AUSLAND CHINA & DER WESTEN

Chinas Vorbild: China Die Kanzlerin reist nach Peking. Der Westen ist dort kein Modell mehr – die neue Großmacht strotzt vor Selbstbewusstsein VON Matthias

Nass | 15. Juli 2010 - 08:00 Uhr © Philippe Lopez/AFP/Getty Images

Das neue China: Shanghais Finanzdistrikt

Peking/Shanghai Fährt man aus der Pekinger Innenstadt in Richtung Flughafen, dann muss man nach ungefähr zehn Kilometern links abbiegen. Man passiert eine Mauer, Sicherheitsleute prüfen, wer im Wagen sitzt, dann geben sie den Weg frei. Man biegt in eine Gasse und fühlt sich plötzlich wie im alten Peking. Die grauen Hofhäuser der Kaiserzeit, die im Stadtzentrum abgerissen wurden, hier sind sie nachgebaut worden. Ein Potemkinsches Dorf von 200 Häusern. Hinter den falschen Fassaden versteckt sich Chinas neuer Reichtum. Ausländische Manager residieren hier, aber auch hohe Offiziere der Volksbefreiungsarmee. Manch ertragreiches Privatgeschäft hat sie reich werden lassen. Vor den Häusern parkt der eine oder andere Porsche Cayenne. Jörg Wuttke hat hier gerade sein neues Haus bezogen. Seit Langem leitet er die Niederlassung eines großen deutschen Konzerns, in den vergangenen Jahren war er Präsident der EU-Handelskammer in Peking. Wuttke ist einer der besten Kenner des heutigen Chinas. Er hat den Boom der zurückliegenden Jahre miterlebt. Aber was wir bisher gesehen haben, meint er, war nur der Anfang: "China wird erst in den nächsten zehn Jahren richtig durchstarten." Einen Boom ohne Ende gibt es nicht. Jede Party hört einmal auf. Nur in China nicht? Wie kann es sein, dass gerade in dieser kommunistischen Einparteiendiktatur die Wirtschaft

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AUSLAND blüht, in einem Land ohne demokratisch gewähltes Parlament, ohne unabhängige Justiz, ohne freie Presse? Man fragt sich dies, wenn man China besucht, jedes Mal aufs Neue. In dieser Woche besucht die Bundeskanzlerin China , da wird man sich die Fragen wieder stellen. Irgendwann müssen die Widersprüche des Landes das Wachstum doch stoppen, es zumindest verlangsamen. All die unterdrückte Wut: Irgendwann muss sie doch explodieren! Einmal ist das geschehen, 1989. Als der friedliche Protest auf dem Platz des Himmlischen Friedens blutig niedergeschlagen worden war, erstarrte das Land in Angst und Schmerz. Dann raste der Zug weiter. Er könnte jederzeit aus den Schienen springen. Bisher aber ist er nicht entgleist. China, so muss man es heute sagen, funktioniert. Es zahlt dafür einen hohen demokratischen, sozialen und ökologischen Preis. Aber es funktioniert. Anders als der graue Sowjetsozialismus, der an seiner Schwäche zerbrach. Grau ist China nicht, schon lange nicht mehr. Das "chinesische Modell", die Verbindung von Kapitalismus und autoritärer Herrschaft, wird für den Westen vielmehr zu einer politischen und intellektuellen Herausforderung. Zu einer wirtschaftlichen sowieso. Für Europäer und Amerikaner waren Demokratie und Marktwirtschaft immer zwei Seiten einer Medaille. Für den Westen stand eigentlich immer fest: Mit dem Wohlstand werde auch in China die Freiheit wachsen. Und natürlich sei der Westen Chinas Vorbild. Vielleicht war das ein Irrtum. Vielleicht ist Chinas Vorbild: China. Man sitzt in einem Hörsaal der ehrwürdigen Tongji-Universität in Shanghai, die KonradAdenauer-Stiftung hat zu einer Diskussion über "Chinas neues Selbstbewusstsein" geladen. Gerade hat man für eine freie Berichterstattung aus Tibet plädiert, da antwortet der ehemalige chinesische Botschafter in Deutschland: "Lassen Sie doch die Chinesen entscheiden, was für China gut ist." Und die Studenten im Raum applaudieren begeistert. Mit der Partei haben sie, scheint es, nicht viel am Hut. Aber dass einer sich jeden guten Ratschlag aus dem Ausland verbittet, das gefällt ihnen. Den Westen schrumpfen lassen – ist es das, was China will? Gibt es ein Gegenmodell zum Westen? Bisweilen ist heute vom »Peking-Konsens« die Rede, als einer Art Alternative zum "Washington-Konsens", der den freien Markt, den freien Handel, vor allem aber die freie Gesellschaft hochhält. Stefan Halper, ein amerikanischer Autor, hat ein Buch mit diesem Titel vorgelegt: The Beijing Consensus; er versucht darin nachzuweisen, "wie Chinas autoritäres Modell das 21. Jahrhundert beherrschen wird". Halper argumentiert: So wie die Globalisierung die Welt schrumpfen lässt, so lässt China den Westen schrumpfen – indem es still und leise die Ausbreitung westlicher Werte begrenzt.

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AUSLAND Den Westen schrumpfen lassen! Ist es das, was China will? Oder wird Chinas wirtschaftlicher Aufstieg damit auf unzulässige Weise politisch aufgeladen? Eines ist nicht zu übersehen: Aus der Weltfinanzkrise ist die Volksrepublik gestärkt hervorgegangen. Hingegen hat die Krise aus chinesischer Sicht »die Autorität des Westens untergraben«, wie der Economist bemerkt. Ähnlich sagt es Jörg Wuttke auf der Terrasse seines Hauses an der nachgebauten AltPekinger Gasse. "China wächst Jahr für Jahr um zehn Prozent – und rechts und links bricht die Welt zusammen. Dadurch wird China in eine führende Rolle hineingedrängt, die es selbst nicht sucht. Der eigene Erfolg und der Misserfolg der anderen bringen die chinesische Regierung in eine Situation, die sie nicht erwartet hat. Sie ist überhaupt nicht willens, eine globale Führungsrolle zu übernehmen." Auf den Weltfinanzmärkten allerdings spielt sie diese Führungsrolle längst. Das weiß unsere Reisegruppe aus Deutschland, eine Delegation der Atlantik-Brücke, nur zu gut. Der Delegationsbus ist im brodelnden Pekinger Verkehr stecken geblieben. Nur noch ein paar Hundert Meter sind es zu Chinas Zentralbank. Aber es geht nicht voran. "Aussteigen, aussteigen!", ruft die Gruppe. Sie will nicht zu spät kommen, nicht zu diesem Termin. Also springen zwanzig Banker, Anwälte und Vermögensberater aus dem Bus und eilen in der Mittagshitze zu Fuß weiter. Schwer atmend stehen sie Minuten später in der Marmorlobby der Bank. Gerade noch pünktlich! Es geht nur um ein Treffen mit Vize-Gouverneur Yi Gang. Aber schon den stellvertretenden Chef der Zentralbank umweht die Aura von Chinas neuer Macht, sodass ihm die deutschen Gäste mit ausgesuchter Höflichkeit gegenübertreten. Die Finanzkrise hat Pekings bis dahin im Westen wenig beachtete Währungshüter ins Zentralgestirn der internationalen Geldpolitik katapultiert. Jetzt sind sie stets dabei, wenn die amerikanische Fed, die Europäische Zentralbank und Japans Notenbank über das Schicksal der Weltfinanzmärkte entscheiden. Wundern sollte sich darüber niemand. Yi Gang und seine Kollegen sitzen auf einem märchenhaften Schatz von 2,4 Billionen Dollar an Währungsreserven. Kein Land der Welt hat so viel Geld angehäuft. Die Vereinigten Staaten sind bei China mit rund einer Billion Dollar verschuldet. Yi Gang, ein ernster Endfünfziger mit leiser Stimme, hat in Amerika studiert, einen Dolmetscher braucht er nicht, sein Englisch ist exzellent. Was er sagt, soll nicht in der Zeitung stehen. Aber dass sich Europa in der Euro-Krise auf China verlassen kann, diesen Eindruck darf man schon mitnehmen. Und dann ist da noch der Hinweis auf die chinesische Kultur, die es nicht dulde, dass jemand Druck ausübe, zum Beispiel bei den Wechselkursen. Auf Drängen von außen werde sich China niemals bewegen. Aus Einsicht und Eigeninteresse schon. 3

AUSLAND Chinas Selbstbewusstsein, glaubte man nach dreißig Jahren Reformpolitik, könne nun nicht weiter wachsen. 2008, bei den Olympischen Spielen, inszenierte die Volksrepublik vor den Augen der Welt ihren glanzvollen Wiederaufstieg; sie war nun angekommen in der ersten Reihe, alle zollten ihrem Erfolg Tribut. Heute zeigt sich, dass Olympia 2008 nur eine Zwischenstation war. China will nicht nur aufholen, es bereitet sich vielmehr darauf vor, den Westen zu überholen. Die Verhältnisse könnten sich umkehren. Nach zweihundert Jahren, in denen der Osten vom Westen lernte, könnte China unter den Nationen wieder den Platz einnehmen, den es bis zum Ende des 18. Jahrhunderts innehatte und der ihm nach eigenem Verständnis gebührt: das Reich der Mitte zu sein, das Zentrum der zivilisierten Welt. Als Deng Xiaoping im Dezember 1978 mit der Reformpolitik begann, da sei, sagt Rolf D. Cremer, sein Ziel eine "neue Blüte" Chinas gewesen. Der Wirtschaftswissenschaftler leitet in Shanghai die China Europe International Business School, eine von der EU gegründete Kaderschmiede für Manager. Ausländische Professoren hätten es heute schwer, von den Studenten anerkannt zu werden, berichtet Cremer; diese glaubten, chinesische Hochschullehrer könnten ihnen eher etwas Neues beibringen. Früher sei es genau umgekehrt gewesen, da seien die Studenten zu den ausländischen Professoren gestrebt. Sein Kollege Horst Löchel, der zuvor in Frankfurt Ökonomie gelehrt hat, ergänzt: Was für die Hochschule gelte, das treffe auch für die Wirtschaft zu. Als Folge der Finanzkrise habe das "Leitbild des Westens dramatisch gelitten". Die traditionelle Blickrichtung drehe sich um. Heute müssten sich Europäer und Amerikaner fragen: Was können wir von China lernen? China gehe seinen eigenen Weg. "China kopiert nicht den Westen." Nun mal langsam!, widerspricht am selben Tag ein ausländischer Geschäftsmann in Shanghai. So weit sei es mit der chinesischen Kreativität und Innovation auch nicht her. "Wo ist nach dreißig Jahren Reform der chinesische Walkman, wo ist der chinesische iPod?" Doch niemand bestreitet, dass der technologische Vorsprung des Westens dahinschmilzt. 1981, als sie begonnen habe, sich mit dieser Frage zu beschäftigen, habe dieser Vorsprung noch vierzig Jahre betragen, sagt eine deutsche Wirtschaftsvertreterin in Peking, inzwischen liege er bei fünf Jahren. Es sei "Zeit, die Alarmglocken zu läuten". Schon heute werden in der Bundesrepublik keine Handys mehr produziert und keine Laptops. Was aber, wenn in dreißig Jahren auch die Autos der Deutschen in chinesischen Fabriken vom Band rollen? Wollen wir allein auf die schwäbischen Tüftler setzen, die auch noch zur Jahrhundertmitte Nischen besetzen werden, in denen deutsche Mittelständler ihre Weltmarktführerschaft verteidigen? Während China alle strategisch wichtigen Industrien dominiert?

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AUSLAND Vorsichtshalber wird manches deutsche Automodell nicht in der Volksrepublik produziert, manche chemische Formel lieber nicht weitergegeben. Zu groß ist die Furcht vor der immer stärkeren Konkurrenz. Für den Westen wird die Zeit knapp. "In zwanzig bis dreißig Jahren hat China uns in allen Bereichen technologisch überrollt", sagt der Chef eines großen deutsch-chinesischen Joint Ventures und schaut in die Nacht hinaus auf die glitzernden Wolkenkratzer von Shanghai. "Sie werden uns alle überrollen!" Dem würde Laurence Barron, Präsident von Airbus China, vielleicht gar nicht widersprechen. Aber Angst vor Technologieklau? "Das muss uns nicht den Schlaf rauben", spottet er. Ein Flugzeug nachzubauen, das dauere – so lange, dass bei Airbus dann schon die Maschinen der nächsten Generation ausgeliefert würden. »In diesem Land zählt das Volk nicht. Wir haben keine Demokratie« Barron ist gewiss kein Schwarmgeist. Der Brite will einfach nur gute Flugzeuge bauen, die chinesische Konkurrenz fürchtet er nicht. Eines aber, meint er, müsse man daheim in Europa begreifen: "Die nächsten fünfzig Jahre gehören China" – in der Wirtschaft wie in der Politik. "Dies ist die Zeit der Chinesen. Sie wissen es, sie spüren es. Besser, wir stellen uns darauf ein." Gehört die Zukunft wirklich China? "Ich bin tiefpessimistisch", sagt die junge Philosophin, "die Gesellschaft hat keine Werte, sie hat keine Ideale." – "In diesem Land zählt das Volk nicht", sagt der junge Journalist, "wir haben keine Demokratie." Er will wieder ins Ausland gehen. Da ist sie wieder, die frappierende Widersprüchlichkeit des gegenwärtigen Chinas. Das Geld regiert, so roh und brutal wie in keinem westlichen Land. Vielerorts schreien die Arbeitsbedingungen zum Himmel; eine Serie von Selbstmorden in südchinesischen Fabriken hat das Regime alarmiert. China ist der Gewinner der Globalisierung, aber Millionen von Fabrikarbeitern müssen ihre Knochen dafür hinhalten, dass wir unser neues iPhone oder unser iPad preiswert kaufen können. Jedermann spürt die Spannungen. Der Arbeiter, der sich gegen seine Ausbeutung zu wehren beginnt. Der Polizist, der die Streikenden auseinandertreibt. Der Journalist, der nicht darüber berichten darf. Der Bauer, dessen Land zwangsenteignet wird. Der Anwalt, der ihm nicht helfen kann. Und doch werden die meisten sagen: Es geht voran mit diesem Land. Selbst mit der persönlichen Freiheit. Viel zu langsam zwar und ohne Aussicht, dass sich im Großen etwas ändert, in der Politik. Aber wir leben heute besser. Und so widersprüchlich wie die innere Lage des Landes, so widersprüchlich ist sein Verhalten in der Welt. Dass Chinas Macht gewachsen ist und weiter wachsen wird – wer wollte daran zweifeln? Mehr Verantwortung in der Weltpolitik hat es bisher nicht übernommen. Immer wird abgewiegelt. Kein Offizieller, der im Gespräch nicht die Probleme des Landes hervorhebt: 5

AUSLAND das immer noch sehr geringe Durchschnittseinkommen ("Platz 100 in der Welt!"); die Armut auf dem Lande; die verheerende Umweltzerstörung; die explodierenden Immobilienpreise in den Großstädten; die Korruption. Mit alldem haben wir zu Hause genug zu tun, lautet die Botschaft aus Peking. Wir sind kein zweites Amerika, noch lange nicht. China sei vielmehr immer noch ein Entwicklungsland. Zugleich aber haben Reichtum und Erfolg selbstsicher gemacht. Auftritt Fu Ying. Die stellvertretende Außenministerin, zuvor Botschafterin in London, will diskutieren, streiten. In akzentfreiem Englisch kommt sie, kaum hat man Platz genommen, sofort zur Sache. Was denn mit den Europäern los sei? "Sie müssen aufwachen!" Die Geschäftsgrundlage habe sich geändert. In der Vergangenheit sei jede beliebige Investition willkommen gewesen; heute seien nur noch "smarte" Investitionen erwünscht. Mit den Europäern oder ohne sie: "China bewegt sich auch so voran" – aber, bitte, gern auch "mit Ihrer Hilfe". Man erlebt das in China jetzt öfter so. Nur das Amerika der Kennedy-Jahre hat so vor Selbstbewusstsein gestrotzt: Mit unserer Kraft heben wir die Welt aus den Angeln! Und natürlich fliegen wir zum Mond! Anders aber als die Kennedys wollen Chinas Herrscher nicht die Menschheit beglücken, sie wollen nur das eigene Land stärken. Ihre Außenpolitik ist nicht missionarisch, auch nicht aggressiv, auf militärische Abenteuer werden sie nicht sinnen. In ihrem Wachstumswahn sind sie nur ungeheuer egoistisch. Sie reißen die Rohstoffe der Welt in einem Maße an sich, dass für andere Länder nicht viel übrig bleibt. Zumindest darin kopieren sie das westliche Modell, auf eine Weise, die der Westen sich heute nicht mehr trauen würde. Mit einer Realpolitik, die an Zynismus grenzt. Abstecher nach Yingtan in der südlichen Provinz Jiangxi, zur größten Kupferhütte der Welt. 900.000 Tonnen Kupfer pro Jahr werden hier produziert. Die Kupfervorräte Jiangxis sind groß, unerschöpflich sind sie nicht. Also hat die Hütte im Ausland zwei Kupferminen gekauft. Auf einer Weltkarte im Besucherraum sind ihre Heimatländer farbig markiert. Eine Mine liegt in Peru, die andere in – Afghanistan . Ausgerechnet Afghanistan! Wer hätte gedacht, dass die Nato dort auch für eine sichere chinesische Rohstoffversorgung kämpft? In der Realpolitik zumindest hat der Technologietransfer tadellos funktioniert; hier hat China den Westen längst eingeholt. Es braucht kein westliches Vorbild mehr. Dieses Kapitel ist abgeschlossen. COPYRIGHT: DIE

ZEIT, 15.07.2010 Nr. 29

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