alleinleben in den Hintergrund zu treten. Umgekehrt verhält es sich beim Bewältigungsgrad. Dieser wird nach dem Auszug als höher eingeschätzt, d.h. das Alleinleben verstärkt das Gefühl, diese Aufgabe erfüllt zu haben. Die entsprechenden Unterschiede sind sowohl im Querschnitt (Wichtigkeit: p=0.041, Bewältigung: p=0.024) als auch im Längsschnitt (Wichtigkeit: p=0.03, Bewältigung: p=0.000) signifikant (s. Tab. 3). Da diese Daten nicht alterskorreliert sind, können die Effekte auf den Aus¬ zug zurückgeführt werden. das Gefühl
Tab. 3.
Entwicklungsaufgabe
"sich
von
den Eltern ablösen"
Querschnitt
Längsschnitt
Aufgabe "Ablösung"
vor
Wichtigkeit
3,04
2,54
3,05
2,45
Bewältigung
2,93
3,68
2,86
4,55
Auszug
nach
Auszug
vor
Auszug
nach
Auszug
Die Diskrepanz zwischen Fragebogen- und Interviewdaten könnte daher rühren, daß sich die jungen Erwachsenen im Interview differenzierter äußern können. Was sie meinen, bezieht sich speziell auf den Aspekt der emotionalen Ablösung, während die Frage im Fragebogen allgemein gehalten ist. ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
63
Frage, was der Auszug ihnen für ihre persönliche Entwicklung gebracht hätte, benannten die jungen Erwachsenen überwiegend (87%) posi¬ tive Auswirkungen, wobei die höhere Selbständigkeit an erster Stelle steht. Bei¬ spielsweise freut sich ein Sohn: "Ich hätte mich wohl nie so entwickelt, wenn ich hier geblieben wäre. Es war der absolut richtige Schritt". Eine Tochter beton¬ te, daß der Auszug einen neuen Lebensabschnitt einleite: "Irgendwo ist die Kind¬ Auf die
heit dann echt
zu
Ende. Man fühlt sich
so
erwachsen. Wenn ich
zu
Hause
bin,
Negative Folgen fallen praktisch nicht ins Gewicht. im Vergleich zu Eine kleine Gruppe schließlich (10,9%) mißt dem Auszug keine anderen Lebensereignissen (z.B. Studien- oder Berufsbeginn, Heirat) Bedeutung für ihre Entwicklung bei. Auch die Eltern haben den Eindruck, daß ihre Kinder nach dem Auszug Fortschritte machen. Wenn die Kinder mit ihrem Alltag zurechtkommen, werten sie dies als Zeichen dafür, daß ihre Erziehung erfolgreich war. bin ich wieder mehr Kind".
-
-
Die Eltern wurden ihrerseits danach sie
persönlich
bedeute. Viele
von
gefragt, was der Auszug der Kinder für (jeweils 40% der Mütter und Väter)
ihnen
positiven Abschnitt in ihrem Leben. Sie fühlen sich Verantwortung entlastet, was ihnen ein Gefühl der Befriedigung ver¬
erachten diesen als einen von
der
schafft. Außerdem eröffnen sich
vor
allem für die Mütter
neue
Möglichkeiten,
sich in extrafamilialen Bereichen stärker zu verwirklichen. Als einen Abschnitt im negativen Sinne bezeichnet ein knappes Viertel
(22,2%) der Mütter den Aus¬
zug der Kinder, weil er sie an das Älterwerden erinnere. Während die Frauen in der ersten Grappe froh sind, wieder mehr an sich denken zu können, bedau¬
diese Gruppe es, „als Mutter nicht mehr gebraucht zu werden". Ins Auge fallt, daß sehr viel mehr Väter (45,9%) als Mütter (20,0%) dem Auszug keine Bedeutung in ihrem Leben beimessen, als Ereignis, das sie nicht weiter tan¬ gieren würde. Von den Müttern dieser Gruppe, die mehrere Kinder haben, wird argumentiert, daß erst der Auszug des letzten Kindes einschneidend für sie wäre. ert
Die restlichen Eltern sehen sowohl positive als auch lichen
negative
Seiten der räum¬
Trennung.
4.2. Die
Eltern-Kind-Beziehung
in der
Trennungsphase
Die emotionale
Beziehungsqualität wurde nach dem Auszug überwiegend als eingeschätzt (s. Tab. 4). Den zweitgrössten Anteil machen diejeni¬ gen aus, die die Beziehung als unverändert wahrnehmen, was in der Regel heißt: die Beziehung war vorher gut und bleibt es auch.
verbessert
Tab. 4.
Veränderungen
der emotionalen
Beziehung nach
dem
Auszug
Kind-Mutter
Kind- Vater
Mutter-Kind
Vater-Kind
besser
52,2
67,4
36,7
59,0
schlechter
6,5
4,3
2,0
5,1
teils/teils
2,2
2,2
9,6
unverändert
39,1
26,1
55,1
Emotionale
Beziehung
-
35,9
Beziehungsaspekt ergaben sich geschlechtsspezifische Unterschiede: Beziehung zum Vater eher als verbessert, während die meisten von ihnen in der Beziehung zu den Müttern keine Veränderung regi¬ strierten. Töchter berichteten insgesamt häufiger eine Verbesserung der BezieBei diesem
die Kinder sahen die
64
ZSE, 20. Jg. 2000, H.
1
hung als Söhne. Umgekehrt äußerten sich auch die Väter zu einem höheren Anteil dahingehend, daß die Beziehung zu ihren Kindern von der räumlichen Trennung profitiert habe. Ganz wesentlich
trägt die Entspannung, die mit dem Wegfall der alltäglichen zu der Verbesserung bei. Dies scheint stärker die Mutter-KindBeziehung zu betreffen, sowohl aus der Sicht der jungen Erwachsenen (z.B.: "Wenn ich's mit meiner Mutter sehe, da gab's eben vorher diese Schwierig¬ keiten. Die sind geringer geworden. Also diese dauernde Reiberei, die 's in der letzten Zeit des Zusammenlebens noch gab. Die sind durch die räumliche Tren¬ nung nicht mehr so arg") als auch ihrer Mütter (z.B.: "Es ist einfach viel unbe¬ schwerter. Wie er da war, hatte man immer den Druck, wegen irgendetwas zu schimpfen. Das ist ja alles weg. Rein positiv"). Mütter und Kinder sind ein¬ fach im Alltag generell stärker involviert. Konflikte eintritt,
Nach dem Auszug besteht normalerweise reger Kontakt, wenngleich einige Müt¬ ter zugeben, es wäre ihnen zu wenig (Papastefanou, 1997). Die gemeinsame Zeit bei einem Besuch wird teilweise intensiver genutzt als vor dem Auszug. Beispielsweise schilderte ein Sohn: "Es kann sich so 'ne Freude aufbauen, die Eltern mal wieder war
das
zu
sehen. Wenn
alltäglich, Tage Zeit nimmt".
man
während das jetzt
ein oder zwei
vorher die ganze Zeit zusammen war, Besonderes ist, wo man sich auch für
was
Viele Kinder
schlüpfen
im Elternhaus wieder
in die Kindrolle und lassen sich gern verwöhnen. Einige Eltern stellen sich auf den Besuch ihrer Kinder ein und übernehmen Versorgungsaufgaben, andere
wehren sich von
ihm
dagegen, sich einspannen").
einschränken
Strukturell verändert sich die
zu
Beziehung
gung und Partnerschaftlichkeit ("Ja, res Verhältnis. Es ist nicht mehr so'
es
in
lassen
("Ich lasse mich nicht mehr
Richtung höherer Gleichberechti¬
ist halt mehr so'
n
freundschaftliche¬
Abhängigkeitsverhältnis, wie' s früher war"). Allerdings distanzieren sich einige klar davon, sich gegenseitig als "Freun¬ de" zu bezeichnen ("Manche Mütter streben ja mit ihren Töchtern sagenhafte Freundschaften an. Das wollte ich eigentlich nie"). Diese Gruppe verspürte gar n
nicht den Wunsch, die Eltern-Kind-Struktur aufzulösen, zumal die Eltern für sie auch im Erwachsenenalter eine wichtige Rückhaltftinktion haben, z.B. sag¬ te ein Sohn hierzu: "Aber
irgendwo beruhigend zu wissen, selbst schiefgehen würde, daß dann trotzdem noch jemand da war', der einem im Zweifel aus dem Sumpf ziehen würde. Ich hab' nicht vor, das zu testen oder zu beanspruchen, aber es ist latent so im Hinter¬ grund". Auf beiden Seiten werden immer wieder Schwierigkeiten zum Aus¬ druck gebracht, die gewohnten Eltern-Kind-Muster ganz abzulegen ("So als gleichberechtigter Erwachsener wird man wahrscheinlich nie behandelt. Sie machen sich Sorgen bei bestimmten Dingen und denken auch, daß sie dann wenn
es
ist vielleicht
alle Stricke reißen und alles
sagen dürfen: Du fährst aber nicht mit dem Fahrrad. Ich würde nie auf die Idee zu sagen: Du fahrst nicht mit dem Auto nach M. Dieses Eltern-Kind-
kommen
Verhältnis, glaube ich, geht nie weg"). Gegen das partnerschaftliche Moment spricht auch, daß die Besuchsaktivitäten eindeutig von den Kindern zu den Eltern ausgingen, und daß die Eltern sehr viel mehr für ihre Kinder leisten als umge¬ kehrt (Papastefanou, 1997). Die räumliche
winden, denn
Trennung trägt dazu bei, diese eingefahrenen Bahnen zu über¬ steigt der Anteil der Eltern, die ihre Kinder als "erwach-
danach
ZSE, 20. Jg. 2000, H.
1
65
sen" wahrnehmen
(s. Tab. 5).
Ein Vater bezeichnet seinen Sohn "als ernstzu¬
nehmenden Konkurrenten in der Familie". Tab. 5.
Beziehungsstruktur vor
Beziehungsstruktur
und nach dem
Vor dem
Auszug, elterliche Sicht Nach dem
Auszug
Auszug
Mutter
Vater
Mutter
Vater
"Kind"
49,0
45,7
27,9
31,4
"erwachsen"
36,7
25,7
41,9
54,3
"teils/teils"
14,3
28,6
30,2
14,3
Den Müttern fallt die
Umstellung
schwerer als den Vätern, sie verfallen leich¬
alten Mustern, wie folgende Äußerung zeigt: "Man muß sich prak¬ tisch immer irgendwie zurückhalten, indem man also immer das Gefühl hat, ter ihren
vielleicht sollte ich ihr helfen oder sollte ihr 'n Rat
geben und das war' also angebracht". Aber auch einigen Vätern geht es ähnlich: "Das wird sich wahrscheinlich nie ganz legen. Bubele, sag ich dann immer". Die Mehrheit der Eltern äußerte sich auch dahingehend, ihre Kinder nach dem Auszug mehr zu respektieren. Die jungen Erwachsenen ihrerseits haben auch Schwierigkeiten mit dem „Erwachsenenstatus". Diejenigen, die sich eindeutig als "erwachsen" einschätzen, sehen dies vorher wie nachher so (22%). Der Anteil derer, die sich als "Kind" sehen, steigt von 34% auf 50%. Entsprechend werden es mit dem Auszug weniger, die sich nicht eindeutig zuordnen (von 44% auf 28,1%), d.h. in manchen Situation brechen alte Abhängigkeiten durch. Auch die jungen Erwachsenen fühlen sich von den Eltern mehr respektiert. Neben dem Auszug treiben allerdings noch andere Ereignisse (Studienbeginn, erste feste Partner¬ schaft) diese Entwicklung voran. gar net
Abschließend seien hier die Fragebogen-Ergebnisse über die "Familienstärken" (FAM) berichtet. Im Querschnittvergleich zeigt sich, daß die allein lebenden
jungen Erwachsenen die Beziehung zu ihren Eltern positiver einschätzen, wobei dies bei den Müttern deutlicher zum Tragen kommt als bei den Vätern (Papa¬ stefanou, 1997). Umgekehrt ließen sich auf Seiten der Eltern keine entspre¬ chenden signifkanten Unterschiede feststellen. Längsschnittlich sieht es ähn¬ lich aus: mit dem Auszug kommt es zu einer günstigeren Einschätzung der Fami¬ lienstärken, und zwar von allen Familienmitgliedern. Allerdings profitiert in diesem Fall die Mutter-Kind-Beziehung weniger als die Vater-Kind-Beziehung, besonders die jungen Erwachsenen schätzen die Beziehung zu ihren Müttern gleichbleibend gut ein. Generell wurden bei der Vater-Beziehung niedrigere Werte ermittelt, die bei allen FAM-Skalen hochsignifikant sind. Umgekehrt fällt zumindest tendenziell die mütterliche Beurteilung der Beziehung günsti¬ ger aus als die väterliche, die Unterschiede erreichen bei drei Skalen statisti¬ sche Signifikanz.
5. Diskussion Zunächst läßt sich
festhalten, daß die berichteten Ergebnisse dazu beitragen, Wissen über Mechanismen der psychischen und räumlichen Ablösung Kindern im Erwachsenenalter zu vertiefen. Die Entwicklungspsychologie
unser von
66
ZSE, 20. Jg. 2000, H.
1
verfügt über Wissensbestände, die Aufschluß über den Hintergrund der Tren¬ nungsdynamik geben. Der Auszug stellt den Endpunkt einer Entwicklung dar, die in Prozessen der jugendlichen Individuation ihren Anfang nimmt. Als Ent¬ wicklungsschritt ist er in ein komplexes Gefüge von individuellen und fami¬ lialen Bedingungen eingebettet, deren Zusammenwirken hier nur angedeutet werden konnte. Wichtig ist ferner, daß die Seite der Eltern herausgearbeitet wurde, für die entgegen der traditionellen Sicht der „empty nesf'-Foschung auch der erste Auszug eines Kindes bereits einen Einschnitt darstellt, den allerdings die meisten problemlos verarbeiten. Nicht zuletzt werden hier Bezie¬ hungsveränderungen beschrieben, die sich in anderen Studien nicht finden, da sie eine sehr differenzierte Erhebungsmethode erfordern. -
-
Individuelle Ebene: In
Übereinstimmung mit
den Ergebnissen anderer Auto¬ größeres Problem wahrgenommen, die Vortei¬ le werden durchaus geschätzt, auch wenn das Ende des intensiven Zusam¬ menlebens bedauert wird. Nicht nur die Eltern, sondern auch einige erwach¬ sene Kinder hatten mit der Trennung zu kämpfen und trauern dem Zusam¬ menleben mit ihren Eltern nach. Dies steht im Einklang mit der Bindungs¬ theorie, gemäß der Trennungserfahrangen Bindungswünsche intensivieren (Berman/Sperling 1991). Deutlich wurde, daß der Auszug den kindlichen Ablö¬ sungsprozeß beschleunigt, allerdings eher auf der Verhaltensebene. In emo¬ tionaler Hinsicht distanziert sich ein Teil der jungen Erwachsenen explizit vom Ablösungsgedanken. Ablösung als Konzept ist sehr differenziert zu sehen, wie dies ja auch Moore (1987) nachgewiesen hat. Dies rechtfertigt den Aufwand der Datenerhebung, der hier getrieben wurde. Für beide Seiten, Eltern und Kinder, ist die räumliche Trennung gewinnbringend und initiiert einen Ent¬ wicklungsprozeß der Neuorientierung. Für Mütter entsteht eher ein neuer Frei¬ ren
wird der Auszug nicht als
raum, während sich im Leben der Väter nicht allzu viel verändert. Damit könn¬ ten die von Lewis et al.
(1979) berichteten „neutralen" Gefühle
von
Vätern
zusammenhängen.
Beziehungsebene: Als sicher gilt heute, daß Eltern und Kinder ein Leben lang wichtige Bezugspersonen füreinander bleiben, wie dies u.a. die Bindungsfor¬ schung nachdrücklich belegt hat. Das spiegelt sich auch in unseren Daten wider. Am positiven emotionalen Grundtenor ändert die räumliche Trennung nicht viel. Allerdings unterliegt die Beziehung einem strukturellen Wandel in Rich¬ tung höherer Gleichberechtigung, der hier genauer nachzuzeichnen versucht wurde. Die Tatsache, daß ihre Kinder allein zurechtkommen, erleichtert es den Eltern, sie als Erwachsene zu sehen. Die jungen Erwachsenen geben ihre Kind¬ rolle teilweise
nur
ungern auf. Das deckt sich mit den Annahmen der Bin¬
dungsforscher, denenzufolge in einer solchen Transitionsphase die Elternbin¬ dung einen wichtigen Halt bietet. Die Qualität einer Freundschaft eneicht die Elten-Kind-Beziehung jedoch nicht, die Grenzen wurden deutlich gemacht. Schließlich findet auf Familienebene eine wechselseitige
Beinflussung von Eltern (Schnaiberg/ Gol¬ mangelnde Ablö¬ sungsbereitschaft der Kinder und unzureichende Unterstützung der kindlichen Autonomie von den Eltern sich gegenseitig verstärken (Papastefanou, 1997). und Kindern statt, wie dies in der Forschung bereits anklingt denberg 1990). An anderer Stelle wird beschrieben, wie
Ausblick: In der vorliegenden Studie wurden
Auszug
außen
vor
ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
gelassen,
über die in
wichtige Einflußfaktoren auf den zukünftigen Arbeiten berichtet wird. 67
Zwei
neue
tergrunds
Teilprojekte wurden durchgeführt, dem Einfluß des kulturellen Hin¬ gewidmet. Angesichts der zunehmenden
und der Familienstraktur
(Nave-Herz 1994) wurde neben traditionellen Mutter-Familien befragt. Der Kulturenvielfalt Grappe wurde durch eine vergleichende Studie von jungen Frauen aus zwei südeu¬ ropäischen Ländern Rechnung getragen. Die Grenzen der Studie liegen in der Mittelschichtorientierung der Stichprobe, ein generelles Problem der Famili¬ enforschung. Allerdings tritt das Phänomen des Spätauszugs gehäuft in die¬ sem Bildungsmilieu auf. Weiterhin wurden aus forschungspragmatischen Gründen nur Familien der alten Bundesländer untsucht, ein Vergleich mit den neuen Bundesländern wäre vielversprechend, wie andere Autoren zeigen. Zukünftige Forschungsvorhaben sollten andere Abweichungen der Auszugsnorm (z.B. Frühauszieher) berücksichtigen. Pluralität
von
Famihenformen
Kernfamüien eine
von
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-
68
ZSE, 20. Jg. 2000, H.
1
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aus
dem Elternhaus
-
Aufbruch und
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data. American
nest and
parental well-being:
Sociological review, 55, 235-242.
Dr. Christiane
Papastefanou, Wolfsgrubenweg 3a, 67069 Ludwigshafen
ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
69
Ludwig
Stecher
Entwicklung
der Lern- und Schulfreude im
Übergang von der Kindheit zur Jugend -Wel¬ spielt die Familienstruktur und Qualität der Eltern-Kind-Beziehungen? che Rolle
Development
of Inclination to
Structure and
Quality
Schooling in the Play Family Relationship
Learning
Transition from Childhood to Yough
-
of Parent-Child
die
and
Which Role
Einfluß der Familienstruktur (Einelternteil- vs. Zweiel¬ ternteilfamilien) und der Qualität der Eltern-Kind-Beziehungen aufdie Entwicklung schulbezogener Einstellungen (wie Schul- und Lernfreude) von Kindern im Über¬ gang von der Kindheit zur Jugend. Drei Forschungsperspektiven werden hierzu überprüft. 1) Die Struktur-Defizit-Per¬ spektive geht davon aus, daß Kinder in Einelternteilfamilien unter einem Mangel an sozialem Entwicklungskapital leiden, der von der UnvoUstandigkeit der Familien¬ struktur herrührt. 2) Im Gegensatz hierzu betont der Familien-Prozeß-Ansatz, daß die Familienstruktur keinen direkten (eigenständigen) Einfluß per se auf die Ent¬ wicklung des Kindes ausübt, wenn man gleichzeitig die Qualität der Eltern-KindBeziehungen in Rechnung stellt. 3) Ein dritter Ansatz verbindet die Struktur-Defi¬ zit- und die Familien-Prozeß-Hypothese: obwohl von der Familienstruktur keine direk¬ ten Effekte auf die Entwicklung des Kindes zu erwarten sind, beeinflußt die Fami¬ lienstruktur die Entwicklung dennoch indirekt, indem sie sich auf die Qualität der Eltern-Kind-Beziehungen auswirkt. Die Ergebnisse, die sich auf die Analyse eines Paneldatensatzes von 305 10- bis 13jährigen Kindern und Jugendlichen stützen, zeigen keine Unterschiede in der Ent¬ wicklung der schulbezogenen Einstellungen bei Kindern aus vollständigen und unvoU¬ ständigen Familien, wohl aber Unterschiede in Abhängigkeit der Qualität der ElternKind-Beziehungen (dies bestätigt die Familien-Prozeß-Hypothese). Bezieht man jedoch die indirekten Einflüsse der Familienstruktur (vermittelt über den Einfluß der Familienstruktur auf die Qualität der Eltern-Kind-Beziehgungen) mit ein, zeigt sich, daß die Familienstruktur aufnicht zu vernachlässigende Weise mit der Schulund Lernfreude der Kinder verbunden bt (dies sprichtfiir den dritten Forschungs¬ ansatz). Die Überprüfung indirekter Effekte der Familienstruktur macht den Ein¬ satz von Strukturgleichungsmodellen notwendig. This article examines the influence offamily structure (one-parent families vs. twoparentfamilies) and the quality ofparent-child relationships on the development of the school-related habitus of children during the transition periodfrom childhood Der Beitrag untersucht den
to
adolescence.
Three
1) Under the structural deficit perspective it is suffer from a lack of social develop¬ ofthe family structure. 2) In contrast this perspective the family process approach emphasizes that there is no impact perspectives
are
examined.
assumed that children in one-parent families mental capital because ofthe incompleteness to
70
ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
offamily structure
on
child's
development per se ifthe quality ofthe relationships
between the parents and the children b taken into account. 3) A third approach combines the structural deficit hypothesis and the family process perspective: although there
are no direct effects offamily structure on child's development there are indi¬ effects offamily structure because ofthe impact offamily structure on the qua¬ lity ofparent-child relationships. The results based on a panel analysb of305 10-13 years old children and ado¬ lescents show that there are no differencies in the development of school-related habitus between children in one-parentfamilies and children in two-parentfamilies but there are differences according to the quality ofthe parent-child relationships (confirming thefamily process hypothesis). Ifindirect effects offamily structure (via the impact on the quality ofparent-child relationships) are taken into account the results show that there is an impact offamily structure on child's habitus that can not be neglected (confirming hypothesb 3). To test indirect effects offamily struc¬ ture the use of structural equation modeis is necessary.
rect
-
-
Bei der
Erforschung der Hintergründe für schulischen Erfolg bzw. Mißerfolg Jugendlichen rücken mit dem Paradigma des aktiv an seiner Sozialisation und Entwicklung beteiligten Subjekts die habituellen Eigen¬ schaften der Kinder und Jugendlichen verstärkt in den Blick, die sie befähi¬ gen, die Anforderungen des schulischen Kontexts dessen Leistungs- wie sozia¬ le Anforderungen in eigener Regie und Verantwortung erfolgreich zu bewäl¬ Zu diesen tigen. Eigenschaften zählen neben Leistungsmotivation, Disziplin oder dem Selbstkonzept der eigenen Leistungsfähigkeit auch Einstellungen dem Lernen und der Schule gegenüber wie sie etwa in der Lern- und Schul/rewvon
Kindern und
-
-
-
de bzw. in der Lern- und Schulverdrossenheit
-
zum
Ausdruck kommen.
Der folgende
Beitrag beschäftigt sich mit der Entwicklung der Lern- und Schul¬ Altersphase, die für die Herausbildung und Aufrechterhaltung positiver Lern- und Leistungsbereitschaft von beson¬ derer Bedeutung ist: dem Übergang von der Kindheit zur Jugend. Helmut Fend, der sich in einer langjährigen Paneluntersuchung mit der Entwicklung schuli¬ scher Leistungsbereitschaft beschäftigte, verweist darauf, daß „gerade die Zeit vor der Pubertät jene Lebensphase darstellt, in der es gelingen sollte, positive Lernhaltungen aufzubauen", da „die am Ende der Kindheit verfestigte Lern¬ haltung und Umgangsweise mit der Schule auch in der Pubertät sehr stabil bleibt." (Fend 1997, S.186ff.) Wie einschlägige Forschungen belegen, stehen die Haltungen dem Lernen und der Schule gegenüber dabei in einem engen wechselseitigen Zusammenhang mit dem Schulerfolg der Kinder und Jugendlichen (Fend 1997; Zinnecker & Georg 1996). freude bei Heranwachsenden in einer
-
-
Bei der Suche nach
möglichen Faktoren, die
Schulfreude in der Adoleszenz bzw. im
die
Entwicklung der
Übergang
von
Lern- und
der Kindheit
zur
Ado¬
leszenz
beeinflussen, ist vor allem an drei große Bereiche zu denken: an das Elternhaus bzw. die Familie, die Schule und die Gleichaltrigen. Aus diesen drei Bereichen, die in vielfacher und komplexer Weise in bezug auf die Entwick¬ lung von Kindern und Jugendlichen zusammenwirken (vgl. Stolz 1987), wer¬ de ich mich im folgenden auf den ersten Bereich auf den Einfluß des Eltern¬ hauses konzentrieren und hierbei auf die partielle Fragestellung, welchen Ein¬ fluß die Familienstruktur (definiert über die Vollständigkeit bzw. UnvoUstan¬ digkeit der Familie) und die Qualität der Eltern-Kind-Beziehungen auf die Ent¬ wicklung der Lern- und Schuleinstellungen ausüben. Damit reiht sich mein -
-
ZSE, 20. Jg. 2000, H.
1
71
lange Tradition von Forschungsarbeiten ein, die sich mit den Entwicklungsbedingungen von Kindern in Scheidungs- bzw. Trennungsfamilien beschäftigen. Beitrag
in eine
schulischen
von Studien wird auf spezifische Probleme und Entwicklungs¬ schwierigkeiten von Kindern und Jugendlichen in unvollständigen Familien hingewiesen, die sich nicht zuletzt auch im schulischen Bereich äußern (Astone & McLanahan 1991; Hetherington, Camara & Featherman 1983). Diesen Studien liegt dabei allgemein die Hypothese zugrunde, daß es in Einelternteilfamilien aufgrund einer defizitären Familienstraktur zu Sozialisationsdefiziten kommt, die sich in Entwicklungsbeeinträchtigungen der Kinder niederschlagen. Coleman (1988) beispielsweise argumentiert, daß in unvoll¬ ständigen Familien der (relative) Umfang sinnhafter Kontakte zwischen Kin¬ dern und Erwachsenen reduziert ist und damit soziales Kapital verlorengeht, das für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen von Bedeutung ist. In Untersuchungen dieses Typs fällt häufig eine ,produktorientierte' Perspektive auf, die von einer unmittelbaren (direkten) Verbindung zwischen der Fami¬ lienstraktur und der jeweiligen Zielvariable (Produkt) ausgeht (siehe etwa Cole¬ man 1988): .Sozialisationsdefizite' werden intervenierend vorausgesetzt, aber häufig nicht explizit überprüft.
In einer Reihe
Die Defizithypothese blieb nicht unwidersprochen. Eine Vielzahl empirischer Untersuchungen zeigt, daß die UnvoUstandigkeit der Familie nicht per se als Risikofaktor für die kindliche Entwicklung anzusehen ist, sondern daß von ent¬ scheidenderem Einfluß die Tatsache ist, ob und wie es den Mitgliedern der Rest¬ familie gelingt, harmonische und unterstützende Beziehungen zueinander auf¬ zubauen bzw. zu erhalten (vgl. zusammenfassend Bacher, Beham & Wilk 1996). Mehr noch sprechen einige Studien dafür, daß sich durch Konflikte zwischen Mutter und Vater belastete Eltern-Kind-Beziehungen mit der Trennung der Eltern normalisieren können und in solchen Fällen eher von einer positiven Progno¬ se für die Entwicklung der Kinder in der Restfamilie auszugehen ist (WaUer¬ stein & Blakeslee 1989).
Typs die Effekte der Familienstraktur anhand wie zum Beispiel dem Schulerfolg Entwicklxmgpergebnisse bewertet werden, legen Untersuchungen des zweiten Typs das Schwergewicht auf die Frage, welche Dynamik in den Familienbeziehungen zu einem bestimmten Entwicklungsergebnis führt (prozeßorientierte Perspektive). Während in Studien des ersten bestimmter
-
-
Einen dritten
-
die
produkt- bzw. prozessorientierte Perspektive der beiden vor¬
Standpunkt nehmen Untersuchungen genannten Positionen integrierenden ein, die nicht von einer direkten, das heißt unmittelbaren Wirkung der Fami¬ -
lienstraktur auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen
ausgehen, aber
betonen, daß sich in unvollständigen Familien häufig ökonomische wie psy¬ chosoziale Stressoren kumulieren, die dazu führen, daß der verbliebene Eltern¬ teil in seiner Erzieherrolle überfordert wird (vgl. Hofer, Klein-Allermann & Noack 1992, S.287). Diese Perspektive sieht einen indirekten Effekt von der Familienstraktur auf die kindliche
Entwicklung vermittels ihres Einflusses auf Ausgestaltung und Qualität der Eltern-Kind-Beziehungen ausgehen. Die konkreten Sozialisationsdefizite, die Studien des ersten Typs postulieren aber häufig nicht näher spezifizieren stehen hier im Mittelpunkt des Interesses. die
-
-
Ausgehend 72
von
dieser
-
hier verkürzt
wiedergegebenen
-
Diskussion werde ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
ich im ersten Teil des
Beitrags untersuchen, inwieweit die Familienstraktur und Qualität der Eltern-Kind-Beziehungen (s.u.) unabhängig voneinander die Entwicklung der Lern- und Schulfreude beeinflussen. Ausgehend von den ersten beiden Forschungspositionen, müßten sich sowohl seitens der Familienstrak¬ tur wie auch seitens der Qualität der Eltern-Kind-Beziehungen direkte Effek¬ te auf die kindliche Entwicklung nachweisen lassen. Da sich Entwicklung und ihr Verlauf aus sehr unterschiedlichen Perspektiven analysieren läßt, werde ich dieser Frage auf drei Ebenen nachgehen: aufder Ebene der globalen Entwicklung in der Gesamtgruppe aller Kinder und Jugendlichen, auf der Ebene (gruppenjspezifischer sich vom allgemeinen Entwicklungsverlauf evtl. abheben¬ der Verlaufsmuster und auf der Ebene individueller Entwicklungslinien. Im zweiten Teil werde ich im Sinne der dritten Forschungsposition überprü¬ die
-
-
-
-
fen, inwieweit sich indirekte Effekte der Familienstruktur
Qualität der Eltern-Kind-Beziehungen
-
auf die
-
vermittelt über die
Entwicklung der
Lern- und
Schulfreude nachweisen lassen. Mit dem Blick auf die Lern- und gangs erwähnt ein Ausschnitt
aus
Schuleinstellungen der Kinder ist wie ein¬ vielschichtigen Prozeß der schulischen
dem
Entwicklung herausgenommen, der auf die kindlichen habituellen Selbstre¬ gulationsmechanismen, das heißt auf den eigenaktiven Anteil der Kinder an diesem Prozeß abzielt (vgl. Zinnecker 1994). Die längsschnittliche Anlage des Kindersurveys, aus dem die folgenden Daten stammen, ermöglicht es, die Ent¬ wicklung dieser Einstellungen bei Kindern im Übergang von der Kindheit zur Jugend zu verfolgen in einer Phase, die für die schulische Entwicklung von besonderer Bedeutung ist (Fend 1997). Dabei soll der Beitrag in dreifacher Hin¬ sicht zu einer Weitervermessung der Entwicklungsbedingungen von Kindern und Jugendlichen in vollständigen und unvollständigen Familien beitragen: 1.), indem er sich auf (repräsentative) quantitative Daten einer verglichen mit bis¬ herigen (quantitativen) Untersuchungen sehr jungen Befragtengrappe (10- bis 13jährige, s.u.) stützt und 2.), indem er mit Betrachtung der Entwicklung der eigenaktiven Anteile von Kindern und Jugendlichen an ihrer Schulkarriere eine empirische Forschungslücke schließt, die dort entsteht, wo Untersuchungen sich lediglich produktorientiert auf den Schulerfolg (frühzeitiger Schulabbrach, Schulabschluß, Schulnoten u.a.) als Indikator für die Entwicklung im schuli¬ schen Bereich beschränken und 3.), indem er sich hierzu auf längsschnittliche (Panel)Daten stützen kann. -
-
-
Daten und Methode
folgenden Analysen sind die in mündlichen Interviews erhobe¬ bundesweit ausgewählten zum Zeitpunkt der ersten Erhe¬ 1993 10-bis bungswelle 13jährigen Kindern und deren Wiederbefragung 1994 und 1995. Geleitet wurde der Kindersurvey von den Universitäten Siegen (Zinnecker, Sozialisationsforschung1) und Jena (Silbereisen, Entwicklungs¬ psychologie), gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im RahGrundlage
nen
der
Daten von 305
-
-
1 Für die hilfreichen
Anregungen zu einer früheren Version dieses Beitrags möch¬ Kollegen und Kolleginnen des ,Projekts Bildungsmorato¬ rium' (Catarina Eickhoff, Ralph Hasenberg, Anja Heiden und Jürgen Zinnecker), in dessen Rahmen der Kindersurvey durchgeführt wurde, herzlich bedanken. te
ich mich bei meinen
ZSE, 20. Jg. 2000, H.
1
73
men
des
nach der
Schwerpunktprogramms Kindheit und Jugend in Deutschland vor und Wiedervereinigung.
Messung der Lern- und Schulfreude der Kinder und Jugend¬ Kindersurvey ein von Fend unter anderem im Konstanzer Längs¬ schnitt eingesetztes Instrument (Fend 1997, S.150). Es besteht aus insgesamt neun Fragen, die sich darauf beziehen, ob man gern in die Schule geht, gern Schulfreude.
Zur
lichen dient im
lernt und sich im Unterricht wohl fühlt, oder ob die Schule und das damit ver¬ nur als ein notwendiges Übel gesehen wird, das man hofft, so
bundene Lernen
schnell als
möglich hinter sich zu
lassen. Zu jeder der
Kindern vier Antwortmöglichkeiten =
trifft eher nicht zu; 3
zur
Auswahl
neun
Fragen liegen den
trifft gar nicht zu; 2 Über alle neun (inhaltlich
vor:
1
=
trifft eher zu; 4 trifft zu. (re)kodierten) Fragen wird eine Summenskala
gleichsinnig gültigen
Anzahl der
=
=
durch die
geteilt
Antworten berechnet. Hohe Skalenwerte bedeuten hohe
Lern- und Schulfreude. Die
Erhebungswellen hoch.
Zuverlässigkeit des Instruments ist in allen drei Alpha Standardisiert (CAS) beträgt 1993:
Cronbachs
.85, 1994: .86 und 1995: .85.
Vollständigkeit
der Familie. Unter
den alle Familien
vollständigen
verstanden, in denen das
Familien werden im
von uns
befragte
Kind
folgen¬ (Zielkind)
über alle drei
Meßzeitpunkte hinweg mit beiden leiblichen Elternteilen zusam¬ (n=211); unvollständige Familien sind hingegen jene, in denen das Ziel¬ kind 1) zu allen drei Meßzeitpunkten nur mit einem leiblichen Elternteil zusam¬ menlebt (in unserem Datensatz ausschließlich mit der Mutter; n=40), oder 2) bei dem im Laufe des 2jährigen Beobachtungszeitraums ein leiblicher Eltern¬ teil (in unserem Datensatz ausnahmslos der Vater) die Familie verläßt (n=212). Geht man davon aus wie Herlth (1993, S.26f.) dies wiedergibt -, daß ent¬ menlebt
-
wicklungsabträgliche Effekte „nicht so
sehr
aus
dem Akt der elterlichen Tren¬
resultieren, sonder vielmehr auf die vorausgegangenen [Hervor¬ hebung, LS] Konflikte zwischen den Eltern zurückzuführen sind", ist dieses nung selbst
Vorgehen fertigen.
-
in Anbetracht der ansonsten relativ
geringen
Fallzahl
-
zu
recht¬
Die
Bezugnahme auf die leibliche Abstammung als strukturelles Vollständig¬ impliziert, Familien, in denen die Kinder mit einem Stief- oder Adoptivvater bzw. einem neuen Lebenspartner ihrer Mutter zusam¬ menleben, trotz des Vatersubstituts als 'unvollständige' Familien aufzufassen. Für ein solches Vorgehen sprechen Studien aus dem Bereich der Familien- und Sozialisationsforschung, die die besondere Problematik der Eltern-KindBeziehungen in Stief- und Adoptivfamilien hervorheben (Walper 1995; Astone & McLanahan 1991). Eine getrennte Auswertung der Familien mit Vatersubstituten ist wegen ihrer geringen Anzahl (n=l 8) nicht sinnvoll. Es resultiert eine Variable mit den Ausprägungen '0' für unvollständige und '1' für voll¬ ständige Familien. keitskriterium der Familie
In
Anlehnung
& Silbereisen
an
frühere
Analysen
im Rahmen des
Kindersurveys (Zinnecker
1996; Stecher 1996) verwende ich die Bereitschaft des Kindes
2 Die Differenz der Summe der
aufgeführten Fallzahlen (n=272) zur Gesamtzahl ergibt sich durch in Einzelfällen vorkommende hier aber nicht berücksichtigte Veränderungen der Familienstruktur (wie zum Beispiel die Rück¬ kehr eines Elternteils in den Familienhaushalt) und durch fehlende Angaben. von
74
305 Kindern
ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
bzw.
Jugendlichen, seinen Eltern von sich zu erzählen und das Familienklima (beides erhoben aus der Sicht der Kinder) als Indikatoren für die Qualität der Eltern-Kind-Beziehungen. In der Bereitschaft der Kinder und Jugendlichen, von sich zu erzählen, zeigt sich das Vertrauen an, das sie ihren Eltern entge¬ gen bringen. Vertrauen ist eine wichtige Form von sozialem Kapital und Kenn¬ zeichen einer positiven Eltern-Kind-Bindung (Coleman 1988). Darüber hin¬ aus
läßt sich darin ein indirekter Indikator dafür sehen, inwieweit die Eltern sind, was ihr Kind außerhalb ihrer Aufsicht (in der Freizeit)
darüber informiert
tut und mit welchen
(persönlichen) Dingen es sich beschäftigt und sich aus¬ (1991) zeigen, daß der Informiert¬ heitsgrad der Eltern (elterliche Supervision) in vollständigen und unvollstän¬ digen Familien unterschiedlich ausgeprägt ist und daß vom Informiertheits¬ grad ein signifikanter Einfluß auf den Schulerfolg (Schulabbrach) von Kin¬ dern und Jugendlichen ausgeht. einandersetzt. Astone und McLanahan
Auch das Familienklima hat sich in vielen Studien als
wichtiger Pradiktor der (schulischen) Entwicklung in Kindheit und Jugend erwiesen (Moos & Moos 1981, S.27f). Brody, Stoneman und Flor (1995) beispielsweise belegen, daß harmonische und warme Eltern-Kind-Beziehungen positive Selbstregulati¬ onsmechanismen bei Kindern wie planendes und zielgerichtetes Handeln -
fordern und damit indirekt den
-
Schulerfolg
der Kinder.
Bereitschaft des Kindes den Eltern, von sich zu erzählen. Die Bereitschaft des Kindes bzw. Jugendlichen, von sich zu erzählen wird mit zwei Fragen erho¬ ben. „Erzählst du deinen Eltern von den Dingen, die dich gerade beschäfti¬ gen?" und „Erzählst du deinen Eltern von dem, was du in deiner Freizeit unter¬ nimmst?" Die Antwortvorgaben sind viergestuft mit den Polen 1 ,nie' und 4 ,immer'. Da die von den Befragten für beide Elternteile getrennt abgegebenen Antworten hoch miteinander korrelieren (.54 < Pearsons r < .60), werden die Angaben in den vollständigen Familien zu einer gemeinsamen Elternska¬ la zusammengefaßt. Die Zuverlässigkeit des Instruments ist zufriedenstellend (CAS: 1993: .78, 1994: .79 und 1995: .77). -
-
Familienklima. Das Familienklima wird anhand
von Engfer, Schnee¬ Fragen erhoben. Die 5 Fragen erfas¬ die Dimensionen Kohäsion (Bsp. „In schwieri¬ in gekürzter Fassung sen wir Situationen uns gegenseitig.") und Harmonie (Bsp. „In unterstützen gen unserer Familie geht es harmonisch und friedlich zu."). Die Antwortvorgaben sind viergestuft mit den Polen 1 'stimmt überhaupt nicht' und 4 'stimmt genau'. Die Reliabilität der Skala ist in allen 3 Wellen 1993: .72 (CAS), 1994: .75
wind und Hinderer (1978) übernommenen
von
5
-
-
-
-
-
und 1995: .76
-
zufriedenstellend.
Wie auch die Skala Schulfreude sind die Skala
erzählen und
Familienklima
zur
Bereitschaft,
von
sich
zu
der Summe der auf die einzelnen
Fragen gegebenen Antworten, geteilt durch die Anzahl der beantworteten Fragen, gebil¬ zum
aus
det. Hohe Skalen-Werte bedeuten eine hohe Bereitschaft des Kindes, erzählen bzw. ein harmonisches Familienklima.
von
sich
zu
Direkte Effekte der Familienstruktur und der Qualität der ElternKind-Beziehungen auf die Entwicklung der Lern- und Schulfreude
Abbildung de
-
1 und 2
zeigen die globale Entwicklung der Lern- und Schulfreu¬ Darstellung3 zwischen dem 11. und 17. Lebens-
in einer vereinfachten
ZSE, 20. Jg. 2000,
H. 1
-
75
jähr in Abhängigkeit der Familienstraktur und der Bereitschaft der Kinder und Jugendlichen, von sich zu erzählen. Ähnlich wie in der eingangs zitierten Unter¬ suchung von Fend (1997) zeigen auch unsere Ergebnisse den Attraktivitäts¬ die Kinder
verlust, den die Schule und das Lernen hinnehmen müssen,
wenn
älter werden. Weiter übereinstimmend mit Fends
konsolidiert sich
Ergebnissen niedrigem Niveau in der Adoleszenz zwi¬ Lebensjahr. Diese Entwicklung vollzieht sich dabei bei
die Lern- und Schulfreude aufschen dem 15. und 16.
-
und Mädchen und bei west- und ostdeutschen Schülern und Schü¬
Jungen
lerinnen ohne nennenswerte Unterschiede
bildung
zeigt,
(ohne Darstellung)
Unterschiede bei Kindern
-
und wie Ab¬
vollständigen große unvollständigen Familien wenn auch Kinder aus vollstän¬ digen Familien durchgängig eine etwas höhere Schulfreude zu Protokoll geben als Kinder aus unvollständigen Familien. 1
auch ohne
und Kindern
aus
Abbildung
Entwicklung der Schulfreude
1:
aus
-
in
vollständigen
und
unvollständigen
Familien 3.2
3,0
V Ax
2,6
a v\ V v-zV-n
//
*
2.4
«
2,2
c
Familienstruktur unwUUndige
\
~
Farn««
\
voistfndlga Farnila
10.0
11.0
12.0
13.0
14.0
15.0
16.0
17.0
Alter in Jahren
Legende: Außerhalb des durch die vertikalen
Linien
gekennzeichneten Bereichs lie¬
gen die Fallzahlen unter n=30.
Auch Kinder und
drei
Bereitschaft
Jugendliche, die in allen angeben, ihren Eltern von sich
zu
menden Schulverdrossenheit
am
Erhebungswellen eine hohe
erzählen, sind
Ende der Kindheit und
zu
vor
der zuneh¬
Beginn der Jugend
nicht gefeit (Abbildung 2). Allerdings
zeigt sich, daß ihre Schulfreude auf einem deutlich höheren Durchschnittsniveau liegt als bei Kindern, die ihren Eltern wenig
von
sich erzählen
(s. Legende
zu
Abbildung 2).
Dasselbe Bild
ergibt
3 Die
Darstellung beruht aufder Zusammenfassung aller altersgleichen Kinder bzw. Jugendlichen unabhängig zu welchem Meßzeitpunkt die Befragten das jeweilige Alter erreichten. Unter 11jährige fallen beispielsweise alle Kinder, die im Laufe des 2jährigen Untersuchungszeitraums diese Altersmarke erreichten bzw. über¬ schritten. Die in dieser vereinfachten Darstellungsform sichtbar werdenden Trends stimmen völlig mit den Entwicklungsverläufen überein, wie sie sich unter echter längsschnittlicher Perspektive zeigen.
76
ZSE, 20. Jg. 2000,
H. 1
Abbildung sich
2:
der Schulfreude und die Bereitschaft des
Entwicklung
Kindes,
von
erzählen
zu
3,6
3,4 1
\
¦g
3.2
2.
3,0
\
\
I" I
Bereitschaft
2,6
«
3 m
\ \
2,4
niedrig/
\
\ V
\
oszill.
\
2,2
stabil
2,0
hoch
10.0
11.0
12.0
13.0
14.0
15.0
17.0
16.0
Alter in Jahren
Legende:
Außerhalb des durch die vertikalen Linien
gekennzeichneten Bereichs
lie¬
gen die Fallzahlen unter n=30. Unter die Gruppe der Kinder mit stabil hoher Bereit¬ schaft fallen jene, die in allen drei Erhebungswellen Skalenwerte über dem Median unter niedrige bzw. oszillierende jene Kinder, deren Skalenwerte in allen Erhebungswellen unterhalb des Medians liegen oder wechselnd im oberen bzw. unteren Medianbereich liegen.
erreichen; drei
sich in
bezug
auf das Familienklima (ohne Darstellung). Auch hier liegen die von einem guten Familienklima berichten, in ihrer
Kinder, die durchgängig
Schulfreude über Kindern
lienklima
-
aus
Familien mit schlechtem bzw. wechselndem Fami¬
aber auch bei ihnen nimmt die Schulfreude in
zu
anderen Kindern
vergleichbarem Maße ab. Ergebnisse zeigen, daß von einem allgemeinen Entwicklungstrend im Über¬ gang von der Kindheit zur Jugend in bezug auf die Einstellungen dem Lernen und der Schule gegenüber auszugehen ist. Ob es sich um Mädchen oder Jun¬ Die
gen, ob
es
sich
um
west- oder ostdeutsche
Einelternteilfamilien oder
vollständigen,
Kinder, ob
oder ob
monischen Elternhäusern handelt oder nicht
es
es
sich
sich um
um
Kinder
Kinder
aus
aus
har¬
für alle läßt sich der gleiche all¬ gemeine Trend ausmachen. Allerdings zeigt sich, daß Kinder und Jugendliche, die über harmonische und vertrauensvolle Beziehungen zu ihren Eltern berich¬ ten, durchgängig lern- und schulfreudiger sind als andere Kinder.
Relative
-
Entwicklungsverläufe
Trotz dieses
Ergebnisses eines allgemeinen Entwicklungstrends, stellt sich die Frage, ob sich Gruppen von Kindern und Jugendlichen unterscheiden lassen, für die diese Entwicklung unterschiedliche Verläufe nimmt, das heißt, ob es gruppenspezifische Variationen des allgemeinen Grundthemas der zuneh¬ menden Lern- und Schulverdrossenheit gibt und wenn ja, in welchem Zusam¬ menhang diese Variationen mit der Familienstruktur und den Eltern-Kind-Bezie-
ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
77
hungen stehen.
Für diese
Fragestellung
bietet sich ein
typenbildendes Vorge¬
hen an, wie es die Clusteranalyse ermöglicht. Mittels der Clusteranalyse läßt sich überprüfen, ob sich die Kinder und Jugendlichen unserer Stichprobe hin¬
sichtlich der
Entwicklung der Schulfreude überhaupt sinnvollerweise in ver¬ Gruppen unterteilen lassen, und wenn ja, welche Verlaufsprofile das heißt Entwicklungsmuster sich dabei zeigen. Methodisch beruht die Clu¬ steranalyse vereinfacht ausgedrückt auf einem Abgleich der Merkmalsprofile von einzelnen Objekten bzw. Objektgruppen (in unserem Falle der Kinder und Jugendlichen) mit dem Merkmalsprofil, das sich für die Gesamtgrappe aller in die jeweilige Analyse einbezogenen Objekte zeigt. Das heißt, die Folie, auf der im folgenden unterschiedliche Entwicklungsverläufe interpretiert werden, ist der allgemeine Durchschnitt wie er sich für die Gesamtgrappe aller alters¬ gleichen Kinder und Jugendlichen enechnet. Wir betrachten also die Ent¬ wicklung einzelner Grappen von Kindern und Jugendlichen relativ zur durch¬ schnittlichen Entwicklung aller Altersgleichen (Referenzwert). schiedene
-
-
-
-
Wie die
bisherigen Analysen zeigen, ist die Entwicklung der Schulfreude stark abhängig. Es ist deshalb nicht angebracht, die gesamte Stichprobe in einer gemeinsamen Clusteranalyse zu verrechnen: die jüngeren Befragten werden immer Skalenwerte über dem Referenzwert zum jeweiligen Meßzeitpunkt aufweisen, ältere Kinder dagegen immer darunter, so daß sich die Cluster eher um das Alter gruppieren als um den Entwicklungs¬ verlauf der Lern- und Schulfreude. Aus diesem Grund wird die Stichprobe in zwei Altersgruppen (die 1993 10-und 11jährigen und die 1993 12-und ^jähri¬ gen) unterteilt und für jede Altersgruppe getrennt ausgewertet. vom
Die
kalendarischen Alter der Kinder
Clusteranalyse der Entwicklungsverläufe erbringt für die
10- und 11 jähri¬
gen Kinder eine 4 Clusterlösung4. Die Einteilung in diese 4 Verlaufstypen klärt 62% der Varianz in den Entwicklungsverläufen der Kinder und Jugendlichen
dieser Altersstufe auf. Tabelle 1 enthält die Verlaufsprofile der Schulfreude über die 3
gibt
Erhebungswellen für die 4 Cluster. Die Anzahl der „+" bzw. „-" Zeichen auf die jeweilige Standardabweichung des Merkmals bezogene
das
-
-
Ausmaß an, inwieweit der durchschnittliche Skalenwert für die Schulfreude der einem Cluster zugeordneten Kinder über (+) bzw. unter (-) dem Referenzwert für alle 10- und
Kinder
11jährigen
Während die Cluster 2 und 4
liegt5.
ich bezeichne sie als Durchschnittscluster mit
-
auf- bzw.
absteigender Tendenz keine sehr ausgeprägten Unterschiede zum allgemeinen Entwicklungsverlauf der Lern- und Schulfreude aufweisen, sind mit Cluster 1 und 3 zwei Kontrastgrappen identifiziert. Die Kinder des Clu¬ sters 1 zeigen in allen drei Wellen Skalenmittelwerte der Lern- und Schulfreude, die deutlich über dem Referenzmittelwert für die Gesamtgruppe der Alters-
4 Die
Berechnungen wurden mit dem Programm CONCLUS von Hans Bardeleben durchgeführt. Bardeleben (1990) gibt als Kriterium für die Bestimmung der opti¬ malen Clusterzahl Delta-Eta2 an. Diesem Kriterium zufolge ergibt sich eine 4-Cluster-Lösung.
5 „+" bzw. „-"
bedeutet, daß der Clustermittelwert
dardabweichungseinheiten abweicht, „++" bzw. „—" ten und
78
„+++" bzw.
nach um
"
„
oben
bzw.
um
nach
mehr als zwei Drittel
um
mehr als eine ganze
mehr als ein Drittel Stan¬ unten
vom
Referenzwert
Standardabweichungseinhei¬ Standardabweichungseinheit. ZSE, 20. Jg. 2000, H.
1
gleichen liegen. Dagegen geben die Kinder des Clusters 3 durchgängig unter¬ durchschnittliche Angaben zur Lern- und Schulfreude zu Protokoll. Clusteranalyse: (Relative) Entwicklungsverläufe der Schulfreude bei 11jährigen Kindern (n=l 15; 4-Cluster-Lösung); eta2: .62
Tabelle 1: 10- und
1993
Cluster
(darunter Label, Konsistenzkoeffizient1 und Anzahl bzw. prozentualer Anteü der diesem Cluster zugeordneten Kinder) 1
2
3
4
„durch¬
„Durch¬
„durch¬
„Durch¬
schnitt
gängig überdurch¬ schnittlich
Skala
(Erhe¬
bungsjahr)
w
(auf¬ steigend)
"
.65; 28; =
gängig un¬
"
terdurch¬ schnittlich
•59; «
=
28;
n
schnitt
(ab¬
steigend)
"
"
.53; 29; =
«
.69; 30; =
24%
24%
25%
26%
Schulfreude 1993
+ +
-
...
+
Schulfreude 1994
+ + +
+
--
-
Schulfreude 1995
+ + +
--
Mittelwert
(Standardabweichung)
Schulfreude 1993
3,42 (.33)
2,56 (.33)
2,26 (.34)
3,23 (.27)
Schulfreude 1994
3,27 (.35)
2,96 (.33)
2,16 (.41)
2,46 (.30)
Schulfreude 1995
3,22 (.35)
2,52 (.44)
2,01 (.42)
2,47 (.37)
Legende: 1) „Die Konsistenz eines Clusters ist ein Maß fiir die Homogenität der dem angehörenden Fälle [...] Ein Konsistenzwert von 1.0 bedeutet, daß das Clusterprofil mit den multivariaten Profilen der Pbn vollständig übereinstimmt; ein Wert von 0.0 hingegen, daß dieses Cluster keine Varianz aufklärt" (Bardeleben 1990, S. Cluster
31). Die hier erreichten
Dies heißt
analyse
Werte sind als zufriedenstellend anzusehen.
allerdings nicht
-
um
relative Unterschiede
noch einmal
interpretiert
zu
betonen, daß in der Cluster¬
werden
-,
daß die Schulfreude bei
Kindern des Clusters 1 nicht ebenso über die Zeit hin abnehmen würde als dies bei Kindern anderer Cluster der Fall wäre. Wie der zweite Teil
von
Tabelle 1
ausweist, nimmt die Lern- und Schulverdrossenheit in allen Clustern (mit klei¬ nen Schwankungen) von 1993 auf 1995 zu. Ähnlich wie bei den
10- und 11jährigen lassen sich auch bei den älteren Kin¬ Jugendlichen zwei Kontrastgruppen ausmachen, die durchgängig eine unter- bzw. überdurchschnittliche Schulfreude angeben (Cluster 1 und 5). in die allerdings ein Großteil der Befragten fallt Während Cluster 2 und 3
dern bzw.
-
ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
-
79
Clusteranalyse: (Relative) Entwicklungsverläufe der Schulfreude bei 1993 13jährigen Kindern bzw. Jugendlichen (n=185; 6-Cluster-Lösung); eta2: .68
Tabelle 2: 12- und
Cluster
(darunter Label, Konsistenzkoeffizient und Anzahl bzw. prozentualer Anteil der diesem Cluster zugeordneten Kinder bzw. Jugendlichen) 1
„durch¬ gängig
2
3
„schlechter
„Durch¬ schnitt"
Durch¬
un¬
terdurch¬
bungsjahr)
11%
=
...
Schulfreude 1994
...
Schulfreude 1995
...
n
.68; 46; =
n
.75; 50; =
25%
27%
-
+
--
Mittelwert
„
Tendenz
absteigend"
gängig überdurch¬ schnittlich
21;
Schulfreude 1993
6
„durch¬
aufsteigend"
"
.76; n
Tendenz
schnitt"
schnittlich
Skala (Erhe¬
5
4 „
n
.63; 19; =
«
10%
"
.64; 19; =
.58; 30; =
n
10%
16%
+ + +
-
+ +
+ + +
+ + +
+ + +
...
(Standardabweichung)
Schulfreude 1993
1,71 (.23)
2,14 (.35)
2,83 (.30)
2,10 (.26)
3,45 (.27)
2,60 (.43)
Schulfreude 1994
1,61 (.27)
1,85 (.35)
2,52 (.33)
2,86 (.41)
3,22 (.43)
2,43 (.43)
Schulfreude 1995
1,62 (.34)
2,37 (.31)
2,52 (.26)
2,90 (.40)
3,02 (.36)
1,69 (.28)
ein
wenig auffälliges Clusterprofil zeigen, läßt sich bei
den 12- und
13jähri-
gen eine Gruppe von Kindern bzw. Jugendlichen ausmachen, die eine aufstei¬ gende, eine andere, die eine abrupt absteigende Tendenz (von 1994 auf 1995)
aufweist. Die Kinder des Clusters 4 („Tendenz aufsteigend") liegen 1993 noch etwas unter dem Durchschnitt der Altersgleichen, ,holen' jedoch zum nächsten Jahr hin auf und
liegen schließlich
am
Ende
unseres
Untersuchungszeitraums
ebenso deutlich über dem Durchschnitt wie die Kinder des Clusters 5. In die¬ ser
-
zahlenmäßig kleinen
-
Gruppe finden wir die einzigen Kinder bzw. Jugend¬
lichen, bei denen sich die Schulfreude zwischen 1993 und 1995 entgegen dem allgemeinen Trend in nennenswertem Maße verbessert. Die Kinder des Clu¬ sters 6
(„Tendenz absteigend") weisen in den ersten beiden Erhebungswellen Abweichungen von der allgemeinen Entwicklung auf.
keine besonderen
Jedoch
zur
dritten Welle hin sinkt ihre Schulfreude weit unter das Maß ihrer
Altersgenossen. Wie Tabelle 3 10- und
'
ausweist, unterscheiden
sich die beiden Kontrastcluster bei den
11jährigen signifikant in ihrer Zusammensetzung
der Kinder und die
von
was
das Geschlecht
ihnen besuchte Schulform anbetrifft. Im
durchgängig Gym¬ und 13jährigen nicht auf¬
überdurchschnittlichen Cluster finden sich mehr Mädchen und mehr nasiastinnen. Eine
Differenzierung,
die bei den 12-
tritt. Ob die Kinder in West- oder Ostdeutschland leben, diskriminiert die Clu¬ ster nicht in bedeutsamem Maße wie auch nicht das Einkommen der Eltern und deren Berufsstatus
Fend
(ohne Darstellung).
(1997, S.255ff.) Erfolgskarriere Lern- und Leistungsbereitschaft von Kindern und Jugendlichen hin. Ein Befund, der sich ähnlich auch in unserer Untersuchung zeigen läßt. Wenn auch
scher
80
weist auf einen engen Zusammenhang zwischen schuli¬ wie er sich etwa in den Schulnoten manifestiert und der
ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
Signifikanzniveau im Einzelfall nicht immer eneicht wird, weisen die Kin¬ Jugendlichen aus den überdurchschnittlich schulfreudigen Clustern deutlich bessere Noten (Durchschnittsnoten in Deutsch und Mathematik) auf das
der bzw.
als Kinder anderer Cluster. Hinzuweisen ist dabei insbesondere auf die beiden Cluster mit aufsteigender bzw.
(abrupt) absteigender Schulfreude. Während Kin¬ aufsteigender 2jährigen Untersuchungszeitraums weitgehend halten können, werden die Noten der Kinder mit (abrupt) abnehmender Schulfreude von 1993 auf 1995 um gut eine der mit
Tendenz ihre Durchschnittsnoten im Laufe des
halbe Notenstufe schlechter.
bezug auf die Frage nach den direkten Einflüssen der Familienstraktur und Qualität der Eltern-Kind-Beziehungen auf die (relative) Entwicklung der Schulfreude ergibt sich im dritten Teil von Tabelle 3 ein einheitliches Bild. Weder bei den 10- und 11jährigen noch bei den 12- und 13jährigen unterscheidet sich der Anteil von Kindern aus unvollständigen Familien statistisch bedeutsam in In
der
Tabelle 3:
Beschreibung ausgewählter Cluster anhand ausgewählter Merkmale (Mit¬ Prozentangaben)
telwert bzw.
10- und 1
Clusteraummer und -label aus
Tabelle 1 und 2
ljähnge
13jährige
1
3
5
1
4
6
„durch¬
„durch¬
„durch¬
„durch¬
„Tendern
„Tendenz
aufsteigend"
absteigend'
71=19
«=30
gängig
gängig un¬
überdurch¬ schnittlich
Ctustermerkmale
12- und
"
terdurch¬ schnittlich
n=-28
n
=
29
gängig
gängig
Überdurch¬ "
schnittlich 71
=
un¬
terdurch¬
"
19
schnittlich 71
=
21
"
Kontrollvartablen Alter
Jahren (1993)
10,7
10,8
12,3
12,8
12,8
12,6
32%b
67%
32%
38%
42%
50%
74%'
24%
47%
50%
28%
59%
Noten 1993"
2,15'
2,64
2,28"
3,14
2,58
2,55
Noten 1994
2,20'
2,93
2,44b
3,31
2,45
2,83
Noten 1995
2,41b
2,93
2,50
3,24
2,63
3,10
in
Geschlecht
(Jungen)"
besuchte Schulform
(Gymnasium,
19952)) Schulnoten
Famihenstruktur und Eltern-Kind-Beziehungen
vollständige Familien
85%'
76%
84%
67%
79%
67%
Familienklima 1993
3,46
3,11
3,60'
2,91
3,34
3,11
Famihenldima 1994
3,49"
3,03
3,47k
2,90
3,39
3,13
Familienklima 1995
3,41*
2,95
3,21
2,77
3,14
3,00
Kind erzählt den Eltern
3,36
2,93
3,49'
2,69
2,82
3,02
3,42'
2,85
3,16b
2,48
3,11
2,99
3,29'
2,75
3,14
2,77
2,91
2,73
von
sich 1993
Kind erzählt den Eltern von
sich 1994
Kind erzählt den Eltern von
sich 1995
Legende: a .05 < p
Bereitschaft
indirekter
totaler
Effekt
Effekt
Effekt
07
(63)
.09
(2 33)
16(159)
02
(22)
14
(2 79)
16(1 67)
09(82)
06(134)
15(146)
04
08
12
Schulfreude 1995)
Querschnittmodell 1994 (Famihenstruktur 1994 Kindes,
->
direkter
->
Schulfreude
Bereitschaft des
1994)
(Famihenstruktur 1993
->
Familien-
Schulfreude 1995)
Querschnittmodell 1994 (Famihenstruktur 1994 1994-> Schulfreude
->
Familienklima
(38)
(1 52)
(1.25)
1994)
Legende Querschnittmodelle'
alle Daten
aus
der 2
Erhebungswelle 1994.
In Klammem t-Werte
an dieser Stelle nur verweisen kann, zeigt beispielsweise, daß die Familienstruktur die Schulnoten beeinflußt (Kinder aus unvollständigen Familien haben schlechtere Schulnoten), von denen wieder¬ um ein bedeutsamer Effekt auf die Schulfreude der Kinder ausgeht.
8 In weiteren Strukturmodellen, auf die ich
sich
ZSE, 20. Jg. 2000, H 1
85
Zusammenfassung
und Diskussion Lern- und Schulfreude
Im
Mittelpunkt des Beitrags steht die Entwicklung der
im
Übergang von der Kindheit zur Jugend und der Einfluß
der Familienstrak¬
(definiert über die Vollständigkeit bzw. UnvoUstandigkeit der Familie) und spezifischer ausgewählter Familienprozeßmerkmale die Bereitschaft von Kin¬ dern, ihren Eltern von sich zu erzählen und das von ihnen wahrgenommene Familienklima auf dieses Geschehen. Grundsätzlich geht es dabei um den Vergleich der Entwicklungsbedingungen von Kindern und Jugendlichen aus vollständigen und unvollständigen Familien. Mit der Lern- und Schulfreude wird ein Segment der schulischen Entwicklung beleuchtet, das sich auf habi¬ tuelle Selbstregulationsmechanismen, das heißt auf die eigenaktiven Anteile der Kinder und Jugendlichen an ihrer Schullaufbahn bezieht. tur
-
-
In der Literatur lassen sich
zu dieser Frage drei Forschungsansätze erkennen: geht von einem strukturell bedingten (Sozialisations-) Defi¬ zit in unvollständigen Familien aus (Strukturdefizithypothese) und steht häu¬ fig unter der produktorientierten Prämisse eines unmittelbaren Effekts der Fami¬ lienstruktur auf die kindlichen Entwicklungsmerkmale. Der zweite Ansatz hebt im Gegensatz zur (produktorientierten) Strukturdefizitannahme hervor, daß die Struktur der Familie keinen Einfluß per se auf die kindliche Entwicklung aus¬ übt, sondern daß es vielmehr auf die Qualität der Beziehungen zwischen den (verbliebenen) Familienmitgliedern ankommt (prozeßorientierte Sicht). Eine dritte die beiden vorgenannten integrierende Position schließlich beraht auf
Der erste Ansatz
-
-
der Annahme, daß die Familienstraktur zwar nicht unmittelbar einflußreich auf
Jugendlichen wirkt (keine direkten Effekte vorliegen), aber unvollständige Familien einer Kumulation spezifischer Stressoren ausgesetzt sind, die dazu führen (können), daß die Qualität der Eltern-Kind-Beziehungen leidet und damit auch die Ent¬ wicklung der Kinder beeinträchtigt wird. die
Entwicklung
von
Kindern und
seitens der Familienstraktur
Perspektive auf die Entwicklung der 1.) auf der Ebene der globalen Ent¬ zugrunde liegt wicklung in der Gesamtgruppe aller Kinder und Jugendlichen, 2.) aufder Ebe¬ ne grappenspezifischer Entwicklungsverläufe, und 3.) aufder Ebene indivi¬ dueller Veränderungen -, zeigen, daß der erste Forschungsansatz, insofern damit Die
Auswertungen,
denen eine dreifache
Lern- und Schulfreude
-
die Annahme eines unmittelbaren Einflusses der Familienstraktur auf Ent¬
wicklungsmerkmale für die Entwicklung
seitens des Kindes oder der Schulfreude
-
Jugendlichen verbunden ist,
sich
zumindest für die untersuchte Alters¬
als nicht angemessen zurückweisen läßt. Bei Kindern und Jugendlichen vollständigen und unvollständigen Familien finden sich keine nennenswerten Unterschiede in der Entwicklung der Schulfreude. Hingegen variiert ein überbzw. unterdurchschnittliches Entwicklungsniveau mit den ausgewählten Qua¬ litätsmerkmalen der Eltern-Kind-Beziehungen der Bereitschaft der Kinder und Jugendlichen, den Eltern von sich zu erzählen und das Familienklima (erho¬ ben aus der Sicht der Kinder). Je besser das familiale Klima und je größer die Bereitschaft, sich den Eltern gegen-über zu öffnen, desto höher liegt die Schul¬ freude im Vergleich zu anderen Kindern. Dieses Ergebnis konespondiert mit der zweiten Forschungsposition, die die Bedeutung von Familienprozeßmerkmalen betont. Zur Überprüfung der Annahme der dritten Forschungsperspek¬
stufe
-
aus
-
tive, die nicht 86
von
einem direkten aber
von
einem über den Einfluß auf den ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
Familienprozeß vermittelten Effekt der Familienstruktur auf die kindliche Ent¬ wicklung ausgeht, wurde ein (einfach strukturiertes) Pfadmodell berechnet, das zeigt, daß der direkte Einfluß auf die Schulfreude seitens der einbezogenen Eltern-Kind-Beziehungsmerkmale stärker ist als der direkte Einfluß der Fami¬ lienstraktur, daß aber bei Berücksichtigung des Einflusses, den die Familien¬ straktur auf die Eltern-Kind-Beziehungen ausübt, indirekte Effekte sichtbar werden, die zusammen mit den (geringen) direkten Effekten nicht zu ver¬ nachlässigende Einflüsse der Familienstraktur auf die Schulfreude von Kin¬ dern und Jugendlichen erkennen lassen. Dies entspricht einer Bestätigung der Forschungsposition 3. Als Fazit für weitere Studien
zu
den
Entwicklungsbedingungen von Kindern ergibt sich aus unse¬
und Jugendlichen in unterschiedlichen Familienstrukturen ren
Befunden, daß sich der Einfluß der Familienstruktur auf das Entwick¬
gleichzeitiger Berücksichtigung direkter und indi¬ zwingt dies zum Ein¬ satz von Straktur(gleichungs)modellen (wie ich exemplarisch eines in ein¬ fachster Form skizzierte), da sich in bivariaten und multivariaten Standard¬ auswertungsverfahren (wie zum Beispiel multivariate Regressionsanalysen) lungsgeschehen
nur
unter
rekter Effekte realistisch einschätzen läßt. Methodisch
direkte und indirekte Effekte nicht voneinander trennen lassen und dies auch
bei relativ
geringen
Fall) aber
auch
zu
Effektsstärken
einer
einer
zu
Überschätzung
Unterschätzung (wie in
unserem
des Einflusses der Familienstraktur
führen kann. Darüber hinaus
zeigen die Ergebnisse
und Schulverdrossenheit im
gemeines
vor
allem eins: die zunehmende Lern-
Übergang von der Kindheit zur Jugend ist ein all¬
Grundthema dieser Altersphase, das Mädchen wie das Kinder
ostdeutsche Kinder und
Jungen, west- wie vollständigen Familien
Jugendliche, unvollständigen Familien und das Kinder mit harmonischen und vertrauensvollen Beziehungen zu ihren Eltern wie Kinder mit weniger har¬ monischen Beziehungen nahezu gleichermaßen erfaßt. Allerdings vollzieht sich diese Entwicklung nicht für alle Kinder auf dem gleichen Niveau. Kinder und Jugendliche, die über harmonische und vertrauensvolle Beziehungen zu ihren Eltern berichten, sind durchgängig lern- und schulfreudiger als andere Kinder und halten diesen ,Vorsprung' im weiteren Verlauf bis in die mittlere Jugend wie Kinder
aus
aus
hinein.
Fends, daß dem Auf¬ Leistungsbereitschaft vor dem Beginn der Jugendzeit eine wichtige Bedeutung für die weitere schulische Entwick¬ lung zukommt. Hier eröffnet sich ein zukünftiges Feld empirischer pädagogi¬ scher Forschung, das sich mit den Bedingungen des Aufbaus und der Ent¬ wicklung schullaufbahnrelevanter (und anderer) Eigenschaften von Kindern also in der frühen und mittleren Kindheit (Vorschul- und Grundschulzeit) vor Beginn der Pubertät beschäftigt.
Nachdrücklich
bestätigt sich damit das
Resümee Helmut
bau einer hohen Lern- und schulischen
-
-
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school
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ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
-
Eine
empirische Analyse
am
Beispiel zehnjähri87
ger Kinder. In: Zeitschrift für 246 269
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-
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-
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Zinnecker, J. auf
-
chen: Juventa
Ludwig
Stecher
Fachbereich 2 Universität
-
Erziehungswissenschaft Siegen
Gesamthochschule
-
Adolf-Reichwein-Straße 2 57068
Siegen
Tel. 0271/740-4493 E-Mail:
[email protected]
ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
Rezension
vorliegen, handeln die Mehrzahl der Beiträge direkt oder indirekt davon. Zu den wenigen Ausnahmen gehört eine
Sammelbesprechungen Das
„aktuelle"
Problem
der
innovative Skizze
(Uhle
in Nr.
Generationen
Aus der
Rund 70 Jahre seit Karl Mannheim mit
griffes
seinem Aufsatz in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (KZfSS) „Das Problem der Generationen" in seiner soziologischen Tragweite aus¬
gelotet hat, findet die Thematik erneut und breiter als je zuvor Aufmerksamkeit in der Soziologie und den benachbarten Diszi¬ plinen. Davon zeugen auf dem deutsch¬ sprachigen Büchermarkt eine Reihe von Sammelbänden, die seit Anfang der 90er Jahre in immer dichterer Folge erschienen sind. In jeder dieser Publikationen werden einzelne Bereiche exemplarisch darge¬ stellt und gleichzeitig geht es darum in einer Art Übersicht die Frage zu beant¬ worten, worin das „aktuelle" Problem der Generationen besteht. die Bände nebeneinander, so stellt sich eine erste Antwort gewisser¬
Legt
man
maßen
von
selbst ein: Es
geht
nicht mehr
das eine Problem, sondern um eine Vielzahl von Problemen. Wenn man eine
um
vielschichtige, die Sachverhalte, die Konzepte und die theoretischen Perspek¬ tiven einschließende Pluralität als Indi¬ kator
„das" Postmodeme nimmt,
für
dann kann
man
das Interesse
an
der The¬
matik durchaus in diesen kultur- und
gesellschaftsdiagnostischen Zusammen¬ hang rücken.1 Ein gewichtiger Unterschied gegenüber darin, dass eine Facette des Begriffs der Generation, die besteht
Mannheim
überhaupt
nicht in seinem Horizont war, ins Bewusstsein gehoben
mittlerweile worden
ist, ja sich geradezu in die
derste Reihe
familialen
drängt:
die
vor¬
Beschäftigung mit
Generationen. In den Sam¬
melbänden, die
mir für diese Rezension
ZSE, 20. Jg. 2000,
H. 1
zur
89-er Generation
7).
Aufteilung des Generationenbe¬ gesellschaftlichen und in einen familialen ergeben sich wiederum neue Fragestellungen, namentlich jene des Bezuges zwischen diesen beiden. Skeptisch bin ich allerdings gegen die von Kaufmann (in Nr. 9) vorgeschlagene und im weiteren aufgenommene kon¬ zeptuelle Zweiteilung zwischen Generationenbeziehungen (in Familien) und GenerationenverM/rw's.sen der (in Gesellschaft). Diese Zweiteilung hat in einen
zunächst den Nachteil, dass die Genera¬ in Organisationen und
tionendynamik Betrieben
gewissermaßen eine ohne Bezeichnung bleibt. Diese Thematik findet übrigens auch in der Forschung noch wenig Auf¬ mittlere
-
also
Ebene
-
merksamkeit. Eine löbliche Ausnahme bildet die
(Nr. 10),
Monographie von Sackmann Beschäftigung mit „kon¬
dessen
kurrierenden
Generationen
Arbeitsmarkt"
auf
überhaupt einen
dem
wichti¬
gen neuen Akzent setzt, der zudem noch den Vorteil hat, in eine andernorts entfal¬
Soziologie technologischer Innova¬ eingebettet zu sein. Zu diesem Themenkreis gehören femer die Beiträge von Scherr und von Woderich (in Nr. 9) sowie die Beschäftigung mit Medienge¬ tete
tionen
nerationen
(Richard/Krüger wird, wenn an
Vor allem aber
in Nr.
4).
der Zwei¬
teilung Beziehungen vs. Verhältnisse festgehalten wird, der Blick dafür getrübt, dass die Generationenforschung einen wesentlichen Beitrag zur Überwin¬ dung der meines Erachtens problemati¬ schen und letztlich unfruchtbaren Mikro¬
Makro-Gegenüberstellung
leisten kann.
Vielleicht ist sogar die Metapher der „Ebenen", die in der methodologischen
89
Diskussion
über
den
der
Terminus
normativen
Diese werden bis
Vorgaben
„Mehrebenen-Analyse" Eingang gefun¬ den hat, irreführend Sie war ubngens in der Sozialisationsforschung besonders beliebt, die der Generationenforschung
jetzt
ihrerseits nahesteht und
zusagen,
aufgefangen Man braucht Prophet zu sein um voraus¬ dass die Anstrengungen, dieses
Konzept
neu zu
von
dieser auch
Impulse zu empfangen scheint (vgl hierzu insbesondere die Beitrage von neue
Wehrspaun,
von
Kirchhöfer,
rich-Herrmann und
von
Szydlik
von
Ull-
m
Nr
9, R Richter
in Nr 1) Honig eröffnet Perspektiven hinsichtlich der Sozio¬ logie des Kindes und der Kindheit (in Nr wenn man so will 7) Im Bereich der
neue
-
Soziahsation ben
sich
-
im
Erwachsenenalter erge¬
neue
Entwicklungsaufgaben
(Lang und Baltes
in
Nr
konzeptuelle und empinsche dieser Mikro-MakroÜberwindung Schubladisiemng notwendig und mög¬ lich ist, zeigen Beitrage, die sich dem Zusammenspiel der Generationen im Wohlfahrtsstaat zuwenden Hier geht es um die wechselseitigen Transferleistunwozu
gen,
insbesondere Kohli
et
al
Auswertung des reichen
erster
der Forschung
im
schillernden
Solidarität
indessen kein
überdenken,
Zeit anhalten werden Die
Beitragen, die Analysen der Gene¬
jenen
rationenbeziehungen in der ehemaligen DDR beziehungsweise in Ostdeutsch¬ land enthalten
Innovativ ist
mehrere Generationen
Belege vorlegen können Es geht aber auch immer wieder um die Frage der Moral und das Verhältnis zwischen staatlicher und
Umgang
dürftigen alteren
Eigeninitiative, mit pflegebe¬
Menschen Diese The¬
matik wird mehrfach und
von
unter¬
schiedlicher Seite her
aufgenommen (so
Scholta
Nr 1, Becker und
Walter
Bien
sowie
Lauterbach
in
Nr 2, Schutze in Nr 5, Vascovics in Nr 9) On-
in
sowie
ginell und informativ ist in diesem Zusammenhang! Richters Klarung der Frage, inwiefern der sogenannte Genera¬ tionenvertrag em Vertrag im Rechtssinne ist (in Nr 8) Instruktiv etwa zur Ver¬ ist femer die wendung im Untemcht systematische Darstellung der Zusam¬ menhange aus ökonomischer Sicht durch Kleinhenz (in Nr 5) In den Famihengenerationen verzahnen sich „objektive", d h auf demographische und ökonomische Gegebenheiten bezug¬ nehmende Sachverhalte mit „subjekti¬ ven" Einschätzungen und Erfahrungen und mit persönlichen Interpretationen der -
-
90
daran, dass
Blick genommen
werden (so Bock in Nr 4, Ecarius und in Nr 5, Rosenthal in Nr 9, fer¬
net
Krüger ner
unter
Bezug
Marbach
auf den
Famihensurvey
Nr
9) Diese Arbeiten zei¬ gen überdies anschaulich, wie leistungs¬ fähig heute qualitative Methoden sein in
auch erwähnt, dass für Deutschland
im
in
rationenbeziehungen in Zeiten besonderer Belastungen, wie sie der politische Umbruch mitgebracht hat, nachgezeich¬
können
Unterstützung
nächster
zwischen dem Pnva¬
Verzahnungen
veys (so mit Beitragen in Nr 2 und in Nr 6) informative und konzeptuell wichtige
namentlich
in
2
ten, dem Politischen und dem Kulturellen werden anschaulich insbesondere auch in
Datenmatenals des deutschen Alterssur-
um
wie in
Begnff der
werden, femer auch, dass hier die Gene¬
5)
Dass die
unter
der Öffentlichkeit ebenso
in
Der
Vollständigkeit in
halber
sei
diesen Arbeiten die
besonders bnsante Generationenthematik des Verhältnisses zur
Vatergeneration
zur
Sprache
kommt
(Müller-Kipp in Nr 7, Rupp sowie Völter in Nr 9) Wahrscheinlich hat auch
gerade deswegen der Forschungsbereich Aufschwung genommen (obgleich ein ähnlicher Aufschwung auch in anderen europaischen Landern sowie in den USA zu beobachten ist)
zusatzlichen
Diese
und
zu
Reihe
eine
bestarken mich
in
der
Texte
weiterer
Auffassung,
dafür
plädieren, die Generationen6ezje7i«/j-
gen
ins
Zentrum
zu
rucken und dabei die
Mehrdeutigkeit des Konzeptes der Bezie¬ hung durchaus zu nutzen Es lasst sich sowohl quasi formalistisch ausdeuten als auch im Blick auf institutionalisierte Rol¬
len und konkrete Interaktionen zwischen
„Jung" und „Alt" Unter formalen Gesichtspunkten geht es hier um den Umgang mit „Differenzen" Hier
hegt
eine
Postmodernen
weitere Affinitat vor
Der
„zum"
Umgang
mit
anthropologisch angenommenen Diffe¬ renzen ist im ubngen ein wichtiger Ein¬ stieg für die Pädagogik (Wimmer in Nr ZSE, 20 Jg 2000, H 1
4, Wulf in Nr. 7). Dabei kann
man
ganz
allgemein sagen, dass durch den Einbezug dieser Disziplin in den Generationendis¬ kurs wichtige Bereicherungen für die eigentlich aufder Hand liegende inter¬ disziplinäre Vertiefung der Generatio¬ nenfrage darstellt. Mehrere Anregungen finden sich hier. Es -
-
schlag
lässt sich dann hier
zur
Beschäfti¬
gimg mit der politischen Generationen¬ rhetorik schlagen.
Klar
zeigt
sich: Der Probleme sind viele.
So erstaunt
nicht, dass die Gattung des
Sammelbandes
überwiegt
und
eigentlich
noch kaum Versuche vorliegen, eine in sich konsistente theoretische
Durchdringung
wird mit Nachdruck auf die Umkehr des
vorzunehmen, wie
Verhältnisses zwischen dem
(alten) Leh¬ rer und dem (jungen) Schüler hingewie¬ sen (Baader in Nr. 7). Das geschieht vor
ganz anderen Verhältnissen und mit nur wenig empirischen Referenzen) Mann¬
dem
Selbstverständnis noch
Hintergrand
und in kritischer Aus¬
wertung einer Literatur, die bis ins 18. Jahrhundert
und
noch
reicht. Dabei wird im
weiter
zurück
übrigen deutlich,
dass der Generationendiskurs in seiner tra¬
heim
gemacht hat.
das seinerzeit
(unter
Einen ersten, auch im
unspektakulären Beitrag dazu leistet Höpflinger (Nr. 3) mit einem Bändchen, das in Verbindung mit dem in Sitten (Schweiz) im Aufbau begriffenen universitären Institut „Alter
ditionellen Ausrichtung (auch noch bei Mannheim) sich ausschließlich auf den
und Generationen" entstanden ist. Die
Mann bezieht. Der
führung
lien-
neue
Blick auf Fami¬
(nicht bloß Verwandtschafts-)
Generationen musste hier
nur
schon
aus
empirischen Gründen eine Korrektur bringen. Die Beschäftigung mit Differenz hebt im übrigen die Parallelen zwischen den Generationen und dem Geschlechter¬
diskurs hervor (hierzu ausführlich: BeckGernsheim in Nr.
Überdies
7,
Krüger in Nr.
9).
macht die
pädagogische Aus¬ weitung darauf aufmerksam, wie wichtig die psychoanalytischen Traditionen sind insbesondere Winterhager(siehe Schmid in Nr. 7). Hier klingt dann auch
Publikation bietet im ersten Teil eine Ein¬ in
die
Schlüsselkonzepte und zugrundeliegenden Fragestellungen, geht dann bezeichnen¬ Ansätze und die ihnen
-
derweise
-
auf Formen der Generationen¬
beziehungen ein, namentlich in späteren Lebensphasen. Ein Anhang enthält zehn Vertiefungstexte. Zu einer „richtigen" Rezension gehört Kritik. Das ist dann, wenn es sich um eine Sammlung von Sammelbänden handelt, nicht ganz
einfach, denn
Möglichkeit,
es
fehlt hier die
mit der
der Verweis auf Ambivalenz als einem
nötigen Behutsam¬ keit eine differenzierte Argumentation im Umgang mit einzelnen Texten zu ent¬ falten. So muss ich mich notgedrungen
möglichen
Schlüsselbegriff der
auch hier an das Pauschale halten: Ich wür¬
theoretischen Arbeit an, der entweder alternativ zu jenem der Solidarität oder
de mir wünschen, dass Sammelbände durchwegs (exemplarisch in der vorlie¬
besser noch diesem
Beschäfti¬
genden Auswahl Nr. 5) sorgfältig kom¬ poniert und redigiert werden und dass die¬ se Anstrengungen sich in Einleitungen nie¬ derschlagen, die mehr sind als die bloße Vorwegnahme und Zusammenfassung
der
der einzelnen Beiträge. Ich würde mir auch
Begriffsgeschichte sowie mit der sich im Laufe der Zeit herausgebildeten Metaphorik der Beschreibung von Generatio¬ nen und Generationenbeziehungen. Von
wünschen, dass die Bände als Bücher
weiteren
vorgeordnet verstan¬ pädagogische Literatur, der gewichtige Aufsatz (in Nr. 7), dokumentiert die
den wird. Die
insbesondere von
Bilstein
Nützlichkeit gung
mit
der der
vertieften
Etymologie
und
dieser traditionellen Sensibilität für den
sprachlichen Zugang zu den Phänomenen lässt sich unschwer eine Brücke schlagen zur
aktuellen Art des Redens über Jung
und Alt und den dabei beobachtbaren
Stereotypen. Exemplarisch hierfür sind die von Kruse und Thimm (in Nr. 5). Und ein nochmals nächster Brücken¬
Arbeiten
ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
sorgfältig gestaltet werden. Etwas Mühe auf die Gestaltung des Einbandes dürfte man seitens des Verlages schon aufwen¬ Schlicht unakzeptabel ist eine den. Druckqualität, in der die Einzelheiten gra¬ fischer Darstellungen kaum zu erkennen sind (schlimm ist es in dieser Hinsicht ein¬ zelnen Beiträgen in Nr. 5 ergangen vor¬ bildlich hingegen und wiederum für den -
Unterricht nützlich der erweiterte Aus¬
stellungskatalog Nr. 6). Sammelbände, die 91
Bucher
(und nicht bloß
sollen
sein
rechtferti¬
Tagungs-Dokumentationen)3
gen sich dann und nur dann, wenn das Ganze m jeder Hinsicht mehr ist als sei¬
Teile
ne
Vielleicht
mit die¬
ser
Genera¬
allerdings gehöre ich Auffassung bereits zur alten
tion Ich will indessen die
aufgeben das,
was
Hoffnung nicht
es
folgenden
voraussichtlich Zeit
zur
in
befindlichen Sammelbande Ehmer Alter
und
u a
Leske+Budnch
Höpflinger, Francois, 1999 Gene¬ rationenfrage. Konzepte, theoreti¬ sche Ansätze und Beobachtungen zu Generationenbeziehungen in spaten Reahtes Lebensphasen Lausanne
Nr 3
Vorbereitung gehen Josef
Gutschner
Peter
Sociales
die
„Das
Nr 4 Ecanus, Jutta (Hg ), 1998 Was will die jüngere mit der älteren Genera¬
tion?
Spiegel der Generationen" Böhlau), Martin Kohli und
der
im
(Wien
Marc Szydlik „Generationen
lie und Gesellschaft" und
um
Budrich)
sowie
in
(Opladen
Fami¬
Leske
Generationenbeziehungen in Erziehungswissenschaft Opla¬
den Leske+Budnch
Krappmann, Lothar / Lepenies, (Hg), 1997 Alt und Jung Spannung und Solidarität zwischen
Nr 5
Annette
Luise Winterha-
„Erfahrungen mit der Generationen-Differenz" (Wemheim Wahrlich Deutscher Studien Verlag) The field is booming and blooming'
4
für
Nr 2 Becker, Rolf (Hg), 1997 Genera¬ tionen und sozialer Wandel Opladen
nächsten
der
Vorankündigung
ÖIF Nr
Institut
Famihenforschung
So warte ich denn gespannt auf zum Thema weiter erscheinen
Dort wird
Österreichisches
Wien
wird und schließe diese Rezension mit einer
Linz Schnftenreihe des
in
ger-Schmid
Frankfurt aM
den Generationen
Campus
-
Nr 6
Lepenies,
Annette
(Hg), 1997
Alt
und Jung: Das Abenteuer der Gene¬
Anmerkungen 1
rationen Basel Stroemfeld
Ich ziehe es vor, statt von „der" Postmoder¬
„dem" Postmodernen zu sprechen, um den Bezug zur Epochenetiketüerung zu mindern und auszudrucken, dass sich unse¬ re Gegenwart gerade auch in einem Pastiche vielfaltiger Onentierungen und Per¬
Nr 7
ne von
spektiven
Die Gleichzeitigkeit Generationenzugehong„Multigenerativitat" des
darbietet
unterschiedlicher
keiten, also die einzelnen, ist dafür
ein
Indikator
fortgeschntten ist in dieser in einem Beitrag zum Sam¬ melband „Solidantat" (Hrsg K Bayertz Frankfurt 1998), der im übrigen jedoch nicht Gegenstand dieser Besprechung ist Womit nichts gegen Tagungsdokumenta¬ tionen gesagt sein soll Die diesbezügliche Publikation des Österreichischen Institutes für Farmlienforschung (Nr 1) ist in ihrer
2 Besonders weit
Hinsicht Thome
3
Weise sehr informativ und enthalt überdies
als Besonderheit kommentierte
eine
übersichtliche, gut
Bibliographie,
die für den
Untemcht gute Dienste leistet Kurt Luscher, Universität Konstanz
Besprochene Nr
1
über
eine
Generationen Versuche
sche
padagogische-anthropologi-
Grundbedingung Weinheim Verlag
Deutscher Studien Nr
8 Liebau, Eckart
(Hg), 1997
Generationenverhältnis Zusammenleben
in
Über
Familie
Das
das und
Beitrage zur pädagogi¬ Grundlagenforschung Wem¬
Gesellschaft schen
heim Juventa Nr 9 Mansel, Jürgen / Rosenthal, Gabnele / Tolke, Angelika (Hg), 1997 Aus¬ Generationen-Beziehungen und Tradierung Opladen Westdeutscher Verlag
tausch
Nr 10
Sackmann, Reinhold, 1998 Kon¬
kurrierende Generationen auf dem
Altersstruktunerang
Arbeitsmarkt in
Arbeitsmarkt
Opladen
und
Sozialpolitik Verlag
Westdeutscher
Titel
Badelt, Chnstoph (Hg), 1997 Be¬ zwischen Generationen
ziehungen Ergebnisse der wissenschafthchen Tagung der ÖGIF im November 1995 92
Liebau, Eckart / Wulf, Chnstoph
(Hg), 1996
Qualität
und
pädagogisches
Profil im Elementarbereich Frey, Andreas Erzieherinnenausbildung gestern heute morgen. Konzepte und -
-
ZSE, 20 Jg 2000, H 1
Modelle
tion,
dau
rüber,
zur Ausbildungsevaluation Lan¬ Verlag Empinsche Pädagogik 1999,
326 S
,
DM 55
-
Fthenakis, Wassihos/Einch, Hans (Hrsg) Erziehungsqualitat im Kindergarten. Forschungsergebnisse und Erfahrungen Freiburg Lambertus 1998,208 S DM 28 Tietze, Wolfgang (Hrsg )/Meischner, Tatjana/ Gansfuß, Rudiger/Grenner, Katja/Schuster, Kathe-Mana/Volkel, Petra/Roßbach, -
,
Wie
Hans-Gunther
gut
sind
unsere
Kindergärten? Eine Untersuchung zur pädagogischen Qualität in deutschen Kin¬ dergarten Neuwied Luchterhand 1998, 413 S, DM 39,80
Wolf, Bernhard/Becker, Petra/Conrad, Susan¬ na
Der Situationsansatz in der Evalua¬
tion.
Ergebnisse
schen
der
Evaluation
des
Externen
Empin¬
Modellvorhabens
„Kindersituationen" (Psychologie Band 23) Landau Verlag Empinsche Pädagogik 1999, 359 S DM 65 -
,
Lange Zeit fristete der Elementarbereich im
sozialwissenschafthchen Diskurs
ein
Schattendasein
Obgleich die erste Stufe Bildungssystems markierend und
des von
der Mehrheit der Kinder besucht, blieb
die
systematische Aufmerksamkeit und Erkundung weitgehend
forschensche
Erfreulicherweise deutet sich
aus eine
Trendwende
einschlagige
an
neuere
nun
Diese Rezension will
Publikationen
vor¬
stellen, die sich in empinscher Absicht ent¬
pädagogischen Qualität der Einnchtungen zuwenden oder die Wirk¬ samkeit pädagogischer Modelle eva¬ luieren oder aber nach der Qualifizierung des Personals fragen Einen guten Einstieg bietet der Sammel¬
weder der
band ist
von
W Fthenakis und H Einch Er
entstanden
Tagung,
im
Anschluss
an
eine
die Politik und Praxis mit einbe¬
Spannbreite der Beitrage reicht derzeitigen Modellprojekten (Deut¬ sches Jugendinstitut, Arbeitsgruppe um lurgen Zimmer), über angewandte Studi¬ en mit grossen Stichproben des Staatsin¬ stituts für Fruhpadagogik, bis zu eher grundlagenwissenschafthchen Untersu¬ chungen der Teams um Sturzbecher (Potsdam), Tietze (Berlin) oder Wolf (Landau), Beachtung finden zudem lan¬ derspezifische Entwicklungen, aber auch
zog Die von
Vergleich Dabei verwie hanen die Beitragenden nicht bei der Projektprasentazumeist üblich der internationale
-
-
ZSE, 20 Jg 2000, H 1
geben vielmehr Aufschluss da¬ Qualität konzeptualisieren, welche Konsequenzen für Forschung und Praxis abzuleiten, welche Empfehlungen auszusprechen sind Die Stellungnahmen sind jeweils, dem Tagungsablauf fol¬ gend, in drei gesonderten Kapiteln gebündelt und abgerundet um gelungene Zusammenfassungen der mundlichen eme Diskussionen Gliederung, die zwar den Vergleich der Positionen sie
wie sie
-
erleichtert, aber leider manchen Autor redundanten
zur
Darstellung verführt
Den Rahmen des Buches bildet der
leitende Text des ersten
die Relevanz des Themas erörtert sechs
abschließende
Überlegungen
ein¬
Herausgebers, der
histonscher
wie
distanzierter Provemence
sowie
darunter
Texte, Das
empinevon den
politischen Vertretern bekundete Interes¬ se lasst auf die Forderung weiterer Unter¬ suchungen hoffen Wie sehr diese aber des Reflektierens
vorgangigen
zeigt das
bedürfen,
problematische Plädoyer von J Zimmer für den Einzug von Entrepreneurship in die Erziehermnenausbildung -
-
Mehr noch
die engagierten
verweisen
Anmerkungen
von
Rauschenbach und
Hoffmann auf die
Gratwanderungen, die Sparens mit dem schillern¬ den, theoretisch erst ansatzweise (vgl Fthenakis 1998) elabonerten Begnff Qualität verbunden sind in
Zeiten des
Wer
naher mit
sich
den
empinschen
Implikationen auseinandersetzen mochte, auf die langsschnitthch angelegte sei Arbeit
Tietze et al
von
verwiesen
Sie
interpretiert Qualität als facettenreiches
Konstrukt, das ausgehend der
vom
adäquaten Entwicklung
Wohl und
des Kindes
in
die Dimensionen Prozess-, Struktur- und Onentierungsquahtat gegliedert und in ein
hierarchisches
Mehrebenenmodell
überführt wird, das auch den familialen Kontext einbezieht
Die deutsche Stich¬
probe des internaftonalen Projekts umfasst 422 Madchen und Jungen aus 103 Gmp¬ pen, deren Erziehennnen und Familien, eingesetzt werden Befragungen, Beob¬
und
achtungen ernüchtern
Mittelmäßigkeit berichtet,
vom
struktureller schehen
Tests
Von
Die
Befunde
allenfalls
des
gehobener Kindergartens wird
ungunsügen
Mangel
auf das
Einfluss
Binnenge¬
Am ehesten zeigen sich gute
93
Standards der alten
in
den
Halbtagseinnchtungen
Bundeslander, mehr als andere
nach der Wende dern
erprobt
in
den
wurde
neuen
Bundeslän¬
Ziel der externen
vermeiden die ostdeutschen
Evaluation ist es,
fehlende Ressourcen Die
12 ModellDesign (je einnchtungen, dem Modell nahestehen¬ de, davon unberührte Institutionen) und
Einnchtungen Prozessquahtat
ist dort indiziert durch Konzentration der
Fachkraft auf die
Grappe
und die Struk-
tunerang der Aktivitäten, die westdeut¬
Kolleginnen favonsieren auf Ein¬ zelne und deren Autonomie bezogene Konzepte Und die Kinder? Sie verbringen die meiste Zeit in Teilgruppen, spielen mehr parallel als miteinander, werden gerade in den Ganztagsplatzen des Westens mehr gepflegt als angeregt Die¬ se Bedingungen zeitigen Folgen, aber schen
determinieren
-
schon wegen der vielen ausser dem auf¬
Kontexte, die die Kinder suchen
(vgl
Tietze/Roßbach
1991) Multiple hierarchische Regressionsanalysen weisen dem Famihensetting die höchste Erklarungskraft für den Entwicklungsstand des Kindes zu Doch wirkt der Kindergarten dann eigenstandig, wenn es um verbale und m der Ernnchtung erforderliche Kompetenzen geht, eine gute Einnchtung vermag den Kindern einen erheblichen „Vorsprung" an Können und Fähigkeiten zu verschaffen
nicht
-
alles
Die
Makrobedingungen,
dichotomisiert
als
Ost-West-Vanable,
schlagen
indirekt in den anderen Umweltebenen
wie
gen, 70 Prozent der Vananz nicht rackführbar sind, auch wenn, wie weiter kn¬ tisch anzumerken ist, die argumentative
Quahtatsmdikatoren
von
Selbstverstandnis
institutionellem
des
Kindergartens sowie die methodolo¬ gische Reflexion des Messens ausgespart bleiben, wird die weitere Forschung von dieser Pionierarbeit profitieren Auch die Studie
von
Bernhard
Wolf,
Petra Becker und Susanna Conrad säumt nicht, der Quahtatsfrage
Kapitel
zu
widmen
ver¬
ein
eigenes Gleichwohl gilt ihr
Fokus dem „Situationsansatz", einer von J Zimmer u a in den 70er Jahren erprob¬ ten
94
die Instrumente
in
Konzeption der Fruhpadagogik, die
einem
eigenen Band
(vgl Conrad/Lischer/ Wolf 1996), eme Kurzfassung hegt ebenfalls vor (vgl Becker/Conrad/Wolf 1999) Was also bnngt der Situationsansatz9 Es ent¬
versammelt
steht
ein
ambivalentes Bild Aufder Basis
Vananzanalysen wird deutlich, dass in den Modelleinrichtungen in der Tat häu¬ figer all jene Aspekte zutage treten, die auf Anregung, Entscheidungsfreiheit, Eigen¬ ständigkeit, Konflikttahigkeit der Kinder
von
setzen, zudem ist das matenelle Umfeld bewusster gestaltet Disknminanzanalysen
erlauben, 87% der Kinder fehlerfrei zu den drei
Designtypen
zuzuordnen
Allerdings
anderen Punkten, obgleich eben¬ falls von den Initiatoren gewollt, keine sig¬ sind
in
tivität,
die Autoren einräumen, wichtige Aspek¬ te kindlicher Entwicklung nicht einbezo¬
und
analysieren Untersuchungsanlage und Stichproben sind sorgfältig dargestellt,
zu
nie¬
Insgesamt werden über 30 Prozent der in der Selbständigkeit, den sprachlichen und sozialen Fähigkeiten der Kinder aufgeklart Dies ist Anlass genug für praxisrelevante Empfehlungen,
Verknüpfung
fil und die Wirksamkeit dieses Ansatzes
nifikanten Effekte
Varianz
quasi-expen-
multimethodisch, gestutzt auf die An¬ gaben von Leitennnen, Erziehennnen, Eltern, Kinder und Forschenden, das Pro¬
sich
der
die das Buch beschließen Auch wenn,
mit einem
mentellen
zu
verzeichnen
-
Krea¬
planensche Aktivitäten der Kinder, Konfliktlosung, Empathie und Zuwen¬ dung der Erzieherin sind in allen Kinder¬ garten gleichermaßen zu finden Im Gesamtvergleich entfaltet der Situations¬ ansatz aufder Ebene der Kindergarten und der dort tatigen Erziehennnen die stärkste Wirkung Etwas gennger, dennoch sicht¬
bar, scheinen die Verhaltensweisen und Fähigkeiten der Jungen und Madchen beeinflusst Über diese Befunde hinaus, gründet das spezielle Verdienst von Wolf/Becker/Conrad in dem Versuch, erstmals
in der Bundesrepublik em handlungsforschensches Projekt mit quantita¬
tiven
Methoden
zu
evaluieren
standen nur 15 Monate
Hierfür
(') zur Verfügung
Manche Schwache des Werkstattbenchtes -
5-stufige
tive
Antwortformate und
Mittelwertvergleiche
bei
desknpkleinem
36), Uberfrachtung mit Ta¬ bellen zuungunsten der Verbahsierung -, manche Wiederholung und Ungereimt¬ heit in den Formulierungen erklart sich hieraus Doch wird dies aufgewogen Sample (N
=
ZSE, 20 Jg 2000, H
1
durch die selbstkntischen des
Anregungen für in
und
Autorenteams
weitere
Überlegungen profunden Untersuchungen die
Qualität und pädagogisches Profil des Kindergartens smd in hohem Maße von den dort tatigen Erziehennnen gestaltet Wie sie
Methodenkompetenz, Lernstrate¬ Handlungskontrolle der Schüle¬ mit Auswirkungen auf das Auto¬
gien und rinnen,
nomieerleben, das ihrerseits aufdie Hand¬
diesem Feld
werden
strebter
darauf vorbereitet? Andreas
lungskompetenz bleibt
wohl
die
zurückstrahlt
Gleich¬
Ergebnisprasentatton
eigentümlich formal, auf bivanate Erörte¬ rungen und Ruckbindung an einzelne
Frey beleuchtet die histonsche Entwicklung (vgl auch Frey 1999), die Ausbildung und Qualifizierung für diesen Beruf Er legt eme
Items verzichtend Dies durfte jene Leser Innen enttäuschen, die methodisch wemger
methodologisch ambitionierte Arbeit vor, die drei aufeinander bezogene Konstrukte
len,
Handlungskompetenzen, selbstgesteu¬ zu Lernen und Lernumgebung einem „Ausbildungsmodell" zusammen¬ führt Die inhaltsanalytische Aufbereitung der Lehrplane von Rheinland-Pfalz weist 138 Einzelkomponenten aus, über die die Erzieherin verfugen soll Ihr Erwerb, so der Autor, setzt selbstgesteuertes Lernen vor¬
-
ertes
-
struktunert
theoretisch
aus,
Zwei-Schalen-Modell, ebenso unterschieden
umgebung
in
in
einem
Lern¬
eine
Systemkom¬ Lehr¬
ponenten (Schulennnen, Klasse,
Beziehungsebenen Die beson¬ dere Leistung dieser Arbeit hegt in der Operaöonahsierung und Validierung dieses komplexen Ansatzes In die Studie einbe¬ kraft)
und
zogen smd 237 Schulennnen, je über 50 Lehrende und Erziehennnen Die Kon¬
werden faktorenanah/tisch, die Beziehungen zwischen Sub-Konstrukten mit Hilfe von LISREL-Berechnungen geprüft Die Befunde zeigen, dass die ver¬ strukte
schiedenen
Kompetenzbereiche,
anders
als erwartet, nur teilweise miteinander vernetzt sind Obzwar die Befragten glei¬ chermaßen das gesamte Spektrum des Könnens und der Fähigkeiten für wichtig
erachten,
Schulennnen
die
meinen
in
höherem Maße als die Lehrkräfte, diese auch erworben zu haben Ebenso fällt es
schwer, zwischen der Realisierbarkeit und der Wichtigkeit den
Auszubildenden
von
Lernstrategien
zu
differenzieren
Wohl aber wissen sie zwischen den Stadien der
Informationsverarbeitung
prozess
zu
prägen die
im
Lem¬
unterscheiden Die Lehrenden
Klassenatmosphare, das
An¬
forderungsniveau
und die Autonomie der
Schulennnen, die ihrerseits auf das
Leh¬
rerverhalten zurückwirkt Im Gesamtmo¬ dell zeichnen sich
Wechselwirkungen
in
Teilbereichen ab, etwa zwischen ange¬ ZSE, 20 Jg 2000, H
1
interessiert smd und einfach wissen wol¬
„was Sache ist" Sie
seien um
Geduld
gebeten und damit getröstet, dass die Vali¬ dierung von Instrumenten eme unver¬ zichtbare Stufe des Erkenntnisprozesses ist, insbesondere m emem von der Forschung lange vernachlässigten, für junge Frauen aber beruflich attraktiven (dazu Rauschenbach/Beher/Knauer 1995) und ge¬ sellschaftlich höchst wichtigen Feld. Literatur
Becker, Petra/Conrad, Susanna/Wolf, Bernhard (Hrsg) (1999) Kindersituationen un Dis¬ kurs Bencht über die Abschlusstagung der
Empinschen Evaluation im Juni (Psychologie Band 24) Lan¬ Verlag Empinsche Pädagogik
Externen 1998 dau
in
Berlin
Conrad, Susanna/Lischer, Petra/Wolf, Bern¬ hard (1996) Erhebungsmethoden der
Empinschen Evaluation des Mo¬ (Berich¬ te des Zentrums für empinsche pädagogi¬ sche Forschung Nr 19) Landau Verlag Empinsche Pädagogik Frey, Andreas (1999) Von der Laienhelfenn zur Erzieherin Aspekte der Geschichte der institutionalisierten Kindererziehung und der Ausbildung des pädagogischen Perso¬ Externen
dellvorhabens Kindersituationen
nals
vom
rialien für
Band
17 bis 20 Jahrhundert (Mate¬ Lehre, Aus- und Weiterbildung,
18)
Landau
Verlag Empinsche
Pädagogik Fthenakis, Wassihos (1998) Erziehungsqua-
Operationahsierung, Überprüfung und Messung htat
empinsche eines
Kon¬
strukts In Fthenakis, W und Textor, M
(Hrsg) Qualltat von Kinderbetreuung Konzepte, Forschungsergebnisse, interna¬ tionaler Vergleich Weinheim Beltz Rauschenbach, Thomas/Beher, Kann/Knauer, Detlef (1995) Die Erzieherin Ausbildung und Arbeitsmarkt Wemheim Juventa
Tietze,
Wolfgang/Roßbach,
(1991)
Die Betreuung
von
Hans-Gunther Kindern
im vor¬
schulischen Alter Zeitschnft für Pädago¬
gik
37 555-579
Barbara
Dippelhofer-Stiem, Magdeburg 95
gen einzelner Personen und begleitend ablaufenden „inneren" Prozessen. Im
Einzelbesprechung
Blickpunkt stehen die handelnden Sub¬ jekte (z.B. Eltern, Kinder, Lehrer, Schüler) und ihre auf den Alltag bezoge¬ nen Informationsverarbeitungen, Kon¬ zepte, Deutungen, Erklärungen, kurz: ihre implizit-subjektiven „Theorien". Dieser Blickpunkt erfordert einen epistemologischen Ansatz und ein wissen¬ schaftliches Instrumentarium, das weiter fortschreitet als ein nur oberflächliches
Abfragen und in seinen Konzepten darum bemüht ist, mit verstehend qualitativen Methoden
Phänomenen
der
Wirklichkeit tatsächlich auf die
erlebten
Spur
zu
kommen.
vorliegende Forschungsarbeit trägt Entwicklungen Rechnung. Sie beschäftigt sich mit der Frage, wie jugendliche Hauptschüler ihre Lebens¬ welt Schule wahrnehmen. Diese Frage zielt auf eine empirische Erforschung der Alltagspraxis, wobei diese Praxis im Fil¬ ter der impliziten Deutungen von Die
beiden
Schülern betrachtet wird. Die Relevanz
Haselbeck,
Fritz:
Lebenswelt
Schule.
Der
Schulalltag im Blickwinkel jugendli¬ cher Hauptschülerinnen und Haupt¬ schüler. Einstellungen, Wahrnehmungen und Deutungen. Passau 1999: Wissen¬ schaftsverlag Richard Rothe, 376 S., DM 59,80. In Rückblick auf die
Erziehungswissen¬
schaft in der zweiten Hälfte dieses Jahr¬
hunderts hat man in zweifacher Weise eine fundamentale
Wende, manchmal
sogar
einen
„Paradigmenwechsel", festgestellt: zunächst eine „empirische Wende", gekennzeichnet dadurch, dass sich Erzie¬ hungswissenschaft nicht nur in theoreti¬ scher Begrifflichkeit und Reflexion erschöpft, sondern mehr als früher der pädagogischen Praxis nähert und dort vorfindbare Erfahrangen und Phänomene mit objektivierten Methoden nach dem der
Vorbild
Naturwissenschaften
erforscht, später dann eine „kognitive Wende", gekennzeichnet dadurch, dass sich
Erziehungswissenschaft
nicht
nur
dieser Man
Fragestellung ist hoch anzusetzen. davon ausgehen, dass subjek¬
muss
tive Theorien
von
Schülern einerseits ein
Niederschlag langjähriger Schulerfah¬ rungen sind und daher retrospektive Bedeumng haben, andererseits aber auch in prospektiver Hinsicht steuernd und regulierend für künftige Handlungen wir¬ ken. Der Autor beschäftigt sich mit einem für erziehungswissenschaftliche Forschung höchst bedeutsamen Gegen¬ stand.
empirische Auseinandersetzung legt gewissenhaft Rechenschaft über das eigene methodische Vorgehen ab. Aus¬ gehend von einer kritischen Diskussion möglicher Formen der Datenerhebung und Datenauswertung wird ein mehrdi¬ mensionales integratives Methodenkon¬ zept herauskristallisiert, das der durchge¬ führten Untersuchung auf den Leib geschneidert ist. Auf diese Weise wird es möglich, sich den Deutungen der Schüler tangential zu nahem. Beispiele aus dem Die
mit äußerlich wahrnehmbaren Vorgängen
Datenmaterial unterstützen die Beschrei¬
und
bung und machen sie gut verständlich und
statistisch
Datensätzen
aus
verallgemeinerten großen Populationen
beschäftigt, sondern verstärkt mit erzie¬ hungsrelevanten individuellen Erfahran¬ 96
nachvollziehbar. Die
beiden Interpretationsebenen (deskriptiv-interpretativ und interpretativZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
analytisch) stellen das Herzstück der empirischen Untersuchung dar. An Hand von geschickt gesammelten und zusam¬ mengestellten Schüleraussagen erfährt Schüler
wie
man,
existentiellen
in
Schule erleben, und im einzelnen folgende Determi¬
Granderfahrungen dass
es
sind, welche sie in besonderer Weise beschäftigen: Lernstoff, Unter¬ richtsfächer, Unterrichtsmethoden, Leis¬ nanten
tungssituationen und damit verbundene Belastungen, Beziehungen zu Lehrern, Mitschülern, Eltern unterrichtliche Kom¬ munikation, soziale Konflikte, Macht¬ situationen, Unterrichtsstörangen, Aus¬ bzw.
übung
Behinderang
von
Grund¬
rechten, Konformität und Nonkonformität. Die
ihrer und
Schüleraussagen
machen in
Unmittelbarkeit, Eindringlichkeit Intensität
nachdenklich.
Man
ist
erstaunt, mit welcher Differenziertheit und Reflexionskraft auch Hauptschüler den
Lebensbereich
Schule
erklären, verarbeiten, oft
auffassen,
muss man
auch
sagen: durchschauen. Manchmal ist man bestürzt, wie hart und rücksichtslos ihre
Urteile wie
ausfallen, oft ist man beeindruckt,
besonnen
wusst sie
Obwohl die
gemäß
aus
und
verantwortungsbeargumentieren. Aussagen der Schüler natur¬
im einzelnen
einem bestimmten Blickwin¬
kel heraus
entstehen, zeigen sich in ihnen Brennglas fast alle Proble¬ und Konflikte, welche die Institution
wie in einem me
Schule belasten. Sie
belegen, dass Bildung
in der Schule niemals gegen die zu bil¬ denden Subjekte, sondern immer nur mit ihnen realisiert werden kann. In den verschiedenen Interpretationsteilen
wird versucht, sich den Aussagen der Schüler in sehr behutsamer Weise zu nahem. Es werden vorschnelle Schlüsse vermieden und die
fen, die Schüler
so
Möglichkeit geschaf¬ lange wie möglich für
sich
sprechen zu lassen. In zwei Schritten der Interpretation werden dann eine Ana¬ lyse und Auswertung des eminent umfangreichen Bestandes an Schüleraus¬ sagen unternommen. Beide Schritte wer¬ den mit hohem Einfühlungs- und Ein-
denkvermögen den Schülern gegenüber ausgeführt, ebenso aber mit großer
ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
methodischer hier weil
auf
Disziplin.
Zurecht
Literaturverweise
diese
die
wird
verzichtet,
Unmittelbarkeit
der
Schüleraussagen nur stören würden. Prägnante Zusammenfassungen am Ende der einzelnen Abschnitte geben einen schnellen und doch genauen
Überblick
über die
wichtigsten Ergebnisse. Aus dem des Erfahrungshorizont langjährigen Praktikers heraus, der 17 Jahre als Lehrer an Hauptschulen tätig war, engagiert sich der Autor dafür, was Schüler bewegt, wahrt aber den distan¬ zierten Blick des
Wissenschaftlers, der
nüchtern
abwägt und prüft. Bei der mit hohem pädagogischem Ethos und Bezugswissen geführten Diskussion zeigt sich die Bedeutung und Tragweite der thematisierten Aspekte, die von kleinräumigen Bezügen ausgehend zu grundlegenden Strukturen von Schule in unserer Gesellschaft ausgreifen. Die Forschungsergebnisse werden präzi¬ se zusammengeführt und gehaltvoll, dabei stets überschaubar, präsentiert. Es entsteht ein informatives Szenario
Schulgeschehen heute,
in dem
zum
positive
Ansätze für eine wünschenswerte Schul¬
kultur ebenso sichtbar werden wie Phä¬ und Vorgänge, welche diese beeinträchtigen. Der Autor zieht auch mögliche Schlussfolgerungen und gibt Ausblicke und Impulse für eine positive Weiterentwicklung von Schule. Sie knüpfen an die vorausgehenden Ergeb¬ nisse und Erörterungen an und bleiben durch diese begründet und gerechtfertigt. Insgesamt ist festzuhalten, dass durch die Forschungsarbeit ein selbständiger und originärer Beitrag zur Erforschung der Frage, wie jugendliche Hauptschülerinnen und Hauptschüler ihre Lebenswelt „Schule" wahrnehmen und deuten, gelei¬ nomene
stet hat. Die Arbeit ist
d.h.
unterworfen
methodenreflektiert, Strenge wissen¬
der
schaftlicher Konstrukte sowie der Erhe¬
bung und Auswertung von Daten, praxis¬ engagiert, d.h. bemüht um eine Verbes¬ serung von Erziehung und Unterricht in der Schule.
Ludwig Bauer,
Universität Passau
97
Aus der Profession
Workshop
gleichbar sind.1 Hierfür
Methoden
Qualitative Längsschnittanalyse
Längsschnittsmdien gelten als der "Königsweg" immer dann, wenn Pro¬ zessaspekte analysiert werden sollen. Prozesse sind wie die Zeit nicht direkt
sinnlich
wahrnehmbar, sie werden viel¬
mehr erschlossen werden
gleich
von
aus
einem Ver¬
Momentaufnahmen,
d.h.
einem
Vergleich von empirischen Beob¬ achtungen, die zu verschiedenen Zeit¬ punkten vergleichbar erhoben werden (ausführlicher: Strehmel, 1988, 1999). In diesem Beitrag geht es um die Analy¬ se qualitativer Längsschnittstudien. Während für quantitative Längsschnitt¬ daten
eine
bekannt
Vielzahl
ist, die oft
von
Methoden
linearen Strak-
aus
turmodellen hergeleitet werden (z.B. Rudinger, 1998), erscheint es in qualita¬ tiven Studien schon schwierig, überhaupt eine Vergleichbarkeit zwischen den qua¬ litativen Daten
aus
verschiedenen Erhe¬
bungszeitpunkten herzustellen. Qualitati¬ ve Daten können für strukturierte Längs¬ schnittanalysen so aufbereitet werden, dass sie ähnlich wie quantitative Daten über die Zeit bzw. über Personen
Tabelle 1:
Anmerkung:
m=
ver¬
Merkmale,
p=
steht mittlerwei¬
le ein breites Methodenarsenal
zur
Aus¬
wertung qualitativen Materials
zur
Ver¬
fügung (z.B. Miles & Huberman, 1984), das die Fassung der qualitativen Infor¬ mationen in nominale Kategorien ermög¬ licht, ohne dabei die Vorteile der qualita¬ tiven Methode (Komplexität, Ganzheit¬ lichkeit, usw.) zu verspielen. Buss (1969, 1974) hat in seinem „Würfelmodell" (siehe Abb. 1) verschiedene für Auswertungsrichtungen Längs¬ schnittdatensätze herausgearbeitet, die durch den schrittweisen Vergleich über Merkmale (Intra-Individual Differences= Intra-ID), Personen (Inter-Individual Differences Inter-ID) bzw. Zeit¬ punkte (Intra-Individual Changes= IntraIC) bearbeitet werden können. Die Formahsierung der Analyserichrun¬ gen in Funktionsschreibweise zeigt, wie die Daten prospektiver Längsschnittun¬ tersuchungen für verschiedene Fragestel¬ lungen zu organisieren sind und welche Arbeitsschritte für welche der Analyse¬ richtungen nacheinander vollzogen wer¬ den müssen (Tabelle 1). Die Funktionen werden von innen nach außen abgearbei¬ =
tet.
die
Für
erste
Dimension
werden
zusammenfassende oder
Begriffe, Indizes Parameter gebildet bzw. Konstellat= Zeitpunkte, Inter-ID Veränderungen, Intra-ID
Personen,
individuelle Differenzen, Intra-IC= Intraindividuelle
=
=
Inter¬ Intra¬
individuelle Differenzen
Analyserichtung a) Inter-ID in
b)
Intra-IC
G(F(t),p),m=l
Intra-IC in Inter-ID
G(F(p),t),m=l
c) Intra-ID in Intra-IC
d)
98
G
( F(f),
m
), p=l
Intra-IC in Intra-ID
G(F(m),t),p=l
in Intra-ID
G(F(m),p),t=l
Intra-ID in Inter-ID
G(F(p),m),t=l
e) Inter-ID
f)
Funktionsschreibweise
ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
tionen
beschrieben, die formal durch die
Funktion F definiert sind. Für bimodale werden die Werte
Analysen
von
F mit
einer weiteren Dimension
verknüpft und in der Funktion G abgebildet. Die dritte Dimension wird in bimodalen Analysen bei 1 konstant gehalten. Die Analyserichtungen a) und b) in
angelegten Studie war, Entwicklung und Umset¬ zung von Lebensentwürfen junger Frauen herauszuarbeiten, d.h. es ging um kom¬ plexe Bezüge der Frauen zu ihrer gesell¬
soziologisch
Muster in der
schaftlichen Umwelt in der Phase des frühen Erwachsenenalters. Mit 125 jungen
Formen können auf trimodale
aus Bayern und Sachsen wurde Längsschnittuntersuchung mit vier Erhebungszeitpunkten über sieben Jahre durchgeführt. Themen der qualitativen leitfadengestützten Interviews waren Lebensentwürfe und deren Umsetzung in
erweitert werden.
den Bereichen
Tabelle 1 beziehen sich auf ein einzelnes
Merkmal, c) und d) sind einzelfallbezo¬ gene Fragestellungen und e) und f) Quer¬
schnittfragen
ohne
Zeitvergleich. Alle Analysen Beispielsweise können
Konstellationen
verschiedenen
aus
Frauen
eine
Familie. Das
Beruf, Partnerschaft
empirische
und
Material wurde
Merkmalsausprägungen in ihrer Verän¬ derung über die Zeit (Intra-IC in Intra-ID)
vollständig
nicht
qualitativer Daten strukturiert und ver¬ dichtet (vgl. ausführlich Keddi et al., 1999, S. 35ff., S. 71ff.). Formalisiert ging es also darum, welche komplexen biographischen Entwürfe
bei einer, sondern auch bei
nur
mehreren Personen untersucht und mit¬
einander
verglichen
werden (Inter-ID in Intra-ID). Für quantitative Daten hat Cattell ver¬ schiedene faktorenanalytische Verfahren Intra-IC in
entwickelt, die diese Analyserichtungen umsetzen (Cattell, 1966, vgl. auch Bortz, 1999, S. 544ff.). Für qualitative Daten ste¬ hen ebenfalls Modelle
zur
Verfügung,
die voraussetzen, dass qualitative Daten zu vergleichbaren Themen und Konzep¬ ten
über mehrere
Zeitpunkte erhoben (1969,1974) ent¬ mengentheoretischen
(F(m)) im Zeitverlauf abzeichneten, bzw. sich stabile Elemente (rote Fäden) zeigten (G (F (m), t), die in kollektiven Mustern als "Lebensthemen" erkennbar
wurden
(H (G (F (m), t), p)). D.h.
der Veränderung individueller Konstella¬
gefragt:
Intra-ID.
nach
Verlaufsmuster
dem
werden,
bestimmte
Abfolgen
die
sich
im Auftreten
Elementen unterscheiden, welche sche Beobachtungen aus einer von
Verhaltens-
repräsentieren.
durch
und
von
empiri¬ Menge
Erlebnisweisen
Unterschieden
werden
ein- und mehrdimensionale Modelle, ein¬ fache und kumulative Sequenzen und
konjunktive
bzw.
disjunktive
Verlaufs¬
muster sowie zahlreiche Mischformen. Im
Approach" skandinavischer werden Längsschnittforscherinnen Muster in den Ausprägungen nominaler Daten über die Zeit verglichen (z.B. Bergman, 1998). Am Beispiel einer qualitativen Längs¬ schnittuntersuchung mit jungen Frauen (Keddi, Pfeil, Strehmel & Wittmann, 1999) soll demonstriert werden, wie die Vorgehensweise bei der Auswertung qualitativer Längsschnittdaten struktu¬ "Pattern
riert werden kann. Das Ziel in dieser
ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
es wur¬
de nach interindividuellen Differenzen in tionen
modelliert
ver¬
Auswertung
wo
wickelte
Ansatz,
zur
sich als intraindividuelle Konstellationen
wurden. Van den Daele einen
transkribiert und mit
schiedenen Verfahren
Folgende
Inter-ID in Intra-IC in
Arbeitsschritte wurden vorge¬
nommen:
Intra-ID:
F(m)
Für die Bereiche
und
Familie
Beruf, Partnerschaft
wurde
das
Material
pro
Interview nach theoretisch und
empirisch hergeleiteten Kategorien inhaltsanaly¬ tisch interpretiert und verdichtet. Diese Kategorien waren: die Bedeutsamkeit des Lebensbereichs, jeweiligen Zukunftsvorstellungen, konkrete Pläne und biographische Handlungen bzw. die Umsetzung der Vorstellungen und Pläne). Der erste Arbeitsschritt
war
zelfallbezogene Analyse len Vorstellungen und einem Zeitpunkt.
also eine ein¬
von
individuel¬
Entwürfen
zu
in Intra-ID: G( F(m), t) Längsschnittinterviews pro Frau wur¬ den über die vier Erhebungszeitpunkte miteinander verglichen im Hinblick auf Verlaufsaspekte: die Stabilität oder Ver¬ änderung in der Bedeutsamkeit von BereiIntra-IC
Die
99
chen und die
Umsetzung von Zielen im ergaben sich zB Muster, m denen em Lebensbereich (z B der Beruf oder die Familie) konttnuierhch Zeitverlauf
Dabei
hohe Pnontat besaß, bei anderen wechsel¬
diese oder die jungen Frauen maßen
te
regelmäßig keinem der Lebensbereiche eme hohe Bedeutung zu Einige formu¬ Lebensentwurfe, die sich durch¬ gangig auf andere Themen, z B die eige¬ lierten
Persönlichkeitsentfaltung oder eme bezogen und wieder andere
ne
Partnerschaft nannten
über
den
gesamten Untersu¬
chungszeitraum keinerlei konkrete Vor¬ stellungen daraber, wie sie leben wollten Die langsschnitthche qualitative Methode machte es außerdem möglich, der konkre¬ ten Umsetzung von Zielen nachzugehen Inter-ID in Intra-IC in Intra-ID H( G( F(m), t), p) Die Ergebnisse der bislang einzelfallbe¬ zogenen Langsschnittanalysen für jede der jungen Frauen wurden miteinander und nach wiederholten her-
verglichen
meneutischen Zirkeln „Lebensthemen" zugeordnet, die den jeweiligen gemein¬ samen „roten Faden" in ihren Lebensentwurfen kennzeichnen Es wurde damit eme
Typisierung vorgenommen, durch die
ahnliche Muster
in
und Verlaufen
kollektiven Lebensthe¬
men
zu
den Konstellationen
zusammengeführt vielfaltigen
wurden die
wurden
Damit
Lebensentwurfe
junger Frauen wesentlich differenzierter nachgezeichnet als dies in Querschnitt¬
studien
möglich
ist
Der Ansatz zeigt, dass Modelle nisation von
Orga¬ Langsschnittdaten für quali¬ zur
für quantitative Studi¬ eingesetzt werden können Die oben
tative ebenso wie en
erwähnten Ansätze für
qualitative Pro¬ zessanalysen (mengentheoretische Mo¬ dell, Pattern Approach) können weiter¬ führend dazu beitragen, die Auswertung "weicher" Daten
komplexe
so zu
Muster
in
straktuneren, dass
qualitativen Langs¬
schnittdaten entschlüsselt werden
1
Literatur
Bergman, L R (1998) A pattern-onented approach to studying indivdidual develop¬ ment Snapshots and Processes In RB Cairns, L R Bergman & J Kagan (Eds) The Individuum
Focus
as
Research New York
Bortz, J
(1999)
in
Developmental
Sage
Statistik für Sozialwissen¬
schaftler (5
vollständig überarbeitete Aufla¬ ge) Berlin Spnnger Buss, A R (1974) A general developmental model for mtenndivdiual differences,
lntra-
mdividual differences and intraindividual
changes
Developmental Psychology, 10,
70-78
Cattell,
(1966) The data box
R B
ing of total
resources in terms
its order¬
of possible rela¬
tional Systems In R B Cattell (Hg book of Mulitvanate experimental
), Hand¬ psycho¬
logy Chicagoe Rand MacNally Keddi, B / Pfeil, P / Strehmel, P / Wittmann, S (1999) Lebensthemen junger Frauen Opladen Leske + Budnch Miles, M B/Huberman, A M (1984) Qua¬ litative Data
Analysis A Source book ofNew Beverly Hills Sage Rudinger, G (1998) Strukturgleichungsmodelle in der Entwicklungspsychologie In R Oerter/ L Montada (Hg ) Entwicklungspsy¬ chologie 4 durchgesehene Auflage (S 1177-1190) Weinheim Beltz, Psychologie Verlags Union Strehmel, P (1988) Prozeßanalyse in der Bewaltigungsforschung In L Brüderl (Hg) Theonen und Methoden der Bewalti¬ gungsforschung (S 208-230) Weinheim Methods
Juventa
Strehmel, Familie
P
Karnereplanung mit Untersuchung über Wissen-
(1999)
Eine
schaftlennnen mit Kindern Bielefeld Kleine Van den
Daele, L
D (1969) Qualitative developmental analysis Develop¬ mental Psychology, 1, 303-310 Van den Daele, L D (1974) Infrastructure and Transition in Developmental Analysis Human Development, 17, 1-23
Models
in
Petra
Kontakt
Strehmel, München
Dr Petra Strehmel, Deutsches
Jugendinstitut
strehmel@dji
e
V
München,
Email
de
Auf die von
vielfältigen Methodenprobleme Langsschnittuntersuchungen kann hier
nicht eingegangen werden
100
ZSE, 20 Jg 2000, H 1
al-
Tagungsbericht Frühjahrstagungen
Zen¬
für
und
trums
und
erziehungswissenschaftliche Sozialisations-, Kindheits¬ und Jugendforschung) grundlegende forschungsorientierte Referate gehalten wurden (z.B. von Berger, Vester, Hunel¬ mann, Hradil, Dangschat, Olk und Overtrup 1997; Zinnecker, Rogge, Heitmeyer, Niesyto, Baacke und Groebel 1998; Wilk, Zeiher, Schütze, Dollase, Kreppner, Olk und Liegle 1999). Am zweiten Tag finden dann überwiegend parallele (4-6) Arbeitsgruppen statt, in denen zu Spezial- oder Unterthemen der Tagungsthematik referiert und diskutiert wird. Der Schlusstag wird neben einer Art Bilanzvortrag oder Referat zu aktuellen empirischen Studien (z.B. Groebel 1998 zu einer Internet-Studie und zur großan¬ internationalen UNESCOgelegten Untersuchung zur ,Jlfediennutzung von Familien-,
des Kindheits-
Jugendforschung 1997, 1998, 1999 in Bielefeld
Das Zentrum für Kindheits- und Jugend¬
forschung" an der Universität Bielefeld (Sprecher: PD Dr. Jürgen Mansel) hat in den letzten drei Jahren jeweils eine sog. ^rühjahrstagung" zu aktuellen The¬ men, Fragen und Problemen von Familie, Kindheit und Jugend bzw. Sozialisation durchgeführt. Ich habe an allen drei Tagungen teilge¬ nommen, habe einmal (1998) im Plenum und einmal (1999) in einer Arbeitsgrup¬ pe referiert Ich gehe also davon aus, dass ich mir wenn auch subjektiv und retro¬ spektiv in etwa ein Gesamtbild dieser -
-
mittlerweile etablierten und mit Blick auf die Teilnehmerzahlen (zwischen 100 und
180) wohl auch beliebten und bewährten
Veranstaltungsform machen kann. Im Frühjahr 1997 hieß das Leitthema „Soziale Ungleichheit und Armut im Kindes- und Jugendalter. Auswirkungen der Entkopplung von Wirtschafts- und
Arbeitsmarktentwicklung";
1998
Kindern": N
dern)
von
=
5000 Schüler
23 Län¬
aus
einer Podiumsdiskussion mit
Referenten und Politikern
abgeschlos¬
In der
Regel werden die Hauptrefe¬ rate und ausgewählte Beiträge in Form eines oder zwei Reader publiziert.1 Ich versuche im Folgenden, einige mir rele¬ sen.
vant
erscheinende
Kürze
zu
Referatsinhalte
referieren und kritisch
zu
in
kom¬
mentieren.
fand
die Frühjahrstagung zum Thema „Selbst¬ sozialisation, Kinderkultur und Medien¬ nutzung" statt; 1999 wurde eingeladen zu
1. Soziale Ungleichheit im Kin¬ des- und Jugendalter" (1997)
„Postmodeme Familienkindheit. Anfor¬
Einleitend wies
derungen, Risiken, Chancen". Die gewählten Themen machen deutlich, dass die Frühjahrstagungen jeweils Fragen und Problemstellungen benannt haben, die
Mansel, auf die „Veränderung des mainstreams" in der Forschung hin, also aufden
nicht nur aktuell sind und kontroverse und brisante
sozialpolitische Debatten provo¬
zieren, sondern die auch empirisch und theoretisch
ansprachvoll sind und die sozialwissenschaftliche Forschung he¬
„
der
Sprecher, Jürgen
Wandel in der
soziologischen Theorie¬ Richtung auf „Ungleichheit und Lebenslauf, „Armut im Längs¬ diskussion in
schnitt", „Armut als kurze Phase oder Dauerzustand" und
vor allem auf das Thema „neue Armut' bzw. „Armut und Kindheit / Armut von Kindern".
rausfordern. Die Anwesenheit und die
In seinem Grußwort stellte der Vertreter
Grußworte, aber auch Referate von Sozi¬ al- und Familienpolitikern und die För¬ derung durch humanitäre und politische
des Ministers für Arbeit, Soziales und Gesundheit' von NRW folgende Thesen
aufder Basis
Instanzen
tistiken auf (und
haben
dies
auch
deutlich
von
aktuellen Daten und Sta¬ zur
Diskussion):
gemacht. Die Tagungen waren und sind alle kon¬ zeptionell und thematisch so angelegt und strukturiert, dass zu Anfang und
gegenwärtig (1997) ideo¬ logisch (politisch-medial) individuali¬ siert und privatisiert (nach dem Motto „die Betroffenen sind selbst Schuld")
gegen Ende von renommierten Vertretern der einschlägigen Fachdisziplinen (sozi¬
problem
ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
-
-
Armut wird
Armut ist
von
einem Rand-
der Gesellschaft
zum
Kern¬
geworden 101
-
Armut wird
normalisierten Bio¬
zum
-
Ab
ca.
als
der „Einheit" und der tech¬ Rationalisie¬
Folge
nisch-wissenschaftlichen
graphieproblem 1985 kann
einer ,^Zwei-Drit-
von
tel-Geselbchaft" gesprochen werden Armut und Reichtum gehören (immer)
Automatisierung sierung).
rung,
und
Computeri¬
zusammen, sind zwei Seiten ein und der¬
den sog. Deklassierten gehören besonders viele Alleinerziehende, kin¬
selben Medaille
derreiche Familien und
-
-
Wir müssen nicht
nur von
Armut, sondern auch und
„Verreichung" sprechen oder,
in
vor
unserer
und über
allem über
Gesellschaft
wie Bertold Brecht dies
formulierte: „Wäre ich nicht arm, wärest Du nicht reich". Sozialstrukturell
neu
und relevant
am
Thema „Armut" sind: Die sozialen informellen Netzwerke
-
(das „soziale Kapital") fällt häufig
weg Ver-
Soziale Milieus lösen sich auf; slumung findet statt (z.B. im „Revier")
-
Die
(Massen-
beitslosigkeit
-
von
Dauerar¬
betroffene Menschen. Vor
allem in der Mitte der Gesellschaft ent¬
Konkurrenzkampf, der spezifischen Phasen der Kri¬ senverarbeitung wiederspiegelt: a) Pogromwelle gegen „Ausländer" und Reaktionen darauf (Lichterketten); b) Gewerkschaftsreaktionen auf Sozial¬ brennt der
neue
sich auch in
abbau
und
(seit
ca.
1996)
Gesellschafts- und geführt hat, in der sich (konkurrierende) Modelle gegen¬
zu
einer
neuen
Politik-Debatte zwei
und
Dauerarbeitslosig¬ keit ist das Hauptübel der „neuen Armut" -Kinder, Familien und Jugendliche sind vermehrt von Armut und ihren Folgen für Wohnung, Gesundheit, Bildung, Selbst¬ wertgefuhl etc. betroffen mit der Konsequenz, dass sog. „lugendprobleme" (Drogenkonsum, Devianz und Delinquenz, Ghettoisierang) zunehmen. Fazit: Wir können angesichts der aktuel¬ len Trends von einer Individualisierung, Privatisierung, Infantilisierang, Familia¬ lisierung, Feminisierung und Normali¬ sierung der Armut und Prozessen der Verreichung und Polarisierung in der Gesellschaft sprechen. Es herrscht das sog. „Matthäus-Prinzip": „Wer hat, dem wird gegeben".
-
Zu
überstehen:
a) der neo-liberale Sozial-Darwinismus mit seiner Standortdebatte; b) der „humanisierte Kapitalismus" als
gewerkschaftliche Reaktion darauf. Sodann fragte Hurrelmann in seinem Referat: „Wieviel Armut vertragen Kinder und Jugendliche?" und ging an Hand
empirischer Ergebnisse auf ,Jtbikofaktoren" (Folgen) der Armut ein (Schuler¬ folg, Devianz, Delinquenz, Krankheit, Selbstwertgefuhl, Sucht, familiäres Kli¬ ma). Hauptthese war: Armut kann/wird als Katalysator innerhalb problematischer Familien wirken. Oder in Form eines
Zitates eines betroffenen
Jugendlichen:
„Wenn ich nicht geklaut hätte, wäre ich arm
herumgelaufen"
oder wie
es
der
In anderen Worten: Armut und Venei¬
Referent formulierte: „Kinder vertragen alles, aber sie werden dadurch geprägt".
chung sind milieuspezifisch (Vester), d.h.
Insgesamt wurde durch Referate und Dis¬
die sozialen Klassen lösen sich
zwar
auf
durch
Ent-Proletarisierung, Fahrstuhleffekt durch die „Unterschichtung der Sozialstruktur" durch Migranten), es (z.B.
kommt aber dadurch
zu
einer neuen Sozi¬
alstruktur der
Gesellschaft, zur sog. „plumit Klassengesellschaft" einem proletarischen (ca. 20 %), einem mittelschichtartigen (ca. 60 %) und
ralisierten
einem Oberschichtenmilieu (ca. 20 %). Dabei „explodiert" in den 90er Jahren die
„Mitte", d.h. sie differenziert (pluralisiert) sich weiter aus in „Gewinner",
kussionen deutlich -
Begriff -
Deutschland braucht eine andere Fami¬
lien-, Kinder- und Sozialpolitik -
Armut macht die Schattenseiten der Indi¬
vidualisierung -
mehr als ein -
findet auch eine -
privates Hobby, sind
privater
Kostenfaktor
Neben der vielzitierten Wir
„Pluralisierung" ,J>olarbierung" statt
brauchen
eine
,yArmutsberichterstattung" öffentliche
Wohlstand" und deklassierte" (Vester
Reichtum.
102
deutlich
Kinder sind kein
„Geprellte", Menschen mit prekärem -
herausgestellt: politischer
Armut ist ein relativer und
Debatte
um
differenzierte und
eine
Armut
und
ZSE, 20. Jg. 2000, H. 1
Die „neue Armut" (InfantilisieFamilialisierung, Feminisierung, Normalisierang, Privatisierung; Armut als ,Jibikofaktor" für die familiale Sozia¬ lisation) ist ein Politikum und muß
Fazit: rang,
im
öffentlich-politisch-medial von
Kontext
,^irmut in einem reichen Land" dis¬
kutiert werden. Die
Forschung hat dafür
notwendigen Erkenntnisse zu liefern. Die Tagung hat dieses Ziel zweifellos
die
erreicht.
Der Mensch wird
-
ganz im Trend der all¬
gemeinen „Ökonomisierung der Pädago¬ gik" (bzw. der neuen Sozialisations- und Kindheitsforschung) zum „Unternehmer -
seiner
selbst'.
Mir
scheint,
der
sich
Paradigmenwechsel von einem Idealtypus (offener plastischer Lernorganismus) in sein Gegenteil (Selbstsozialisation) wiederholt die alten Fehler der Verdinglichung bzw. Reifizierung von „constructed types" (H. Becker) ein Übel pädagogischer Anwendung abzeichnende
-
2.
„Selbstsozialisation, Kinder¬
kultur
Mediennutzung"
(1998) (neue?) Konzept/Paradigma (Menschenbild) der Einleitend stellte Zinnecker das
Selbstsozialisation" Abschied nimmt
vor, das tendenziell
vom
behavioristischen
Bild des Menschen (Kindes!) als offenen, plastischen und von der Umwelt gepräg¬ ten Lernorganismus. Statt dessen ist ver¬ stärkt die Rede (vgl. Hunelmann / Ulich ,JIeues Handbuch der Sozialbationsfor¬ schung") von einem aktiv sich die Umwelt aneignenden und diese verarbei¬ tenden Individuum bis hin ierenden
Subjekt (Kind)
als
zum
konstru¬
kompetenten
Gestalter seiner sozialen und medialen doch
Umweltbedingungen! „Wie selig ein Kind
zu
sein"?
Kühnel wies daraufhin, dass der Begriff der Selbstsozialisation" (vgl. bereits vor
Jahrzehnten G.H. Mead bzw. R. Tumer:
„role-making"; sation in
Soziali¬ H.G.!) nun¬
F. H. Tenbrack:
eigener Regie"
etc.
Jugendforschung auf die Kindheitsforschung brachlos (unkritisch, mehr
von
der
unreflektiert, H.G. ?!) transferiert wird und auch hier einen
Gang gesetzt hat. Kindheits- bzw.
geht
nun von
Prämissen das Kind
Paradigmenwechsel
in
In anderen Worten: Die
Sozialisationsforschung
anderen
aus:
anthropologischen Subjekt,
Der Mensch, das
(?!) wird als aktiv, konstruierend,
eigentätig, aneignend, verarbeitend, deu¬ tend, interpretierend und insgesamt als handlungskompetent gesehen. In anderen (meinen, H.G.) Worten heißt dies quasi entschuldigend: -
,JJu bist selbst daran Schuld, aus
wenn
Dir wird"
oder
sozialwissenschaftlicher Konstrukte. Die
Folge ist gerade beim Thema ,Medienm.E. eine sich aus der Ver¬ nutzung" stehlende (neue antwortung Medien)Pädagogik, die vom ,J