Charisma im schulischen Kontext

Johannes Gutenberg-Universität Mainz Fachbereich Sozialwissenschaften, Medien und Sport Institut für Erziehungswissenschaft Bildungswissenschaften Gut...
22 downloads 1 Views 357KB Size
Johannes Gutenberg-Universität Mainz Fachbereich Sozialwissenschaften, Medien und Sport Institut für Erziehungswissenschaft Bildungswissenschaften Gutachterin: Dr. Christine Schlickum Zweitgutachterin: Yalız Akbaba, M.A. Abgabe: 10.03.2015

Charisma im schulischen Kontext

Bachelorarbeit zur Erlangung des akademischen Grades eines Bachelor of Education

Vorgelegt von: Julia Prifling Steinkaut 11 55543 Bad Kreuznach [email protected] Matrikelnummer: 2682461 Studiengang: Bachelor of Education Englisch/Geographie, 7. Fachsemester

Inhaltsverzeichnis: Seite: 1. Einleitung

1

2. Charismatische Erscheinungsformen im schulischen Kontext

3

2.1 Der Ursprung des Charisma-Begriffs

3

2.2 Der Charisma-Begriff im gesellschaftlichen Kontext

3

2.3 Der Charisma-Begriff Max Webers

4

2.3.1 Außeralltägliches Charisma

6

2.3.2 Veralltäglichtes Charisma

7

2.3.2.1 Erbcharisma

8

2.3.2.2 Amtscharisma

9

2.3.2.3 Ideencharisma

9

2.3.3 Alltagscharisma

11

3. Autoritäre Erscheinungsformen im schulischen Kontext

13

3.1 Autorität – theoretische Grundsätze, Gemeinsamkeiten und Abgrenzungen zu Charisma

13

3.2 Amtsautorität

15

3.3 Sachautorität

16

3.4 Persönliche Autorität

17

4. ‚Charismatische Autorität’ in der Schule – eine Zusammenführung bisheriger Ansätze

19

5. Interaktion und Anerkennung – Voraussetzungen für Charisma

23

5.1 Interaktion – Ausgangssituation für Charisma

23

5.2 Annerkennungstheorien

25

5.2.1 Grundzüge der Theorie der Anerkennung (nach Honneth) und ihre Bedeutung in der Pädagogik

26

5.2.1.1 Liebe – Anerkennungsform des Individuums

29

5.2.1.2 Recht – Anerkennungsform der Person

30

5.2.1.3 Solidarität – Anerkennungsform des Subjekts

31

5.2.2 Zusammenhänge und -wirken der einzelnen Anerkennungsformen in Bezug auf Autorität und Charisma

33

6. Ausblick

36

Literaturverzeichnis

38

Erklärung

41

1. Einleitung „Hatten Sie jemals eine charismatische Lehrkraft?“ – diese Frage seitens des Dozierenden ergab sich im Rahmen einer Diskussion zur Persönlichkeit von Lehrpersonen innerhalb des bildungswissenschaftlichen Seminars „Unterricht beobachten, rekonstruieren, initiieren“ an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Wintersemester 2012/20131. Das Ergebnis dieser Frage war eindeutig: Unter den Studierenden war niemand, der nicht mindestens eine charismatische Lehrkraft aus der eigenen Schulzeit nennen konnte. Auch spontanes, weiteres Nachfragen in der Familie, im Freundes- oder Bekanntenkreis führte zu der gleichen Beobachtung – nahezu jedes Mal konnte von solch einer charismatischen Lehrperson berichtet werden. Dabei wurde deutlich, dass hier, im universitären wie auch im privaten Kontext, jedoch nicht von Lehrkräften gesprochen wurde, die es einem besonders leicht gemacht hatten, gute Noten zu bekommen oder die besonders wenig Leistung, beispielsweise in Form von Hausaufgaben, eingefordert hätten – was vielleicht dem Klischee einer ‚netten’ oder ‚gutmütigen’ Lehrkraft entspräche. Es ging vielmehr um Lehrkräfte, „bei denen man etwas mitgenommen hat“, wie es oft hieß. Eine solche charismatische Lehrkraft zu benennen und von dieser zu berichten fiel in der Regel nicht schwer, die Beantwortung der Frage nach einer Definition von ‚Charisma’ im Rahmen der Diskussion des Seminars hingegen schon. Begriffe wie Faszination, Macht, Autorität, Inszenierung, Problemlösung fielen, eine genaue Definition, gerade im Bezug auf eine charismatische Lehrkraft, konnte jedoch nicht genannt werden. Dies diente als Anreiz dazu, sich mit dieser Thematik in Form einer Seminarabschlussarbeit näher auseinanderzusetzen. Die Seminarabschlussarbeit, deren Titel ebenfalls „Charisma im schulischen Kontext“ lautet, beschrieb knapp den aktuellen theoretischen Forschungsstand zu Charisma und stellte anschließend die Frage nach der Existenz von Charisma im schulischen Kontext mittels einer schriftlichen Befragung von Schüler_innen zweier rheinland-pfälzischer Schulen ins Zentrum. Dies geschah mittels eines Fragebogens und der Frage „Hattest du jemals einen Lehrer, den du bewundert hast, oder den du faszinierend fandest?“ (Krass/Prifling/Streidenberger 2013, S. 18). Für den Fall, dass die Schülerschaft keine solche reale Lehrperson beschreiben konnte, gab es die Nachfrage „Wenn nein, wie müsste deiner Ansicht nach so ein Lehrer sein?“ (ebd.). Anhand der so gewonnenen 30 Fragebögen wurde, in Anlehnung an eine empirische Arbeitsweise, exemplarisch herausgestellt, welche Aspekte von der Schülerschaft mehrfach genannt

wurden

und

so

auf

gemeinsame

Eigenschaften

charismatischer Lehrpersonen schließen lassen könnten. 1

unter der Leitung von Herrn Dr. Alexander Aßmann

oder

Verhaltensweisen

Die hier vorliegende Bachelorarbeit basiert auf diesen ersten studentischen Überlegungen und versucht vor allem, sie weiter zu führen – weswegen auch der Titel der ersten Arbeit übernommen wurde. Diese Fortführung erschien als notwendig, da während des Schreibprozesses deutlich wurde, dass die dort erfolgte, eher oberflächliche Behandlung der theoretischen Ebene sehr viele Fragen offen ließ. Aufgrund des beschränkten Umfangs der Hausarbeit war es jedoch nicht möglich, sich dort detaillierter mit dem aktuellen Forschungsstand zu Charisma auseinander zu setzten. Dies ist allerdings dringend von Nöten, da es sich bei Charisma um einen Begriff handelt, der in der Pädagogik bisher keine oder kaum Verwendung gefunden hat. Daher müssen die bestehenden Ansätze zu Charisma aus den Bereichen der Machtsoziologie und Politik auf ihre Relevanz hinsichtlich der Bedeutung im schulischen Kontext untersucht und umgedeutet werden. Die vorliegende Arbeit widmet eben dieser Darstellung, Untersuchung und Umdeutung der verschiedenen, in der Literatur etablierten Charismaformen das erste Kapitel, um die schwer fassbare Begrifflichkeit des Charismas so zugänglich und ihre Bedeutung für den schulischen Kontext so klar wie möglich zu machen. Im Rahmen des Auswertungsverfahrens der ersten Seminararbeit fiel zudem auf, dass neben Charisma vor allem der Begriff der Autorität eine zentrale Rolle zu spielen scheint: die Antworten aus den Fragebögen enthielten oftmals Formulierungen, die man in erster Linie eher mit diesem Überbegriff assoziieren würde. Jedoch wurde nicht nur aus Nennungen in den Fragebögen sondern auch während der Vorbereitungen und in den Schulen deutlich, dass das Thema Autorität einige Schnittpunkte mit dem Themenkomplex Charisma zu haben schien, ohne dass aus dem Stegreif klare Grenzziehungen möglich waren. Die vorliegende Arbeit bietet Raum und Möglichkeit, das Themenfeld der Autorität mit aufzunehmen und einzubeziehen. Im Folgenden widmet sich daher ein Kapitel den verschiedenen Formen der Autorität, deren Bedeutungen für die Schule und ihrem Zusammenhang mit Charisma. Eine letzte Frage, welche sich während der Vorbereitungen zu der vorliegenden Arbeitet auftat, ist die, wie Charisma in der Schule überhaupt positiv Einfluss nehmen und wirken kann. Hierzu werden zunächst kurz pädagogische Überlegungen zu Kommunikation und Interaktion zwischen Schüler_innen und Lehrkraft, besonders in Form des Rollenhandelns, betrachtet. Dies dient als Basis für die Diskussion von Anerkennung als Ansatzpunkt für Charisma in der Schule. Hierzu schließt sich eine Auseinandersetzung mit theoretischen Überlegungen zum Themenfeld der Annerkennung an. In einem weiteren Schritt werden diese mit den vorhergehenden Überlegungen zu Charisma und Autorität in Verbindung gebracht.

Da Autorität und Anerkennung bereits im pädagogischen Diskurs etabliert sind, erfolgt über diese beiden Thematiken eine über den Transfer verschiedener Charismaformen hinausgehende, weitere Verankerung und Einbettung von Charisma in diesen. Zuletzt wird in einem kurzen Ausblick auf mögliche lohnende zukünftige Forschungsmöglichkeiten und -ansatzpunkte zum Thema Charisma verwiesen.

2. Charismatische Erscheinungsformen im schulischen Kontext

2.1 Der Ursprung des Charisma-Begriffs Seinen Ursprung hat der Begriff Charisma im religiösen Kontext – wörtlich übersetzt aus dem Altgriechischen bedeutet er „Gnadengabe“ (Brockhaus 1987, S. 424). Die BrockhausEnzyklopädie definiert Charisma als eine „als übernatürlich empfundene oder außerhalb des Alltags stehende Qualität eines Menschen, die ihn in seiner Gruppe als gottgesandt, gottbegnadet erscheinen läßt [sic!] (Zauberer, Propheten, Kriegshelden)“ (ebd.). Der Duden deutet Charisma in diesem theologischen Zusammenhang als „Gesamtheit der durch den Geist Gottes bewirkten Gaben und Befähigungen des Christen in der Gemeinde“ (vgl. Duden). In seiner ursprünglichen Form steht der Charisma-Begriff also für göttliche Gaben wie Prophezeiungen, Heilungen und Wunderwirkungen (vgl. Krass/Prifling/Streidenberger 2013, S. 4) und ist auf dieser Bedeutungsbene Grundlage für die theologische CharismenForschung. Die heutige allgemeine Vorstellung, die zumeist mit dem Begriff Charisma einhergeht, ist jedoch eine andere: Sie basiert vor allem auf einer Umdeutung des theologischen Charisma-Begriffs des Soziologen Max Weber, der so ein Konzept schuf, das bis heute besonders in politischen und gesellschaftlichen Bereichen in großem Maße Verwendung, Anwendung und Ausdruck findet – denn „[j]eder hat eine Vorstellung davon, was Charisma ist und vor allem wer es besitzt. Charismatiker sind irgendwie andersartig, besonders, faszinierend“ (Bliesemann de Guevara/Reiber 2011, S. 15, Hervorhebung im Original).

2.2 Der Charisma-Begriff im gesellschaftlichen Kontext „Kaum ein anderer Begriff Max Webers ist, auch was seine öffentliche Wirksamkeit anbelangt, so erfolgreich gewesen wie der des Charisma“ (Gebhardt 1994, S.22). Heutzutage

gibt es massenhaft Ratgeber2, Vorträge und Seminare darüber, wie man Charisma erlernen und somit selbst ‚charismatischer werden’ kann: zahlreiche Unternehmen schulen ihre Mitarbeiter im „charismatischen Verkauf“ und Führungspersönlichkeiten in Politik und Wirtschaft versuchen mittels Training und Beratungen, charismatischer zu wirken (vgl. ebd. S. 22f.). Aber auch die breiten Massen werden mittlerweile angesprochen – die britische Rundfunkanstalt BBC3 und das deutsche Magazin Focus4 veröffentlichten Beitrage auf ihren Internetseiten mit Expertenratschlägen, wie man das eigene Charisma steigern könne um erfolgreicher zu sein und im Internet-Video Portal Youtube existieren ganze Vortagsreihen5 mit ähnlichen Inhalten. Beschäftigt man sich jedoch eingehender mit Max Webers Ausführungen zu Charisma, so erkennt man, dass Webers Umdeutung zwar dazu beigetragen hat, dass der Begriff im allgemeinen Sprachgebrauch kaum mehr mit seiner ursprünglich theologischen Bedeutung assoziiert wird, es jedoch auch enorme Unterschiede in der Wahrnehmung des Begriffs heute in der Öffentlichkeit und seinem zugrundeliegenden theoretischen Ansatz gibt.

2.3 Der Charisma-Begriff Max Webers Die theologische Begrifflichkeit des Charismas wurde von Max Weber in seinem Werk „Wirtschaft und Gesellschaft“ herrschaftssoziologisch umgedeutet (vgl. Bliesemann de Guevara/Reiber 2011, S. 17). Weber sieht im Charisma „eine von drei idealtypischen Legitimationsquellen, durch die eine Herrschaftsordnung von Beherrschten als rechtmäßig anerkannt wird“ (ebd.). Die anderen beiden Idealtypen neben der charismatischen Herrschaft sind für Weber die traditionale Herrschaft, welche auf dem Glauben an etablierte Traditionen beruht6 und die legal-rationale Herrschaft, die auf dem Glauben an die Legalität einer unpersönlichen Ordnung7 basiert (vgl. Günther 2005, S. 127). Gegenüber diesen beiden Alltagsformen der

2

Vergleiche hierzu beispielsweise: Benton, Debra (2005): Executive Charisma. Six Steps to Mastering the Art of Leadership. New York Prost, Winfried (2008): Führen mit Autorität und Charisma. Als Chef souverän handeln. Wiesbaden. 3 Geoghegan, Tom (2005): A step-by-step guide to charisma http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/magazine/4579681.stm (14.02.2015) 4 Steinlein, Christina (Focus): Charisma: Angeboren oder erlernbar? http://www.focus.de/wissen/mensch/charisma/charisma_aid_27175.html (14.02.2015) 5 Vergleiche hierzu beispielsweise: Rolf Osterhoff: Charisma und die magische Anziehungskraft. Teil 1. https://www.youtube.com/watch?v=Fz_FQlbTtN0 (14.02.2015) 6 Ein Beispiel hierfür ist die Vererbung von Herrschaft innerhalb einer Adelsfamilie 7 Hiermit ist beispielsweise eine gewisse Staatsform mit ihren jeweiligen Gesetzen und Institutionen gemeint

Herrschaft bildet die charismatische Herrschaft eine außeralltägliche Form – und damit einen Ausnahmefall (vgl. Bliesemann de Guevara/Reiber 2011, S. 17). Laut Weber ist Charisma eine als außeralltäglich […] geltende Qualität einer Persönlichkeit […], um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem anderen zugänglichen Kräften oder Eigenschaften [begabt] oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als >Führer< gewertet wird (Weber zit. nach Bliesemann de Guevara/Reiber 2011, S. 18, Hervorhebungen im Original).

Diese Definition enthält neben den Elementen, die Weber aus dem theologischen CharismaBegriff übernommen hat, vor allem den zentralen Aspekt der Anhängerschaft: Nach Weber ist Charisma keine Eigenschaft, die eine Person innehat, sondern eine subjektive Zuschreibung der Anhänger gegenüber der als charismatisch empfundenen Person. Folglich gibt es keine allgemeinen Kriterien oder Merkmale zur Bestimmung von Charisma. Da es auf Zuschreibung und subjektivem Empfinden beruht, ist es ebenfalls losgelöst von ethischen Fragen nach Gutem oder Richtigem. Letztlich handelt es sich also um eine emotionale Bindung (vgl. ebd.). Um sich mit einer solchen Bindung auseinander zu setzen ist es daher ebenso wichtig, sich nicht nur mit der charismatischen Person selbst sondern auch mit der Binnenperspektive der Anhängerschaft in ihrem jeweiligen gesellschaftlichen und historischen Kontext zu beschäftigen (vgl. ebd. S. 19f.). Im Rahmen dieses bestimmten, speziellen Kontextes, kann sich eine Person besonders hervortun, wenn sich ihr ein entsprechender Raum, eine Plattform, eine ‚Bühne’ hierfür bietet. Nur so kann die als charismatisch empfundene Person schließlich zu einer Führungskraft stilisiert werden – ohne einen entsprechend begünstigenden Kontext und ohne jede Art von Bühne scheint Charisma nicht wirken zu können: Man denke hier beispielsweise an eine Person, die vollkommen alleine in einem Raum sitzt – hier wirken keine charismatischen Prozesse, da es keine Gefolgschaft gibt, die dieser Person Charisma zuschreiben könnte und daher auch keine Plattform für die Person vorhanden ist, um überhaupt in Richtung dieser Zuschreibung handeln zu können. Erst durch einen Akt der Interaktion wird dies möglich. Das trotz dieser Definition vorherrschende Maß an Undefiniertheit der Begrifflichkeit scheint das Magische, Unerklärliche und daher auch das Erfolgsrezept des CharismaBegriffes zu sein, der in gewisser Weise einen Teil seines religiösen Charakters bewahrt: “Charisma“ ist ein schillernder, ja verführerischer Begriff. Als soziologische Chiffre steht er für etwas, das Constans Seyfarth einmal treffend den “nicht sozialisierbaren Rest des menschlichen Handelns“ genannt hat, und verweist deshalb auf soziale Tatbestände, die sich jeder vordergründigen sozialstrukturellen Erklärung entziehen [und] vielmehr in jenem weiten und diffusen Feld menschlicher Emotionen, Glaubensüberzeugungen und Zukunftshoffnungen angesiedelt sind (Gebhardt/Zingerele/Ebertz 1993, S. V, Hervorhebung im Original).

Die Mainzer Seminararbeit fasste diesen allgemeinen Ansatz nach Weber zu Charisma in drei folgenden Hauptaspekten zusammen:

1. Charisma ist weder angeboren, noch erlernbar, noch ein Gottesgeschenk. Vielmehr beruht es auf Zuschreibungen Außenstehender. 2. Charisma ist kontextabhängig und braucht eine Bühne. 3. Auf die Autoritätsgläubigen hat Charisma eine starke Sogwirkung, die sich in Bewunderung oder Faszination äußert (Krass/Prifling/Streidenberger 2013, S. 6).

Um genauere Betrachtungen zu ermöglichen, unterteilt Weber selbst Charisma in zwei Teilgruppen: das außeralltägliche und das veralltäglichte Charisma. Bliesemann de Guevara und Reiber (2011) fügen dem noch einen dritten Typ, das Alltagscharisma, hinzu (vgl. Bliesemann de Guevara/Reiber 2011, S. 20ff.). Diese Dreiteilung zu übernehmen erscheint für die weiteren Betrachtungen dieser Arbeit sinnvoll, da Bliesemann de Guevara und Reiber diese dritte Kategorie, wie auch die übrigen Ansätze zu Charisma, zwar vordergründig auf den politischen Kontext anwenden, sich aber gerade in diesem Bereich Parallelen zum schulischen Kontext finden lassen, da beide Kontexte was beispielsweise Alltäglichkeit, Normierungen oder Institutionalisierung anbelangt große Ähnlichkeiten aufweisen. Diese Parallelen erleichtern daher die nötigen Ableitungen und Umdeutungen der bestehenden Ansätze.

2.3.1 Außeralltägliches Charisma Wie der Name ausdrückt, handelt es sich beim außeralltäglichen Charisma um eine Ausnahmeform. Es ist ferner also von einer extrem seltenen Form auszugehen, da Charisma selbst bei Weber ja bereits als eine außeralltägliche Legitimation von Herrschaft angesehen wird (vgl. Gebhardt 1994, S. 40ff.). Das außeralltägliche Charisma hat extreme Hintergründe: Es entsteht vornehmlich in Ausnahme- oder Notsituationen, in welchen das Auftreten dieser außeralltäglichen Form begünstigt ist (vgl. Bliesemann de Guevara/Reiber 2011, S. 21). Prototypen dieser Form des Charismas sind Prophet_innen und (Kriegs-)Held_innen, die vor allem als Hoffnungsträger_innen fungieren (vgl. ebd. S. 22). Einen interessanten Ansatz zur Entstehung außeralltäglichen Charismas bietet darüber hinaus die Devianzthese nach Lipp (1993): Die Ausführungen Webers aufgreifend geht er davon aus, dass es sich bei Charismatiker_innen oftmals „nicht um Menschen mit besonderen Fähigkeiten oder Gaben, sondern im Gegenteil um gebrandmarkte, diskriminierte, marginalisierte Personen aus gesellschaftlichen Randlagen – um Stigmatisierte [handelt]“ (ebd., S. 21). Durch ein demonstratives Bejahen ebenjener Stigmata, oftmals mündend in gezielter „Selbststigmatisierung“, geben sie der Gesellschaft die Schuld und schaffen sich so eine Basis für Gefolg- und Anhängerschaft und letztlich auch charismatische Zuschreibung

(vgl. Lipp 1993, S. 16-17). Sie fungieren so oftmals als Hoffnungsträger, gerade für sozial benachteiligte Schichten (vgl. Bliesemann de Guevara/Reiber 2011, S. 21). Für die weiteren Ausführungen dieser Arbeit erscheint die Form des außeralltäglichen Charismas eher ungeeignet. Ein Zusammenhang mit dem schulischen Kontext ist zwar denkbar, bedarf aber solch extremer Beispiele wie dem eines Systemumsturzes und einem damit verbundenen Zusammenbruch eines Bildungssystems, welcher es ermöglichen würde, ‚revolutionierende Charismatiker_innen’ unter der Lehrerschaft hervorzubringen. Besonders für Betrachtungen in einem politisch stabilen Umfeld wie der Bundesrepublik Deutschland ist diese Form tendenziell zu vernachlässigen. Es kann hier zwar noch eingewendet werden, dass eine Lehrperson sich durchaus ‚heldenhaft’ verhalten kann, indem sie sich besonders für ihre Schüler_innen einsetzt, jedoch geschieht dies in einem institutionalisierten, gesetzlich geregelten Rahmen und somit nicht in einer Extremsituation. Der Ansatz der Devianzthese zur Erklärung der Entstehung von Charisma scheint jedoch durchaus auch auf weitere Charismaformen übertragbar zu sein und sollte daher in seinen Grundzügen Eingang in weitere Überlegungen finden. Eine Unterform, welche allerdings nicht ausschließlich als dem außeralltäglichen sondern auch dem veralltäglichten Charisma zugehörig angesehen wird, ist das Ideencharisma. Hier wird einer Idee oder Vorstellung8 anstelle einer Person Charisma zugesprochen. Von Max Weber selbst wenig berücksichtigt, wird diese Form in der aktuellen Charisma-Forschung als wichtige Ergänzung angesehen und diskutiert (vgl. ebd. S. 18). Da sich jedoch das außeralltägliche Charisma, wie bereits aufgeführt, eher weniger für Betrachtungen im schulischen Kontext eignet, wird auf das Ideencharisma erst später, im Rahmen des veralltäglichten Charismas, näher eingegangen.

2.3.2 Veralltäglichtes Charisma Ganz allgemein gesehen ist Charisma bei Weber kurzlebig, auf ständige Bewährung angewiesen und immer der Gefahr des Verblassens ausgesetzt […] dieser labile Charakter der charismatischen Herrschaft [bedeutet], dass »reines« Charisma nur im statu nascendi, seinem Entstehungsmoment, überhaupt nachgewiesen werden kann. Denn kaum ist die charismatische Beziehung etabliert, setzt auch schon ein mehr oder minder schneller Prozess der Veralltäglichung ein (Bliesemann de Guevara/Reiber 2011, S. 23, Hervorhebungen im Original).

Diese Veralltäglichung ist von Nöten, da Charisma kaum rational zu kontrollieren und zu planen ist und somit mit der bestehenden Ordnung, beispielsweise in ökonomischer, sozialer, politischer oder kultureller Weise kollidiert (vgl. Gebhardt 1993, S. 50). Das Charisma 8

Ein Beispiel wäre hier die Weltanschauung des Kommunismus

wandelt sich also „von einer außeralltäglichen Kraft zum Element einer stabilisierenden Ordnung“ (Bliesemann de Guevara/Reiber 2011, S. 26). Weber selbst definiert zwei Formen des veralltäglichten Charismas: Erb- und Amtscharisma (vgl. ebd. S. 23). Wie bereits im Vorhergehenden erwähnt, wird in der wissenschaftlichen Diskussion auch das Ideencharisma als Unterkategorie des veralltäglichten Charismas angesehen. Diese drei Unterformen sollen nun genauer, besonders mit Hinblick auf ihre Bedeutung im schulischen Kontext, betrachtet werden.

2.3.2.1 Erbcharisma Beim Erbcharisma wird einer Person Charisma nicht aufgrund ihrer selbst, sondern aufgrund der Abstammung von einer anderen, als charismatisch empfundenen Person bescheinigt. Zahllose Beispiele aus der Alltagswelt hierfür sind diverse Nachfolgeregelungen im politischen oder religiösen Bereich, wo ein Nachkomme einer ‚revolutionierenden’, als charismatisch empfundenen Person nachfolgt, da diesen Nachkommen aufgrund ihrer Abstammung ebenfalls Charisma – und so ein Führungsanspruch – zugesprochen wird (vgl. Gebhardt 1993, S. 54). Dies ist häufig mit einer kultischen Inszenierung des charismatischen ‚Ahnen’ verbunden, die sich auch auf die aktuelle Führungskraft ausweiten kann (vgl. ebd.). Letztlich kann man davon ausgehen, dass sich hier somit ein Wandel der Herrschaftsart von einer charismatischen hin zu einer traditionalen Herrschaft vollzieht (einem anderen der von Weber benannten drei Idealtypen der Herrschaft). Für den schulischen Kontext scheint diese Form eher wenig geeignet. Es sind zwar durchaus Fälle denkbar, in denen ein Kind einer als charismatisch empfundenen Lehrperson als Lehrkraft an derselben Schule tätig wird und dadurch gewisse ‚Vorschusslorbeeren’ in Form einer charismatische Zuschreibung aufgrund des Verwandtschaftsverhältnisses erfährt, jedoch ist dies sicher kein Regelfall im deutschen Schulwesen und daher zu speziell, um hier weitere Beachtung zu finden. Außerdem ist anzumerken dass ein solches Erbcharisma gerade im schulischen Kontext der unbedingten Bewährung ausgesetzt ist und lediglich die Verwandtschaft mit einer charismatischen Lehrkraft auf Dauer nicht ausreichen wird, um selbst als charismatische Lehrkraft wahrgenommen zu werden. So kann das Charisma der verwandten Person zwar in gewisser Weise ‚nachhallen’, aber wohl nicht für eine dauerhafte Zuschreibung sorgen.

2.3.2.2 Amtscharisma Die andere von Weber genannte Form des veralltäglichten Charismas ist das Amtscharisma. Hier wird das Charisma losgelöst von einer Person einem Amt, das eine Person ausübt, und somit einem „sozialen Dauergebilde“ (Gebhardt 1993, S. 55) zugesprochen. Deswegen ist es die Form des Charismas, „die auch in modernen bürokratischen Gesellschaften, ja selbst in demokratischen Verfassungsstaaten auftritt“ (ebd.). Um die Außeralltäglichkeit eines solchen Amtes

und

seines

Amtsinhabers

hervorzuheben

wird

auf

verschiedenste

Mittel

zurückgegriffen: Beispiele sind hier die Salbung zum Priester, die einem rituellen Bereich zuzuordnen ist, oder auch die symbolische Ausstattung eines Präsidentenamtes – mit bestimmten Repräsentationsgebäuden, nationalen Emblemen und militärischen Ehren (vgl. ebd. S. 56f.). Diese Form von Charisma ist an sich äußerst interessant in Bezug auf diese Arbeit, handelt es sich doch beim Lehrerberuf um ein ‚Amt’ in der Gesellschaft. Jedoch ist hinreichend bekannt, dass hierzulande das Klischee der ‚faulen Lehrerschaft’, die für einen Halbtagsjob ein volles Beamtengehalt (welches auch wiederum klischeebehaftet ist) kassieren würde, weit verbreitet ist und so eine oftmals eher ablehnende, abschätzige Haltung gegenüber Lehrkräften gegeben ist. Paris (2009) sieht dies vor allem in einer schwindenden Akzeptanz von Schule als Institution in der deutschen Gesellschaft begründet, denn „das Ansehen des Lehrers ist das Ansehen der Schule“ (Paris 2009, S. 44). Dies ist jedoch nicht überall der Fall, da „die Wertschätzung von Lehren und Lernen, […] [beispielsweise] in den ostasiatischen Ländern deutlich höher ist als etwa in Deutschland“ (Fend 2004, S. 19). Prinzipiell ist die Form des Amtscharismas in Bezug auf die Frage nach Charisma bei Lehrpersonen also durchaus als bedeutend anzusehen, im speziellen Fokus auf deutsche Lehrer_innen jedoch, aufgrund der genannten Tendenzen, auch auf ihr tatsächliches Wirken hin kritisch zu hinterfragen.

2.3.2.3 Ideencharisma Wie bereits erwähnt wird das Ideen- oder auch Weltbildcharisma als Sub-Typus von außeralltäglichem sowie veralltäglichtem Charisma verstanden. Es bildet eine Ausnahme von den übrigen Charismaformen, da hier das Charisma einer Idee anstelle einer Person zugeschrieben wird (vgl. Bliesemann de Guevara/Reiber 2011, S. 18). Jedoch handelt es sich hierbei keineswegs um eine ‚unpersönliche’ Form, denn Ideencharisma tritt „zumeist in Verbindung mit bestimmten Stifterfiguren auf, die selbst charismatisch qualifiziert sind, und

eine spezifische Botschaft oder Lehre verkünden. Ideencharisma und Personalcharisma bilden in diesem Fall eine untrennbare Einheit“ (Gebhardt 1993, S. 57-58). Die Zugehörigkeit von Ideencharisma zu außeralltäglichem sowie veralltäglichtem Charisma zeigt vor allem auf, dass es keine scharfe Trennung zwischen diesen beiden großen Unterformen des Charismas gibt. Vielmehr weist dies auf ihre enge Verwandtschaft und das Entstehen des veralltäglichten Charismas aus der außeralltäglichen Form hin. Als klassisches Beispiel für Ideencharisma nennt Gebhardt den Marxismus, an welchem sich der Wandel vom außeralltäglichen zum veralltäglichten Charisma klar nachvollziehen lässt und in welchem die ‚Verehrung’ der Stifterfiguren deutlich ersichtlich wird (vgl. Gebhardt 1994, S. 72ff.). In gewisser Weise ist das Ideencharisma vergleichbar mit der Form des Erbcharismas, nur, dass hier das ‚Erbe’ in ideologischer und nicht in personell-verwandtschaftlicher Form bewahrt wird. Für den schulischen Kontext kann prinzipiell von zwei verschiedene Phänomenen im Bereich des Ideencharismas ausgegangen werden: Den Reformschulen und dem der ‚Reformen an Schulen’. Auf die Reformschulen bezogen manifestiert sich die Doppelzugehörigkeit von Ideencharisma

zu

den

beiden

charismatischen

Grundformen

besonders

deutlich:

Reformschulen entstehen in der Regel aus einem Akt außeralltäglichen Charismas, durch Gründer- oder Stifterfiguren, welche das bestehende, als unzureichend wahrgenommene Schulsystem reformieren wollen. Zwar handelt es sich hierbei nicht um drastische Ereignisse wie den Zusammenbruch eines ganzen Systems, jedoch wird in ein bestehendes System eingegriffen und eine Veränderung vorgenommen. Ist die Reformschule als solche etabliert und anerkannt, ist von veralltäglichtem Charisma auszugehen. In diesem Zusammenhang lässt sich Lipps Devianzthese (1993) wieder aufgreifen: Es erfolgt hier zwar keine Stigmatisierung, aber eine bewusste Abgrenzung zum bestehenden Schulsystem und Unterrichtsansatz. Diese bewusste Abgrenzung kann gerade im Fall des deutschen Schulwesens und seiner eher negativen Wahrnehmung (vgl. Paris 2009, S. 44ff.) zu einer charismatischen Zuschreibung der ‚pädagogischen Idee’ führen. Dies kann sich dahingehend auswirken, dass die Eltern, die eine solche Reformschule für ihre Kinder auswählen, aufgrund ihrer ‚Begeisterung’ für die Idee engagierter agieren und Schule in diesem sozialen Umfeld so zu einem generell positiver besetzten Begriff wird. Diese positive Grundhaltung kann wiederum auch das Amtscharisma der Lehrpersonen der Reformschule beeinflussen. Gerade in diesem etwas außenstehenden Bereich des Schulsystems scheint großes Potenzial für Ideencharisma gegeben zu sein. Die weniger prominente Form des Ideencharismas kann als das der ‚Reformen an Schulen’ begriffen werden. Es geht hier um Veränderungen der bestehenden Schulstruktur

‚von innen heraus’. Hier sind verschiedenste Stufen und Ausprägungen denkbar: Eine Lehrperson kann auf kleinster Ebene innerhalb des von ihr erteilten Schulfachs Veränderungen vornehmen, wie beispielsweise einen Verzicht auf das Ausfragen einzelner Schüler_innen bei guter und engagierter Mitarbeit der Klasse im Unterricht. Es können aber auch in verschiedensten, größeren Maßstäben Veränderungen vorgenommen werden, wie zum Beispiel die bewusste Entscheidung einer Gesamtschule, durch eine Orientierungsstufe eine Art Verlängerung der Grundschulzeit einzuführen, die erst mit einer späteren Selektion der Schülerschaft in die verschiedenen Schultypen im Sekundarbereich einhergeht. Die etablierten Schultypen und -abschlüsse bleiben hierbei bestehen. Es ist wahrscheinlich, dass die Rezeption je nach Ebene und Stärke der ‚Reformen’ wohl auch beeinflusst wird – das Verhalten einer einzelnen Lehrkraft, die ihr Fach ‚reformiert’, wird eher Begeisterung, Bewunderung oder sogar Charisma auf die individuelle Person bezogen auslösen. Bei einer ganzen Schule, die Veränderungen vornimmt, ist eher von einer vergleichbaren ideencharismatischen Wirkung wie im Falle der beschriebenen Reformschulen auszugehen. Insgesamt scheint der Bereich des Ideencharismas im schulischen Kontext, besonders aufgrund seiner Komponente des außeralltäglichen Charismas, großes Potenzial zu haben. Diese Ebene könnte eine besondere Rolle dabei spielen, der Schule in Deutschland wieder zu einem allgemein besseren Image zu verhelfen.

2.3.3 Alltagscharisma Bliesemann de Guevara und Reiber (2011) führen, in Ergänzung zu Max Weber, das Alltagscharisma

als

eine

dritte

Erscheinungsform

neben

außeralltäglichem

und

veralltäglichtem Charisma ein (vgl. Bliesemann de Guevara/Reiber 2011, S. 27ff.). Sie begründen dies damit, dass es zahlreiche Personen gibt, die nicht in die von Weber aufgestellten Kategorien passen. Als typische Beispiele nennen sie Konzepte wie „den Mann von Welt, den Macher, den Mann der Tat [oder] den Gelehrten“ (ebd. S. 27.). Sie heben sich von der Masse durch besondere Eigenschaften und -arten ab und verfügen oft über rhetorisches Talent (vgl. ebd.). Allerdings ist die Bewunderung für den Alltagscharismatiker nicht mit persönlicher, emotionaler Hingabe der Anhänger und einer unmittelbaren Treuebeziehung zwischen Charismatiker und Anhängerschaft verbunden wie im außeralltäglichen Typus, und sie beruht auch nicht auf der Verehrung einer Institution, in der das Andenken an ein außeralltägliches Ursprungscharisma bewahrt wird, wie beim veralltäglichten Charisma. Ebenso sind es nicht als krisenhaft wahrgenommene Situationen, sondern die normalen Bedingungen des Alltags, in denen diese Charismaform in Erscheinung tritt. Und schließlich geht vom Alltagscharisma auch keine revolutionierende Kraft aus. Vielmehr besteht seine Funktion darin, eine gegebene soziale Ordnung zu stabilisieren (ebd. S. 27-28).

Die Entstehung dieser Charismaform beantworten Bliesemann de Guevara und Reiber (2011) unter Zuhilfenahme von Pierre Bourdieus kultursoziologischem Ansatz: „Die Eigenschaften, die am Alltagscharismatiker als besondere Gabe wahrgenommen werden, heben ihn […] noch einmal von dem ab, was als »kulturelle Leitwährung« einer Gesellschaft ohnehin schon die Unterscheidung zwischen »Elite« und »Normalbürger« festschreibt“ (ebd. S. 29, Hervorhebungen im Original). Die „kulturelle Leitwährung“ ist durch die Lebensstile und Geschmäcker (den sogenannten Habitus) der sozial dominanten Gruppe einer Gesellschaft festgelegt – an ihr werden Lebensstile anderer sozialer Gruppen gemessen (vgl. ebd. S. 28). Ein Alltagscharismatiker zeichnet sich also dadurch aus, dass er aus einer höher stehenden Gesellschaftsschicht nochmals positiv heraustritt. Und auch die ‚Besonderheit’, das ‚Magische’ bleibt gewahrt, denn „[i]n demokratischen Rechtsstaaten ist Charisma eher ein Randphänomen“ (ebd. S. 32) – und die charismatische Person somit nicht der Regelfall einer Persönlichkeit. Das Konzept des Alltagscharismas ist die Form von Charisma, von der man auch im schulischen Kontext in Deutschland und somit im weiteren Verlauf dieser Arbeit in der Regel auszugehen hat. Dies ist nicht nur der Fall, weil Schule und Politik in einem demokratischen Staat ähnlichen Organisationsmustern folgen, sondern auch, weil Bourdieus theoretischer Ansatz zu den verschiedenen Formen von Kapital (vgl. Anheier/Gerhards/Romo 1995, S. 862ff.) sich problemlos auf Lehrer_innen übertragen lässt: Lehrpersonen sind in der Institution Schule Vermittler_innen einer ‚Leitkultur’ und somit auch ein Teil der Elite, die diese vorgibt – einmal davon abgesehen, dass sie durch einen Hochschulbesuch über entsprechendes „kulturelles“ und „soziales Kapital“ und durch die Ausübung ihres Berufes auch über entsprechendes „ökonomisches Kapital“ verfügen. Hinzu kommt der Bezug zu der vorausgegangen Hausarbeit zu Charisma, die aufgrund erster an Schulen gesammelter Eindrücke davon ausgeht, dass Charisma im schulischen Bereich eine Rolle spielt und zu Verbesserungen des Unterrichts und der Lehrer_innenSchüler_innen-Beziehung beiträgt: „[W]eil das Alltagscharisma auf etablierten Praktiken und Gewissheiten beruht, hat es keine revolutionierende, sondern im Gegenteil eine stabilisierende Wirkung auf die soziale Ordnung: Es bestätigt bestehende Machtverhältnisse oder verstärkt sie sogar“ (Bliesemann de Guevara/Reiber 2011, S. 30). Dies bedeutet konkret, dass eine charismatische Lehrperson positiv auf Schule und Unterricht an sich und die konkrete Lernsituation im Klassenraum einwirken kann. Das Alltagscharisma steht nicht, wie es vielleicht den Anschein erwecken mag, in direkter Konkurrenz zu den vorher betrachteten und diskutierten Charisma-Typen. Vielmehr

ist es als ein ergänzender Ansatz zu verstehen. Greift man das Amts- und das Ideencharisma heraus, welche zuvor als die tendenziell bedeutendsten Subtypen im schulischen Kontext herausgestellt wurden, so wird deutlich, dass charismatische Zuschreibungen in diesen Bereichen keineswegs zu Systemumstürzen, absoluter Gefolgschaft oder Ähnlichem führen. Wie von Bliesemann de Guevara und Reiber beschreiben verstärken Sie die bestehende Autorität vielmehr und stabilisieren so die Verhältnisse: Wird einer Lehrperson aufgrund ihres Amts Charisma zugeschrieben, wird man sie in ihrem Amt eher nicht in Frage stellen; wird einer bestimmten Bildungsidee Charisma zugesprochen, wird die Schule, die diese umsetzt, eher nicht als Institution in Frage gestellt. Das Konzept des Alltagscharismas gibt daher vor allem einen wichtigen Ansatz zur Erklärung der Wirkung und Funktion von Charisma in westlichen, politisch-stabilen Staaten und somit auch in deren Schulsystemen vor.

3. Autoritäre Erscheinungsformen im schulischen Kontext Wie im Vorhergehenden deutlich wurde, ist es möglich, aus den bestehenden CharismaTheorien des politischen Kontextes Verbindungen und Parallelen zum Bildungskontext zu ziehen und diese direkt zu übertragen. Eine Thematik, welcher im Gegensatz zu Charisma in der pädagogischen Forschung viel Aufmerksamkeit gewidmet wurde, ist die der Autorität. Diese war auch ein vieldiskutierter Begriff im Vorfeld und im Verlauf der Seminararbeit zu Charisma. Auch die Ergebnisse der an den Schulen erhobenen Fragebögen stellten immer wieder Verbindungen zum Begriff der Autorität her. Um Charisma im schulischen Kontext näher zu betrachten scheint eine Gegenüberstellung und Abgrenzung, aber auch eine Untersuchung von Gemeinsamkeiten zwischen den Begrifflichkeiten Autorität und Charisma sinnvoll. Im Folgenden werden daher grundtheoretische Ansätze zu Autorität, besonders in Bildung und Schule, näher erläutert und im Hinblick auf Charisma betrachtet.

3.1 Autorität – theoretische Grundsätze, Gemeinsamkeiten und Abgrenzungen zu Charisma Autorität ist ein Begriff, der den Anschein hat, etwas konkreter als Charisma zu sein. Zwar handelt es sich hierbei ebenfalls um etwas Abstraktes, nicht direkt Greifbares, allerdings scheint das Beschriebene jedoch klarer definiert und viel gängiger, alltäglicher zu sein. Dies ist damit zu begründen, dass Autorität uns täglich umgibt, also viel präsenter in unserer

täglichen Lebenswelt ist als die Ausnahmeerscheinung Charisma. Das autoritäre Verhältnis von Lehrling und Meister_in, das jede Kultur kennt bzw. kannte, ist ein deutliches Beispiel für die tiefe Verwurzelung von Autorität in menschlichen Beziehungen (vgl. Myhre 1991, S. 12). Sie gründet auf der Auffassung, dass der Mensch „unfertig“ geboren wird und völlig auf Impulse seiner Umwelt angewiesen ist, durch die er sich erst zum Menschen entwickeln kann (vgl. ebd. S. 10). Autorität ist daher „als ein Verhältnis zwischen zwei Seiten definiert, wobei die eine Seite als richtungsbestimmende Instanz für die andere auftritt“ (ebd. S. 22). Somit wird auch klar dass Autorität nichts ist, was einer Person einfach als Eigenschaft zukommt […] Autorität als soziales Über- und Unterordnungsverhältnis zwischen Personen und Gruppen beruht hingegen darauf, dass die eine Seite einen Führungsanspruch anmelden kann, der von der anderen Seite als solcher akzeptiert wird. Autorität lässt sich demnach als ein anerkanntes Führungsverhältnis begreifen (Schäfer/Thompson 2009, S. 7, Hervorhebungen im Original).

Wie beim Charisma handelt es sich bei Autorität also um eine Zuschreibung und nicht um eine Eigenschaft einer Person. Des Weiteren kommt es zu einem ‚Führungsverhältnis’, welches in der Form der ‚Anhängerschaft’ auch bei Charisma zu finden ist. Allerdings ist dieses im Falle der Autorität anderer Natur und beruht nicht auf persönlichen, außeralltäglichen Bindungen gegenüber einer Person. „Autorität ist grundsätzlich anerkannte, geachtete

Macht.

Der

Anerkennung

einer

fremden

Überlegenheit

entspricht

der

Selbstzuschreibung eigener Unterlegenheit; die Grundmerkmale des Autoritätsverhältnisses sind daher Asymmetrie und Distanz“ (Paris 2009, S. 38). Die wissenschaftliche Literatur nimmt, wie bei Charisma, eine Unterteilung in unterschiedliche Autoritätstypen vor. Da es sich hierbei zumeist um Abhandlungen zu Bildungs-, Verwaltungswesen oder der Wirtschaft handelt, geht man von vorneherein von Autorität(en) in einem politisch stabilen, westlichen System aus und nicht von Sonderformen wie beispielsweise in Diktaturen. In diesem ‚alltäglichen’ Kontext wird Autorität in den meisten Fällen in drei Formen aufgeteilt: Institutions- oder Amtsautorität, Sachautorität und persönliche Autorität. Besonders interessant ist hierbei, dass die persönliche Autorität von Autoren häufig mit dem Begriff Charisma“ gleichgesetzt wird (vgl. Schäfer/Thompson 2009, S. 8 und Paris 2009, S. 42). Dies eröffnet eine neue theoretische Perspektive auf Charisma im schulischen Kontext, auf die später noch näher eingegangen werden soll. Zunächst erfolgt eine Betrachtung der Unterformen der Amts- und Sachautorität.

3.2 Amtsautorität Amtsautorität, auch institutionelle Autorität genannt, hat eine Person aufgrund des Amtes, das sie bekleidet. Als klassische Positionen bzw. Berufe, denen Amtsautorität zugeschrieben wird, nennt

Myhre

(1991)

Pfarrer_innen,

Richter_innen,

Ärzt_innen,

hochrangige

Militärangehörige und auch Lehrerkräfte (vgl. Myhre 1991, S. 50). Sofsky und Paris (1994) verweisen auf die Bedeutung von Ämtern in ihrer Funktion zur Wahrung der institutionellen Ordnung einer Gesellschaft – eine Institution „erscheint als ein systematisch aufgebautes Netwerk von Ämtern, die sich wechselseitig ergänzen und stützen […] Wichtige Ämter sind gleichsam »Stützpfeiler« im Gerüst der Organisation; werden sie eingerissen, so stürzt auch das Ganze“ (Sofsky/Paris 1994, S. 45, Hervorhebung im Original). Ämter und damit auch die mit ihnen einhergehende Autorität sind hierarchisch organisiert: je höher das Amt, desto höher der Machtbereich, über den es verfügt (vgl. ebd.). Das nach Sofsky und Paris (1994) wichtigste Charakteristikum von Amtsautorität besteht darin, dass das Amt unabhängig vom Amtsinhaber existiert und so eine Dauerhaftigkeit aufweist. Die Autorität eines Amts wächst mit seiner Bestehensdauer „und dem Ausmaß, indem es für unersetzbar gehalten wird“ (ebd. S. 44). Das Amt der Lehrkraft ist ein zentrales in unserer heutigen Gesellschaft, denn sie ist „Repräsentant der Institution Schule, die die Gemeinschaft eingerichtet hat, um eine ganz bestimmte Aufgabe zu lösen“ (Myhre 1991, S. 50). Das Lehramt gründet auf dem Ideal einer „freiheitsorientierten Autorität“, welche die Erziehung der jungen Generation zu selbstständigen, mündigen Bürger_innen zum Ziel hat (vgl. ebd. S. 56ff). Trotz dieses Ideals setzt die Amtsautorität von Lehrpersonen auf die Einhaltung des schulischen Positionsgefälles von Lehrkräften und Schülerschaft sowie auf die Sanktionsbefugnis von Lehrpersonen und die Leistungsmessung durch sie (vgl. Paris 2009, S. 44). „Einen Lehrer als Lehrer, also dessen Amtsautorität anzuerkennen, heißt daher, ihm unabhängig von seiner Person aus innerem Einverständnis das Recht und die Pflicht zuzusprechen, in eben diesem fordernden und bewertenden Sinne gegenüber den Schülern tätig zu werden“ (ebd.). Die Leistungsfeststellung durch die Lehrkraft macht auch die Ordnungsfunktion der Autorität deutlich: Man ist abhängig von den Leistungen, die die Autorität erbringt (vgl. ebd. S. 39) – im Falle der Lehrperson also von Schulnoten, die für das weitere Leben der Schüler_innen von großer Bedeutung sind. Prinzipiell ist das Amt der Lehrkraft also durchaus mit einem hohen Maß an Amtsautorität ausgestattet, kommt ihm doch mit der Ausbildung des Nachwuchses eine enorm wichtige gesellschaftliche Rolle zu. Allerdings ist in diesem Zusammenhang wieder

besonders auf den Wandel der Wahrnehmung von Schule in Deutschland zu verweisen: die Schule und mit ihr das Amt der Lehrperson haben in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten einen tiefgreifenden Achtungs- und Ansehensverlust erlitten (vgl. ebd. S. 51). Reichenbach (2011) und Paris (2009) führen die auftretenden Disziplin- und Autoritätsprobleme, neben dem bereits beschriebenen allgemeinen Ansehensverlust, vor allem in der Sekundarstufe I hauptsächlich darauf zurück, dass die Schüler_innen die Schule (noch) nicht mit ihrer beruflichen Zukunft in Zusammenhang bringen und die Androhung bzw. der Hinweis auf solch ‚späte’

Konsequenzen wie Arbeitslosigkeit daher relativ wirkungslos ist (vgl.

Reichenbach 2011, S. 167 und Paris 2009, S. 55). Dadurch verliert eine zentrale Leistung der Lehrerschaft, die Notengebung, welche auch ein Mittel zur Disziplinierung darstellt, zunehmend an Bedeutung. Aufgrund solcher gesellschaftlicher Tendenzen ist in Deutschland heute nicht mehr von uneingeschränkter Amtsautorität von Lehrpersonen auszugehen, wie sie aufgrund ihrer Bedeutung für die Gesellschaft eigentlich anzunehmen wäre.

3.3 Sachautorität Sach- oder Expertenautorität ist gebunden an fachliche Kompetenzen einer vorgesetzten Person. Dieses überlegene Fachwissen versetzt den Autoritätsträger in die Lage, den normalen Arbeitsablauf durch Motivierung und Kontrolle der Untergebenen sicherzustellen und brenzlige Situationen zu meistern (vgl. Sofsky/Paris 1994, S. 51). Das benötigte Expertenwissen wird durch eine spezielle Ausbildung und/oder lange Betriebszugehörigkeit erworben, welche die Person wiederum formal für ihre Führungsposition qualifiziert (vgl. ebd.). Einer Person wird also aufgrund ihres erworbenen Wissens und Könnens Autorität zugeschrieben. Die Form der Sachautorität tritt im schulischen Kontext recht offensichtlich und deutlich in Erscheinung: Ein Schüler kann […] den Lehrer als Autorität anerkennen, weil dieser auf bestimmten Gebieten mehr kann und weiß als er selbst. Der Schüler setzt seine eigene Vernunft und Kritik nicht außer Funktion, aber läßt [sic!] die Autorität des Lehrers so lange gelten, solange er der Überzeugung ist, daß [sic!] sie – im Verhältnis zu seinem eigenen fachlichen Niveau – überlegen ist (Myhre 1991, S. 51).

Neben der Institution Schule, die die Lehrerschaft in ihrer spezifischen Machtordnung von vorne herein auf eine höhere Stufe gegenüber der Schülerschaft stellt (vgl. Paris 2009, S. 57), ist die Lehrperson den Schüler_innen also auch durch ihre Hochschulausbildung im Bereich des Fachwissens übergeordnet. Hierbei gilt es allerdings besonders im pädagogischen Kontext noch hervorzuheben, dass es sich bei Sachautorität in Bildungsprozessen immer um eine

schwindende Form der Autorität handelt – denn je mehr die Schüler_innen lernen, desto geringer ist der ‚Wissensvorsprung’ der Lehrkraft und damit auch ihre Sachautorität (vgl. ebd. S. 41f). Die Lehrperson muss sich also bis zum Ende unbedingt einen gewissen Wissensvorsprung bewahren um somit nicht den Verlust der Sachautorität gegenüber der Schülerschaft zu riskieren. In diesem Zusammenhang wird auch deutlich, dass die pädagogische Regel, daß [sic!] es nicht schadet, wenn der Lehrer sich zu seiner Unwissenheit bekennt, eine Grenze [hat]. Eine ständige Präzisierung dieser Art kann auf Dauer dazu beitragen, daß [sic!] fachliche Vertrauen zum Lehrer zu untergraben und damit auch die Grundlage für seine fachliche Autorität zu erschüttern (Myhre 1991, S. 51).

Zudem ist auch in diesem Zusammenhang wieder auf den Verfall der schulischen Autorität in Deutschland zu verweisen: Ein weiterer, zusätzlicher Schwund von Sachautorität wird dadurch verursacht, dass von der Schule vermitteltes Wissen, welches keine direkte berufliche Verwendbarkeit garantieren kann, immer weniger Wertschätzung erfährt (vgl. Paris 2009, S. 54). Dem ist noch hinzuzufügen, dass die Sachautorität von Lehrkräften als solche zusätzlich durch die neuen Medien und Informationstechnologien, welche (Fach-)Wissen einfach zugänglich und direkt überprüfbar machen, herausgefordert wird (vgl. ebd.) – das Ansehen von Wissen schrumpft durch den einfachen, unkomplizierten Zugang zu diesem noch mehr. Somit ist die Sachautorität der Lehrerschaft einem besonderen Wandel und höherem Druck ausgesetzt als noch vor einigen Jahren.

3.4 Persönliche Autorität Wie bereits erwähnt wird die dritte Form der Autorität, die persönliche Autorität, oftmals mit dem Begriff Charisma gleichgesetzt (vgl. Sofsky/Paris 1994, S. 42 sowie Schäfer/Thompson 2009, S. 8). Es erfolgt hier jedoch dann in der Regel keine weitere Differenzierung in verschiedene Erscheinungsformen, wie sie in der Literatur zu Charisma selbst vorgenommen wird. Daher ist diese unhinterfragte Gleichsetzung als durchaus problematisch anzusehen, scheint aber auf einen engen Zusammenhang von persönlicher Autorität und Charisma zu verweisen. Es erfolgt ferner keine Nennung von spezifischen Eigenschaften oder Beispielen der persönlichen Autorität. Was aus der Literatur allerdings deutlich wird, ist, dass diese Form der Autorität häufig nicht allein auftritt, sondern Amts- und Sachautorität vielmehr zu ergänzen und verstärken scheint. Besonders für den Fall der Amtsautorität verweisen Sofsky und Paris darauf, dass die Ämter „[o]hne die Individuen, die die Ämter »bekleiden«, […] leere Hüllen oder papierne Stellenbeschreibungen [wären]“ (Sofsky/Paris 1994, S. 46, Hervorhebung im Original). Hinzu kommt die Beobachtung, dass eine amtsinhabende Person in erster Linie von der Belegschaft mit ihren Vorgänger_innen im Amt verglichen und

weniger nach Aspekten wie beispielsweise dem Bildungshintergrund – also letztlich auch ihrer Sachautorität – beurteilt wird (vgl. ebd., S. 46). Der persönlichen Autorität kommt damit, trotz ihrer grundsätzlichen Position als ergänzende ‚Kraft’, eine tragende Rolle zu, denn „Führung ist immer persönliche Führung, und somit auch Führung durch Persönlichkeit“ (ebd. S. 95). Ebenso wie beim Alltagscharisma ist hier vom Effekt einer Stabilisierung der Autoritätsposition auszugehen (vgl. Bliesemann de Guevara/Reiber 2011, S. 30). Jedoch fehlt den Betrachtungen der persönlichen Autorität das Magische, Faszinierende und Begeisternde, welches den Begriff des Charismas so deutlich prägt. Hieraus kann geschlossen werden, dass persönliche Autorität nicht auf derselben hochemotionalen Ebene wie Charisma angesetzt ist: Denkbar sind hier eher positiv wahrgenommene zwischenmenschliche Verhaltensweisen und Eigenschaften wie Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, Offenheit, das Zeigen von Verständnis für das Gegenüber etc. Diese können zwar auch Bestandteil einer charismatischen Zuschreibung sein, allerdings fehlt ihnen in ihrer Reinform das Polarisierende, das Charisma zu einer Ausnahmeerscheinung macht. Da, wie von Sofsky und Paris (1994) angemerkt, Führung immer persönlicher Natur ist, Charisma jedoch ein Randphänomen darstellt, ist davon auszugehen, dass persönliche Autorität und Charisma zu unterscheiden sind. Der Übergang zwischen Ihnen scheint jedoch ein fließender zu sein. Gerade deswegen ist die persönliche Autorität im schulischen Kontext von enormer Bedeutung. Im Bereich der Schule wird in der Literatur auffällig häufig die persönliche Autorität angeführt – allerdings, wie auch im machtsoziologischen Forschungsfeld, ohne hierbei auf genauere Details einzugehen. So stellt Paris (2009), nachdem er auf die im Vorhergehenden erörterten Problematiken zur Sachautorität von Lehrpersonen eingegangen ist, fest, dass für eine

gelungene

Wissensvermittlung

„in

letzter

Instanz

Persönlichkeitsmerkmale

ausschlaggebend zu sein [scheinen]“ (Paris 2009, S. 58). „Der Schlüssel für einen gelingenden Unterricht liegt […] vor allem in der Persönlichkeit des Lehrers“ (ebd., S. 56). Eine weitere Konkretisierung erfolgt jedoch nicht. Lediglich bei Myhre (1991) findet sich ein Verweis darauf, dass die Erziehenden in ihrer Person Werte und Normen repräsentieren, welche durch ihre persönliche Autorität an die jungen Menschen vermittelt werden (vgl. Myhre 1991, S. 52). Lehrer_innen müssen daher also die Wertvorstellung, die sie zu vermitteln suchen, selbst umsetzen. Bis auf diese Ausführung finden sich allerdings keine weiteren Charakteristika zur persönlichen Autorität. Ihre Bedeutung ist dabei jedoch unbestritten, denn beispielsweise auch der von Sofsky und Paris (1994) beobachtete, angesprochene Vergleich mit vorherigen Amtsinhaber_innen findet sich im schulischen

Kontext wieder, wo die Schülerschaft oftmals ihre Lehrkräfte mit denen der Vorjahre vergleicht. Der Bereich der persönlichen Autorität steht im besonderen Interesse für die Pädagogik, ohne jedoch konkreter behandelt zu werden. Die unmittelbare Gleichsetzung mit Charisma ist hier eher problematisch als förderlich, zeigt jedoch die enge Verzahnung dieser beiden Begrifflichkeiten. Im Folgenden sollen die allgemeinen Zusammenhänge von Charisma und Autorität daher diskutiert und verdeutlicht werden.

4. ‚Charismatische Autorität’ in der Schule – eine Zusammenführung bisheriger Ansätze Nachdem nun der aktuelle Stand in der wissenschaftlichen Literatur zu Charisma und Autorität dargelegt wurde, wird im Folgenden der Versuch unternommen, die bestehenden, angeführten Ansätze, speziell auf Lehrpersonen und die persönliche Komponente bezogen, zu verbinden. Charisma scheint mit Autorität untrennbar verbunden zu sein. Dies wird durch Weber, welcher Charisma als eine von drei möglichen Herrschaftsformen und -legitimationen etabliert (vgl. Günther 2005, S. 127) sowie durch die Annahme deutlich, dass Charisma einen Kontext und eine Bühne braucht (Krass/Prifling/Streidenberger 2013, S. 6). Eine Person, die inhaltlich nichts mitzuteilen hat und somit für nichts eintritt, wird keine charismatische Zuschreibung erfahren. Dies muss nicht zwingend bedeuten, dass die Person eine formelle Autorität besitzt – bereits die Position des Fürsprechenden, welche prinzipiell der Sachautorität zuzuordnen ist, ist ausreichend. Auch muss eine als charismatisch wahrgenommene Person ihre Autorität nicht zwangsläufig aktiv ausüben, sondern kann beispielsweise als ‚geistige Autorität’ in Erscheinung treten. Mit einer Zuschreibung von Charisma scheint immer automatisch auch eine Autoritätszuschreibung einherzugehen – welche jedoch sehr unterschiedlicher Form und Ausprägung sein kann. Auch, wenn Charisma in der pädagogischen Fachliteratur bisher keine Rolle spielte, ist es in Grundzügen indirekt in Form der ‚persönlichen Autorität’ konzeptuell vielfach aufgeführt, wenn auch kaum konkretisiert. In der Literatur zur Autorität, welche als ein zentrales Thema der Pädagogik in der Schule eine große Rolle spielt, wird die Erscheinungsform der persönlichen Autorität oftmals mit dem Begriff Charisma gleichgesetzt, was jedoch die unterschiedlichen Bedeutungsebenen dieses vielschichtigen Begriffes außer Acht lässt und daher kritisch zu betrachten ist.

Wie in Kapitel 2 festgestellt wurde, fallen hauptsächlich die drei Untertypen des Amts-, Ideen- und Alltagscharismas für die Betrachtung von Charisma bei Lehrpersonen in Deutschland ins Gewicht. Bringt man diese Charismaformen mit den diskutierten Aspekten zu Autorität zusammen, ergeben sich die folgenden Einsichten und Erkenntnisse über das Charisma von Lehrer_innen aus der Perspektive der sozialwissenschaftlichen Fachliteratur: Charisma stützt Autorität, welche jedoch an sich gänzlich ohne Charisma auskommt – ebenso wie die Institution Schule. Ein reiner, normaler Lehrbetrieb ist vollkommen ohne Bewunderung, Verehrung und dergleichen zu bewerkstelligen – und sicherlich auch der Regelfall im deutschen Schulwesen. Jedoch begünstigt die Ausnahmeform des Charismas das Autoritätsverhältnis: Da es sich um eine Art der Gefolgschaft handelt, welche eine amtsstabilisierende Wirkung hat (vgl. Bliesemann de Guevara/Reiber 2011, S. 30), verändert sie das Verhältnis zwischen Lehrperson und Schüler_innen. Eben dieses Verhältnis hat sich besonders in den letzten Jahrzehnten enorm gewandelt, was sich besonders im Bereich von Amtscharisma und Amtsautorität widerspiegelt: Die Rolle der Lehrkraft als gesellschaftliche Respektsperson hat sich, mit dem Ansehen der Schule selbst, eher zum Negativen hin gewandelt (vgl. Paris 2009, S. 44ff.). Von einem dem Lehrberuf grundsätzlich zugeschriebenem Amtscharisma ist in Deutschland heute nicht mehr in der breiten Masse auszugehen. Die Amtsautorität der Lehrer_innen bleibt dagegen zwar weiterhin schon allein durch die hierarchische Organisationsform der Schule erhalten, wird jedoch wesentlich stärker in Frage gestellt als früher. Dies ist jedoch nicht nur mit negativem Ansehen von Schule verbunden, sondern mit einem sich generell wandelnden Autoritätsverständnis – zwischen Lehrern und Schülern bestehen nun ‚Lernpartnerschaften’, in welchen die autoritäre Beziehung immer mehr aufgehoben wird (vgl. Reichenbach 2011, S. 119) – ein neues, anderes Verständnis der ‚freiheitsorientierten Autorität’, welche es bei der Erziehung der jungen Bürger_innen zum Ziel hat „[s]ich selbst überflüssig zu machen“ (Myhre 1991, S. 56). Für die reine Wirkung von Charisma hat die Stärke oder Ausprägung der Amtsautorität jedoch keinen Einfluss, denn sie kann sich in jedem Autoritätsverhältnis zwischen Lehrperson und Schülerschaft entfalten. Geändert hat sich lediglich, dass das Amtscharisma gegenüber früheren Jahrzehnten kaum mehr ins Gewicht fällt und somit nur ein tendenziell personenbezogenes Alltags- oder Ideencharisma in der Schule wirken kann. Die neue Form der Lernpartnerschaft kann hierbei eventuell sogar neue Möglichkeiten für das Entstehen von Charisma aus persönlicher Autorität bieten, da der persönliche Kontakt zwischen Lehrperson und Schüler_innen so deutlich intensiver ist als bei einer ‚unantastbareren’ Lehrkraft vorne an der Tafel nach dem Muster des ausschließlichen

Frontalunterrichts. Auch ist denkbar, dass die heute vorherrschende, oftmals eher negative Grundhaltung gegenüber Lehrkräften eventuell dazu führen kann, dass sich Charisma in diesem negativen Rahmen besonders hervortut – einer Lehrperson, die positiv auffällt, könnte aufgrund der negativen Grundeinstellung gegenüber dem Beruf an sich eventuell schneller Charisma zugeschrieben werden, da sich die positive Wirkung so verstärkt. Allerdings müssen diese Umstände natürlich nicht zwangsläufig zu Charismatisierungsprozessen führen, da charismatische Empfindung immer subjektiv bleibt und somit auch in nahezu jedem denkbaren schulischen Kontext entstehen kann. Aufgrund dieser immens hohen Subjektivität könnte leicht geschlussfolgert werden, dass alle anderen Aspekte keinerlei Rolle im Bezug auf Charisma in der Schule spielen. Dies ist jedoch nicht korrekt, denn hinsichtlich der festgestellten, grundsätzlich ‚ergänzend’ wirkenden Funktion der persönlichen Autorität, welche quasi als eine Art Vor- oder Basisstufe zu Charisma betrachtet werden kann, können Amts- und Sachautorität bei der Betrachtung von Charisma keinesfalls außer Acht gelassen werden: Wie Bliesemann de Guevara und Reiber feststellen, stabilisiert das Alltagscharisma „eine gegebene soziale Ordnung“ (Bliesemann de Guevara/Reiber 2011, S. 28) – um allerdings diese Ordnung überhaupt herzustellen und beizubehalten und innerhalb dieser ein entsprechendes Amt inne zu haben, bedarf es der beiden anderen Autoritätsformen: Sachautorität, um für ein Amt ausreichend qualifiziert zu sein und Amtsautorität, um überhaupt über Handlungs- und Machtbefugnisse, welche eine „führende“ Position erfordert, zu verfügen. Dies deckt sich auch mit der grundsätzlichen Annahme der vorhergehenden Hausarbeit zu Charisma, welche, in Bezug auf die Charisma-Definition Max Webers, davon ausgeht, dass Charisma einen Kontext und eine Plattform braucht, um überhaupt wirken zu können (vgl. ebd., S. 19). Im Falle des schulischen Kontextes muss eine Person – wie es auch dem Regelfall entspricht – erst über Amts- und Sachautorität einer Lehrkraft verfügen, bevor charismatische Zuschreibungen erfolgen können. Details und genaue Beschreibungen, was diese Zuschreibungen letztlich ausmacht, finden sich in der Literatur nicht. Myhres (1991) Verweis auf die Einhaltung der Normen und Werten durch die Lehrerschaft, welche diese den Schüler_innen zu vermitteln versucht (vgl. Myhre 1991, S. 52), bleibt die einzige konkrete Handlungsanweisung im Bereich der persönlichen Autorität. Es wird jedoch innerhalb der Thematiken Charisma und Autorität immer wieder auf die Rolle der Rhetorik verwiesen: Charismatiker_innen sind in der Regel geschickte Rhetoriker (vgl. Bliesemann de Guevara/Reiber 2011, S. 27). Im Bezug auf Autorität ist rhetorisches Talent vor allem ein Mittel, die eigene Sach- und Amtsautorität zu

inszenieren. Rhetorik ist gerade auch im schulischen Kontext von Bedeutung, da verbale Interaktions- und Kommunikationsprozesse den Kern schulischen Handelns darstellen. Im alltäglichen Unterrichtsgeschehen geht es laut Reichenbach „vor allem darum, das autoritäre, asymmetrische

Lehrer_innen-Schüler_innen-Verhältnis

durch

den

Einsatz

einer

symmetrischen Sprache zu kompensieren“ (Reichenbach 2011, S. 119). Eine Lehrperson muss ihre Sprache auf die Schülerschaft ausrichten, um diese auch wirklich zu erreichen. Allerdings muss auf dieser verbalen Ebene trotzdem noch das ‚Bewundernswerte’, den Charismatisierungsprozess in Gang bringende Element zu finden sein, was wiederum einen Unterschied bedeutet. Als Beispiel könnte man sich hier vorstellen, dass die Lehrperson ein fachlich komplexes bzw. kompliziertes Phänomen den Schülern näherbringt, aufgrund der verwendeten Sprache die Schüler_innen direkt erreicht und ihnen dieses zugänglich macht, ohne dabei allerdings den wissenschaftlichen Anspruch zu verlieren und den Sachverhalt so zu ‚banalisieren’. Es ist letztlich schwer, hier konkrete Beispiele zu geben, da beispielsweise auch eine lockere Atmosphäre, in der die Lehrkraft persönliche Dinge erzählt und bewusst auf eine besondere ‚Hochsprache’, wie sie normalerweise mit Rhetorik verbunden wird, (eventuell bewusst) verzichtet, von der Schülerschaft als charismatisch empfunden werden kann. Reichenbach (2011) stellt auch hier wieder die prominente Bedeutung der subjektiven Wahrnehmung fest: Was Autorität auf kommunikativer Ebene angeht, so scheint es zahlreiche Vorstellungen zu geben, wenn es aber um […] konkretes Handeln geht, so wird die Thematik immer weniger konkret: zumeist wird auf ein personenzentriertes Verhältnis verwiesen, welches die Beziehung von Schülern und Lehrer in den Mittelpunkt stellt (Reichenbach 2011, S. 137f).

So ist festzuhalten, dass Rhetorik zwar ein überaus wichtiger Aspekt von persönlicher Autorität bzw. Charisma und mit diesen untrennbar verbunden ist, es jedoch wiederum auf den individuellen Einzelfall ankommt. Wie das Anführen von Beispielen in den Massenmedien zur ‚Schulung’ von Charisma zu Beginn der Arbeit in Kapitel 2 gezeigt hat, wird allgemein oft davon ausgegangen, dass Charisma erlernbar wäre. Im Gegensatz zu dieser Annahme nicht-wissenschaftlicher Quellen wird jedoch auch Autorität von Bildungsforschern oft als erlernbar angesehen – als etwas, in dem man Defizite erkennen und ausgleichen muss (vgl. ebd., S. 136f). Jedoch handelt es sich bei Autorität ebenfalls um eine Zuschreibung der Autoritätsgläubigen und demnach nicht um eine Eigenschaft. Die Frage nach ‚Erlernbarkeit’ von (persönlicher) Autorität und Charisma ist daher hinfällig – allerdings ist innerhalb dieser Thematik darauf hinzuweisen, dass sich eine Lehrperson gerade in Bereichen wie der im Vorhergehenden angesprochenen Rhetorik und einer schülergerechten Sprache durchaus fort- und weiterbilden kann – und somit auf diesen Bereich eines Charismatisierungsprozesse selbst einen gewissen Einfluss nehmen

kann. Auch andere Aspekte wie beispielsweise ein ‚sicheres Auftreten’ vor der Klasse können geübt werden – wirkliches Charisma kann letztlich jedoch nur zugeschrieben, aber nie aktiv ‚betrieben’ oder ‚hervorgerufen’ werden. Charisma ist nach diesem Verständnis ein Bestandteil von Autorität, der im Bereich der persönlichen Autorität anschließt und diese extrem verstärkt, in der Regel jedoch eine Ausnahme darstellt, die eine enorme positive Wirkung im schulischen Kontext hervorrufen kann. Als letzte große Lücke lässt diese abschließende Betrachtung vor allem die Frage nach der ‚Stellen’, an der Charisma im schulischen Kontext konkret wirkt und ansetzt, unbeantwortet. Um einen möglichst umfassenden Überblick zu Charisma im schulischen Kontext aus theoretischer Perspektive sicher zu stellen, soll diesem Umstand im Folgenden Rechnung getragen werden.

5. Interaktion und Anerkennung – Voraussetzungen für Charisma

5.1 Interaktion – Ausgangssituation für Charisma Um sich mit den Ansatzpunkten von Charisma in der Schule auseinanderzusetzen bedarf es zunächst einer genaueren Betrachtung der Ausgangssituation im schulischen Kontext: der Interaktion von Lehrperson und Schüler_innen. Wie im Vorhergehenden dargelegt benötigt Charisma aufgrund seiner Struktur einen Kontext (vgl. Bliesemann de Guevara/Reiber 2011, S. 19) und eine Plattform. Diese bestehen im Rahmen der Schule in der Amtshandlung der Lehrer_innen – dem Unterrichten der Schülerschaft. Das Unterrichten wiederum besteht im Essentiellen aus Kommunikations- und Interaktionsprozessen seitens der Lehrkraft beziehungsweise zwischen Lehrperson und Schulklasse. Sie stellen die Basis zwischenmenschlicher Handlungs- und Verhaltensweisen im schulischen Kontext dar. Während unter Interaktion eine wechselseitige Einwirkung oder ein Austausch in einem gemeinsamen Verständigungssystem verstanden wird, kann Kommunikation auch einseitig stattfinden, beispielsweise in Form von Nachrichtenübermittlung in Medien (vgl. Minsel 1978, S. 15), oder, im Fall der Schule, eines Lehrervortrags. Minsel (1978) weist jedoch darauf hin, dass beide Begriffe in der Fachliteratur häufig synonym verwendet werden und eine detailliertere Definition als die vorgestellte daher wenig sinnvoll scheint; sie verweist allerdings darauf, dass sich in der Forschung Interaktionstheorien häufig mit den

menschlichen Beweggründen für Interaktion, Kommunikationstheorien sich dagegen tendenziell mit den Prozessen der Informationsübermittlung befassen (vgl. ebd. S. 15f.). Grundsätzlich ist für das ‚Auslösen’ einer charismatische Zuschreibung sowohl ein Akt der (einseitigen) Kommunikation als auch der Interaktion denkbar. Gerade im schulischen Kontext jedoch und vor allem aus theoretischer Betrachtungsweise von Charisma als zwischenmenschliches, hochgradig emotionales Phänomen, sind hier eher Ansätze zur Interaktion zu berücksichtigen. Eine zentrale Beobachtung zur Interaktion ist die des Unterschieds, je nachdem mit wem eine Person interagiert. So ist die Interaktion zwischen Lehrperson und Schüler_in eine andere als die der Schüler_innen untereinander. Minsel (1978) schlägt hier als Erklärungskonzept das der sozialen Rolle vor, in der die einzelnen Personen des Schulalltags agieren. Diese Rollen sind „jeweils durch ein relevantes Verhaltensrepertoire gekennzeichnet“ (Minsel 1978, S. 29). Hargreaves zeigt in diesem Zusammenhang wiederum Differenzen innerhalb der einzelnen Rollen auf: Für den Fall der Schüler_in werden Beispiele wie die des Klassenkaspers oder des Lehrerlieblings genannt (Hargreaves zit. nach Minsel 1978, S. 29). Für eine funktionierende Interaktion scheint es in diesem Verständnis wichtig zu sein, dass Lehrpersonen wie auch Schüler_innen sich innerhalb dieser erwarteten Rolle bewegen und verhalten. Jedoch ist hier nicht nur auf Seiten der Schülerschaft, sondern auch auf der der Lehrerschaft eine Unterscheidung in differenzierte Typen sinnvoll. Schulze (1988) gibt hier eine Differenzierung in vier ‚Lehrertypen’ vor, die aus Erinnerungen von Lehrkräften an ihre eigene Lehrerschaft gewonnen wurde: -

Das Neutrum, die graue Masse der Lehrkräfte

-

Die Täter, welche Widerstand bei der Schülerschaft hervorrufen und stolz sind, „sich nicht unterkriegen zu lassen“

-

Die Opfer, welche den Anforderungen der Institution nicht gerecht werden und die Achtung der Schülerschaft nicht erringen

-

Die Souveränen, „bei denen die Erinnerung verweilt“ (vgl. Schulze zit. nach. Heinritz 2013, S. 118f.).

Dollase (2013) verweist in diesem Zusammenhang darauf, „dass es sich innerhalb des Schulsystems

nicht

nur

um

Beziehungen

in

den

vorgeschriebenen

Rollen

der

Oberflächenstruktur handelt […] Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern heißt, auch nicht offizielle und nicht bürokratisierbare Beziehungsqualitäten zwischen Menschen zu

beachten“ (Dollase 2013, S. 85). Dies wird bei Schulz’ Typus der ‚Souveränen Lehrperson’ überaus deutlich: Die Eigenschaften, die den Typus des „souveränen Lehrers“ auszeichnen, sind interessanterweise genau diejenigen, die geeignet sind, den Antinomien und Paradoxien des Lehrerberufs erfolgreich zu begegnen: Der souveräne Lehrer nimmt seine Rolle ernst und vertritt sie – aber er ist zugleich auch als Mensch mit einer Biographie sichtbar; er vertritt die Regeln der Schule – aber er ist auch bereit, sie ab und zu zu übertreten. Wie sich in neueren Forschungen zu Antinomien des Lehrerberufs zeigt, vertritt er jenen Typus, dem es nicht nur gelingen kann als „guter“ Lehrer im Gedächtnis der Schüler zu bleiben. Er hat durch seine Fähigkeiten, die gegensätzlichen Anforderungen des Lehrerberufs auszubalancieren – anders als die Lehrer, denen das nicht gelingt – auch nach längerer Berufstätigkeit noch Freude an seinem Beruf (Heinritz 2013, S. 119, Hervorhebungen im Original).

Zwar fehlt dieser Ausführung die magische, faszinierende Komponente, die Charisma auszeichnet, jedoch gewinnt man beim Lesen den Eindruck, Heinritz würde hier eine charismatische Lehrperson beschrieben. Es wird hier ersichtlich, wie eine Lehrkraft mit ihrer Lehrerrolle umgehen muss, um sich bei der Schülerschaft einzuprägen – um etwas Besonderes zu sein und daher eventuell als charismatisch zu gelten. Aus interaktiver, rollenbezogener Sicht ergibt sich somit ein relativ klares Bild einer Lehrperson, die eine charismatische Zuschreibung erfahren kann. Ein grundsätzlicher Rahmen für Charisma in der Schule wird so erkennbar. Auch die Außeralltäglichkeit von Charisma findet sich hier wieder, da Schulze in seiner Klassifikation anhand der Kategorie des Neutrums deutlich macht, dass der Großteil der Lehrpersonen eben nicht in der Art und Weise der souveränen Lehrkräfte herauszustechen vermag. Zudem wird anhand der beiden anderen Kategorien der Täter und Opfer ersichtlich, dass nicht jede Lehrperson, die sich vom Neutrum abhebt, dies in der positiven Weise der souveränen Lehrperson tut. Allerdings

beantwortet

dies

noch

nicht

die

Frage

nach

dem

konkreten

zwischenmenschlichen Ansatzpunkt für Charisma. Während der Entstehung der vorliegenden Arbeit rückte im Bezug auf diese Frage der Begriff der Anerkennung in den Fokus, vor allem unter der Grundannahme, dass Anerkennung, in ihrer alltagssprachlichen Interpretation, eine Voraussetzung für eine charismatische Zuschreibung darstellt. Besonders unter diesem Gesichtspunkt sollen im Folgenden Ansätze zu Anerkennung, die, wie auch Charisma und Autorität, als vielschichtiger Begriff mit unterschiedlichen Bedeutungsebenen zu verstehen ist, diskutiert werden.

5.2 Annerkennungstheorien Der Diskurs um den Begriff der Anerkennung rückte in den letzten Jahrzehnten verstärkt in den Fokus und das Interesse der Sozial- und Geisteswissenschaften. Einer der Beiträge, der

diese Diskussion maßgeblich anregte, ist Axel Honneths 1992 erschienenes Werk „Kampf um Anerkennung“, welches vielfach als Ansatzpunkt weiterer Überlegungen zu dieser Thematik dient. Zwar führte Honneth den Begriff der Anerkennung keineswegs neu ein, sondern griff in seinem Werk vorausgegangene Überlegungen zu Anerkennung besonders von Hegel und Mead auf (vgl. Honneth 1992, S. 7ff.), gab jedoch durch seine Theorie einer Anerkennung, welche diese selbst in drei spezifische Unterarten aufteilt, maßgeblich Anstoß zur Betrachtung von Anerkennungsphänomenen, unter anderem auch im pädagogischen Kontext. Zunächst sollen im Folgenden Honneths allgemeiner Ansatz zu Anerkennung und die von ihm aufgestellten drei Unterkategorien der Anerkennung kurz diskutiert und mit der ihnen im pädagogischen Diskurs zugewiesenen Bedeutung betrachtet werden. Im Anschluss wird auf die wechselseitige Interdependenz dieser drei Teilarten von Anerkennung eingegangen und ihre Bedeutung hinsichtlich der Anerkennung charismatischer Lehrpersonen diskutiert.

5.2.1 Grundzüge der Theorie der Anerkennung (nach Honneth) und ihre Bedeutung in der Pädagogik Anerkennung wird im Allgemeinen, gerade vor dem aktuellen Hintergrund gesellschaftlicher Debatten um Pluralität und Diversität, einerseits als eine fundamentale, übergreifende ethische Kategorie, andererseits als eine Orientierung sozialen Handelns begriffen (vgl. Micus-Loss 2012, S. 303). Im wissenschaftlichen Diskurs der Theorien zur Anerkennung wird grundlegend angenommen, dass soziale Beziehungen, in welchen ein Individuum Anerkennung erfährt, zentral für die Entwicklung der individuellen Subjektivität sind (vgl. Scherr 2002, S. 28). Dies gründet in der Auffassung, dass „es für den Einzelnen unmöglich sei, ohne einen sozialen

Rahmen

auszukommen“ (ebd. S. 32). Die vorausgehenden Überlegungen Hegels und Meads

aufgreifend,

Honneth

(1992)

teilt das

Phänomen der Anerkennung Abbildung 1: Stufenmodell der Anerkennung nach Honneth in Anschluss an Hegel (Honneth 1992, S. 46)

in drei Unterkategorien ein: „[V]on

der

emotionalen

Zuwendung, wie wir sie aus Liebesbeziehungen und Freundschaften kennen, sind die rechtliche

Anerkennung

und

die

solidarische

Zustimmung

als

gesonderte

Anerkennungsweisen abgehoben“ (Honneth 1992, S. 151). Diese Dreiteilung, welche verschiedene Sphären der gesellschaftlichen Reproduktion umfasst, beinhaltet zugleich eine systematische Steigerung, ausgehend von der familiären Sphäre der Liebe, welche auf den Grad der positiven Beziehung eines Menschen zu sich selbst bezieht (vgl. ebd.). Das bedeutet dass eine vollständige Selbstwahrnehmung eines Menschen als Subjekt nur über seine Anerkennung zunächst als Individuum und als Person erfolgen kann. Auf einen gesellschaftlichen

Kontext

bezogen

bedeutet

dies,

dass

„die

Reproduktion

des

gesellschaftlichen Lebens […] sich unter dem Imperativ einer reziproken Anerkennung [vollzieht], weil die Subjekte zu einem praktischen Selbstverständnis nur gelangen können, wenn sie sich aus der normativen Perspektive der Interaktionspartner als deren soziale Adressaten zu begreifen lernen“ (Honneth 1992, S. 148). Honneth bezieht in diese Dreiteilung als Erweiterung von Hegels und Meads Konzepten die mit den Anerkennungsverhältnissen einhergehenden möglichen Formen der Missachtung mit ein, die sich systematisch dadurch voneinander unterscheiden, „welche Stufe der intersubjektiv erworbenen Selbstbeziehung einer Person sie jeweils verletzen oder gar zerstören“ (ebd. S. 150). Auf die drei Anerkennungsformen und ihre jeweilige Bedeutung in der Pädagogik besonders hinsichtlich des Charismas von Lehrpersonen soll im Folgenden noch genauer eingegangen werden. Zunächst

stellt

sich

jedoch

die

Frage

nach

der

allgemeinen

Bedeutung

des

Anerkennungsdiskurses für die Pädagogik. Durch die von Honneth (1992) selbst angesprochene gesamtgesellschaftliche Bedeutung kann die direkte Verbindung zum Kontext der Schule gezogen werden, geht es hier doch vor allem um die Erziehung der Schülerschaft zu mündigen Bürger_innen, die als erklärtes Ziel angestrebt wird. Dies dient vor allem dem Zweck, die jungen Menschen in die Lage zu versetzen, gesellschaftliche Phänomene kritisch zu prüfen und zu hinterfragen. Nur Subjekte die sich ihrer selbst bewusst sind können andere Menschen als selbstbewusste Subjekte begreifen und anerkennen. Daraus leitet sich die Verantwortung einer entsprechenden

Pädagogik

ab,

Individuen

in

ihrer

Eigenständigkeit

und

Selbstbestimmungsfähigkeit zu respektieren und zu fördern (vgl. Scherr 2002, S. 30f.). Besonders interessant für den pädagogischen Diskurs ist vor allem der in der SchülerLehrer-Beziehung herrschende Gegensatz von Reziprozität, bezogen auf gegenseitige Anerkennung, und Asymmetrie, die durch die hierarchisch-autoritäre Schulstruktur und den Generationenunterschied begründet wird. Hinzu kommt, dass sich die Anerkennungstheorie

abgesehen von der Kategorie der Liebe auf Beziehung und Verhaltensweisen Erwachsener bezieht (vgl. Helsper/Sandring/Wiezorek 2005, S. 181). Honneth (1992) selbst merkt in diesem Kontext an dass die zum Zwecke der Erziehung mündiger Bürger_innen eingeführte Schulpflicht sich in erster Linie nicht an die Kinder, sondern die zukünftigen Erwachsenen richtet (vgl. ebd. sowie Honneth 1992, S. 189). Diese „Negierung des Kindes als [Adressat] des Bildungsprozesses“ (Helsper/Sandring/Wiezorek 2005, S. 181) macht die Thematik für die Pädagogik interessant, ist es doch das Kind, welches den Bildungsprozess durchläuft und in diesem mit Anerkennungserfahrungen (verschiedenster Art) konfrontiert wird. Dass Anerkennung in der Schule vorhanden ist wird vor allem durch den Wandel des Schulsystems hin zu einem selbstreflektierten Lernen in Lernpartnerschaft von Schülerschaft und Lehrpersonen deutlich: „Im Sinne dieses „funktionalen Erfordernisses“ und nicht allein aus ethischer Begründung heraus müssen dabei die Lernenden notwendigerweise „anerkannt“ werden als eigensinnige und eigenverantwortliche Subjekte ihrer eigenen Lebenspraxis“ (Schäffter 2009, S. 172, Hervorhebungen im Original). Stojanov (2006) spricht in diesem Zusammenhang sogar davon, dass „[n]icht didaktisch-methodische Fertigkeiten […] im Mittelpunkt des Kompetenzprofils des Lehrerberufs [stehen], sondern die Fähigkeit zur intersubjektiven Anerkennung“ (Micus-Loos 2012, S. 311). Die Notwendigkeit einer Betrachtung der Schüler_innen gegenüber gezeigten Anerkennung wird aus der Literatur recht deutlich, die Anerkennung, welche die Schülerschaft ihren Lehrerkräften entgegenbringt wird jedoch kaum angesprochen. Im alltagssprachlichen Verständnis lässt sich Anerkennung leicht mit Autorität oder Charisma in Verbindung bringen: Wer eine Autorität achtet, ‚erkennt sie an’, wer eine Person als charismatisch empfindet ‚erkennt sie besonders an’. Interessant ist hierbei, dass sowohl Charisma als auch Autorität klar asymmetrische Beziehungsstrukturen aufweisen: Die Autorität als ein grundsätzlich hierarchisches System (vgl. Reichenbach 2011, S. 119) und Charisma, welches laut Webers Definition eine Herrschaftsform darstellt (vgl. Günther 2005, S. 127). Trotzdem wird in der Literatur zum schulischen Kontext von reziproker Anerkennung gesprochen. Grundsätzlich wird in diesem Zusammenhang, wie im Vorhergehenden beschrieben, vor allem die Anerkennung der Schüler_innen durch die Lehrpersonen diskutiert, da man eine Anerkennung der ‚„Autorität Lehrkraft’ als gegeben anzunehmen scheint. Besonders jedoch bei der Frage nach charismatischen Lehrpersonen kann diese augenscheinliche Grundannahme nicht mehr als selbstverständlich gegeben angenommen werden: So wird eine charismatische Lehrperson von der Schülerschaft mehr, beziehungsweise in jedem Fall anders, anerkannt als der Großteil der ihr gegenüberstehenden

Kolleg_innen.

Die

einzelnen

Potenziale

der

drei

von

Honneth

festgelegten

Annerkennungsformen sollen im Folgenden daher besonders vor diesem Hintergrund betrachtet werden.

5.2.1.1 Liebe – Anerkennungsform des Individuums Honneth (1992) weist direkt zu Beginn seiner Ausführungen zu dieser Beziehungsform darauf hin, dass der Terminus Liebe nicht ausschließlich im Sinne romantischer, sexueller Intimbeziehungen zu verstehen ist; vielmehr sollen unter diesem Begriff alle Arten von Primärbeziehungen zusammengefasst werden, welche aus affektiven Bindungen zwischen wenigen

Menschen

bestehen:

Liebesbeziehungen,

Freundschaften

oder

familiäre

Beziehungen, wie die zwischen Eltern und Kindern (vgl. Honneth 1992, S. 153). Diese Stufe der Anerkennung ist bestimmt durch die „leibhaftige Existenz konkreter Anderer […], die einander Gefühle besonderer Wertschätzung entgegenbringen“ (ebd. S. 153-154). Hegel beschreibt diese Art der Anerkennung als „Seinselbstsein in einem Fremden“ (Hegel zit. nach Honneth 1992, S. 154) – beide Subjekte bestätigen sich gegenseitig ihre konkreten emotionalen, vom jeweils anderen abhängigen Bedürftigkeit (vgl. ebd. S. 153). Diese Ebene der Anerkennung dient vor allem dem Zweck, „das Maß an individuellem Selbstvertrauen, das für die autonome Teilnahme am öffentlichen Leben die unverzichtbare Basis ist[, zu schaffen]“ (ebd. S. 174). Als Missachtungsform stellt Honneth (1992) der Liebe Vergewaltigung und Folter gegenüber, welche die leibliche Integrität eines Menschen verletzen (vgl. ebd. S. 214). Für den schulischen Kontext findet die Anerkennungsform der Liebe recht geringe Beachtung. Es wird in der Diskussion der Bedeutung der Anerkennungsformen lediglich darauf verwiesen, dass die Frage nach einer Strukturierung pädagogischer Beziehungen durch das Anerkennungsmuster der Liebe, wie es in Eltern-Kind-Beziehungen existiert, noch ungeklärt ist, da sie über die Theorie Honneths hinausreicht (vgl. Helsper/Sandring/Wiezorek 2005, S. 187). Diese Frage rückt jedoch besonders im Hinblick auf charismatische Zuschreibungen in den direkten Fokus, da Charisma als etwas hochgradig Emotionales zu Begreifen ist: Sofsky und Paris (1994) beschreiben das Verhältnis zu einer charismatischen Führungsperson wie folgt: „Man gehorcht [ihr] nicht, sondern ist [ihr] ergeben. Die Anhängerschaft wird als unbedingte persönliche Abhängigkeit definiert, als Treueschwur gegenüber einer Person“ (Sofsky/Paris 1994, S. 91, Hervorhebung im Original). In dieser Hinsicht scheint Charisma der Anerkennungsform der Liebe sehr ähnlich zu sein. Jedoch handelt es sich hierbei nicht um

ein reziprokes Anerkennungsverhältnis, denn „[i]m Kern ist die Wirkung des Charisma die Erfahrung einer unüberwindlichen Distanz“ (ebd. 92, Hervorhebung im Original). Die charismatische Person begegnet ihrer Anhängerschaft nicht auf gleicher Ebene – sie macht sich von emotionaler Zuwendung und Zustimmung anderer nicht abhängig (vgl ebd.). „Das Charisma erscheint als eine schier unangreifbare Macht, weil es ostentativ auf Anerkennung verzichtet, dem Anerkennenden trotz aller Unbedingtheit des Glaubens das Gefühl gibt, daß [sic!] dem anderen die Anerkennung letztlich gleichgültig sei“ (ebd.). Dieser Gegensatz wirft vor allem die Frage nach einer Erweiterung der emotionalen Anerkennungsform der Liebe auf, da Charisma dieser Form zugehörig zu sein scheint, sie aber nur einseitig erfüllt. Im schulischen Kontext kann man aus dieser Perspektive die Frage, ob diese Anerkennungsform der Liebe hier eine Rolle stellt, also durchaus positiv beantworten, sie bedarf allerdings der von Helsper, Sandring und Wiezorek (2005) angesprochenen genaueren Betrachtung und einer damit einhergehenden Reformulierung des Konzepts.

5.2.1.2 Recht – Anerkennungsform der Person Die zweite Form der Anerkennung ist die des Rechts und des moralischen Respekts. Sie ist kognitiver Natur und überschreitet den Bereich der primären sozialen Beziehungen (vgl. Schäffter 2009, S. 175). Von der Anerkennungsform der Liebe […] unterscheidet sich nun das Rechtsverhältnis in so gut wie allen entscheidenden Hinsichten; beide Interaktionssphären sind als zwei Typen ein und des gleichen Musters der Vergesellschaftung überhaupt nur deswegen zu begreifen, weil sich ihre jeweilige Logik ohne Rückgriff auf denselben Mechanismus der reziproken Anerkennung gar nicht angemessen erklären läßt [sic!] (Honenth 1992, S. 174).

Die reziproke Anerkennung spielt hier eine Rolle, da davon ausgegangen wird, dass ein Mensch sich selbst nur als Träger von Rechten begreifen kann, wenn er um seine normativen Pflichten den Mitmenschen gegenüber weiß (vgl. ebd.). Dies bezeichnet Honneth (1992) als ein „abstraktes Anerkanntsein“ (Honneth 1992, S. 84) und stellt in Anlehnung an Hegel fest, dass ein vorhandener, bindender Vertrag, wie beispielsweise eine staatliche Verfassung, einen Menschen auf Rechtsebene als „daseiend“ (ebd. S. 86) gelten lässt. Die Anerkennungsform als Person wird gefährdet durch Missachtung in Form eines Ausschlusses vom Besitz gewisser Rechte in einer Gesellschaft (vgl. ebd. S. 215). Mit dem Ziel der vollständigen Subjektwerdung wird dem Kind eine Einführung in gesellschaftliche

Zusammenhänge

in

Form

des

Bildungsrechts

zugestanden

(vgl.

Helsper/Sandring/Wiezorek 2005, S. 183). Doch ist es hier wieder der künftige Erwachsene und nicht das Kind selbst, auf welchen sich dieses Recht bezieht.

Über die Schulpflicht erfährt es das erste Mal Eingebundenheit in einen von der partikularen Welt der Familie abgehobenen universellen gesellschaftlichen Kontext, und zwar als Erwartungshaltung ihm gegenüber, täglich in die Schule zu gehen und dort zu lernen, sich also das Mindestmaß an kultureller Bildung anzueignen. Damit erfährt sich das Kind mit Schulbeginn erstmals als Träger gesellschaftlichen Rechtes und gesellschaftlicher Verpflichtung“ (ebd. S. 184).

Durch die Schulpflicht wird es dem Kind zur Pflicht, die Schule zu besuchen und mit Erwachsenen – den Lehrpersonen – zu interagieren, was vorher ausschließlich im freiwillig (aus eigenem Willen oder dem der Eltern) geschehen ist (vgl. ebd.). Dieser Verpflichtung steht die Verpflichtung der Gesellschaft in der Person der Lehrkraft gegenüber – sie hat die Verpflichtung, „für die Persönlichkeitsentwicklung des Schülers Sorge zu tragen“ (ebd.). Diese Beziehung ist durch gegenseitige Rechte und Pflichten symmetrisch, wodurch die Statusdifferenz von Kindern und Erwachsenen (Lehrkräften) begrenzt wird (vgl. ebd.). Mit dem ‚faszinierenden, magischen’ Phänomen Charisma scheint diese kognitive, rechtlich-sachliche Anerkennungsform eher schwer vereinbar. Jedoch stellt sie definitiv eine Grundbedingung für eine charismatische Zuschreibung dar – ist es doch kaum vorstellbar, einer Person Charisma zu attestieren, ohne sie überhaupt als Person anzuerkennen. Was sich jedoch eindeutig auf dieser Ebene verankern lässt, ist Autorität, besonders in Form von Amtsautorität. Die Anerkennung der Lehrkraft als von der Gesellschaft eingesetzte Autorität ist in der reziproken Anerkennungsform des Rechts klar gegeben. Schwierig hingegen wird es im Hinblick auf persönliche Autorität oder gar Charisma, denn Honneth (1992) selbst weist im Kontext dieser Anerkennungsform darauf hin, dass Andere „einen Menschen als Person anerkennen können, ohne ihn in seinen Leistungen oder seinem Charakter wertschätzen zu müssen“ (Honneth 1992, S. 181). Rein für gezielt geplante schulische Abläufe wie Unterricht scheint diese Anerkennungsebene ausreichend zu sein – der Forderung nach Subjektwerdung der Schüler_innen wird sie jedoch noch nicht gerecht.

5.2.1.3 Solidarität – Anerkennungsform des Subjekts Als dritte Anerkennungsform legt Honneth (1992) die soziale Wertschätzung fest (vgl. Honneth 1992, S. 197). Sie gilt „den persönlichen Eigenschaften, durch die Menschen in ihren persönlichen Unterschieden charakterisiert sind“ (ebd.), entfernt sich also bewusst von der zweiten Ebene, auf der Personen als vollkommen gleich betrachtet werden. Hierbei gibt „[d]as kulturelle Selbstverständnis einer Gesellschaft […] die Kriterien vor, an denen sich soziale Wertschätzung von Personen orientiert“ (ebd. S. 198). Diese Kriterien unterliegen laut Honneth in modernen Gesellschaften immer einem andauernden Kampf, da verschiedene Personengruppen versuchen, ihre persönlichen Eigenschaften in diesem Diskurs als besonders

bedeutend zu etablieren (vgl. ebd. S. 205f.). Des Weiteren verfügt diese Anerkennungsform über einen asymmetrischen Charakter, denn das soziale Ansehen der Subjekte bemisst sich „an den individuellen Leistungen, die sie im Rahmen ihrer besonderen Formen der Selbstverwirklichung gesellschaftlich erbringen“ (ebd. S. 207). Sie ist zentral für die Entwicklung des Selbstwertgefühls eines Menschen (ebd. S. 139) – daher steht ihr die Entwürdigung oder Beleidigung als Missachtungsform gegenüber (vgl. Micus-Loos 2012, S. 309). Im Kontext der Schule bedeutet dies vor allem eine Messung der einzelnen Schüler_innen

an

gesellschaftlichen

Wert-

und

Kompetenzvorstellungen

(vgl.

Helsper/Sandring/Wiezorek 2005, S. 185). Die Asymmetrie wird hier besonders deutlich, da die Schülerschaft sich dieser „Wertschätzung durch den Lehrer und der Wertegemeinschaft der Schule nicht einfach entziehen [kann]“ (ebd. S. 186). Die Schüler_innen erkennen in diesem Anerkennungsmuster die Lehrperson als „kenntnisreichen Anderen“ (ebd.) an, die sie noch nicht selbst sind, ihnen aber zu eben dieser Position verhelfen kann und muss, und schreiben ihr daher Überlegenheit zu (vgl. ebd.). Trotz dieser asymmetrischen Struktur ist innerhalb der sozialen Anerkennung durchaus auch ein reziprokes Verhältnis möglich, indem die Lehrperson der ihr von der Schülerschaft entgegengebrachten Anerkennung in Form einer „intersubjektiven Anerkennung von Gleichheit und von Differenzen [begegnet]“ (Micus-Loos 2012, S. 310, Hervorhebung im Original). Dies geht mit einem Wertschätzen gegebener Unterschiede einher statt mit dem Wunsch, die bestehenden Unterschiede abzuschaffen (vgl. ebd.) – vom ‚Unterschied’ des Wissens- und Könnensstandes natürlich abgesehen. Im Bezug auf Charisma ist diese Anerkennungsform zentral, denn nur ein Subjekt mit seinen anerkannten persönlichen Eigenheiten kann eine solche Zuschreibung erfahren – auf reiner Basis der beiden anderen Anerkennungsformen ist dies noch nicht möglich. Das, was eine charismatische Person ausmacht, sind eben jene persönlichen Eigenschaften, die sie von anderen innerhalb des gesellschaftlichen kulturellen Selbstverständnisses unterscheiden. Dies liegt vor allem in der Natur des Charismas als Randphänomen (vgl. Bliesemann de Guevara/Reiber 2011, S. 17). Auch der permanente Kampf dieser Anerkennungsform findet sich im Charisma wieder, denn „[d]evianzsoziologisch kann man zeigen, daß [sic!] Charisma in die Phänomenklasse "sozialer Abweichung" fällt“ (Lipp 1993, S. 17, Hervorhebung im Original). Dies ist jedoch nicht zwingend negativ zu verstehen, denn „Abweichung trägt immer wieder auch deutlich positive Züge“ (ebd.). Abweichung im Bezug auf charismatische Lehrpersonen bedeutet vor allem eine Abweichung von der Mehrzahl der Lehrkräfte – sie stechen in ihren persönlichen Eigenheiten und Eigenschaften und in der Anerkennung dieser

durch die Schülerschaft positiv hervor. Was allerdings eine entsprechende Anerkennung der einzelnen Schüler_innen seitens der Lehrperson betrifft, so bestehen hier zwei gedanklich gegensätzliche Möglichkeiten: die eines reziproken Verhältnisses im Sinne von Micus-Loos (vgl. Micus-Loos 2012, S. 310) oder die der absoluten, im Charakter des Charisma begründeten Einseitigkeit (vgl. Sofsky/Paris 1994, S. 92). Die Vermutung liegt allerdings nahe, auch ausgehend vom Gedanken eines Anerkennungsprinzips, das nur durch alle drei Ebenen Vollständigkeit erlangt, dass man im Rahmen der heutigen Pädagogik eher von Ersterem auszugehen hat.

5.2.2 Zusammenhänge und -wirken der einzelnen Anerkennungsformen in Bezug auf Autorität und Charisma Honneth (1992) selbst geht nur wenig auf Zusammenhänge der drei Anerkennungsformen ein, davon abgesehen, dass sie aufeinanderfolgend angelegt sind (vgl. Helsper/Sandring/Wiezorek 2005, S. 189). Lediglich einmal verweist er auf einen direkten Zusammenhang der ersten und zweiten Anerkennungsform, indem er feststellt, dass die Dimension des Rechts in die der Liebe dahingehend vordringt, dass die Subjekte vor möglicher, aus emotionalen Bindungen entstehender physischer Gewalt beschützt werden müssen (vgl. Honneth 1992, 283ff.). In diesem Zusammenhang führt Honneth (1992) zudem an, dass die Ebene des Rechts automatisch immer eine eingrenzenden Wirkung auf „das Verhältnis der Liebe als auch auf die […] Bedingungen der Solidarität [hat]“ (ebd., S. 284). In einer späteren Auseinandersetzung mit seiner Theorie spricht er zusätzlich noch an, dass eine gesellschaftliche Institution, wie beispielsweise die Familie, nicht immer nur einem Anerkennungsprinzip untersteht – im Falle der Familie kommt zur Anerkennungsform der Liebe auch die der rechtlichen Anerkennung hinzu (vgl. Helsper/Sandring/Wiezorek 2005, S. 189). Im Allgemeinen herrscht in der Literatur Konsens darüber, dass Selbstverwirklichung und Autonomie nur durch volle Anerkennung eines Subjekts auf allen drei Ebenen erreicht werden können (vgl. Micus-Loos 2012, S. 309). Honneth (1992) selbst führt jedoch an, dass durch empirische Untersuchungen im Anschluss die Gültigkeit der von ihm angenommenen Dreiteilung erst noch genauer untersucht werden soll (vgl. Honneth 1992, S. 152f.), was besonders die Kategorie der Liebe betrifft: Neben den angemerkten Widersprüchen bezüglich ‚einseitiger Liebe’ gibt es in diesem Bereich noch andere zu hinterfragende Beziehungstypen, wie beispielsweise die mögliche emotionale Zuneigung zwischen Kindergartenkindern und ihren Erzieher_innen.

In Bezug auf Charismatiker_innen ist relativ deutlich, dass einer solchen Person auf allen drei Ebenen Anerkennung entgegengebracht wird, auch wenn sich bei der Dimension der Liebe die angesprochenen Problematiken zeigen und hier noch Fragen unbeantwortet bleiben. Die Anerkennung als Person von Rechts wegen und die soziale Wertschätzung ihrer Eigenheiten, aufgrund derer sie überhaupt als charismatisch empfunden wird, sind klar als Voraussetzungen für Charisma zu begreifen. Damit die Schüler_innen eine Lehrperson überhaupt als charismatisch und somit auf dritter Ebene anerkennen können, ist es wichtig, dass sie für sich selbst bereits diese Ebene erfahren haben. Dies lässt zum einen gewisse Vermutungen auf ein gewisses Alter beziehungsweise einen gewissen Entwicklungsstand aufkommen, in Bezug auf den schulischen Kontext meint dies aber vor allem, dass die Schülerschaft zuerst von der Lehrkraft auf dieser Ebene Anerkennung erfahren muss. Es ist daher höchst wahrscheinlich, dass eine charismatische Lehrperson ihre Schüler_innen im Sinn der von Micus-Loos (2012) angesprochenen „intersubjektiven Anerkennung von Gleichheit und von Differenzen“ (Micus-Loos 2012, S. 310) anerkennt. Als reine Amts- oder Sachautorität scheint eine Lehrperson jedoch bereits auf der rechtlichen Stufe der Anerkennung gelten zu können – dies legt in gewisser Weise nahe, dass das Annerkennungsverhältnis zwischen der Schülerschaft und dem Gros ihrer Lehrpersonen wohl auf dieser zweiten Stufe verweilt, analog zu Schulzes Lehrerkategorie des Neutrums (vgl. Heinritz 2013, S. 118). Heinritz’ Ansatz aufgreifend agieren sie wohl ausschließlich innerhalb ihrer Lehrerrolle, ohne diese zu überschreiten und so ‚Menschliches’ preiszugeben (vgl. ebd., S. 119) und wirken somit als reine Autoritäten (in lediglich verschiedenen Ausprägungen). Dies rückt die Bedeutung von Schulzes Kategorie der ‚souveränen Lehrpersonen’ (vgl. Heinritz 2013, S. 118) noch weiter ins Zentrum: Sie scheinen aus dieser Perspektive betrachtet diejenigen zu sein, bei denen eine volle, reziproke Anerkennung innerhalb aller drei Anerkennungsformen gegeben ist und daher diejenigen, die ihre Schüler_innen

auf

dieser

entscheidenden,

dritten

Ebene

der

Anerkennung

und

Subjektwerdung besonders beeinflussen und formen. Die Bedeutung dieser Lehrpersonen, die aufgrund der bisherigen Überlegungen die für eine Zuschreibung von Charisma als grunsätzlich in Frage kommende Gruppe gesehen werden, für eine ganzheitliche Entwicklung der Schüler_innen zu Subjekten, ist daher enorm – und zeigt mit aller Deutlichkeit, auf welcher Ebene charismatische Lehrpersonen vor allem auf ihre Schüler_innen Einfluss nehmen.

Ein gravierender, möglicher Autoritätsverlust und ein damit einhergehender sicherer Verlust des Charismas ist gegeben, sobald eine Lehrkraft einer der angesprochenen Missachtungsformen der Anerkennungen gegenüber ihren Schüler_innen praktiziert. Als Formen möglicher Missachtung können im schulischen Kontext jedoch von der Schülerschaft durchaus auch Dinge aufgefasst werden, welcher die Lehrkraft so nicht einordnen würde – in diesem Zusammenhang ist besonders die Vergabe schlechter Noten anzusprechen (vgl. Helsper/Sandring/Wiezorek 2005, S. 193): Die hier fehlende Anerkennung schulischer Leistung kann als fehlende Anerkennung der eigenen Persönlichkeit wahrgenommen werden. Die Frage, inwiefern dies das Anerkennungsverhältnis und die Lehrer_innen-Schüler_innenBeziehung schädigen kann, ist noch offen, in Bezug auf Charisma jedoch ist klar denkbar, dass die Wahrscheinlichkeit, eine Lehrperson charismatisch zu finden, beträchtlich sinkt, wenn

man

im

direkten

Zusammenhang

mit

dieser

Person

dauerhaft

negativer

Leistungsrückmeldung ausgesetzt ist. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass Subjekte nicht immer direkt von Missachtung ausgehen, sobald sie eine scheinbare solche erfahren: So nehmen sie es in der Regel nicht als negativ wahr, wenn ihnen eine Behandlung als „Fall“ statt als individuelle Person, beispielsweise beim Aufsuchen eines Anwalts, zu Teil wird (vgl. Voswinkel/Lindemann 2013, S. 11). Dies ist insofern erklärbar, „[d]a Personen normalerweise

dazu

in

der

Lage

sind,

intuitiv

zwischen

verschiedenen

Anerkennungskontexten zu unterscheiden, in denen sie gerade agieren[. Daher] wird eine solche formalistisch-allgemeine Behandlung in der Regel nicht als verletzend empfunden“ (ebd.). Dies scheint aber ausschließlich für die rechtliche Anerkennungsebene Gültigkeit zu haben, in der Schule also beispielsweise dahingehend, dass eine Schüler_in als Nummer (zum Beispiel aufgrund des Nachnamens in alphabetischer Reihenfolge der Klassenliste) ‚bezeichnet’ wird. Eine anerkennungstheoretische Besonderheit stellt Charisma vor allem aufgrund seiner Asymmetrie dar. Während man im Fall der Autorität in Zusammenhang mit Anerkennung noch von einer gängigen, im Berufsalltag zu überwindenden Antinomie des Lehrerhandelns zwischen Asymmetrie und Reziprozität ausgehen kann, so ist Charisma anderer Natur – die Asymmetrie wird aus einer reziproken Anerkennung heraus zugeschrieben und ist somit als eine Art selbstgewollte, positive Asymmetrie zu verstehen. Da die theoretischen Ansätze für ein solches Konzept noch keine Lösung bieten, bedarf dies in Zukunft noch genauerer Betrachtung. Letztlich eröffnet die anerkennungstheoretische Perspektive noch viele weitere denkbare Ansatzpunkte zur Diskussion um Charisma und vor allem um Autorität: So wird der

in den Kapiteln zu Charisma und Autorität beschriebene Anerkennungsverfall von Schule (vgl. Paris 2009, S. 41ff.) unter anderem dadurch begründet gesehen, dass schulische Kontexte zu wenig von Anerkennung geprägt seien (vgl. Micus-Loos 2012, S. 310). Dies eröffnet ein ganzes Feld weiterer möglicher Zusammenhänge, welche es noch zu überprüfen gilt.

6. Ausblick Wie bereits im Vorhergehenden festgestellt wurde, bieten sich viele Ansatzpunkte für weitere Forschung und Ansätze im Anschluss an die Betrachtung von Charisma im Bezug zu Autorität und Anerkennung. Die relativ große Anzahl an noch unbeantworteten Fragen resultiert vor allem daraus, dass der Begriff und das Konzept des Charismas bisher nur äußerst begrenzt Beachtung im pädagogischen Diskurs gefunden haben. Die bestehenden theoretischen Ansätze geben in Kombination Aufschluss darüber, wie Charisma und Autorität im schulischen Kontext zusammenwirken (können), wie sie über die soziale Interaktion auf den Ebenen der Anerkennung zwischenmenschlich wirken und letztlich auch darüber, wie sie sich in den pädagogischen Diskurs integrieren und etablieren lassen. Es kann so deutlich gemacht werden, dass das Phänomen Charisma durchaus im schulischen Kontext verankert werden kann. Es wäre daher wünschenswert, dass vor allem der Begriff des Charismas als solcher in diesen Diskurs Eingang findet, denn im Zuge der Recherchen zu dieser Arbeit fiel auf, dass Charisma zwar im pädagogischen Diskurs nicht direkt erwähnt wird, es jedoch konzeptuell oftmals bereits in verschiedenen Ausführen zumindest in Ansätzen vorhanden ist: Dies ist neben den diskutierten Ansätzen zu Autorität (vgl. Myhre 1991 und Sofsky/Paris 1994), Rollenhandeln in der Interaktion (vgl. Heinritz 2013) und Anerkennung (vgl. Honneth 1992 und Helsper/Sandring/Wiezorek 2005) vor allem auch im Diskurs von emotionalmotivationalen Aspekten (vgl. z.B. Sann/Preiser 2008, S: 210ff.) und allgemeinen Ansätzen zur Beziehung zwischen Lehrpersonen und ihren Schüler_innen (vgl. z.B. Wiechert 2013, 216 ff.) der Fall. Es sollte hierbei jedoch beachtet werden, dass Charisma nicht im Sinne der direkten Lehrerprofessionalität und -professionalisierung in den pädagogischen Diskurs aufgenommen werden sollte, da es sich nicht um etwas Erlernbares und direkt Reflektierbares handelt – in der Regel wird sich die charismatische Lehrperson dieser Zuschreibung nicht einmal bewusst sein, da Schule prinzipiell gänzlich ohne Charisma und eine Inszenierung dessen auskommt. Vielmehr sollte Charisma als eine latente Variable nach dem Verständnis Lazarsfelds im

schulischen Kontext betrachtet werden: als ein Zusammenwirken verschiedenster Faktoren, welches an sich nicht direkt messbar ist, aber einen Einfluss ausübt und in messbare Einzelaspekte und Konzepte zerlegbar ist (vgl. Boudon 1962, S. 260f.). In diesem Verständnis können messbare Einzelaspekte, wie im Falle von Charisma beispielsweise rhetorisches Talent, in ihrem Zusammenwirken und ihren Einzelauswirkungen auf Charisma hin untersucht werden. Unter diesem Gesichtspunkt wäre eine weitere Erforschung im quantitativen sowie qualitativen Bereich wünschenswert. So könnte erstens auf qualitativer Ebene herausgestellt werden, ob das Phänomen Charisma in der Tat so weit im pädagogischen Kontext verbreitet ist, wie die vorhergehende Seminararbeit (2013) vermuten lässt und zweitens, auf qualitativer Ebene, welche weiteren Konzepte, Konstrukte und Wahrnehmungen, abgesehen von Autorität und Anerkennung, bei einer als charismatisch empfundenen Lehrperson zusammen wirken. Wolfgang Lipp (1993) ist gar der Meinung, dass „Charisma nicht nur sachlich, sondern begrifflich zu den ergiebigsten Themen zählt, die die Sozialwissenschaften vor sich haben“ (Lipp 1993, S.15) und sieht in Charisma einen kardinalen sozialwissenschaftlichen Gegenstand, welcher inhaltlich verschiedenste (zum Beispiel religiöse, politische und individuelle) Bezüge aufweist und dadurch die Grundlagen von Kultur mit ihren „typischen normativen Spannungen [umfasst]“ (ebd.). Insofern stellt Charisma für die Pädagogik ein überaus interessantes Thema dar, dessen weitere, zukünftige Erforschung durchaus zu begrüßen wäre.

Literaturverzeichnis: Anheier, Helmut K./Gerhards, Jürgen/Romo, Frank P. (1995): Forms of Capital and Social Structure in Cultural Fields. Examining Bourdieu's Social Topography. In: American Journal of Sociology, Heft 4, S. 859-903 Bliesemann de Guevara, Berit/Reiber, Tatjana (2011): Popstars der Macht. In: Bliesemann de Guevara, Berit/Reiber, Tatjana: Charisma und Herrschaft. Führung und Verführung in der Politik. Frankfurt am Main, S. 15-52 Boudon, Raymond (1962): Le modèle des classes latentes. In: Revue française de sociologie, Heft 3, S. 259-289 Brockhaus Enzyklopädie (1987): Charisma. In: Brockhaus Enzyklopädie. Vierter Band BROCOS. Mannheim, 424-425 Dollase, Rainer (2013): Lehrer-Schüler Beziehungen und die Lehrerpersönlichkeit – wie stark ist ihr empirischer Einfluss auf Leistung und Sozialverhalten? In: Krautz, Jochen/Schieren, Horst (Hg.): Persönlichkeit und Beziehung als Grundlage der Pädagogik. Weinheim u.a., S. 85-94 Duden Online Wörterbuch: Charisma. http://www.duden.de/rechtschreibung/Charisma (11.02.2015) Fend, Helmut (2004): Was stimmt mit dem deutschen Bildungssystem nicht? Wege zur Erklärung von Leistungsunterschieden zwischen Bildungssystemen. In: Schümer, Gundel/Tillmann, Klaus-Jürgen/Weiß, Manfred (Hg.): Die Institution Schule und die Lebenswelt der Schüler. Wiesbaden, S. 15-38 Gebhardt, Winfried (1994): Charisma als Lebensform. Zur Soziologie des alternativen Lebens. Berlin

Gebhardt, Winfried (1993): Charisma und Ordnung. In: Gebhardt, Winfried/Zingerle, Arnold/Ebertz, Michael N. (Hg.): Charisma: Theorie - Religion - Politik. Berlin. S., 47-68 Gebhardt, Winfried/Zingerle, Arnold/Ebertz, Michael N. (1993): Vorwort. In: Gebhardt, Winfried/Zingerle, Arnold/Ebertz, Michael N. (Hg.): Charisma: Theorie - Religion Politik. Berlin. S., V-VI Günther, Michael (2005): Masse und Charisma. Soziale Ursachen des politischen und religiösen Fanatismus. Frankfurt am Main Helsper, Werner/Sandring, Sabine/Wiezorek, Christine (2005): Anerkennung in pädagogischen Beziehungen. Ein Problemaufriss. In: Heitmeyer, Wilhelm/Imbusch, Peter (Hg.): Integrationspotenziale einer modernen Gesellschaft. Wiesbaden, S. 179206 Heinritz, Charlotte (2013): Biographische Aspekte der Lehrerpersönlichkeit. In: Krautz, Jochen/Schieren, Horst (Hg.): Persönlichkeit und Beziehung als Grundlage der Pädagogik. Weinheim u.a., S.114-127 Honneth, Axel (1992): Kampf um Anerkennung. Frankfurt am Main Krass, Katharina/Prifling, Julia/Streidenberger, Anna (2013): Charisma im schulischen Kontext. Mainz. (Unveröffentlichte Hausarbeit innerhalb des Seminars „Unterricht beobachten, rekonstruieren, initiieren“)

Lipp, Wolfgang (1993): Charisma - Schuld und Gnade. In: Gebhardt, Winfried/Zingerle, Arnold/ Ebertz Michael N. (Hg.) Charisma: Theorie - Religion - Politik. Berlin, S. 1532 Micus-Loos, Christiane (2012): Anerkennung des Anderen als Herausforderung in Bildungsprozessen. In: Zeitschrift für Pädagogik, Heft 3, S. 302-320 Minsel, Beate (1978): Begriffklärung – Soziale Interaktion. In: Minsel, Beate/Roth, Wolfgang Klaus (Hg.): Soziale Interaktion in der Schule. München, S. 15-30

Myhre, Reidar (1991): Autorität und Freiheit in der Erziehung. Stuttgart Paris, Rainer (2009): Die Autoritätsbalance des Lehrers. In: Schäfer, Alfred/Thompson, Christiane (Hg.): Autorität. Paderborn u.a., S. 37-63 Reichenbach, Roland (2011): Pädagogische Autorität. Macht und Vertrauen in der Erziehung. Stuttgart Sann, Uli/Preiser, Siegfried (2008): Emotionale und motivationale Aspekte der LehrerSchüler-Beziehung. In: Schweer, Martin K.W. (Hg.): Lehrer-Schüler-Interaktion. Inhaltsfelder, Forschungsperspektiven und methodische Zugänge. 2. Auflage, Wiesbaden, S. 209-226 Schäfer, Alfred/Thompson, Christiane (2009): Autorität – eine Einführung. In: Schäfer, Alfred/Thompson, Christiane (Hg.): Autorität. Paderborn u.a., S. 7-36 Schäffter, Ortfried (2009): Die Theorie der Anerkennung - ihre Bedeutung für pädagogische Professionalität. In: Mörchen, Annette/Tolksdorf, Markus (Hg.): Lernort Gemeinde. Ein neues Format der Erwachsenenbildung. Bielefeld, S. 171-182 Scherr, Albert (2002): Subjektbildung in Anerkennungsverhältnissen. In: Hafeneger, Benno/Henkenborg, Peter/Scherr, Albert (Hg.): Pädagogik der Anerkennung. Grundlagen, Konzepte, Praxisfelder. Schwalbach, S. 26-44 Sofsky, Wolfgang/Paris, Rainer (1994): Figurationen sozialer Macht. Autorität Stellvertretung – Koalition. Frankfurt am Main Voswinkel, Stephan/Lindemann, Ophelia (2013): Einleitung. In: Honneth, Axel/Lindemann, Ophelia/Voswinkel, Stephan (Hg.): Strukturwandel der Anerkennung. Paradoxien sozialer Intelligenz. Frankfurt am Main, S. 7-16 Wiechert, Christof (2013): Zur Beziehungsfähigkeit im Erzieher- und Lehrerberuf. In: Krautz, Jochen/Schieren, Horst (Hg.): Persönlichkeit und Beziehung als Grundlage der Pädagogik. Weinheim u.a., S. 210-219