Chance Europa – Chance für Frauen! Dokumentation zur 3. Frauenpolitischen Fachtagung der dbb bundesfrauenvertretung 7. Juni 2004, Berlin

Was bringt der europäische Einigungsprozess den Frauen? Hält die europäische Gleichstellungspolitik, was sie verspricht? Europäische Rechtsgrundlagen beeinflussen maßgeblich auch deutsches nationales Recht, auch und gerade in der Gleichstellungspolitik. Dies hat die dbb bundesfrauenvertretung zum Anlass genommen, im Jahr der europäischen Erweiterung und der Europawahl die dritte frauenpolitische Fachtagung unter dem Motto „Chance Europa – Chance für Frauen!“ auszurichten, um diese Zusammenhänge zu beleuchten. Das vorliegende Heft enthält die Fachreferate sowie die Podiumsdiskussion anlässlich dieser Fachtagung.

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Chance Europa – Chance für Frauen! Dokumentation zur 3. Frauenpolitischen Fachtagung der dbb bundesfrauenvertretung 7. Juni 2004, Berlin

Vorwort

Vorwort

Liebe Kollegin! Lieber Kollege, Die dbb bundesfrauenvertretung veranstaltet jedes Jahr eine frauenpolitische Fachtagung. Mit dieser Veranstaltungsart wollen wir unsere Mitglieder ansprechen und eine Diskussionsplattform für frauenpolitische Themen zur Verfügung stellen, um auch verbandsintern Frauenpolitik besser zu transportieren und die Diskussion auf eine breitere Basis zu stellen. Auch im Jahr 2004 hat die dbb bundesfrauenvertretung wieder eine frauenpolitische Fachtagung durchgeführt. Dabei haben wir die rasante aktuelle, politische und gesellschaftliche Entwicklung in Europa zum Anlass genommen, die 3. Frauenpolitische Fachtagung unter dem Motto „Chance Europa – Chance für Frauen!“ auszurichten. Wie können sich Frauen mit ihren speziellen Chancen mit dem europäischen Gedanken identifizieren? Hält die europäische Gleichstellungspolitik, was sie verspricht? Wie ist es um die Chancen von Frauen als politische Akteurinnen in Europa bestellt und wie werden sich diese Chancen in Zukunft weiterentwickeln? Impressum: Herausgeber: dbb bundesfrauenvertretung, Friedrichstr. 169/170, 10117 Berlin Telefon 030/4081-4400, Fax 030/4081-4499 E-mail: [email protected] Internet: www.frauen.dbb.de

Die Erkenntnisse aus den Veranstaltungsbeiträgen der 3. Frauenpolitischen Fachtagung möchten wir Ihnen in dieser Broschüre als Diskussionsgrundlage zur Verfügung stellen, damit Sie sich Ihr eigenes Bild machen können.

Mit kollegialen Grüßen

Verantwortlich: Helene Wildfeuer, Bundesvorsitzende der dbb bundesfrauenvertretung Redaktion: Diana Rensch, Sibylle Scholz, Helene Wildfeuer Verlag: dbb verlag GmbH, Reinhardtstr. 29, 10117 Berlin Satz + Druck: Wienands PrintMedien GmbH, Bad Honnef Nachdruck – auch auszugsweise – nur mit Einverständnis des Herausgebers

Helene Wildfeuer (Bundesvorsitzende)

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Eröffnung/Begrüßung durch die Bundesvorsitzende der dbb bundesfrauenvertretung Helene Wildfeuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Grußwort des Bundesvorsitzenden des dbb beamtenbund und tarifunion Peter Heesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Chancen für Frauen – in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa – Festvortrag – Renate Schmidt, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Frauen in guter Verfassung? – Gleichstellungspolitik in der Europäischen Union – Fachreferat von Prof. Dr. Christiane Lemke, Hannover. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Wie wirkt sich europäisches (Verfassungs-) Recht auf nationales Recht aus? – dargestellt am Beispiel des Gleichstellungsrechts – Fachreferat von Prof. Dr. Beate Rudolf, Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Gender Mainstreaming im Arbeitsmarktservice (AMS) Steiermark – Erfahrungen aus einem Implementierungsprojekt Fachreferat von Dr. Herta Kindermann-Wlasak, Graz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Ausgewogene Beteiligung von Frauen und Männern in politischen Entscheidungsprozessen und Entscheidungsgremien Podiumsgespräch mit Prof. Dr. Rita Süßmuth, Bundestagspräsidentin a.D., Sabine Leutheusser-Schnarrenberger MdB, Irmingard Schewe-Gerigk MdB Moderation: Cordula Tutt (Financial Times Deutschland) . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Schlusswort der Bundesvorsitzenden der dbb bundesfrauenvertretung Helene Wildfeuer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

Begrüßung – Helene Wildfeuer

Helene Wildfeuer, Bundesvorsitzende der dbb bundesfrauenvertretung

Begrüßung zur 3. Frauenpolitischen Fachtagung der dbb bundesfrauenvertretung am 7. Juni 2004 in Berlin Sehr geehrte Frau Bundesministerin, sehr geehrte Abgeordnete, sehr geehrter Herr Bundesvorsitzender, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste, zur Frauenpolitischen Tagung 2004 darf ich Sie alle hier im dbb forum berlin recht herzlich begrüßen und willkommen heißen. Ich freue mich, dass Sie so zahlreich den Weg nach Berlin gefunden haben, zeigt es doch, dass das Thema „Chance Europa – Chance für Frauen!“ besonders aktuell, gefragt und interessant ist. Dies ist bereits die 3. Frauenpolitische Fachtagung und wir sind entschlossen, diese Tradition weiter fort zu führen, um unsere Mitglieder zu informieren, sie fortzubilden und ihnen eine Diskussionsplattform zur Verfügung zu stellen. Aus den ausliegenden Verzeichnissen der Teilnehmer und Teilnehmerinnen können wir alle ersehen, welches Spektrum heute hier anwesend ist – „Bunt gemischt aus allen Mitgliedsgewerkschaften des dbb“: b

Bundes- und Landesvorsitzende,

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Mitglieder der geschäftsführenden Vorstände,

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Frauenvertreterinnen und Gleichstellungsbeauftragte und zu meiner großen Freude Vertreterinnen aus dem Deutschen Frauenrat.

Ihnen allen von meiner Seite eine herzliche Begrüßung. Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, Sinn und Zweck unserer Fachtagungen ist, die ausgewählten Themen von verschiedenen Seiten zu beleuchten. Erfolgreiche Gewerkschaftsarbeit bedeutet: b b b

die Interessen der Mitglieder zu kennen und zu erkennen sich in der Sachkenntnis zu profilieren und für die Umsetzung Netzwerke zu knüpfen und zu pflegen.

Deshalb haben wir auch dieses Jahr neben Ihnen wieder Gäste aus Wissenschaft und Politik eingeladen, um unsere Strategien zielführend zu verfolgen.

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Begrüßung – Helene Wildfeuer

Gender Mainstreaming – die Schlüsselstrategie auch in der europäischen Gleichstellungspolitik – sollte aus meiner Sicht flächendeckend verbandsintern, national und international eine stärkere Rolle spielen, wenn wir nicht den Anschluss an unsere europäischen Nachbarn verpassen wollen. Europa ist am 1. Mai 2004 auf 25 Staaten erweitert worden. Das ist eine große Chance für uns alle, auch wenn manche die Erweiterung skeptisch betrachten mögen. Sprachkenntnisse und ein Blick über den eigenen Tellerrand hinaus werden in Zeiten gesteigerter beruflicher Mobilität auch über Landesgrenzen hinaus immer wichtiger. Ende der Woche sind wir alle zur Wahl des Europaparlaments aufgerufen. Wahlen sind eine wirksame Möglichkeit, auf das politische Schicksal Einfluss zu nehmen. Wer nicht wählen geht, verzichtet auf diese Einflussmöglichkeit. Wer nicht mit gestaltet, darf sich letztendlich auch nicht beschweren, wenn die Politik nicht so läuft, wie er/sie sich selbst das vorstellt. Und damit bin ich bei einem Thema, das uns auch heute Nachmittag beschäftigen wird: Wie sieht es denn aus mit der Beteiligung von Frauen in politischen Entscheidungsgremien? Politik ist hierzulande durchgehend männlich geprägt, obwohl über die Hälfte der deutschen Bevölkerung weiblich ist. Schon der Dichter Molière brachte es aus der Sicht seiner Zeit auf den Punkt: „Macht ist, wo die Bärte sind.“ Und Balzac sagte: „In allen Gesetzbüchern der so genannten Kulturvölker hat der Mann die Gesetze geschrieben, die das Schicksal der Frauen regeln“. Auch die Gewerkschaftspolitik des dbb wird vorrangig von Männern bestimmt: in der 7-köpfigen Bundesleitung des dbb beamtenbund und tarifunion ist mit Ilse Schedl, die ich an dieser Stelle ganz besonders begrüßen möchte, nur eine Frau vertreten. Ich würde mir eine Politik wünschen, in der sich der Frauenanteil in den Entscheidungsgremien eher an der Geschlechterverteilung hier im Saal orientiert. Nicht nur die Frauenpolitik sollte weiblich sein! Gro Harlem Brundtland, 1981 erste Premierministerin in Norwegen und mittlerweile Generaldirektorin der WHO hat dazu einen treffenden Satz geprägt: „Es wirkt normaler, in eine Ministerrunde zu blicken, in der auf jedem zweiten Stuhl eine Frau sitzt“. Und Rita Süßmuth, die wir heute Nachmittag zu Gast haben werden, hat „Mut zur Macht in Frauenhand“ zu ihrem Leitprinzip gemacht. Ursprünglich hatte ich an dieser Stelle die zahlreich zu unserer Veranstaltung erschienenen Männer begrüßen wollen. Bei der Durchsicht des Teilnehmer- bzw. eher

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Begrüßung – Helene Wildfeuer

Teilnehmerinnenverzeichnisses fiel mir aber auf, dass dies als klassisches Eigentor gewertet werden könnte – die Zahl der männlichen Teilnehmer liegt leider unter 20 Personen. Ich möchte dahin gestellt sein lassen, ob sich die Kollegen aufgrund der weiblichen Übermacht nicht hierher trauen, das Thema Ihnen vielleicht zu feminin präsentiert ist oder sie anderweitig terminlich verhindert sind. Ich freue mich dafür umso mehr über diejenigen Herren, die den Weg hierher gefunden haben und begrüße die Kollegen sehr herzlich. Liebe Kollegen, ein Wort von Kollegin zu Kollege. Ich fühle mit Euch, denn ich weiß sehr gut, wie man sich fühlt, wenn man so deutlich in der Minderzahl ist. Deshalb freue ich mich sehr, dass Ihr da seid. In den Parlamenten hält sich der Anteil der Volksvertreterinnen nach wie vor sehr in Grenzen. Im internationalen Durchschnitt (über 178 Länder) bewegt er sich bei nur 14 %, so dass Deutschland mit seinen ca. 31 % weiblichen Abgeordneten im Bundestag vergleichsweise hervorragend auf Platz 7 des internationalen Rankings liegt. Noch höhere Frauenanteile im Parlament haben nur die skandinavischen Länder und die Niederlande. Schweden nimmt mit 42,7 % Frauen im nationalen Parlament den Spitzenplatz ein. Und wie ist es in Europa? Der Frauenanteil im ersten direkt gewählten EU-Parlament 1979 betrug 16 %, bei den vergangenen EU-Wahlen stieg er auf immerhin 31 %, nach der Erweiterung sind nunmehr 27 % der 786 EU-Abgeordneten weiblich. Frauen, die das Abgeordnetendasein in einem Männersystem aus eigener Erfahrung kennen, werden heute Nachmittag in einem Podiumsgespräch Visionen dazu entwickeln, wie Frauen in politischen Gremien besser zum Zuge kommen können. Es ist uns gelungen, mit Frau Professor Dr. Süßmuth, Frau LeutheusserSchnarrenberger und Frau Schewe-Gerigk Expertinnen auf diesem Gebiet zu gewinnen. Die Diskussion wird moderiert von Cordula Tutt von der Financial Times Deutschland. Wer sich – wie wir heute in dieser Fachtagung – mit staatsübergreifenden und internationalen Dimensionen von Gender Mainstreaming befassen will, der muss erst einmal eine Bestandsaufnahme im eigenen Land anstellen und sich dann mit der eigenen Politik an den anderen Ländern messen lassen. Deswegen freut es mich besonders, dass die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Renate Schmidt ihr Kommen ermöglicht hat und uns ab 10.30 Uhr Rede und Antwort stehen möchte zu den Chancen für Frauen in Europa. Wir sind gespannt zu hören, wie die Bundesregierung die besonderen Chancen in Europa gerade für Frauen einschätzt.

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Begrüßung – Helene Wildfeuer

Renate Schmidt lebt Macht und Kompetenz vorbildlich, zielführend und erfolgreich. Ihre Kurz-Biographie, die Ihnen vorliegt, bestätigt meine Worte. Außerdem haben wir mit Christiane Lemke von der Universität Hannover und Beate Rudolf von der freien Universität Berlin zwei Professorinnen zu Gast, die uns mit Fachreferaten zum europäischen Gleichstellungs- und Verfassungsrecht in eine vielschichtige Materie einführen werden. Frau Prof. Dr. Lemke, Frau Prof. Dr. Rudolf ich begrüße Sie ganz herzlich und danke Ihnen für Ihr Kommen. Was fällt uns zum Thema Europa auf Anhieb ein? Sicherlich die jüngste Reihe unschöner Bereicherungsskandale von Europaabgeordneten und Kommissionsmitarbeitern, die von den Medien über lange Zeit dankbar aufgegriffen wurde. Aber in jedem System gibt es illegale Nutznießer, das ist keine europäische Spezialität. Der Vertrag über eine europäische Verfassung fällt mir als nächstes ein. Er ist sicher ein Meilenstein im Zusammenwachsen der europäischen Staaten, auch wenn die einzelnen Staaten diese Verfassung noch als nationales Recht ratifizieren müssen. Die Diskussionen um Mehrheiten und Beteiligungsrechte innerhalb der am Verfassungsentwurf beteiligten Gremien spiegelt wieder, wie komplex die Entscheidungsfindung und das Ringen um Konsens auf europäischer Ebene sein kann.

Begrüßung – Helene Wildfeuer

Trotz einer Terminkollision hat der Bundesvorsitzende sich die Zeit genommen, ein Grußwort an uns zu richten. Damit dokumentieren er und seine Stellvertreter, dass auch die Frauenpolitik im dbb ernst genommen wird und ihren Stellenwert hat. Während die dbb bundesfrauenvertretung hier nur Handlungsbedarf aufzeigen kann, hat es die Bundesleitung in der Hand, die Richtlinien der Politik des dbb zu steuern und zwar TOP-DOWN. Ich begrüße ganz herzlich den Bundesvorsitzenden Peter Heesen mit seinen Stellvertretern Dieter Ondracek, Heinz Ossenkamp und Ilse Schedl und danke Euch für Euer Interesse. Ein besonderer Willkommensgruß gilt auch den anwesenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus der Bundesgeschäftsstelle, den Repräsentanten des BHW, der DBV-Winterthur und des dbb vorsorgewerks und den heute hier vertretenen Presseorganen, sowie meinen Kolleginnen aus der Geschäftsführung der dbb bundesfrauenvertretung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste, ich wünsche uns eine konstruktive und interessante Fachtagung und erbitte jetzt das Grußwort unseres Bundesvorsitzenden. Lieber Peter, Du hast jetzt das Wort.

In der europäischen Gleichstellungspolitik hat uns in jüngerer Zeit die Richtlinie des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Frauen und Männern beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen beschäftigt. Leider hat sich die öffentliche Diskussion dabei auf die Unisextarife im Versicherungswesen fokussiert. Bei den Riesterprodukten werden in Kürze die Unisextarife eingeführt werden – leider erst mit Wirkung ab 2006. Die Tragweite dieser Richtlinie ist aber eine viel weitere, wenn auch wichtige Bereiche wie Bildung und soziale Sicherheit nicht erfasst wurden. Die ausgewiesene Expertin direkt von der Quelle, Barbara Helfferich, Mitglied im Kabinett von Anna Diamantopoulou und maßgeblich an der Verfassung dieser Richtlinie mit beteiligt, hatte uns ihr Kommen zugesagt, musste uns allerdings sehr kurzfristig absagen, da sie ihren neuen Kommissar heute überraschend auf eine Reise nach Genf begleiten muss. Es freut mich aber dafür um so mehr, dass sich Frau Dr. Kindermann-Wlasak aus Graz kurzfristig bereit erklärt hat, diese Lücke zu schließen. Frau Dr. KindermannWlasak wird uns über ihre praktischen Erfahrungen aus einem sehr erfolgreichen von der EU geförderten Equal-Projekt in der Steiermark berichten. Eine herzliche Begrüßung auch an Sie Frau Dr. Kindermann-Wlasak. Besonders freut es mich, dass ich (fast die komplette) vier Mitglieder der Bundesleitung des dbb beamtenbund und tarifunion hier willkommen heißen darf.

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Grußwort – Peter Heesen

Peter Heesen Bundesvorsitzender des dbb beamtenbund und tarifunion

Grußwort zur 3. Frauenpolitischen Fachtagung am 7. Juni 2004 im dbb forum berlin – Es gilt das gesprochene Wort! – Verehrte Frau Bundesministerin, sehr geehrte Bundesvorsitzende, liebe Kolleginnen und Kollegen, werte Gäste, meine sehr verehrten Damen und Herren, mit großer Freude darf ich Sie alle als Hausherr namens der Bundesleitung des dbb zur 3. Frauenpolitischen Fachtagung unserer Frauenvertretung hier im dbb forum zu Berlin begrüßen. Der dbb ist sehr erfreut über die große Resonanz, die diese Fachtagung findet; das gilt sowohl für die Beteiligung von Persönlichkeiten des politischen Lebens als auch für die Teilnehmerzahl insgesamt. Die Gleichstellung der Frauen in allen Lebensbereichen, vor allem im Beruf, in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, aber auch im kulturellen Raum ist immer noch ein Thema, obgleich der Weg dorthin schon seit Längerem beschritten wird. Offensichtlich sind die Behinderungen und Störfaktoren nach wie vor allzu ausgeprägt, um ein schnelles Vorankommen auf dem Weg zur Gleichstellung sicherzustellen. Deshalb ist es nur folgerichtig, wenn alle neuen Weichenstellungen jeweils zum Anlass genommen werden, um zum Ziele zu gelangen. So ist auch die Neugestaltung Europas ein willkommener Anlass, Europa, seine Erweiterung, aber auch seine Verfassungsdiskussion als „neue Chance für die Gleichstellung der Frauen“ zu nutzen. Dabei war der Widerstand gegen die Gleichberechtigung in Europa vielerorts nicht nur groß, sondern auch militant. So schrieb schon am 26. Juli 1908 die Neue Zürcher Zeitung, immerhin auch damals schon ein Renommierblatt, über die englischen Suffragetten, die für das Frauenwahlrecht stritten: „Sie arbeiten mit den Waffen ihres Geschlechts – so gestehen sie es selbst ein: sie wollen den Feind, [das ist] der Mann, durch unermüdliche Angriffe, Belästigungen mürbe machen, so dass er schließlich, rein aus Ungeduld, um die lästigen Plager loszuwerden, klein beigibt.“

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Grußwort – Peter Heesen

Grußwort – Peter Heesen

So peinlich diese Bewertung heute erscheint, so offenkundig ist jedoch, dass seither viel geschehen ist.

Diese Aufforderung ist Verpflichtung, – die Verpflichtung, den bisher nicht eingelösten Wechsel einer vollständigen Gleichstellung zu bedienen.

Auf dem Gebiet der politischen und rechtlichen Gleichstellung der Frauen sind wir – auch in Deutschland – ein erhebliches Stück weitergekommen.

Zugegeben: die hier zitierte Passage ist jüngeren Datums; sie wurde erst mit der Verfassungsreform des Jahres 1994 in das Grundgesetz aufgenommen. Aber sie gilt.

Gleichwohl ist die volle Chancengleichheit vor allem im Wirtschaftsleben, im Beruf, immer noch nicht erreicht.

Wir müssen auch im dbb mit rund 380.000 weiblichen Mitgliedern dazu noch ein paar Hausaufgaben machen. Dieser Anteil ist ausbaufähig, aber dies setzt voraus, dass noch mehr Frauen künftig als Funktionsträger mitwirken und mitwirken können.

„Eine Frau muss Geld haben und ein Zimmer für sich allein, wenn sie Fiction schreiben will“, schrieb die englische Schriftstellerin Virginia Woolf 1929 in ihrem Essay „Ein Zimmer für sich allein“. Faktum ist: Volle Chancengleichheit erfordert nicht nur rechtliche, sondern auch materielle Voraussetzungen. Und aus fehlenden wirtschaftlichen Voraussetzungen erwachsen gesellschaftliche Folgen. Das Grundgesetz legt in Artikel 3 Absatz 1 unabänderlich fest: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Und in Absatz 2 heißt es: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Daraus folgt das Diskriminierungsverbot im Absatz 3, nach dem niemand wegen seines Geschlechtes benachteiligt werden darf. Gleichberechtigung ist aber noch keine Garantie für faktische Gleichstellung. Und volle Chancengleichheit entsteht erst dort, wo faktische Gleichstellung gegeben ist. Erinnern wir uns: Bis 1961 hat es nach dem 2. Weltkrieg gedauert, bis mit Elisabeth Schwarzhaupt erstmals eine Frau ins Bundeskabinett berufen wurde. Für die Politik hatte das immerhin Signalwirkung, denn die Repräsentanzzahlen der Frauen in Regierungen und Parlamenten sind heute deutlich besser, und wichtiger noch: Ein wachsender Anteil von Frauen ist inzwischen konsensfähig. Anders ist dies in Deutschlands Chefetagen, auf den Führungsebenen von Unternehmen, aber auch bei leitenden Führungspositionen in der öffentlichen Verwaltung. Hier gibt es immer noch viel zu tun. Wirtschaft und Verwaltung müssen hier noch Hausaufgaben machen. Denn der schon zitierte Gleichheitsartikel trifft nicht nur Rechtssetzungen, sondern erteilt auch einen Auftrag: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“

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Wir werden uns um ein gewerkschaftliches Profil bemühen müssen, das Frauen im öffentlichen Dienst wie im privaten Sektor noch mehr anspricht als bisher. Dennoch blicke ich – alles in allem –, was den weiteren Weg zur vollen GIeichstellung der Geschlechter in unserer Gesellschaft angeht, optimistisch in die Zukunft. Schlüssel dafür sind die veränderten Bildungsbeteiligungen von Frauen. Heute sind mehr als die Hälfte unserer Abiturienten weiblichen Geschlechts. Ich setze einfach darauf, dass diese Entwicklung, zumal bei der schon in wenigen Jahren deutlich spürbar werdenden Reduzierung der verfügbaren Zahl der Erwerbstätigen auf dem Arbeitsmarkt, zu einer nachhaltigen Veränderung der Geschlechterverteilung auch in leitenden Positionen führen wird. Worauf es besonders ankommt, ist die Fortsetzung der Bemühungen, dass Familie und Beruf noch besser miteinander vereinbar werden. Der dbb hat dies bereits über seine Initiativen zur Ausweitung der Teilzeitarbeit unter Beweis gestellt. Wir sind stolz darauf, dass nirgends sonst so viele Menschen in Teilzeit arbeiten wie im öffentlichen Dienst. Und wir wollen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Sinne der Frauen weiter fördern, wie wir in unserem Reformmodell 21 bekundet haben. Denn wir wollen eine stärkere Flexibilisierung bei den Arbeitszeiten, – gerade für unsere Frauen. Denn unsere alternde Gesellschaft braucht beides: Kinder und qualifizierte Frauen im Arbeitsprozess. Dazu müssen aber auch die Maßnahmen zum Ausbau der Kinderbetreuung fortgesetzt werden. Das Konzept des „Gender Mainstreaming“, das 1997 in den Amsterdamer Vertrag aufgenommen wurde, betrachten wir als ein wichtiges Instrument zur Durchsetzung der vollen Gleichberechtigung der Frauen. Deutschland hat sich mit der Ratifizierung des Amsterdamer Vertrages verpflichtet, gender mainstreaming zu berücksichtigen, wenngleich diese Verpflichtung mit einem schwer verdaulichen Anglizismus daherkommt.

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Grußwort – Peter Heesen

Dabei erscheint mir wichtig: Chancengleichheit beschränkt sich nicht auf Einzelmaßnahmen für Frauen. Gender Mainstreaming sieht vor, Gesetze und politische Maßnahmen immer in ihren Auswirkungen auf die Geschlechter, also auch die Männer, zu prüfen und zu bewerten. In ihrem aktuellen Gleichstellungsbericht schreibt die Europäische Kommission zu Recht, dass die Gleichstellung von Frauen und Männern von Anfang an ein Grundprinzip der Europäischen Union gewesen ist, wie übrigens schon in Art. 3 des EGVertrages nachgelesen werden kann. Also: Europa geht voran, in diesem Bereich wie auf vielen anderen Politikfeldern auch. Wir, der dbb, werden diesen Weg mitgehen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen einen interessanten und anregenden Tag hier im dbb forum berlin.

Bundesministerin Renate Schmidt

Renate Schmidt, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Rede anlässlich der 3. Frauenpolitischen Tagung der dbb bundesfrauenvertretung zu „Chancen für Frauen – in Deutschland und Europa“ am 7. Juni 2004 in Berlin Europa – Chancen für Frauen Die 3. Frauenpolitische Tagung der dbb bundesfrauenvertretung findet in der heißen Phase des Europawahlkampfs statt. Frauen fragen sich, was sie von Europa in Zukunft zu erwarten haben. Werden sie zukünftig mitgestalten? Oder wird das eine reine Männerwirtschaft, wie sie es im Deutschen Bundestag war, in manchen Fraktionen noch ist und in vielen nationalen Parlamenten der EU ebenfalls noch ist? Bevor ich auf die Themen, die Frauen besonders betreffen, komme, möchte ich das Thema ansprechen, das ich darüber hinaus für besonders wichtig halte: Frauen waren es, die in den letzten Jahrzehnten in Europa und weltweit immer an vorderster Stelle für den Frieden eingetreten sind, weil Frauen in den fürchterlichen Kriegen des letzten Jahrhunderts erlebt und erlitten haben, was Krieg bedeutet, insbesonders für sie und ihre Kinder. Deshalb sollten wir bei allen Alltagssorgen und aller Tagespolitik nie eines vergessen: Die EU ist das größte, wichtigste und erfolgreichste Friedensprojekt der europäischen Geschichte. Kriege in Europa, wie sie meine Generation als Kinder noch erlebt hat, sind in den weitesten Teilen Europas unvorstellbar geworden. Und auch darum geht es am 13. Juni, ob dieser Kurs verstärkt und intensiviert wird, ob wir in der EU gemeinsam versuchen, Kriege zu verhindern, also Kriegsprävention betreiben, oder ob wir stramm bei irgendwelchen Präventivkriegen mit marschieren und damit wie im Irak Konflikte nicht verringern, sondern vergrößern. Nun aber zu dem, was Frauen besonders angeht: Die Europäische Union war stets Motor für die Verwirklichung der Chancengleichheit von Frauen und Männern – das muss so bleiben.

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Bundesministerin Renate Schmidt

Denn für uns Frauen ist Europa eine Erfolgsgeschichte: ohne die Vorgaben des Amsterdamer Vertrages wäre Gender Mainstreaming in den meisten Mitgliedstaaten nicht nur ein semantisches, sondern auch ein inhaltliches Fremdwort. Die Bemühungen um gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit, um aktive Frauenförderung, um Zugang zu allen Berufen – ohne die Urteile des europäischen Gerichtshofes gäbe es bei manchen noch nicht einmal Problembewusstsein, geschweige denn tatsächliche Verbesserungen für Frauen. Immer war das europäische Recht dafür, dass Frauen selbstbestimmt ihr Leben führen können mit den gleichen Lebenschancen wie die Männer. Frauen profitieren nicht nur von der Rechtsetzung, sondern auch von den Mitteln der EU, sei es die Förderung von Projekten aus dem Aktionsprogramm Gleichstellung, aus dem Programm DAPHNE, sei es aus Europäischen Strukturfondsmitteln, und da besonders aus ESF-Mitteln. Gefördert werden der Zugang von Frauen zum Arbeitsmarkt und ihre Beteiligung am Arbeitsmarkt, einschließlich ihres beruflichen Aufstiegs, ihres Einstiegs in neue Beschäftigungsmöglichkeiten und die Schritte in eine Existenzgründung. Und deshalb hoffe, wünsche und kämpfe ich dafür, dass in Europa auch nach der Wahl diejenigen das Sagen haben werden, die weiter für ein modernes, selbstbestimmtes Frauen- und Familienbild eintreten können. Denn wir brauchen keine rückwärtsgewandten Rollenklischees oder Ideen von Hausfrauen-Prämien. Wir wollen, dass Menschen nach ihren eigenen Vorstellungen leben können. Die erdrückende Mehrheit der heutigen Frauengeneration, der am besten ausgebildeten Frauengeneration, die es je gab in Deutschland und in Europa, will ihre Qualifikation auch beruflich nutzen. Und sie wollen, wenn sie sich für Kinder entscheiden, beides unter einen Hut bringen, ihren Beruf und ihre Kinder, und sie fordern Gott sei Dank immer lauter und vernehmlicher, dass dieser Balance-Akt endlich auch deutliche Unterstützung durch die Männer und Väter erfährt. Dies hat weder etwas mit Egoismus noch mit schädlicher Selbstverwirklichung zu tun – wer hätte dies Männern jemals vorgeworfen? –, aber es hat sehr viel mit Gerechtigkeit, Eigenständigkeit, individueller und volkswirtschaftlicher Vernunft zu tun. Es geht also um etwas bei diesen Wahlen am 13. Juni und ich hoffe, dass die Menschen das noch begreifen und wählen gehen.

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Frauenförderung und Gleichstellungspolitik Selbstverständlich fordern wir Frauen heute unseren Teil an der Macht und an den Führungspositionen in Wirtschaft und Gesellschaft ein, und zwar schlicht und einfach, weil wir wissen: Wir können es und dies nicht selten besser als mancher anderer. Selbstverständlich wollen Frauen heute beides: einen Beruf ausüben und Kinder, eine Familie haben und genauso selbstverständlich fordern wir ein, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht nur Lippenbekenntnis bleibt, sondern Lebenswirklichkeit wird. Frauenförderung heute muss keine bildungspolitischen Defizite mehr ausgleichen. Inzwischen sind Mädchen und Frauen in diesem Bereich überwiegend genug gefördert: Wir haben die Jungen und Männer in allen Bildungsabschlüssen und mit besseren Ergebnissen nicht nur eingeholt, sondern überholt. Heutige Gleichstellungspolitik geht außerdem nicht mehr von den Frauen als defizitären Wesen aus und betrachtet Männer nicht mehr als den Maßstab aller, insbesondere der beruflichen Dinge. Menschen sind unterschiedlich, haben unterschiedliche Fähigkeiten und Bedürfnisse und dem muss Rechnung getragen werden nach den Prinzipien des Gender Mainstreaming.

Gender Mainstreaming Unter Genderaspekten gibt es keine neutralen Themenbereiche, alles hat Relevanz für Frauen und für Männer. Das bedeutet konkret, dass auch die männliche Sichtweise und Lebenssituation in scheinbar reine Frauenthemen eingebracht werden muss und natürlich auch umgekehrt, die Sichtweise von Frauen in angeblich reine Männerthemen. Gender Mainstreaming zahlt sich aus: Wer den Familienstress von jungen Eltern mit kleinen Kindern als Dienstherr ignoriert, wird zunehmende Fehlzeiten in Kauf nehmen und vermutlich auf qualifizierte jüngere Beschäftigte zu lange verzichten müssen. Das bedeutet im Klartext: Wer das Potenzial seiner weiblichen Belegschaft nicht ausschöpft, bleibt unwirtschaftlich. Keine Gesellschaft kann es sich mehr leisten, das enorme Leistungs- und Qualifikationspotential der Frauen nicht zu nutzen – das gilt für jeden Bereich, ob freie Wirtschaft, öffentlicher Dienst, Gewerkschaften, Verbände. Das heißt ganz konkret, nicht nur in Unternehmen und Behörden brauchen wir mehr Frauen in Spitzenfunktionen, und nicht nur in homöopathischen Dosierungen, sondern auch in der Spitze des dbb oder in den Tarifkommissionen oder in den Arbeits-

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Bundesministerin Renate Schmidt

gruppen zur Überarbeitung des BAT. Wir haben Gender Mainstreaming deshalb auch zu einem wichtigen Teil der Verwaltungsmodernisierung und zum Regierungsprogramm „Moderner Staat – Moderne Verwaltung“ gemacht, und da sind wir alle in der Umsetzung gefordert. Mein Ministerium kann und will Motor, Ideengeber und Mahner in Sachen Gender Mainstreaming sein, aber wir können nicht alles und wir wissen auch nicht alles. „Gender-Wissen ist Fachwissen“ – auf diese Formel haben sich die Bundesressorts geeinigt, und das heißt, jedes Ministerium nimmt seine Vorhaben selbst unter die Gender-Lupe, erkennt gegebenenfalls Zielkonflikte und löst sie allein. Gender-Wissen ist auch Fachwissen in den Ausschüssen auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene; auch hier können Weichen gestellt werden. Die erste Pilotphase von Gender Mainstreaming in der Bundesverwaltung ist abgeschlossen. Alle Ministerien haben inzwischen hausinterne Genderstrukturen geschaffen, Schulungen durchgeführt und ihre ersten Erfahrungen mit konkreten Projekten gemacht. Wir werden im Frühherbst in einer großen Fachveranstaltung die bisherigen Ergebnisse dieser Pilotprojekte vorstellen. Damit die oft kniffligen Genderfragen, die sich in der täglichen Arbeit ergeben, auch fachgerecht beantwortet werden, habe ich im letzten Oktober zusammen mit der Humboldt Universität zu Berlin ein GenderKompetenzZentrum eröffnet, das in den nächsten Jahren von meinem Haus finanziert wird. In der Aufbauphase dieses Zentrums steht es in erster Linie der Bundesverwaltung, natürlich aber auch den Verwaltungen der Länder mit Rat und Tat zur Seite; mittelfristig, nach weiterem Ausbau, soll dieses Zentrum auch eine Anlaufstelle für Privatwirtschaft und Privatpersonen sein. Die Einkommensunterschiede von Frauen und Männern sind zwar so heute bei den jungen Frauen und Männern nicht mehr vorhanden. Beim Berufseinstieg und in den ersten fünf bis acht Berufsjahren beträgt der Unterschied gerade noch 10 Prozent und ist in einem hohen Maß berufswahlbedingt. Die Schere zwischen den Einkommen von Männern und Frauen öffnet sich dann jenseits des 30./35. Lebensjahres und erreicht die bekannten 30 Prozent. Und dies aus demselben Grund wie vor 20, 30 Jahren: Frauen unterbrechen, und dies viel zu lange, ihre Erwerbstätigkeit und zwar nicht, weil sie Balalaika spielen oder Weltreisen unternehmen wollen, sondern weil sie sich für Kinder entscheiden und in Deutschland-West keine Betreuungsmöglichkeiten finden.

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Bundesministerin Renate Schmidt

Gleichstellungsgesetz Mit dem Gleichstellungsgesetz für die Bundesverwaltung und die Gerichte des Bundes, das am 5. Dezember 2001 in Kraft getreten ist, haben wir in unserem eigenen Verantwortungsbereich neue Standards für die Gleichstellung von Männern und Frauen in einer modernen Verwaltung gesetzt. Frauen sind – unter Berücksichtigung des Einzelfalls – in Bereichen, in denen sie unterrepräsentiert sind, bei gleicher Eignung, Befähigung und Leistung bevorzugt zu berücksichtigen. Die Vorgaben für Gleichstellungspläne sollen diese zu effektiven Instrumenten einer modernen Personalplanung und -entwicklung sowie zur Gleichstellung von Männern und Frauen ausbauen. Und einiges hat sich tatsächlich bereits getan. Die Regelungen zur Mindestentlastung zum Beispiel sichern einer Gleichstellungsbeauftragten die Möglichkeit, sich mit ihren Aufgaben auch befassen zu können – und nicht, wie es zu Zeiten des Frauenfördergesetzes häufig vorkam, sich schon an den Mindestbedingungen für die eigene Arbeit verkämpfen zu müssen. Trotzdem bleibt das Amt der Gleichstellungsbeauftragten eine Herausforderung und ich kann nur immer wieder all jenen danken, die sich der schwierigen Aufgabe stellen. Ende 2005 soll der erste Erfahrungsbericht nach § 25 Bundesgleichstellungsgesetz vorgelegt werden. Dieser wird als eine erste Bilanz aufzeigen, was sich besonders bewährt hat und wo vielleicht noch Verbesserungen notwendig sind. Es stimmt mich zuversichtlich, dass bereits zum 30. Juni 2002 der Frauenanteil an den Referatsleitungen in den obersten Bundesbehörden von 13,4 Prozent auf 15,9 Prozent angestiegen war und bei den Abteilungsleitungen sogar von 8,9 Prozent auf 12 Prozent. Mit dem Bundesgleichstellungsgesetz, dem Teilzeit- und Befristungsgesetz, den neuen Regelungen für die Elternzeit und der freiwilligen Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und der Wirtschaft zur Förderung von Chancengleichheit und Familienfreundlichkeit haben wir ein gewaltiges Maßnahmenpaket geschnürt, um die Situation von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen zu verändern und zu verbessern. Dort, wo der Bund selbst Arbeitgeber ist, geht es langsam, aber sicher vorwärts in Richtung Entgeltgleichheit: Eine Arbeitsgruppe unter der Federführung des Innenministeriums wird Ende Januar 2005 die Überarbeitung des BAT vorlegen. In dieser Arbeitsgruppe sind auch die Bundesländer und der dbb vertreten und einer der Arbeitsaufträge ist die Arbeitsplatzneubewertung unter Gender-Aspekten. Menschen – Frauen und Männer – leben aber nicht von ihrem Brutto-, sondern vom Nettoeinkommen. Um dies reduzieren sich Frauen freiwillig und zu ihrem Nachteil durch die Wahl der Steuerklasse V, damit beim höher verdienenden Mann mit der

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Bundesministerin Renate Schmidt

Steuerklasse III das höhere Nettoeinkommen bleibt. Die Nachteile bestehen nicht nur darin, dass das niedrige Nettoeinkommen demotivierend wirkt, sondern vor allem darin, dass sich die Einkommenssituation bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und Mutterschaft immer nach dem Nettoeinkommen bemisst. Ganz davon abgesehen, bringt es auch keinerlei Vorteil, denn am Jahresende zahlen Ehepaare mit Steuerklasse III/ V genauso viel wie die mit IV/ IV.

Bundesministerin Renate Schmidt

tigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen novelliert. Für uns Frauen ist die Umsetzung des arbeits- und sozialrechtlichen Teils aller drei EU-Antidiskriminierungsrichtlinien besonders wichtig. Mein Ministerium hat die Federführung erhalten, aber manchmal wünschte ich mir schon, die Richtlinien würden weniger Konjunktive und mehr klare Forderungen enthalten.

Da aber bei kurzfristigen Aushilfstätigkeiten oder bei sehr geringem Einkommen eines Partners, meist der Frau, die Wahl der Steuerklassen III/ V deshalb sinnvoll sein können, weil das monatliche Einkommen dann erstmal höher ist und man nicht auf den Lohnsteuerjahresausgleich warten muss, werden derzeit verschiedene Modelle zur Veränderung der Steuerklasse V erarbeitet und auf ihre Praktikabilität hin überprüft. Ziel ist es, zum Zeitpunkt der Einführung einer elektronischen Steuerkarte die Abschaffung der Steuerklasse V zu bewerkstelligen – das ist längst überfällig!

Aber ein erster Entwurf eines Antidiskriminierungsgesetzes ist erarbeitet, er enthält b zivilrechtliche Regelungen, b ein arbeitsrechtliches Antidiskriminierungsgesetz, b ein Gesetz zur Errichtung einer Antidiskriminierungsstelle des Bundes sowie b Regelungen für den öffentlichen Dienst und b im Sozialrecht und wird zurzeit zwischen den Ressorts abgestimmt.

Gleichbehandlung in der EU

In der Regie meines Hauses liegt vor allem das Gesetz zur Errichtung einer nationalen Stelle. Diese Stelle soll eine Ombudsfunktion im Sinne der Unterstützung von Diskriminierungsopfern erhalten. Eine einheitliche Stelle wird den Vorteil haben, dass dadurch für die Betroffenen klar ist, wohin sie sich wenden können. Auch Diskriminierungen, die mehrere Gründe haben, können so besser behandelt werden.

Seit ihrer Gründung hat sich die Europäische Gemeinschaft den Grundsatz der Gleichbehandlung der Geschlechter im Arbeitsleben zu Eigen gemacht. Stand zunächst der Gedanke, Wettbewerbsverzerrungen im gemeinsamen Markt aufgrund von diskriminierenden Entgeltregelungen und den damit verbundenen Kostenvorteilen bzw. -nachteilen für die betroffenen Volkswirtschaften zu vermeiden, im Vordergrund, so hat sich dies grundlegend geändert: Insbesondere durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hat das Verbot der Geschlechterdiskriminierung den Stellenwert eines unumstrittenen Grundrechts erhalten. Die EU war und ist ein Katalysator in Sachen Gleichbehandlung. Durch Artikel 13 des Amsterdamer Vertrages wird der Rat der EU jetzt ermächtigt, Vorkehrungen zu treffen, um nicht nur Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, sondern auch wegen der Rasse oder ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen.

EU-Antidiskriminierungsrichtlinien Auf der Grundlage dieser Bestimmung hat der Rat drei Richtlinien beschlossen: Für die Merkmale Rasse und ethnische Herkunft die Antirassismusrichtlinie. Für die Merkmale Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter oder sexuelle Ausrichtung die so genannte Rahmenrichtlinie. Für das Merkmal Geschlecht schließlich wurde die schon bestehende Richtlinie zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Frauen und Männern hinsichtlich des Zugangs zur Beschäf-

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Ein weiterer wichtiger Punkt werden die Kompetenzen der Stelle sein. Hier wollen wir ein eigenständiges Klagerecht für Fälle von besonderer Bedeutung, das insbesondere dann zum Zuge kommt, wenn es um strukturelle Diskriminierungen geht, bei denen sich in der Regel kein klagewilliges Diskriminierungsopfer findet. Hinzukommen müssen Auskunftsrechte zumindest gegenüber den öffentlichen Stellen des Bundes. Wir werden dafür sorgen, dass die Stelle personell und finanziell vernünftig ausgestattet wird und sich einpasst in die bereits vorhandenen Strukturen. Damit meine ich die auf Bundesebene bereits arbeitenden Beauftragten z. B. für die Belange behinderter Menschen oder für Migration, Flüchtlinge und Integration, ferner die auf Landes- und kommunaler Ebene tätigen Ausländerbeauftragten, Behindertenbeauftragten und Gleichstellungsstellen. Wir brauchen gerade für das Merkmal „Geschlecht“ eine Antidiskriminierungs-Stelle, die der Bevölkerung das Gefühl vermittelt, dass Diskriminierung kein Kavaliers-Delikt ist, sondern etwas ist, was innerhalb des Zusammenlebens in der europäischen Wertegemeinschaft nicht toleriert wird. Wir haben in Deutschland bisher keine „Kultur der Vielfalt statt Diskriminierung“ wie in den skandinavischen und angelsächsischen Ländern, wir müssen sie erst schaffen.

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Bundesministerin Renate Schmidt

Prof. Dr. Christiane Lemke

Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wird sich als ersten Schritt an der von der EU-Kommission europaweit initiierten Kampagne „Für Vielfalt – Gegen Diskriminierungen“ beteiligen.

Prof. Dr. Christiane Lemke

Ich gehe davon aus, dass das Zusammenspiel von Parlament und Regierung einen Gesetzestext produzieren wird, mit dem wir alle zufrieden sein können. Es muss sichtbar werden, dass mit dieser Antidiskriminierungsstelle und der Umsetzung der Richtlinien etwas Neues für unsere Bevölkerung geschaffen wird, das dazu beiträgt, in Menschenwürde zu leben, für alle – in Vielfalt.

Frauen in guter Verfassung? Gleichstellungspolitik in der EU

Unisex-Tarife Noch ganz ohne Richtlinie, sondern durch Hartnäckigkeit und Beharrlichkeit und ein gutes Zusammenspiel von Gewerkschaftlerinnen, Ministerinnen und Abgeordneten haben wir bei der staatlich geförderten Riesterrente einheitliche Tarife und einheitliche Leistungen, so genannte Unisex-Tarife, erreicht. Über das Schicksal der sogenannten vierten Gleichstellungsrichtlinie, die in allen Versicherungen – also auch die, die nicht staatlich subventioniert werden – und sonstigen Dienstleistungen und Gütern gleiche Tarife für Frauen und Männern regeln möchte, wird derzeit innerhalb der Mitgliedsstaaten verhandelt. Als Bundesregierung haben wir in einer Stellungnahme nach Brüssel diese Richtlinie grundsätzlich begrüßt. Die Auswirkungen sollten wir in der nächsten Zeit allerdings sorgfältig prüfen – so ist es in Brüssel auch entschieden worden –, denn eine gesetzliche Regelung macht für mich nur Sinn, wenn Frauen auch tatsächlich Vorteile haben. Frauen haben Chancen – in Deutschland und in Europa. Worauf es ankommt, ist, Frauen in die Lage zu versetzen, diese Chancen auch ergreifen zu können. Viele von Ihnen sind auch in Personalräten organisiert und ich bitte Sie, setzen Sie das um, was Ihnen das Gleichstellungsgesetz, das Elternzeitgesetz, das Teilzeitgesetz ermöglicht. Denn um gleiche Chancen für Frauen in Deutschland und in Europa zu erreichen, gibt es noch viel zu tun. Uns allen wünsche ich weiterhin viel Erfolg dabei!

Fachreferat

Der Entwurf für eine Europäische Verfassung, der jetzt zur Ratifizierung durch die Mitgliedsländer vorliegt, enthält neue gleichstellungspolitische Zielvorgaben, die in den vergangenen Monaten Gegenstand intensiver frauenpolitischer Auseinandersetzung gewesen sind. Europapolitisch bedeutet der Verfassungsvertragsentwurf eine neue Stufe der Integration zwischen den 25 Mitgliedsländern; frauenpolitisch bleibt die Bewertung des Vertragswerks allerdings umstritten. Bereits während der Beratungen über die europäische Verfassung im Verlauf des Jahres 2003 hatten sich engagierte Europapolitikerinnen, Frauengruppen und Forscherinnen kritisch zum Verfassungskonventsprozess sowie zum Vertragsentwurf geäußert. Insbesondere die geringe Repräsentanz von Frauen im Konvent und in den beratenden Gremien ist dabei unter gleichstellungspolitischen Aspekten problematisiert worden. 1 Betrachtet man die bisherige EU-Gleichstellungspolitik aus der geschlechterkritischen Perspektive, so fällt die Bewertung ambivalent aus. Zum einen besteht nach wie vor eine geringe politische Repräsentanz von Frauen in den zentralen Entscheidungsgremien der Europäischen Union. Aus demokratietheoretischer Sicht ist diese geringere Vertretung von Frauen, gerade in den Machtzentren der Europäischen Union, wie der Kommission, dem Rat und dem Ministerrat, Bestandteil des Demokratiedefizits der EU. Vom Ideal einer geschlechterparitätischen demokratischen Verfasstheit ist die EU immer noch entfernt. – Zum anderen sind in der Europäischen Union aber auch Richtlinien und Konzepte zur Gleichstellungspolitik entwickelt worden, an die Frauen in den Mitgliedsländern positiv anknüpfen konnten. Die Strategie des Gender Mainstreaming, die seit Ende der 90er Jahre in der EU richtungsweisend ist und in den Mitgliedsländern mit Aktionsplänen umgesetzt wird, zeigt, dass in der Europapolitik gleichstellungspolitische Konzepte Berücksichtigung finden. In der Erweiterung der Europäischen Union sind die Richtlinien und Rechtsakte möglicherweise ein neuer Handlungsrahmen in einem ansonsten wenig frauenfreundlichen Umfeld in Mittel- und Osteuropa. Auch die Politik zur Durch-

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Während die britische Rechtsprofessorin Joe Shaw den Verfassungsprozess als „konsultatives und partizipatorisches Experiment“ lobte, rief die verschwindend geringe Repräsentanz von Frauen im Konvent Widerspruch hervor (z.B. Mercedes Diaz, in: Liebert 2003).

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setzung von Menschenrechten und das Eintreten für Anti-Gewaltprogramme, z. B. in der Bekämpfung des Frauen- und Menschenhandels, ist schließlich auf Druck von Frauengruppen von der EU aufgenommen worden. Welche Bedeutung hat der Entwurf der Verfassung für die Durchsetzung von Frauenrechten? Bildet sie einen neuen, supranationalen Rahmen, um gleichstellungspolitische Rechte zu erweitern? Oder wurden Chancen für eine aktive europaweite Gleichstellungspolitik im Verfassungsprozess verpasst? Im folgenden Beitrag gehe ich zunächst auf das Konzept der Gleichstellung ein, um daran anschließend die unterschiedlichen europäischen Traditionen von Frauengleichstellung anzusprechen. In einem dritten Teil werde ich auf die europäische Gleichstellung und ihre Instrumente eingehen und schließlich eine Bewertung vornehmen.

1. Gleichstellung als voraussetzungsvolles Konzept Der Verfassungsentwurf knüpft an die bisherige europäische Gleichstellungspolitik an. Politisch-theoretisch und rechtshistorisch ist die Gleichstellung von Frauen ein voraussetzungsvolles Konzept. Gleichstellung beruht zunächst auf dem Gedanken der Gleichheit aller Menschen. Wie die Rechtssoziologin Ute Gerhard schreibt, gilt Gleichheit als „der Leitbegriff der Moderne, der seit dem neuzeitlichen Naturrecht, als Anspruch der Menschen gegenüber überkommener Ungleichheit und geltenden Ordnungen formuliert, einen Maßstab für das jedem einzelnen zustehende Recht auf Anerkennung als Person und gleicher Freiheit bieten sollte.“ (Gerhard 1997:13) Mit der bürgerlichen Rechtsordnung – die Freiheit, Gleichheit und die Garantie des Eigentums versprach – setzte sich erst die Kategorie „Geschlecht“, die Frauen als Gruppe definiert, in Rechtstheorie und Rechtspraxis durch. Von hier an datiert auch die Bedeutung und Betonung der Geschlechterdifferenz, die neben das grundsätzlich anerkannte Prinzip der Rechtsgleichheit tritt. Die Frauenbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts haben immer beides, gleiche Rechte als Menschen – im Sinne der Aufklärung und des modernen Rechtsverständnisses – und die Anerkennung oder Berücksichtigung der besonderen Situation von Frauen in Recht und Politik gefordert. „Die Geschichte der Rechtskämpfe zeigt: Gleichheit als Maßstab für Recht ist ein interpretationsbedürftiger und zugleich dynamischer Begriff, dessen Inhalt sich erst aus den historischen Auseinandersetzungen und politischen Kräfteverhältnissen ergibt.“ (Gerhard 1997:15) Gleichstellung beruht daher einerseits auf der Anerkennung der besonderen und biographisch relevanten gesellschaftlichen Rolle von Frauen, und andererseits auf dem emanzipativen Gedanken der Rechtsgleichheit. Die neuere Frauenforschung geht dabei davon aus, dass die Geschlechterdifferenz auf der gesellschaftlichen Arbeitsteilung beruht, die Wertesysteme, Habitus und unterschiedliche Rollenzuweisungen in und durch gesellschaftliche Institutionen, wie Familie, Sozialsystem, Bildungsbereich, prägt.

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2. Europäische Traditionen: Die nationale Ebene und die EU Die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern beruht auf einer historisch überlieferten gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die über soziale Institutionen, Erziehung, Kultur und Medien verfestigt, oder auch verändert werden kann. Historische und kulturelle Bedingungen in den europäischen Ländern haben dabei die jeweiligen Vorstellungen von gleichen Bürgerrechten und gleichberechtigter Teilhabe von Frauen entscheidend mitgeprägt. Die Konzeption der „Hausfrauenehe“, die für die Geschichte des deutschen Sozialsystems prägend wurde, beruht beispielsweise auf der Entwicklung des aufstrebenden Bürgertums im 19. Jahrhundert, an dem sich auch das Ideal der Arbeiterklasse orientierte. In Frankreich wiederum wirken bevölkerungspolitische Debatten des frühen 20. Jahrhunderts bis heute in der Organisation der Erziehung und Betreuung von Kleinkindern fort. Auch in der politischen Kultur der europäischen Länder sind unterschiedliche nationale Entwicklungspfade zu erkennen. Die Traditionen der französischen Revolution und des Republikanismus lassen sich heute in der radikalen Forderung nach „parité“, oder Geschlechterparität, in der Politik wiederfinden, die in Frankreich vor wenigen Jahren verfassungsrechtlich verankert wurde und auf einem republikanischen Bürgerrechtskonzept aufbaut (vgl. Scott 1997). In den skandinavischen Ländern hat die egalitäre sozialdemokratische Tradition Frauen bereits frühzeitig Zugang zu Bildung und Beruf geebnet; Gleichstellung wird als gesellschaftspolitische Aufgabe definiert, so dass die skandinavischen Länder sowohl die höchsten Erwerbsquoten in Europa, als auch das dichteste Netz öffentlicher Kinderbetreuung aufweisen. Die politische Repräsentanz in den Parlamenten ist höher als in den meisten anderen europäischen Ländern. Die Politikwissenschaftlerin Angelika von Wahl (2000) spricht im Ländervergleich von sogenannten „Gleichstellungsregimen“, in denen sich liberale, konservative und egalitäre Ländertypen je nach historisch-kulturellen und institutionellen Voraussetzungen unterscheiden. In der heutigen gleichstellungspolitischen Diskussion ist der Begriff Gender erkenntnisleitend. Politisches Ziel ist eine Veränderung für beide Geschlechter. Eine Neubewertung von Arbeit und ein gesellschaftliches Mischmodell, in dem Erwerbsarbeit und Erziehungs- bzw. Pflegearbeit auf beide Geschlechter verteilt wird, bildet den Kern der politischen Utopie. Oder, wie es die amerikanische Philosophin Nancy Fraser einmal ausgerückt hat, es kommt darauf an, Anreize zu schaffen, dass „Männer wie Frauen werden“, d.h. dass sie beide Tätigkeiten, Erwerbsarbeit und Erziehungsarbeit gleichermaßen übernehmen. Unter diesen Voraussetzungen soll auch die politische Partizipation gleichermaßen geschlechtergerecht wahrgenommen werden können. Die politische Realität in den Mitgliedsländern ist allerdings durchgängig von einer geringeren Repräsentanz von Frauen in Regierungen und Parlamenten geprägt. Im

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Durchschnitt der 15 EU-Länder (bis 2004) liegt die Frauenrepräsentanz in den Parlamenten bei 23 Prozent (Deutschland: 35,3).

Frauenanteil in nationalen Parlamenten der EU-15

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Beate Hoecker und Gesine Fuchs sehen die politische Partizipation von Frauen durch ein „magisches Dreieck“ beeinflusst, dass durch sozio-ökonomische Faktoren (Bildung, Erwerbsarbeit, Einkommen und geschlechtliche Arbeitsteilung), institutionelle Faktoren (Regierungs-, Partei-, Wahlsystem und Karrieremuster) und die Politische Kultur (Werte, Einstellungen, Normen, politisches Verhalten, Geschlechterstereotypen) gebildet wird.

Europäische Traditionen: Das magische Dreieck politischer Partizipation Sozio-ökonomische Faktoren Bildung, Erwerbsarbeit, Einkommen, geschlechtliche Arbeitsteilung

In den zehn neuen Mitgliedsländern und den Beitrittskandidatenländern liegt der durchschnittliche Anteil der Frauen in den nationalen Parlamenten mit 15,9 Prozent sogar unter dem Durchschnitt der alten EU (vgl. Hoecker/Fuchs 2004).

Frauenanteil in nationalen Parlamenten der 10+

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Institutionelle Faktoren Regierungs-, Partei-, Wahlsystem, Karrieremuster

Politische Kultur Werte, Einstellungen, Normen politisches Verhalten, Geschlechterstereotypen

Für alle EU-Länder ist immer noch die geringe Frauenrepräsentanz charakteristisch. Auch in den EU-Institutionen sind Frauen unterrepräsentiert. Ein genauer Blick ist aufschlussreich: In den Institutionen der Europäischen Union sind Frauen deutlich geringer vertreten als Männer. Als Faustregel gilt, je einflussreicher die Institution, desto geringer ist der Frauenanteil. Im Europäischen Parlament hat der Anteil der Frauen – entsprechend dem europaweiten und dem globalen Trend – ständig zugenommen, allerdings entsprechen die geringer ausgelegten Kompetenzen (noch) nicht denen eines nationalen Parlaments. Während 1984 nur 17,3 % Sitze von Frauen gehalten wurden, nahm der Anteil 1989 auf 20 % und 1994 auf 25,7 % zu; nach dem Beitritt von Österreich, Finnland und Schweden zur EU im Jahr 1995 stieg er auf 26,6 % (Jahresbericht der Kommission von 1998:24f.). Nach den Europawahlen im Juni 2004 liegt der Frauenanteil im Europäischen Parlament bei 27,87 Prozent (vgl. Anhang 1). Bezeichnend ist, dass aus mehreren Ländern Frauen einen höheren Anteil im Europäischen Parlament stellen, als ihr Anteil in den nationalen Parlamenten beträgt (vgl. Hoecker 1998; Hoecker/Fuchs 2004). Sehr gering ist der Frauenanteil dagegen nach wie vor in der EU-Kommission.

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Gleichstellungspolitik: Die EU Schaubild 2: Organisation der EU

Gleichstellung findet auf verschiedenen Ebenen statt (Mehrebenensystem) b Die EU-Kommission: „Hüterin“ der EU-Verträge: relativ starke Rolle in der Gleichstellung b Das EU-Parlament teilt sich legislative Kompetenzen: wachsende Rolle in der Gleichstellungspolitik b Der Rat trifft allgemein verbindliche Entscheidungen: schwache Rolle in der Gleichstellungspolitik b Frauenlobby (EWL), zivilgesellschaftliche Gruppen: zunehmend starke Rolle

In dieses Muster der geringen politischen Repräsentanz von Frauen fügt sich auch die Vertretung von Frauen im Europäischen Verfassungskonvent ein. Lediglich rund 16 Prozent der Mitglieder des Konvents waren Frauen. Zwischen der Rhetorik über Geschlechtergleichheit, Demokratie und Partizipation und der Wirklichkeit des Konvents klaffte eine empfindliche Lücke. Wissenschaftlerinnen leiten aus dieser Diskrepanz daher auch ab, dass sich das Demokratiedefizit in der Europäischen Union verschärft hat, obwohl die EU mit dem Konvent bürgernäher und demokratischer werden sollte (vgl. Mateo Diaz 2003).

3. Die Entwicklung der Europäischen Gleichstellungspolitik In der Europäischen Union stand zunächst ausschließlich die berufliche Sphäre bzw. der Arbeitsmarkt im Vordergrund der Gleichstellungspolitik. In der Entwicklung von geschlechterpolitischen Programmen und Konzepten lassen sich drei Phasen unterscheiden. Mit der Bildung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG und der Unterzeichnung der Römischen Verträge (1957), dem Gründungsdokument der Europäischen Gemeinschaft, wurde zunächst die gleiche Entlohnung für Frauen und Männer festgeschrieben (Art. 119 des EG-Vertrags). Hintergrund für diese Regelung bildete die Strategie, gleiche Lohn- und Wettbewerbsbedingungen im gemeinsamen Markt zu etablieren. Frauenpolitisch wollte sich die Europäische Gemeinschaft damit

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nicht festlegen und die Gleichstellungspolitik blieb in den folgenden Jahren auf eine deklamatorische Ebene beschränkt. Frauen waren in den europäischen Institutionen kaum vertreten und politisch hatte Gleichstellung kein Gewicht. Erst zu Beginn der 70er Jahre wurde die Situation von Frauen in einem größerem gesellschaftlichen Kontext in einer von der EG-Kommission in Auftrag gegebenen Studie thematisiert (Evelyne Sullerot, 1970). Hintergrund bildeten die zunehmende Frauenerwerbstätigkeit in den europäischen Ländern und der Wandel des Frauenbildes, vor allem durch eine neue Frauenbewegung, die sich in den europäischen Kernländern herauszubilden begann. Bis 1991 blieb die Gleichstellungspolitik der EU allerdings fragmentarisch und auf einzelne Veränderungen, etwa in der Frage der Entlohnung, beschränkt. Hervorzuheben ist in dieser Zeit die Richtlinie zur Lohngleichheit im Jahre 1975, die besonders für die Bundesrepublik frauenfreundliche Auswirkungen hatte (Berghahn 1998). Für die neue Frauenbewegung der 70er Jahre war Europa jedoch kein Thema, so dass die Rückkoppelung europäischer Frauenpolitik an die gesellschaftlichen Veränderungen in den europäischen Ländern ausblieb, die durch die neue Frauenbewegung angestoßen wurde. Mit dem Dritten Aktionsprogramm zur Chancengleichheit zwischen Frauen und Männern (1991-1995) wurde der Status von Frauen in der Gesellschaft schließlich breiter thematisiert, d.h. der bislang marktorientierte Diskurs um Lohngleichheit und berufliche Gleichstellung wurde um Fragen der politischen Repräsentanz und Partizipation von Frauen in den Ländern der Europäischen Union erweitert. Breiter thematisiert wurde auch die Problematik des europäischen Sozialmodells. Seit Beginn der 90er Jahre kam es vermehrt zu koordinierten und von Frauen getragenen politischen Aktivitäten angesichts der Herstellung des Binnenmarktes durch den Maastrichter Vertrag.2 Hervorzuheben sind die Bildung einer Europäischen Frauenlobby EWL 1982 und die Bildung eines Frauennetzwerkes im Jahr 1992 („Women in Decision Making“).3 Frauenprojekte erhielten eine bessere finanzielle Ausstattung und in Paris wurde ein Europäisches Dokumentations- und Informationsnetz der Frauen EUDIF eingerichtet. Auch die Vorbereitungen der 4. Weltfrauenkonferenz in 2

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Der Maastrichter-Vertrag ist von Frauen zu Recht kritisiert worden, denn im Sozialprotokoll bleibt offen, ob aktive Gleichstellungspolitik unterstützt wird. Wie umstritten die aktive Gleichstellungspolitik war, verdeutlicht u.a. folgende Formulierung: „this article shall not prevent any member state from maintaining or adopting measures for providing for specific advantages in order to make it easier for women to pursue a vocational activity of to prevent or compensate for disadvantages.“ (Art. 6) Erst im Vertrag von Amsterdam von 1997 konnte die Gleichstellungspolitik verankert werden. Die European Women´s Lobby EWL bildet die zentrale Informations- und Aktionsplattform innerhalb der EU. Vgl. www.womenlobby.org .

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Peking 1995 belebten den frauen- und gleichstellungspolitischen Diskurs. Schließlich war das Konzept des „Gender Mainstreaming“ zuerst in den Unterorganisationen der Vereinten Nationen entwickelt und angewandt worden.

statt, die in den meisten Mitgliedsländern durch Arbeitsmarktprobleme und einschneidende Reformen in den Sozialsystemen gekennzeichnet waren, durch die frauenpolitische Belange im öffentlichen Diskurs in den Hintergrund gedrängt wurden.

Die Unterzeichnung des EU-Vertrags von Amsterdam 1997 stellte für die Gleichstellungspolitik einen vorläufigen Höhepunkt dar. Kurz zuvor waren mit Schweden und Finnland Länder der EU beigetreten, deren Politik als frauenfreundlich gilt. Ihre Vertreterinnen übten zusammen mit europäischen Frauenverbänden einen konzertierten Druck auf die Union aus, den Gedanken der Geschlechtergerechtigkeit im Amsterdamer Vertrag deutlicher zu verankern (Mazey 1998). Die Union, die sich einer wachsenden Kritik an Bürokratisierung, Bürgerferne und mangelnder Transparenz ausgesetzt sah, begriff die rechtliche Verankerung des Gleichstellungsgedankens als legitimitätsfördernd: Die Akzeptanz der EU sollte, vor allem angesichts der kritischen Frauenöffentlichkeit in den skandinavischen Ländern erhöht werden. Vor allem die EU-Kommission unterstützte in dieser Zeit gleichstellungspolitische Konzepte.

Aus der geschlechterkritischen Perspektive fällt zunächst ins Gewicht, dass der Verfassungsentwurf unter den Zielen der EU explizit die Gleichstellung von Frauen und Männern aufführt (Artikel 3, (3) ). Die Bekämpfung von Diskriminierung auf Basis des Geschlechts wird jedoch verknüpft und gleichbedeutend behandelt mit anderen Formen von Benachteiligungen. Artikel 3 „Die Ziele der Union“ (3): „Sie bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frau und Mann, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes.“ Die europäische Frauenlobby beklagt zudem, dass das Verbot geschlechtlicher Diskriminierung nicht explizit aufgenommen wird. Auch fordert sie die explizite Erwähnung der Gleichstellung zwischen Frauen und Männern im Artikel über die Menschenrechte. Probleme wie Gewalt gegen Frauen sollten explizit als Gesundheitsrisiko (Art. III, 174) benannt werden. 6

Die EU stellte in ihrem Vertragswerk von Amsterdam (1997) gleichstellungspolitische Grundsätze schließlich in den Vordergrund und verankerte sie vertraglich verbindlich. In Artikel 3 (2) heißt es richtungsweisend: „Bei allen in diesem Artikel genannten Tätigkeiten (der wirtschaftlichen und politischen Integration – C. L.) wirkt die Gemeinschaft darauf hin, Ungleichheiten zu beseitigen und die Gleichstellung von Männern und Frauen zu fördern.“ Mit dem neuen Konzept des Gender Mainstreaming hat die Union schließlich ein Gesamtkonzept für alle Mitgliedsländer vorgelegt. 4 Eine bedeutende Neuerung im Vertrag von Amsterdam stellt auch der erweiterte Art. 119 dar (der jetzt als Art. 141 gezählt wird). Der Grundsatz der Entgeltgleichheit bezieht sich nun ausdrücklich auch auf gleichwertige Arbeit.

In der Charta der Grundrechte, die nunmehr als Teil II in den Verfassungsentwurf aufgenommen wurde, heißt es dann weiter: „Die Gleichheit von Männern und Frauen ist in allen Bereichen, einschließlich der Beschäftigung, der Arbeit und des Arbeitsentgeltes, sicherzustellen. Der Grundsatz der Gleichberechtigung steht der Beibehaltung oder der Einführung spezifischer Vergünstigungen für das unterrepräsentierte Geschlecht nicht entgegen.“ (Artikel II 23) Um diese Formulierung war zunächst gerungen worden, da das Konzept einer gezielten Frauenförderung dem dominanten marktliberalen Ansatz der EU deutlich widerspricht. Rechtsgleichheit und Maßnahmen der aktiven Frauenförderung schließen sich nach der Charta der Grundrechte nun aber nicht gegenseitig aus. Sowohl die Formulierung in der Verfassung als auch in der Charta deuten auf die politischen Auseinandersetzungen hin, die diesen Kompromissformulierungen vorausgegangen waren.

Die jüngste Phase der Gleichstellung wird mit dem Europäischen Verfassungsentwurf 2003 eingeleitet. Die politische Identität der EU beruht in besonderer Weise auf den geteilten Grundrechten und der Rechtsstaatlichkeit, die sich als gemeinsamer Grundkonsens in den Mitglieds- und Beitrittsländern herausgebildet hat.5 Mit der Konstitutionalisierung im Rahmen der europäischen Verfassung bietet sich konzeptionell ein „master frame“ (Grundrahmen) an, der diese gemeinsame europäische Rechtskultur stärken kann. Allerdings fanden die Beratungen über die Verfassung zu einer Zeit 4

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Ute Behning, David Foden, Amparo Serrano Pascual „Introduction“, in: Gender Mainstreaming in the European Employment Strategy, hrsg. v. U. Behning und A. S. Pascual, Brüssel: European Trade Union Institute 2001, S. 18.# Jürgen Kocka „Wo liegst Du Europa? Die Identität des Kontinents ist nicht eindeutig. Aber es gibt Kriterien, an denen man sie erkennt“, in: Die Zeit 28. Nov. 2002, S. 11

4. Drei Säulen der EU-Gleichstellungspolitik Die Gleichstellungspolitik der Europäischen Union beruht heute auf drei Säulen. Die erste und rechtlich am besten verankerte Säule betrifft den Bereich der Erwerbsarbeit mit verpflichtenden Regelungen. Dazu gehören im sogenannten sekundären Recht mittlerweile zehn Richtlinien über das Diskriminierungsverbot, Zugang zu Berufen und sozialer Sicherung, Mutterschutz und Elternurlaub, wobei der EuGH vor allem die Lohngleichheit und die indirekte Diskriminierung konkretisiert hat. Als zweite Säule gelten verschiedene Aktionsprogramme wie die Rahmenprogramme zur 6

vgl. website der European Women´s Lobby EWL, Mai 2003.

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Chancengleichheit („soft law“), sowie Anti-Gewalt-Programme wie DAPHNE. Den dritten Pfeiler schließlich bildet das Gender Mainstreaming, das die Kommission 1997 zu einer verpflichtenden Querschnittsaufgabe in all ihren Politikfeldern erklärte.

de Verwirklichung von gleichwertiger Partizipation und Repräsentation von Frauen wie Männern einschließt. Dies bezieht sich auch auf die Europäische Union als politischer Gemeinschaft.

Das Konzept des Gender Mainstreaming unterscheidet sich von anderen frauenpolitischen Konzepten wie dem Ansatz, „positive Aktionen“ zu entwickeln. „Positive Aktionen“ beinhalten etwa aktive Arbeitsmarkt- und Berufsförderungsprogramme für Frauen, Quotierungen und andere gezielte Förderprogramme, bei denen Frauen als benachteiligte Gruppe durch besondere Maßnahmen gefördert werden. Gender Mainstreaming beruht auf einem Ansatz, der die asymmetrische Machtverteilung zwischen den Geschlechtern in Beruf und Familie fokussiert und politische Maßnahmen hinsichtlich ihrer Wirkung auf das Geschlechterverhältnis bewertet.7 Gender Mainstreaming bedeutet daher konzeptionell die Prüfung aller politischen Felder und Entscheidungsprozesse unter dem Blickwinkel der Chancengleichheit der Geschlechter. „´Gender Mainstreaming´ ist die systematische Einbeziehung der jeweiligen Situation, der Prioritäten und der Bedürfnisse von Frauen und Männern in alle Politikfelder, wobei mit Blick auf die Förderung der Gleichstellung von Frauen sämtliche allgemeinen politischen Konzepte und Maßnahmen an diesem Ziel ausgerichtet werden und bereits in der Planungsphase wie auch in der Durchführung, Begleitung und Bewertung der betreffenden Maßnahme deren Auswirkungen auf Männer und Frauen berücksichtigt werden.“ (Europäische Kommission: Glossar „Einhundert Worte für die Gleichheit“ 1997) Gleichstellung wird nun verrechtliches Prinzip der EU, eine Querschnittsaufgabe der Gemeinschaft.

Die Umsetzungen der Mainstreaming-Ziele, die sich die EU-Kommission zur Selbstaufgabe gemacht hat, wird in den Mitgliedsländern bis heute sehr unterschiedlich gehandhabt. Ein einheitliches Verfahren zur Bewertung dieser Strategie in den Mitgliedsländern existiert nicht. Bislang werden lediglich in einigen Ländern Instrumente zur Bewertung geschlechtsspezifischer Auswirkungen von Politiken auf kommunaler und regionaler Ebene erprobt; dazu gehören die Niederlande und Schweden. Nach der „3 R-Methode“: Repräsentation, Ressourcen, Realitäten, werden in Schweden Erhebungen zum Gender Mainstreaming durchgeführt. Erste Erfahrungen sind ernüchternd: Der Widerstand männlicher Kollegen sei, so eine schwedische Kollegin, teilweise erheblich.8 Schon in der Erfassung geschlechtsspezifischer Daten stößt man auf Probleme; noch schwieriger gestaltet sich der Einfluss auf eine Umverteilung von Ressourcen.

In der Reform der Strukturpolitik 1999 wird Gender Mainstreaming beispielsweise konsequent als Leitkonzept eingeführt. Allerdings lässt die Umsetzung sehr zu wünschen übrig. Ein Bericht der EU-Frauenlobby beklagt, dass die Implementation nicht erfolgt sei („that the integration of gender equality has not been followed through“, vgl. website der EWL 2003). Aus Länderberichten, z.B. aus Schweden, ist auch bekannt, dass die Umsetzung auf deutlichen (passiven) Widerstand stößt (vgl. Behning u.a., 2001). Auch in der EU-Erweiterungsdiskussion hat Gleichstellung nur eine marginale Rolle gespielt. Eine wichtige Strategie, um den politischen Einfluss von Frauen in der EU zu erhöhen, besteht darin, Gender Mainstreaming auf die politische Organisationen der EU anzuwenden. Die neue „Community Framework Strategy on Gender Equality“ 2001 bis 2005 legt als Leitlinie für die EU fest, dass Demokratie als Grundwert die umfassen7

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Beim Europäischen Sozialfonds und beim 6. Forschungsrahmenprogramm wird Gender Mainstreaming offiziell berücksichtigt; die Mittelvergabe ist an die Umsetzung gleichstellungspolitischer Ziele geknüpft (ohne Gender keine Förderung“).

Im Beitrittsprozess der Reformländer Ost- und Ostmitteleuropas wurde Gender Mainstreaming nur am Rande behandelt. Die Übernahme des Gemeinschaftsrechts und der Regeln der EU, der sog. acquis communautaire, wären eigentlich einschließlich des Gender Mainstreaming Aufgabe der Beitrittsverhandlungen gewesen. Doch Geschlechterfragen oder die Strategie des Gender Mainstreaming tauchten bei den Beitrittsverhandlungen weder in wichtigen Dokumenten wie der Agenda 2000 noch dem Gesetzes-Screening auf, das vorab den Anpassungsbedarf der nationalen Gesetzgebung aufzeigen sollte. Aufforderungen zum Abbau von Geschlechterdiskriminierung wurden, wie im Fall Polen, sehr knapp und allgemein gehalten. Verschiedene neuere Studien weisen allerdings darauf hin, dass die Beitrittsverhandlungen einen Politisierungsprozesse bei Frauenorganisationen und zugewandten Parlamentarierinnen ausgelöst hat, bei dem ihnen zunehmend bewusst wurde, dass die EU mit ihren Gemeinschaftsregeln eine politische Chance bieten kann, um eigene Anliegen zu verfolgen und zu legitimieren. Je nach bisher Erreichtem im eigenen Land wurde die Nützlichkeit des acquis unterschiedlich hoch eingeschätzt. Vor allem für Polinnen erwies sich der Verweis auf Europa zunehmend als zentrale Argumentationsfigur (vgl. Fuchs 2003). Je mehr die EU als Mehrebenen-System wahrgenommen wird, desto eher können Frauenorganisationen und -netzwerke realistische Ziele erreichen (vgl. Hoecker/Fuchs 2004). Die Strategie des „framing“, des Einrahmens von Forderungen in ein größeres Bezugssystem kann daher eine wirkungsvolle Strategie in der Auseinandersetzung um Gleichstellung bilden. 8

Lilja Mósesdottir „The case of Sweden“, in: Behning u.a. (2002); S. 23 f.

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Während der politische Einfluss von Frauen in den Institutionen der EU also nach wie vor schwächer ist, als der der Männer, haben Frauen im Bereich der neuen Netzwerk- und anwaltschaftlichen Gruppen („advocacy groups“) einen bedeutenden Anteil. In einem Forschungsprojekt hat Birgit Locher (2002) beispielsweise den Einfluss der NGOs (Non-governmental organizations) exemplarisch an dem für die Menschenrechte wichtigen Thema des Frauen- und Menschenhandels untersucht. Der Handel mit Menschen ist einer der am schnellsten wachsenden Geschäftszweige, der jährlich Profite in Milliardenhöhe abwirft und inzwischen als lukrativer gilt als der Waffen- und Drogenhandel. Nach Schätzungen der UN und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) fallen weltweit etwa vier Millionen Menschen dem Menschenhandel zum Opfer. Der Frauenhandel stellt einen Teilaspekt dieses Menschenhandels dar, der häufig mit anderen schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen einhergeht. In die Europäische Union werden jährlich allein etwa 500.000 Frauen gebracht, davon nach Schätzungen der Europäischen Kommission jährlich etwa 120.000 Frauen und Kinder aus Ost- und Ostmitteleuropa. Expertinnen sind sich einig, dass die Zahl der Opfer kontinuierlich steigt. Die Europäische Union verfolgt einerseits die Politik des freien Handels und der offenen Grenzen innerhalb der Union, andererseits ist sie aber auch den Menschenrechten verpflichtet. Bereits unmittelbar nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft in Osteuropa war es zu einem sprunghaften Anstieg des Handels mit Frauen aus dieser Region gekommen. Im Jahr 1996 wurde mit STOP ein erstes Programm der EU zur Bekämpfung des illegalen Frauenhandels verabschiedet; kurze Zeit darauf wurde das DAPHNEProgramm eingerichtet, das die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten verbessern und Projekte im Bereich der Bekämpfung des Menschen- und Frauenhandels fördern und dabei auch NGOs unterstützen sollte. Im Jahr 2000 wurde es in ein mehrjähriges Aktionsprogramm umgewandelt. Zeitgleich führte das Europäische Parlament eine Anhörung und Debatte zum Thema Frauenhandel durch, so dass das Problem größere politische Aufmerksamkeit fand. Die EU-Kommission veröffentlichte schließlich eine breite Dokumentation und Stellungnahme unter dem Titel „Trafficking in human beings – a growing concern“, in der das Problem unmissverständlich und geschlechtersensibel formuliert wird.9 Aus den Forschungen von Birgit 9

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„Trafficking in human beings is an abhorrent and increasingly worrying phenomenon. It is of a structural, rather than of an episodic nature affecting a few individuals, in that it has extensive implications on the social, economic and organisational fabric of our societies. The phenomenon is facilitated by globalisation and by modern technologies. Trafficking in human beings not only involves sexual exploitation, but also labour exploitation in conditions akin to slavery. The victims are subjected to violence, rape, battery and extreme cruelty as well as other types of pressure and coercion. The Member States of the European Union and the candidate countries are much affected by these scourges to society“ (http://europa.eu.int/comm/justice_home/news/8mars_en.htm).

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Locher geht hervor, dass die Bildung eines „advocacy network“ gegen den Frauenhandel, gebildet von engagierte Akteurinnen aus verschiedenen europäischen Ländern, ein wesentlicher Schritt bei der Bearbeitung des Problems war. Das Netzwerk entstand aus Frauenverbänden, NGOs und PolitikerInnen, um das Anliegen der meist rechtlosen und misshandelten Frauen im Sinne einer anwaltschaftlichen Fürsprache öffentlich werden zu lassen. Durch „Normkopplung“ gelang es den Aktivistinnen, den Frauenhandel in den Kontext von Menschenrechten und AntiGewalt-Strategien zu stellen. Die Legitimationsgrundlage der neuen Programme konnte damit erhöht werden. Die Forschung geht hier von einer erfolgreichen „framing“-Strategie aus, d.h. das Problem Frauenhandel wurde in die breitere Diskussion um Menschenrechte „eingerahmt“. Das advocacy-Netzwerk nutzte die institutionellen Veränderungen durch den EU-Vertrag von Amsterdam, mit dem die Innen- und Justizpolitik neu strukturiert und eine europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Menschen- und Frauenhandels ermöglicht wurde.10

5. Bewertung: Bedeutungsgewinn oder verpasste Chance? Die Europäische Union bildet heute eine wichtige politische Ebene in der Auseinandersetzung um die Gleichstellungspolitik für Frauen. Die Politik der nationalen Regierungen und Parlamente ist zunehmend an europäische Richtlinien und Gesetze geknüpft. Deshalb ist der Verfassungsprozess, der zu einer größeren Legitimation, Transparenz und Effizienz des „Regierens“ in der EU führen soll, von großer Bedeutung für die Frauenpolitik. Der vorliegende Entwurf enthält einige zentrale Bestimmungen, vor allem in der Zielformulierung der Verfassung und der Grundrechtecharta, die dem Anliegen der Geschlechtergerechtigkeit und der Erweiterung der Rechten von Frauen förderlich sind. Er setzt damit die Entwicklung einer europäischen Gleichstellungspolitik fort. Die Verfassung an sich ist für sich genommen jedoch kein starkes Instrument, denn ihre politische Anerkennung und Umsetzung hängt im wesentlichen von den nationalen Regierungen ab. Sie gibt lediglich einen Rahmen ab, auf den sich die Frauenöffentlichkeit beziehen kann. Die Erwartungen an die Europäische Verfassung sollten daher nicht zu hoch gesteckt werden. Sie enthält einige Bestimmungen, die auf den Forderungen von Frauen nach Gleichstellung beruhen, aber sowohl die allgemein gehaltenen Ziele, als auch der rechtliche Status als zwischenstaatliches Vertragswerk, lassen an einem „großen Entwurf“ und Fortschritt für mehr Geschlechter-

10

Inwieweit die Initiativen der Europäischen Union und der NGOs, die in diesem Feld aktiv sind, erfolgreich sein werden, muss zukünftigen Untersuchungen vorbehalten bleiben. Auf der Ebene der Normsetzung sind sie, zumindest im regionalen Raum, relativ weit fortgeschritten.

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gerechtigkeit in Europa Zweifel aufkommen. In der Europäischen Union wird es daher nach wie vor auf eine größere Repräsentanz von Frauen in den Institutionen, aber auch in den zivilgesellschaftlichen Organisationen und advocacy-Netzwerkgruppen ankommen. Wenn es gelingt, diese zivilgesellschaftlichen Netzwerke zu stärken und eine kritische Frauen-Öffentlichkeit herzustellen, können hegemoniale Diskurse in Frage gestellt werden und der Forderung nach einer größeren Geschlechter-Gerechtigkeit in Europa mehr Raum verschafft werden.

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Anhang 1: Wahlen zum Europäischen Parlament, Juni 2004

Land

Anzahl der Abgeordneten

Männer

Frauen

Anteil der Frauen in %

Belgien Dänemark Deutschland Estland Finnland Frankreich Griechenland Irland Italien Lettland Litauen Luxemburg Malta Niederlande Österreich Polen Portugal Schweden Slowakei Slowenien Spanien Tschechische Republik Ungarn Vereinigtes Königreich Zypern EU

24 14 99 6 14 78 24 13 78 9 13 6 5 27 18 54 24 19 14 7 54

16 9 68 4 9 44 17 8 No data 7 8 No data 5 15 12 47 18 8 9 4 36

8 5 31 2 5 34 7 5 No data 2 5 No data 0 12 6 7 6 11 5 3 18

33,3 35,71 31,31 33,33 35,71 43,59 29,17 38,46 No data 22,22 38,46 No data 0 44,44 33,33 12,96 25 57,89 35,71 42,86 33,33

24 24

19 16

5 8

20,83 33,33

78 6 732

59 6 444

19 0 204

24,36 0 27,87

http://www.elections2004.eu.int/ep-election/sites/de/index.html; 17.07.2004

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Anhang 2 EU-Verfassungsvertrag von 2004 Teil I Artikel 3 – Die Ziele der Union (3) „Sie bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frau und Mann, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes.“ Teil II – Die Charta der Grundrechte Artikel II 23 – Gleichheit von Männern und Frauen „Die Gleichheit von Männern und Frauen ist in allen Bereichen, einschließlich der Beschäftigung, der Arbeit und des Arbeitsentgeltes, sicherzustellen. Der Grundsatz der Gleichberechtigung steht der Beibehaltung oder der Einführung spezifischer Vergünstigungen für das unterrepräsentierte Geschlecht nicht entgegen.“

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Habermas, Jürgen (2001): Warum braucht Europa eine Verfassung? In: Die Zeit, 29. Juni.

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Prof. Dr. iur. Beate Rudolf

Prof. Dr. iur. Beate Rudolf Fachreferat

Wie wirkt sich europäisches (Verfassungs-)Recht auf nationales Recht aus? Dargestellt am Beispiel des Gleichstellungsrechts I.

Einleitung: Europäisches Recht und europäisches Verfassungsrecht

Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie haben sich vielleicht über den Titel gewundert, steht doch Ende Juni eine Regierungskonferenz der EU-Staaten an, auf der über den Entwurf einer Europäischen Verfassung entschieden werden soll. Gibt es also heute schon europäisches Verfassungsrecht oder erwartet Sie hier nur juristische Science Fiction? Ich kann Sie beruhigen: Was ich Ihnen heute vortrage, entstammt der Rechtswirklichkeit. Dazu gehört auch, dass wir bereits auf europäischer Ebene eine Verfassung haben, auch wenn sie nicht so heisst. Die Verträge, auf denen die Europäische Gemeinschaft und die Europäische Union beruhen, sind schon Verfassungen im landläufigen Sinne. Denn unter Verfassung verstehen wir die Grundordnung eines Gemeinwesens. Sie weist einzelnen Organen Kompetenzen zu, bestimmt Staatsziele und proklamiert Grundrechte und andere Grundwerte. Zu diesen fundamentalen Normen gehört schon heute der Grundsatz der Gleichheit der Geschlechter. Verfassungsvorschriften im innerstaatlichen Recht gehen allen anderen Rechtsnormen vor. Dasselbe gilt auch für das europäische Gemeinschaftsrecht: Es hat Vorrang gegenüber allen anderen Rechtsnormen – und das heisst, dass nationales Recht unbeachtlich ist, wenn es europäischem Recht widerspricht. Das Europarecht geht selbst dem nationalen Verfassungsrecht vor. Und das gilt sogar für Europarecht unterhalb der Gründungsverträge, für das sogenannte sekundäre Gemeinschaftsrecht. Das sind die Verordnungen und Richtlinien, die die Europäische Gemeinschaft erlässt. Die Verordnungen sind etwa unseren Gesetzen vergleichbar. Die Richtlinien sind etwas schwächer: Sie schreiben dem nationalen Gesetzgeber nur Ziele vor, lassen ihm aber einen Spielraum, mit welchen Mitteln er diese Ziele erreicht. Das Rangverhältnis zwischen Europarecht und nationalem Recht lässt sich demnach wie folgt bildlich darstellen. [Folie 1, siehe nächste Seite] Hierfür ein Beispiel: Das deutsche Grundgesetz untersagte bis zum Jahr 2001 Frauen den Dienst an der Waffe. Nach der europäischen Gleichbehandlungsrichtlinie

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Rangverhältnis Europarecht – nationales Recht EG-Vertrag â sekundäres Gemeinschaftsrecht (Verordnungen, Richtlinien) ________â________ â nationales Verfassungsrecht â nationale Gesetze â nationale Rechtsverordnungen

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ist aber u.a. im Bereich der Berufszulassung eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts verboten. Die deutsche verfassungsrechtliche Regelung verstieß daher gegen sekundäres Gemeinschaftsrecht und war folglich unbeachtlich. Das hat der Europäische Gerichtshof im Fall der Elektrotechnikerin Tanja Kreil auch so entschieden. Seitdem ist Frauen den Zugang zu einer beruflichen Karriere in der Bundeswehr umfassend eröffnet. Als Folge dieses Urteils wurde das Grundgesetz geändert und damit den europäischen Vorgaben angepasst.

Bevor ich mit Ihnen die wesentlichen Vorschriften des Europarechts zur GleichFolie 1 stellung von Frauen und Männern betrachte, erlauben Sie mir einen letzten Satz zum Verfassungscharakter des europäischen Gemeinschaftsrechts: Wenn wir also schon eine Verfassung auf europäischer Ebene besitzen, warum dann die anstehende Regierungskonferenz? Warum diskutiert man über eine Verfassung für Europa und hat hierfür sogar – Sie erinnern sich vielleicht – im vergangenen Jahr einen veritablen Verfassungskonvent zusammengerufen, der einen Verfassungsentwurf ausgearbeitet hat? Der Grund ist kein rechtlicher, sondern ein politischer oder – wenn Sie so wollen – ein psychologischer: Man möchte Europa für die Bürger und Bürgerinnen greifbarer machen. In ihrer gegenwärtigen Form sind die europäischen Verträge kompliziert und für den Laien wenig durchschaubar. Der neue Verfassungsvertrag soll die Kompetenzen zwischen der EG und ihren Mitgliedstaaten klar erkennbar abgrenzen. Und er soll leichter erkennen lassen, welche Organe wozu befugt sind. Gleichzeitig hegt man die Hoffnung, dass die Europäische Union durch einen förmlichen Akt der Verfassungsgebung größere Legitimität erhält.

II. Was regelt das Europarecht im Bereich der Gleichstellung und wie wirkt es sich auf nationales Recht aus? 1.

Der EG-Vertrag a) Allgemeine Regelungen

Im EG-Vertrag bestehen hierzu vier zentrale Vorschriften. Sie finden sie auf dem ausgeteilten Materialblatt. [Folie 2]

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Art. 2 erhebt die Gleichstellung von Männern und Frauen zu einem der Ziele der Gemeinschaft. Das ist eine Neuerung, die Art. 2: Gleichstellung = Ziel der EG erst 1999 in den Vertrag gelangt ist. Die Art.3 Abs. 2: Europäische Gemeinschaft ist also nicht länPflicht der EG zu Gender Mainstreaming ger eine bloße Wirtschaftsgemeinschaft, Art. 141 Abs. 3: also eine Gemeinschaft, deren PolitikgestalBefugnis der EG zur Bekämpfung von Diskriminierung im Arbeitsrecht tung allein auf eine Förderung des WirtArt. 13 Abs. 1: schaftslebens hinausläuft. Vielmehr muss Befugnis der EG zur Bekämpfung von alles Handeln der Gemeinschaft nunmehr Diskriminierung in allen Politikbereichen Art. 13 Abs. 2: auch der Verwirklichung der Gleichstellung Befugnis der EG zum Erlass von von Frauen und Männern dienen. Frauenfördermaßnahmen (alle Bereiche) Art. 141 Abs. 4: Was das bedeutet, verdeutlicht Art. 3 Abs. 2 Befugnis der Mitgliedstaaten zum Erlass von Frauenfördermaßnahmen (ArbeitsR) des EG-Vertrages: Wenn die Gemeinschaft in einem der Politikbereiche tätig wird, die Folie 2 Abs. 1 nennt, dann muss sie darauf hinwirken, Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern zu beseitigen und sie muss – positiv gewendet – die Gleichstellung der Geschlechter fördern. Damit ist die EG auf die Strategie des Gender Mainstreaming verpflichtet. Wesentliche Regelungen des EGVertrages zur Gleichstellung

Diese beiden Vorschriften betreffen nur die Europäische Gemeinschaft. Sie nehmen damit aber indirekt auch die Mitgliedstaaten in die Pflicht, die Gleichstellung zu verwirklichen. Die Verpflichtung gilt immer dann, wenn die Regierungen im Rat der EG entscheiden, wenn sie also etwa Verordnungen oder Richtlinien erlassen. Das bedeutet folgendes: Wenn der Rat beispielsweise eine Verordnung zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer erlassen will, muss er prüfen, ob die vorgeschlagene Regelung sich für Frauen und Männer unterschiedlich auswirkt. Er muss sich dann für die Lösung entscheiden, durch die die Gleichstellung der Geschlechter gefördert wird. Diese Verpflichtung der Gemeinschaft zu Gender Mainstreaming ist zweifellos ein erheblicher Fortschritt. Sie schärft das Bewusstsein für die unterschiedlichen Lebenssituationen von Männern und Frauen und die daraus resultierenden Anforderungen an Gesetzgebung. Auf diese Weise fördert Gender Mainstreaming – hoffentlich – bei den zumeist männlichen Entscheidungsträgern die Erkenntnis, dass die Gleichstellung der Geschlechter eine gesamtgesellschaftliche Notwendigkeit ist. Dennoch reicht Art. 3 Abs. 2 nicht aus. Denn die Verpflichtung zur Gleichstellung ist nicht die einzige sogenannte „Querschnittsklausel“, d.h. Beachtungspflicht in allen Politikbereichen. Es gibt solche Querschnittsklauseln auch für die Förderung des

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Umweltschutzes (Art. 6), der kulturellen Vielfalt (Art. 151 Abs. 4), des Gesundheitsschutzes (Art. 151 Abs. 1), der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie (Art. 157 Abs. 3), der Entwicklungszusammenarbeit (Art. 178) und schließlich der Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts zwischen den Mitgliedstaaten. Erinnern Sie sich an den Loriot-Film „Ödipussi“? Da gibt es einen Verein zur Integration der Begriffe „Frau“ und „Umwelt“ in den Karneval. Angesichts der Vielzahl von Beachtungspflichten hat man den Eindruck, dass die Europäische Gemeinschaft auch ein solcher Verein ist. Die anderen Querschnittsklauseln stehen zwar nicht an so prominenter Stelle wie die Förderung der Gleichstellung. Aber die Vielzahl der zu berücksichtigenden Förderpflichten kann auch dazu führen, dass die Auswirkungen von Gesetzgebungsprojekten auf Frauen nicht mehr ernsthaft geprüft werden, sondern nur noch Lippenbekenntnisse zum Gender Mainstreaming abgegeben werden. Hier sind gerade die Frauenorganisationen aufgerufen, die Tätigkeit der Gemeinschaftsorgane kritisch zu begleiten. Glücklicherweise beschränkt sich der EG-Vertrag im Bereich der Gleichstellung aber nicht auf die bisher genannten zwei Vorschriften. Von herausragender Bedeutung sind zwei andere Vorschriften des EG-Vertrages: Art. 13 und Art. 141. Art. 141 gibt in seinem Absatz 3 der Gemeinschaft die Befugnis, Diskriminierung aufgrund des Geschlechts im Bereich des Arbeitsrechts zu bekämpfen. Art. 13 ermächtigt die Gemeinschaft zur Bekämpfung von geschlechtsbezogener Diskriminierung in allen anderen Politikbereichen, die Art. 3 aufzählt. Für alle Bereiche einschließlich des Arbeitsrechts ist Art. 13 Abs. 2 von Bedeutung: Er erlaubt der Gemeinschaft den Erlass von Fördermaßnahmen zugunsten diskriminierter Gruppen, also auch zugunsten von Frauen. Diese Vorschrift ist erst seit 2003 in Kraft; bis zu diesem Zeitpunkt konnten nur die Mitgliedstaaten Frauenfördermaßnahmen erlassen. Dies sah und sieht Art. 141 Abs. 4 ausdrücklich vor. Art. 13 Abs. 2 und Art. 141 Abs. 4 zeigen, dass die Gleichheit von Frauen und Männern zwei Aspekte hat: einerseits das Verbot der Diskriminierung – also rechtliche Gleichheit – und das Gebot der Gleichstellung – also auch tatsächliche Gleichheit. Der EG-Vertrag erkennt damit an, dass die Gleichstellung und insbesondere Frauenfördermaßnahmen keine Ausnahmen vom Gleichheitssatz sind, sondern dessen integraler Bestandteil – gewissermaßen die Kehrseite des Diskriminierungsverbots. b) Der Grundsatz gleichen Entgelts für gleiche oder gleichwertige Arbeit (Art. 141 Abs. 1) Die bisher genannten Vorschriften des EG-Vertrages betreffen die Gleichstellung als Ziel und regeln Befugnisse zur Verwirklichung der Gleichstellung. Der Vertrag enthält

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darüber hinaus noch mehr: ein spezielles Diskriminierungsverbote Diskriminierungsverbot. Es ist in Art. 141 Abs. 1 enthalten und schreibt den Grund- Art. 141 Abs. 1 EG-Vertrag satz fest, dass für gleiche oder gleichwertige b gleiches Entgelt Arbeit gleicher Lohn zu zahlen ist. [Folie 3 - b für Männer und Frauen bei Oberer Teil] Diese Garantie ist insbesondere für Frauen von erheblicher Bedeutung, da b gleicher / gleichwertiger Arbeit Frauen oft andere Berufe als Männer aus- Folie 3 – Oberer Teil üben und die Tätigkeit von Frauen häufig unterbewertet ist. Dies ist einer der Hauptgründe dafür, dass Frauen in Deutschland im Durchschnitt nur 75 % dessen verdienen, was Männer verdienen. Der Grundsatz gleichen Entgelts wirft drei Probleme auf: Erstens die Frage, was alles zum Entgelt zählt. Zweitens die – sehr viel schwierigere – Frage, wann zwei Tätigkeiten gleichwertig sind. Und drittens die Frage, wann bei ungleichem Entgelt für gleichwertige Arbeit eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts vorliegt. Auf die Frage, was „Entgelt“ ist, gibt Art. 141 Abs. 2 die Antwort: Umfasst ist nicht allein der Lohn, sondern alle Leistungen, die der Arbeitgeber aufgrund des Arbeitsverhältnisses erbringt, etwa Zulagen oder Sachleistungen wie die Bereitstellung eines privat nutzbaren Firmenwagens. Zum Entgelt zählen auch mittelbare Leistungen über Dritte, also beispielsweise Versorgungsleistungen oder Betriebsrenten, (nicht aber die Arbeitgeberbeiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung). Schwierig ist – ich sagte es schon – die Beurteilung, wann zwei Tätigkeiten gleichwertig sind. Hierzu haben sowohl die Europäische Kommission als auch die Bundesregierung unverbindliche Leitfäden herausgegeben. Diese sollen Gewerkschaften und Arbeitgebern Kriterien für die Bestimmung der Gleichwertigkeit an die Hand geben. Dabei besteht nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eine weit reichende Möglichkeit, Vergleiche anzustellen. So hat er beispielsweise die Tätigkeit als Logopädin mit der als Psychologe oder Apotheker in einem Krankenhaus für vergleichbar gehalten. Im Wesentlichen überlässt es der Gerichtshof den innerstaatlichen Gerichten, die Frage der Vergleichbarkeit zu klären. Hier besteht also noch ein weiter Spielraum für nationales Gleichstellungsrecht. Problematisch ist auch das dritte Kriterium für eine nach Art. 141 Abs. 1 verbotene Diskriminierung. Erfasst ist nur die Zahlung ungleichen Entgelts für gleichwertige Arbeit bei Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Zu dieser Frage existiert eine reichhaltige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, auf die ich hier im einzelnen nicht eingehen kann. Hervorheben möchte ich nur seine Rechtsprechung zur

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Arten der Diskriminierung unmittelbare Diskriminierung: Anknüpfung an b

Geschlecht oder

b

geschlechtsspezifisches Kriterium (Schwangerschaft)

mittelbare Diskriminierung: Anknüpfung an b

neutrales Kriterium, das

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sogenannten mittelbaren Diskriminierung. Mittelbare Diskriminierung ist Diskriminierung, die nicht direkt an das Kriterium des Geschlecht anknüpft [Folie 4]. Vielmehr knüpft sie an scheinbar neutralen Kriterien an, die aber typischerweise nur von den Angehörigen eines Geschlechts erfüllt werden. Wenn die Regelung eine signifikant höhere Zahl von Frauen als von Männern betrifft, dann liegt eine mittelbare Diskriminierung vor.

Ein wichtiges Beispiel ist die Ungleichtypischerweise nur für ein behandlung von Teilzeitarbeitskräften. Das Geschlecht zutrifft (Teilzeitarbeit) Kriterium der Teilzeittätigkeit ist ja an sich => zahlenmäßige Betrachtung neutral. Männer und Frauen können gleichermaßen in Teilzeit arbeiten. Die berufliche Folie 4 Wirklichkeit sieht freilich anders aus: Europaweit sind wesentlich mehr Frauen als Männer teilzeitbeschäftigt. Das beruht darauf, dass Frauen nach wie vor die Hauptverantwortung für die Betreuung von Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen tragen. Die Anknüpfung an Teilzeitbeschäftigung trifft daher Frauen signifikant stärker als Männer. Sie wirkt daher mittelbar diskriminierend. b

Diese Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur mittelbaren Diskriminierung war richtungsweisend und ist vom deutschen Bundesverfassungsgericht übernommen worden. Auch in das Bundesgleichstellungsgesetz ist das Verbot der mittelbaren Diskriminierung aufgenommen worden (§ 1 Abs. 7 BGleiG). Dies sind wichtige Fälle der Auswirkung europäischen Rechts auf nationales Gleichstellungsrecht.

2. Die Charta der Grundrechte der EU Eines fällt bei der Betrachtung des EG-Vertrages auf: Er enthält kein allgemeines Gleichheitsgrundrecht, wie wir es etwa aus dem deutschen Grundgesetz kennen. Die Regelungen, die wir bisher behandelt haben, sind Ziel- oder Befugnisnormen und ein spezielles Diskriminierungsverbot im Bereich der Entlohnung. Im Falle anderer Diskriminierungen kann sich also der – oder häufiger die – Einzelne nicht auf ein geschriebenes Grundrecht berufen. Der Europäische Gerichtshof hatte sich schon in den 70er Jahren mit dieser Frage zu befassen. Es ging um unterschiedliche Altersgrenzen für Männer und Frauen bei der belgischen Fluggesellschaft Sabena.

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Frauen mussten mit 40 Jahren aus dem Borddienst ausscheiden, Männer nicht. Eine klare Diskriminierung – nur eben nicht im Bereich des Entgelts, sondern bei den sonstigen Arbeitsbedingungen. Art. 141 Abs. 1 war also nicht anwendbar. In seinem Urteil stellte der Gerichtshof aber fest, dass das Gleichheitsrecht ein ungeschriebenes Grundrecht ist und damit Bestandteil des Gemeinschaftsrechts. Seit dem Jahre 2000 gibt es das GleichheitsArt. 21 Grundrechte-Charta grundrecht auch in geschriebener Form: in der Charta der Grundrechte der EU. Sie fin- allgemeines Diskriminierungsverbot den es auf der zweiten Seite der Materialien. = rechtliche Gleichheit Und auch hier finden wir wieder die beiden Seiten der Medaille: Das Diskriminierungs- Art. 23 Grundrechte-Charta verbot in Art. 21 und das Gleichstellungs- Gleichstellungsgebot gebot in Art. 23 [Folie 3 - unterer Teil]. Die = tatsächliche Gleichheit Charta hat nur einen – bedeutsamen – Folie 3 – Unterer Teil Schönheitsfehler: Sie ist rechtlich unverbindlich und gibt uns Frauen daher nicht mehr als schon der Europäische Gerichtshof mit seiner Rechtsprechung. Das soll sich aber im Rahmen der europäischen Verfassungsgebung ändern. Die Charta soll nämlich Bestandteil des Verfassungsvertrages werden und damit auch rechtsverbindlich. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass Art. 23 Abs. 2 ausdrücklich spezifische Vergünstigungen zugunsten des unterrepäsentierten Geschlechts erlaubt. Damit erkennt das europäische Verfassungsrecht beispielsweise sogenannte Frauenquoten grundsätzlich als rechtmäßig an. Eine vergleichbar eindeutige Regelung finden wir im deutschen Verfassungsrecht leider nicht. Aber das europäische Recht wirkt sich hier positiv auf das nationale Recht aus: Wenn der europäische Gesetzgeber Regelungen erlässt, die spezifische Vergünstigungen für Frauen vorsehen, dann ist dies für alle innerstaatlichen Instanzen verbindlich. Niemand darf also gegen diese Regelung verstoßen mit der Begründung, sie sei mit dem deutschen Verfassungsrecht unvereinbar. Selbst wenn man also der – meines Erachtens falschen – Ansicht ist, das Grundgesetz erlaube keine Frauenquoten, wäre das irrelevant. Im Konfliktfall muss nämlich das deutsche Verfassungsrecht dem Europarecht weichen. Nun hat das Gemeinschaftsrecht bislang keine spezifischen Vergünstigungen für Frauen angeordnet. Es überlässt die Entscheidung hierüber den Mitgliedstaaten. Streng genommen kommt es hier zu keinem Konflikt zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht: Denn das Europarecht erlaubt die Frauenquote lediglich. Damit verbleibt dem nationalen Verfassungsrecht die Möglichkeit, Frauenquoten zu verbieten. Das ist die rechtliche Betrachtung. Aber das Europarecht wirkt indirekt, auf

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politischer Ebene: Es lässt sich politisch nicht vermitteln, dass etwas nach innerstaatlichem Recht verboten sein soll, was nach Europarecht ausdrücklich erlaubt ist. Gerade angesichts der immer wieder beschworenen gemeinsamen Verfassungstraditionen der EU-Staaten erscheint die Behauptung widersinnig, das Diskriminierungsverbot bedeute auf europäischer Ebene etwas anderes als auf nationaler Ebene. Diese indirekte Wirkung des europäischen (Verfassungs-)Rechts auf das innerstaatliche Verfassungsrecht ist nicht zu unterschätzen. Es ist z. B., so denke ich, kein Zufall, dass die deutsche Debatte über die Zulässigkeit von Frauenquoten mit den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs in dieser Frage ein Ende gefunden hat.

3. Sekundäres Gemeinschaftsrecht Kommen wir nun zu den Bereichen, in denen sich das europäische Recht direkt auf nationales Gleichstellungsrecht auswirkt. Durch die genannten Kompetenzregelungen des EG-Vertrages – Art. 13 und Art. 141 Abs. 3 – steht der Gemeinschaft das rechtliche Arsenal zur Verfügung, um die Gleichstellung von Männern und Frauen in den Mitgliedstaaten in wesentlichen Politikbereichen herbeizuführen. Sie nutzt dieses Arsenal seit langem intensiv. Von zentraler Bedeutung ist hierbei die Gleichbehandlungsrichtlinie von 1976, die kürzlich neu gefasst wurde. Sie finden sie auf der dritten Seite der Materialien. Außerdem gibt es noch zahlreiche arbeits- und sozialrechtliche Richtlinien, etwa über Mutterschutz, Elternurlaub, oder soziale Sicherheit, die ich aus Zeitmangel nicht behandeln kann.

Gleichbehandlungs-Richtlinie Die neue Gleichbehandlungsrichtlinie fasst b

Verbot von - Diskriminierung und - (sexueller) Belästigung

b

Anspruch auf Rechtsschutz

b

mit wirksamen Sanktionen = Schadensersatz -> § 611a Abs. 2 und 3 BGB: b Entschädigung (für Beste) b i.ü. max. 3 Monatsgehälter

Regelungsbedarf bei Belästigung b

Anspruch gegen Arbeitgeber ?

b

Schmerzensgeld ?

Folie 5

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die bisher erreichten Errungenschaften bei der Bekämpfung von Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zusammen und weitet den Schutz aus. Als Diskriminierung gilt nunmehr auch die Belästigung und die sexuelle Belästigung [Folie 5]. Damit existiert erstmals auf europäischer Ebene ein verbindliches Verbot solcher Verhaltensweisen, deren Opfer überwiegend Frauen sind. Belästigung umfasst – im Unterschied zu sexueller Belästigung – alle Formen von geschlechtsbezogenem Mobbing, wenn also jemand wegen seines Geschlechts aus einer Tätigkeit „hinausgeekelt“ werden soll. Der typische Fall ist der einer Frau in einem Männerberuf. Andere Fälle von Mobbing, an

denen häufig genug auch Frauen aktiv beteiligt sind, erfasst die Gleichstellungsrichtlinie nicht, weil es hier eben nicht um Fälle der geschlechtsbezogenen Diskriminierung geht. Die sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist in Deutschland bereits durch das Beschäftigungsschutzgesetz von 1994 verboten, nicht hingegen andere Formen geschlechtsbezogener Belästigung. Hier besteht für das deutsche Recht also Regelungsbedarf. Außerdem muss das deutsche Recht beide Formen von Belästigung sanktionieren, wenn sie beim Zugang zu einem Beruf erfolgt. Ganz konkret: Wenn ein potentieller Arbeitgeber die Einstellung von einer sexuellen Gefälligkeit abhängig macht, muss der betroffenen Bewerberin ein Schadensersatzanspruch eingeräumt werden. Die Gleichbehandlungsrichtlinie schreibt in allen Fällen von Diskriminierung vor, dass die Betroffenen ein Anrecht auf gerichtlichen Rechtsschutz (Art. 6 Abs. 1) mit wirksamen Sanktionen (Art. 6 Abs. 2) haben. In Deutschland ist dies für den Fall der unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung durch § 611a BGB umgesetzt. Diese Vorschrift gilt auch im öffentlichen Dienst des Bundes (§ 5 Abs. 2 BGleiG); die Rechtslage in den Ländern ist uneinheitlich. Beispielsweise fehlt in den Gleichstellungsgesetzen von Berlin oder Nordrhein-Westfalen eine entsprechende Verweisung. § 611a Abs. 2 und Abs. 3 BGB gewähren dem Opfer einer Diskriminierung wegen des Geschlechts einen Entschädigungsanspruch. Sein Umfang bestimmt sich danach, ob das Opfer die bestqualifizierte Bewerberin gewesen ist und sie deshalb bei diskriminierungsfreier Entscheidung eingestellt worden wäre. In diesem Fall steht ihr eine angemessene Entschädigung zu. Diese umfasst ihren tatsächlichen Schaden und soll auch den immateriellen Schaden abdecken, der durch die Verletzung des Rechts auf Diskriminierungsfreiheit entstanden ist. Für alle anderen diskriminierten Bewerberinnen sieht Abs. 3 eine pauschale Entschädigung vor, die maximal den dreifachen Monatslohn der ausgeschriebenen Stelle umfasst. Diese Regelung ist relativ neu; sie stammt von 1998. Der deutsche Gesetzgeber hat sie erst auf Druck des Europäischen Gerichtshofs eingeführt. Vorher konnten unterlegene Bewerberinnen nur ihren tatsächlichen Schaden ersetzt verlangen, und der belief sich zumeist nur auf die Portokosten. Das waren natürlich „Peanuts“ für einen Arbeitgeber und damit schon fast eine Einladung zur Diskriminierung. Vergleichbare Entschädigungsregelungen für Fälle der Belästigung bestehen im deutschen Recht dagegen noch nicht. Der deutsche Gesetzgeber muss sie ebenfalls noch bis zum November 2005 schaffen. Auch diese Regelungen müssen so ausgestaltet sein, dass das Belästigungsverbot volle Wirksamkeit erlangt. Das bedeutet aus meiner Sicht: Der Gesetzgeber muss einen Anspruch auf Schmerzens-

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geld begründen, weil geschlechtsbezogene und sexuelle Diskriminierung immer die Menschenwürde der Betroffenen verletzt. Außerdem halte ich es für wünschenswert, auch einen Entschädigungsanspruch gegen Arbeitgeber einzuführen, wenn dieser Belästigungen duldet, d.h. von ihnen Kenntnis hat, aber nichts unternimmt. Zurück zu dem bereits im deutschen Recht geregelten Fall der unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung: Nach § 611a BGB besteht hier in der Privatwirtschaft kein Anspruch des oder der Betroffenen auf Einstellung oder Beförderung. Im öffentlichen Dienst ist die Rechtslage anders. Hier gilt nach Art. 33 Abs. 2 GG: Der bestqualifizierte Bewerber hat einen Anspruch auf Ernennung oder Beförderung. Und am besten qualifiziert ist nach den Gleichstellungsgesetzen von Bund (§ 8 BGleiG) und der meisten Länder bei gleicher Eignung eine Bewerberin unter zwei Voraussetzungen: Erstens müssen in dem zu besetzenden Bereich Frauen unterrepäsentiert sein und zweitens dürfen keine Gründe überwiegen, die in der Person eines männlichen Mitbewerbers liegen. Diese Bevorzugung von Bewerberinnen dient dem Abbau bestehender Benachteiligungen von Frauen und damit der Gleichstellung der Geschlechter. Wichtig ist aber, dass das Europarecht diese Frauenförderung nicht vorschreibt, sondern sie den Mitgliedstaaten nur erlaubt. Deutschland war also – jedenfalls nach Europarecht – frei in seiner Entscheidung, ob es solche sogenannten „Frauenquoten“ einführen will. Das Europarecht setzt aber der Ausgestaltung solcher Frauenfördermaßnahmen Grenzen. Der Europäische Gerichtshof war nämlich im Jahr 1995 im Fall „Kalanke“ der Ansicht, dass sogenannte „starre Quoten“ unzulässig sind. Das sind solche, die bei Unterrepräsentation von Frauen in einem Bereich und gleicher Qualifikation der Bewerber automatisch die Bevorzugung der Frau vorsah. „Weiche“ Quoten erklärte er hingegen im Fall Marschall im Jahr 1997 für europarechtskonform. Damit sind Regelungen gemeint, die bei gleicher Qualifikation die Bevorzugung einer Bewerberin erlauben, wenn nicht in der Person eines männlichen Mitbewerbers liegende Gründe überwiegen. Welche Gründe können dies sein? Eine Antwort hierauf findet sich im Urteil des Europäischen Gerichtshofs im Fall Badeck aus dem Jahr 2000 zum Hessischen Gleichstellungsgesetz. Es bleiben nicht mehr viele Gründe. Erfasst sind lediglich Fälle, in denen der männliche Mitbewerber ein Schwerbehinderter, Langzeitarbeitsloser, oder ehemaliger Zeitsoldat ist. Weitere Ausnahmegründe, etwa die vorherige Unterbrechung oder Reduzierung der Tätigkeit wegen Familienarbeit werden in aller Regel eher von Frauen erfüllt. Noch wichtiger ist freilich ein anderer Aspekt des Urteils: Es erklärt es nämlich für zulässig, dass ein Gesetz beispielsweise die Berücksichtigung von Familienstand oder Einkommen des Partners ausschließt. Damit müssen Kriterien, die bei traditio-

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neller Rollenverteilung Männern zugute kommen, außen vor bleiben. Umgekehrt erlaubt es das Europarecht, wenn ein innerstaatliches Gesetz Kriterien positiv umdeutet, die in der Vergangenheit Frauen zum Nachteil gereicht haben. Das tut etwa das Bundesgleichstellungsgesetz mit seiner Anordnung (§ 9 Abs. 1 S. 3 BGleiG), solche Fähigkeiten zu berücksichtigen, die durch Betreuungsaufgaben erworben wurden, soweit sie für die Ausübung der angestrebten Tätigkeit von Bedeutung sind. Kinderbetreuung ist demnach kein Nachteil mehr, sondern kann als Vorteil wirken. Mit dieser Rechtsprechung hat der Europäische Gerichtshof einen erheblichen Beitrag zur Gleichstellung von Frauen und Männern geleistet.

4. Ausblick: Der Entwurf einer Richtlinie zur Gleichbehandlung bei Zugang zu und Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen Zum Schluss möchte ich noch einen Blick auf die gegenwärtigen Aktivitäten der EG im Bereich der Gleichstellung werfen. Seit November 2003 liegt ein Entwurf der Europäischen Kommission zu einer Richtlinie vor. Sie betrifft die Gleichstellung der Geschlechter bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen. Wir verlassen damit den Bereich des Arbeitsrechts. Nunmehr geht es um so wichtige Bereiche wie die Vermietung von Wohnraum oder Versicherungsdienstleistungen. Die geplante Richtlinie verbietet Diskriminierung und Belästigung, wenn es um die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen geht. Sie untersagt beispielsweise geschlechtspezifische versicherungsmathematische Faktoren (Art. 4). Die Ungleichbehandlung von Frauen und Männern bei der Kranken- oder Rentenversicherung wird dann nicht mehr zulässig sein. Es kommen also endlich die Unisex-Tarife. Im Bereich der Versorgung mit Gütern sind solche generellen Diskriminierungen seltener. Häufiger sind dagegen Fälle sexueller Belästigungen durch Einzelpersonen. Typische Situation: Bei Knappheit des Gutes (etwa Wohnraum) wird sexuelles Entgegenkommen als Gegenleistung für einen Vertragsabschluss verlangt. Auch dies verbietet der Richtlinienentwurf und sieht Sanktionen vor (Art. 3). Mit diesen beiden Regelungen übernimmt das Europarecht erneut eine Schrittmacherrolle für das deutsche Recht. Und schließlich erlaubt der Entwurf ausdrücklich Fördermaßnahmen zugunsten von Frauen. Was kann man sich darunter vorstellen? Nun, Frauen haben es beispielsweise in der Regel schwerer, Risikokapital zu erlangen oder Unterstützung für die Realisierung ihrer Geschäftsideen. Als Fördermaßnahmen denkbar sind Darlehen für weibliche Unternehmer zu besonderen Konditionen und die Bereitstellung besonderer Unterstützungs- und Beratungsangebote für Unternehmerinnen. Die Richtlinie regt insofern vielleicht neue Gleichstellungsmaßnahmen in Deutschland an.

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So positiv der Entwurf ist, so wenig kann er das letzte Wort auf dem Weg zur Gleichstellung sein. Frauenverbände und auch die dbb bundesfrauenvertretung kritisieren scharf, dass der Entwurf weder das Steuerwesen noch die Systeme der sozialen Sicherheit erfasst. Je nach Ausgestaltung können etwa Steuersysteme Frauen davon abhalten, ein Erwerbseinkommen zu erzielen. Sie verfestigen damit traditionelle Rollenbilder. Auch soll die Richtlinie nicht für Medien und Werbung gelten. Deren Einbeziehung war ursprünglich beabsichtigt, um sexistische oder andere abwertende Darstellung von Frauen zu bekämpfen. Ein Beispiel: Wenn Sie mit der U-Bahn hierher gekommen sind, haben Sie vielleicht in den Wagen die Monitore gesehen, die Kurznachrichten ausstrahlen. Kürzlich las ich dort eine Meldung über das stark zunehmende Übergewicht der Bevölkerung im Alter. Es hieß, davon seien mehr Männer als Frauen betroffen. Illustriert wurde dies jedoch mit einem Bild, das fette Frauen am Strand zeigte. Das hat mich geärgert. Doch da die Richtlinien nicht für den Medienbereich gelten soll, werden solche Ärgernisse auch in Zukunft ohne rechtliche Sanktion bleiben. Fraglich ist freilich, ob das Recht in solchen Fällen das richtige Mittel ist, um ein Umdenken in der Medien- und Werbebranche herbeizuführen Hier gilt es jedenfalls, einen Ausgleich mit der Meinungsfreiheit zu erreichen, welche nun einmal auch den Autoren sexistischer Veröffentlichungen zusteht.

III. Fazit An dieser Stelle möchte ich schließen. Ich hoffe, Sie haben einen Eindruck erhalten, wie vielfältig der Einfluss des europäischen Rechts auf das nationale Gleichstellungsrecht bisher war und auch in Zukunft sein wird. Das Europarecht war hier oft wegweisend. Insofern trifft das Motto dieser Fachtagung zu: Europa ist eine Chance für Frauen!

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Materialien zum Vortrag

Wie wirkt sich europäisches (Verfassungs-)Recht auf nationales Recht aus? Dargestellt am Beispiel des Gleichstellungsrechts EG-Vertrag Artikel 2 Aufgabe der Gemeinschaft ist es, durch die Errichtung eines gemeinsamen Marktes und einer Wirtschafts- und Währungsunion sowie durch die Durchführung der in den Artikeln 3 und 4 genannten gemeinsamen Politiken und Maßnahmen in der ganzen Gemeinschaft eine harmonische, ausgewogene und nachhaltige Entwicklung des Wirtschaftslebens, ein hohes Beschäftigungsniveau und ein hohes Maß an sozialem Schutz, die Gleichstellung von Männern und Frauen, ein beständiges, nichtinflationäres Wachstum, einen hohen Grad von Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz der Wirtschaftsleistungen, ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität, die Hebung der Lebenshaltung und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern. Artikel 3 (1) Die Tätigkeit der Gemeinschaft im Sinne des Artikels 2 umfasst nach Maßgabe dieses Vertrags und der darin vorgesehenen Zeitfolge: (...) c) einen Binnenmarkt, der durch die Beseitigung der Hindernisse für den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten gekennzeichnet ist; (...) i) die Förderung der Koordinierung der Beschäftigungspolitik der Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Verstärkung ihrer Wirksamkeit durch die Entwicklung einer koordinierten Beschäftigungsstrategie; j) eine Sozialpolitik mit einem Europäischen Sozialfonds; (...) l) eine Politik auf dem Gebiet der Umwelt; (...) q) einen Beitrag zu einer qualitativ hoch stehenden allgemeinen und beruflichen Bildung sowie zur Entfaltung des Kulturlebens in den Mitgliedstaaten; r) eine Politik auf dem Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit;

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(2) Bei allen in diesem Artikel genannten Tätigkeiten wirkt die Gemeinschaft darauf hin, Ungleichheiten zu beseitigen und die Gleichstellung von Männern und Frauen zu fördern. Artikel 13 (1) Unbeschadet der sonstigen Bestimmungen dieses Vertrags kann der Rat im Rahmen der durch den Vertrag auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrungen treffen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen. (2) Abweichend von Absatz 1 beschließt der Rat gemäß dem Verfahren des Artikels 251, wenn er gemeinschaftliche Fördermaßnahmen unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zur Unterstützung der Maßnahmen annimmt, die die Mitgliedstaaten treffen, um zur Verwirklichung der in Absatz 1 genannten Ziele beizutragen. Artikel 141 (1) Jeder Mitgliedstaat stellt die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit sicher. (2) Unter „Entgelt“ im Sinne dieses Artikels sind die üblichen Grund- oder Mindestlöhne und -gehälter sowie alle sonstigen Vergütungen zu verstehen, die der Arbeitgeber aufgrund des Dienstverhältnisses dem Arbeitnehmer unmittelbar oder mittelbar in bar oder in Sachleistungen zahlt. Gleichheit des Arbeitsentgelts ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts bedeutet, a) dass das Entgelt für eine gleiche nach Akkord bezahlte Arbeit aufgrund der gleichen Maßeinheit festgesetzt wird, b) dass für eine nach Zeit bezahlte Arbeit das Entgelt bei gleichem Arbeitsplatz gleich ist. (3) Der Rat beschließt gemäß dem Verfahren des Artikels 251 und nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses Maßnahmen zur Gewährleistung der Anwendung des Grundsatzes der Chancengleichheit und der Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäfti-

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gungsfragen, einschließlich des Grundsatzes des gleichen Entgelts bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit. (4) Im Hinblick auf die effektive Gewährleistung der vollen Gleichstellung von Männern und Frauen im Arbeitsleben hindert der Grundsatz der Gleichbehandlung die Mitgliedstaaten nicht daran, zur Erleichterung der Berufstätigkeit des unterrepräsentierten Geschlechts oder zur Verhinderung bzw. zum Ausgleich von Benachteiligungen in der beruflichen Laufbahn spezifische Vergünstigungen beizubehalten oder zu beschließen.

Charta der Grundrechte der Europäischen Union Artikel 21 Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung sind verboten. Im Anwendungsbereich der Verfassung ist unbeschadet ihrer einzelnen Bestimmungen jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten. Artikel 23 (1) Die Gleichheit von Männern und Frauen ist in allen Bereichen, einschließlich der Beschäftigung, der Arbeit und des Arbeitsentgelts, sicherzustellen. (2) Der Grundsatz der Gleichheit steht der Beibehaltung oder der Einführung spezifischer Vergünstigungen für das unterrepräsentierte Geschlecht nicht entgegen.

Gleichbehandlungsrichtlinie Richtlinie 76/207/EWG in der Fassung der Richtlinie 2002/73/EG (Richtlinie zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen)

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Artikel 2 (1) Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Sinne der nachstehenden Bestimmungen beinhaltet, dass keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts – insbesondere unter Bezugnahme auf den Ehe- oder Familienstand – erfolgen darf. (2) Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck b

„unmittelbare Diskriminierung“: wenn eine Person aufgrund ihres Geschlechts in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde;

b

„mittelbare Diskriminierung“: wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen, die einem Geschlecht angehören, in besonderer Weise gegenüber Personen des anderen Geschlechts benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich;

b

b

„Belästigung“: wenn unerwünschte geschlechtsbezogene Verhaltensweisen gegenüber einer Person erfolgen, die bezwecken oder bewirken, dass die Würde der betreffenden Person verletzt und ein von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen wird; „sexuelle Belästigung“: jede Form von unerwünschtem Verhalten sexueller Natur, das sich in unerwünschter verbaler, nicht-verbaler oder physischer Form äußert und das bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird, insbesondere wenn ein von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen und Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen wird.

(3) Belästigung und sexuelle Belästigung im Sinne dieser Richtlinie gelten als Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und sind daher verboten. (...) (6) Die Mitgliedstaaten können im Hinblick auf den Zugang zur Beschäftigung einschließlich der zu diesem Zweck erfolgenden Berufsbildung vorsehen, dass eine Ungleichbehandlung wegen eines geschlechtsbezogenen Merkmals keine Diskriminierung darstellt, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt. (...)

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(8) Die Mitgliedstaaten können im Hinblick auf die Gewährleistung der vollen Gleichstellung von Männern und Frauen Maßnahmen im Sinne von Artikel 141 Absatz 4 des Vertrags beibehalten oder beschließen. Artikel 3 (1) Die Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung bedeutet, dass es im öffentlichen und privaten Bereich einschließlich öffentlicher Stellen in Bezug auf folgende Punkte keinerlei unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts geben darf: a) die Bedingungen – einschließlich Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen – für den Zugang zu unselbständiger oder selbständiger Erwerbstätigkeit, unabhängig von Tätigkeitsfeld und beruflicher Position einschließlich des beruflichen Aufstiegs; b) den Zugang zu allen Formen und allen Ebenen der Berufsberatung, der Berufsausbildung, der beruflichen Weiterbildung und der Umschulung einschließlich der praktischen Berufserfahrung; c) die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen einschließlich der Entlassungsbedingungen sowie das Arbeitsentgelt nach Maßgabe der Richtlinie 75/117/EWG; (...) (2) Zu diesem Zweck treffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass (...) b) die mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz nicht zu vereinbarenden Bestimmungen in Arbeits- und Tarifverträgen, Betriebsordnungen und Statuten der freien Berufe und der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen nichtig sind, für nichtig erklärt werden können oder geändert werden.

Vorschlag der Europäischen Kommission für eine

Richtlinie zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Frauen und Männern beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen Artikel 1 (Gegenstand und Geltungsbereich) (2) Im Rahmen der auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten gilt diese Richtlinie für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen in Bezug auf

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den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, einschließlich Wohnraum. (3) Diese Richtlinie steht nicht dem entgegen, dass Unterschiede gemacht werden im Zusammenhang mit Gütern und Dienstleistungen, bei denen Männer und Frauen sich nicht in einer vergleichbaren Situation befinden, weil die Güter und Dienstleistungen ausschließlich oder in erster Linie für die Angehörigen nur eines Geschlecht bestimmt sind, oder im Zusammenhang mit Leistungen, die je nach Geschlecht der Klienten auf unterschiedliche Weise erbracht werden. (4) Diese Richtlinie gilt weder im Bereich der Bildung noch für den Inhalt von Medien und Werbung. (...) Artikel 3 (Gleichbehandlungsgrundsatz) (1) Der Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Sinne dieser Richtlinie beinhaltet, (a) dass keine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, auch keine Schlechterstellung von Frauen aufgrund von Schwangerschaft oder Mutterschaft, erfolgen darf; (b) dass keine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, insbesondere unter Bezugnahme auf den Ehe- oder Familienstand, erfolgen darf. (2) Belästigung und sexuelle Belästigung im Sinne dieser Richtlinie sind als Diskriminierung aufgrund des Geschlechts anzusehen und sind daher verboten. (...)

Dr. Herta Kindermann-Wlasak

Dr. Herta Kindermann-Wlasak Fachreferat

Gender Mainstreaming im Arbeitsmarktservice (AMS) Steiermark – Erfahrungen aus einem Implementierungsprojekt Einleitung Das Arbeitsmarktservice Österreich ist eine Institution mit einer langjährigen Tradition in sogenannter „Frauenförderpolitik“, ich selbst war viele Jahre als „Frauenreferentin“ im AMS Steiermark tätig, bevor wir Ende der 90er Jahre damit begonnen haben, uns intensiv mit der strategischen Konzeption des Gender Mainstreaming auseinanderzusetzen. Wir haben diese Strategie als Chance gesehen, die Frage der Gleichstellung von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt auf eine breitere Basis zu stellen, und wir haben sie als wichtige Weiterentwicklung in unserer Gleichstellungspolitik begrüßt. Gender Mainstreaming wird definiert als (Re)Organisation, Verbesserung und Evaluierung aller Entscheidungsprozesse mit dem Ziel, dass die an der politischen Gestaltung beteiligten AkteurInnen den Blickwinkel der Gleichstellung in allen Bereichen und auf allen Ebenen einnehmen. (Definition Europarat) Dieser neue Ansatz bedeutete für uns eine Veränderung in zwei wichtigen Richtungen:

Artikel 5 (positive Maßnahmen)

b

Der Gleichbehandlungsgrundsatz hindert die Mitgliedstaaten nicht daran, spezifische Maßnahmen beizubehalten oder einzuführen, mit denen geschlechtsspezifische Benachteiligungen verhindert oder ausgeglichen werden.

Erweiterung des Focus von der „Ziel- bzw. Problemgruppe“ Frauen hin zum Blick auf beide Geschlechter und vor allem zu sämtlichen Strukturen, in denen sich das Verhältnis der Geschlechter abbildet;

b

Erweiterung des Handlungsfeldes der Gleichstellungspolitik von der „Nischenpolitik“ der traditionellen Frauenförderung (die natürlich nach wie vor Thema bleibt) hin zur Integration der Gleichstellungsorientierung in das gesamte Regelsystem der Organisation; d.h. ein Thema, das bisher an die Frauenreferentinnen delegiert war, soll nun von allen relevanten AkteurInnen, insbesondere von allen Führungskräften, getragen werden.

Das Ziel der Gleichstellung ist erreicht, wenn alle Strukturen und Entscheidungsprozesse so gestaltet sind, dass Frauen und Männer aufgrund ihrer Geschlechts-

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zugehörigkeit in Bezug auf individuelle Lebensgestaltung, Verteilung von Macht, Ressourcen und Arbeit weder bevorzugt noch benachteiligt sind. Für uns im AMS bedeutet die neue Strategie eine große Herausforderung auf allen Ebenen der Organisation – von der Arbeitsprogrammplanung bis hinunter zum Betreuungsplan für einzelne Arbeitssuchende, von der Beauftragung extern zugekaufter Qualifizierungsmaßnahmen bis zur Gestaltung unserer Dienstleistungen für Unternehmen ist alles auf die Gleichstellung von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt auszurichten.

Überlegungen zur Implementierung von Gender Mainstreaming Nach der Grundsatzentscheidung des AMS für die Implementierung von Gender Mainstreaming war es für uns ein erster wichtiger Konkretisierungsschritt, die Gleichstellungsperspektive für den Arbeitsmarkt im Sinne von langfristigen, visionären Zielen zu definieren – wohl wissend, dass diese Ziele natürlich nicht vom AMS alleine erreichbar sind. Wir haben zwei Ziele formuliert, die sowohl den Aspekt der Integration in das Erwerbsleben als auch die Dimension der geschlechtsspezifischen Segregation des Arbeitsmarktes beinhalten: b

Frauen und Männer sind gleichermaßen in das Erwerbsleben integriert, auf existenzsichernde, ökonomische Unabhängigkeit gewährleistende Arbeitsplätze.

b

Frauen und Männer verteilen sich gleichermaßen über das Berufsspektrum und die hierarchischen Ebenen der Arbeitswelt.

Damit Gender Mainstreaming nicht zum bloßen Lippenbekenntnis verkommt, ist es von entscheidender Bedeutung, dass diese Strategie auf der Basis eines klaren Auftrages „top down“ in der Organisation implementiert wird. In der folgenden Grafik sind die wichtigsten Dimensionen eines derartigen Implementierungsprozesses dargestellt:

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Von besonderer Bedeutung für uns war und ist in diesem Implementierungsgeschehen das sogenannte „Sechs-Schritte-Verfahren“ zur Ausrichtung aller Planungs- und Entscheidungsprozesse auf Gleichstellung. Diese systematische Vorgangsweise stellt sicher, dass im jeweiligen Handlungsfeld auf der Basis einer genauen Situationsanalyse konkrete Gleichstellungsziele formuliert werden, die auch überprüfbar sind und damit hohe Verbindlichkeit haben. Die Schritte im Einzelnen beinhalten: 1. Gleichstellungsziel

Beschreibung des IST-Zustandes Beschreibung der Zielgruppe Definition des Soll-Zustandes (Messkriterien!)

2. Analyse der Hemmnisse

Entwicklung von Thesen in Bezug auf die Hemmnisse

3. Entwicklung von Optionen

Formulierung von strategischen Optionen zur Überwindung der Hemmnisse

4. Analyse der Optionen

Auswahl einer Option (Messkriterien für Evaluierung festlegen)

5. Umsetzung

Begleitendes Controlling

6. Evaluierung

Bericht zum Gleichstellungsziel Ursachenanalyse bei Zielabweichung

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Implementierung von Gender Mainstreaming in der steirischen Arbeitsmarktpolitik Die Implementierung von Gender Mainstreaming in der steirischen Arbeitsmarktpolitik findet zur Zeit im Wesentlichen in drei Handlungsfeldern statt: b

Implementierungsprojekt im Arbeitsmarktservice Steiermark

b

Implementierung im steirischen „Beschäftigungspakt“ Gender Mainstreaming wurde von Anfang an in den Vorgaben für die Paktaktivitäten sehr verbindlich verankert, GeM-Beauftragte wurden installiert, die alle Programme und Projekte begutachten.

b

Umsetzung eines EQUAL-Projektes „Just GeM“ (www.justgem.at) Um die AkteurInnen im Pakt zu befähigen, die Anforderungen zu erfüllen, die mit der Einführung der GeM-Strategie verbunden sind, haben wir die Ressourcen des EQUAL-Programmes genutzt, um den notwendigen Kompetenzaufbau und die Umsetzung von Pilotprojekten finanzieren zu können.

Implementierung im AMS Steiermark: Für den Projektauftrag zur Implementierung von GeM im Jahr 2001 wurde der Planungsprozess (Erstellung des jährlichen Arbeitsprogrammes auf der Basis von bundesweiten Zielvorgaben) als erstes Implementierungsfeld ausgewählt, da dieser Prozess die meiste Breitenwirkung in der Organisation hat – sowohl auf die Gestaltung der Dienstleistungen für bestimmte Zielgruppen als auch auf die Verteilung der Fördermittel etc. Wichtigste Intention war und ist es, die Gleichstellungsperspektive für die jeweiligen Jahresziele zu konkretisieren, d. h. wir formulieren seither zu ausgewählten Zielen konkrete Gleichstellungsziele einschließlich Indikatoren und wir geben diesen Gleichstellungszielen dasselbe Gewicht wie den anderen arbeitsmarktpolitischen Zielen. Um diese Vorgangsweise an einem konkreten Beispiel zu veranschaulichen: Ein Jahresziel bezog sich auf die Ausbildung von IT-Fachkräften, das Gleichstellungsziel dazu bezog sich auf die Erhöhung des Frauenanteils im obersten Segment der von uns finanzierten IT-Ausbildungen, da hier die Frauen deutlich unterrepräsentiert waren. Wir haben als Zielwert festgelegt, dass ein Drittel der TeilnehmerInnen Frauen sein sollen, was natürlich bedeutet hat, dass weniger Ausbildungsplätze für Männer zur Verfügung standen. Im Rahmen des Implementierungsprojektes haben wir „top down“ für alle Führungskräfte der Landesgeschäftsstelle, für alle GeschäftsstellenleiterInnen etc.

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Kompetenzaufbau betrieben, indem wir – mit externer Unterstützung – in Workshops Basiswissen über die GeM-Strategie und vor allem über das systematische Planungsverfahren der „6 Schritte“ vermittelt haben. Mit den Frauenreferentinnen in den Regionalen Geschäftsstellen haben wir an dem Thema der Veränderung ihrer Rolle im Kontext der neuen Strategie gearbeitet, insbesonders an der Frage, was es bedeutet, Gleichstellungsexpertin in einer Organisation zu sein, die tatsächlich versucht, die Gleichstellungsorientierung in ihr gesamtes Regelsystem zu integrieren.

EQUAL-Projekt „Just GeM“: Implementierung der Strategie „Gender Mainstreaming“ in die Politiken beschäftigungspolitisch relevanter Organisationen in der Steiermark Das Angebot des EQUAL-Projektes hat drei wichtige Schwerpunkte, die in drei sogenannten Modulen umgesetzt werden: Modul I beschäftigt sich mit der Formulierung eines Theoriekonzeptes, das uns als Basis und Orientierung für alle weiteren Anwendungsschritte dienen soll, und mit der Entwicklung von Instrumenten (wie z.B. Planungstools, Checklisten etc.) für die konkrete Umsetzung. Schwerpunkt in diesem Modul waren die Entwicklung und Umsetzung von verschiedenen, an die jeweilige Zielgruppe angepassten Angeboten zum Kompetenzaufbau wie: b

Veranstaltungen für die Führungsebene, um es EntscheidungsträgerInnen zu ermöglichen, die Implementierung der GeM-Strategie in ihrer Organisation zu beauftragen;

b

Workshops und Beratungsangebote für das mittlere Management, damit diese Führungskräfte den Implementierungsprozess in ihren Fachbereichen betreiben können;

b

Lehrgang für sogenannte „Gender Agents“, d. h. für Personen, die die Implementierung in der Organisation koordinieren und die verantwortlichen Führungskräfte unterstützen;

b

Lehrgang für Trägerorganisationen, die arbeitsmarktpolitische Maßnahmen planen und umsetzen; Zielgruppe sind Personen aus dem Bereich der Maßnahmenplanung und -konzeption (kein TrainerInnenlehrgang);

Im Modul II werden Daten für die Analyse der IST-Situation in den einzelnen Regionen aufbereitet und bereitgestellt, darüber hinaus werden Case Studies begleitend zu einzelnen Pilotprojekten durchgeführt.

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Podiumsgespräch

Im Rahmen von Modul III wurde allen im Rahmen des steirischen Beschäftigungspaktes aktiven Institutionen (wie Sozialpartner, Gemeinden, regionale Entwicklungsverbände, Land Steiermark, Bundessozialamt, Stadt Graz und andere mehr) die Möglichkeit geboten, ein Pilotprojekt zur Implementierung von GeM in einem ausgewählten Handlungsfeld einzureichen, über Just GeM können die 11 ausgewählten Projekte nun professionelle externe Unterstützung bei der Konzeption und Umsetzung ihres Vorhabens bekommen.

Podiumsgespräch

Die bis Mitte 2005 laufenden Pilotprojekte werden für die sogenannte Aktion III, die für die nachhaltige Verankerung der Strategie und den Transfer der gewonnen Erkenntnisse verantwortlich ist, den wesentlichen Input liefern. Die Führungskräfte der einzelnen Organisationen sollen auf der Basis der Erfahrungen aus dieser Pilotierungsphase die Verankerung der Strategie weiter vorantreiben.

Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, sehr verehrte Gäste,

„Ausgewogene Beteiligung von Frauen und Männern in politischen Entscheidungsprozessen und Entscheidungsgremien“ Wildfeuer:

wir kommen nun zu einem weiteren Höhepunkt unserer Fachtagung, nämlich dem Podiumsgespräch. Wir haben es in diesem Jahr natürlich themenbezogen gestellt mit dem Titel: „Ausgewogene Beteiligung von Frauen und Männern in politischen Entscheidungsprozessen und Entscheidungsgremien“. Ich habe in meinem Statement heute Vormittag ja schon einiges dazu ausgeführt. Wir haben uns hierzu Frauen eingeladen, die das Abgeordnetendasein in einem Männersystem aus eigener Erfahrung kennen, und die in diesem Podiumsgespräch Visionen entwickeln können und sicher auch werden, wie Frauen in politischen Gremien besser zum Zuge kommen können. Es ist uns gelungen, hierzu mit Frau Prof. Dr. Süssmuth, Frau Leutheusser-Schnarrenberger und Frau Schewe-Gerigk Expertinnen auf diesem Gebiet zu gewinnen. Die Diskussion wird moderiert von Cordula Tutt. Ich habe es heute früh schon gesagt, Frau Tutt kommt von der Financial Times Deutschland. Meine Damen, ich darf Sie hier ganz herzlich begrüßen und wünsche eine fruchtbare Diskussion. Tutt: Guten Tag, ich grüße alle Frauen und auch alle Männer, die sich versteckt haben. Bevor ich uns jetzt noch mal kurz vorstelle, möchte ich mit einer kleinen Episode einsteigen, die vielleicht sehr gut beschreibt, warum wir hier noch über die Beteiligung, angemessene Beteiligung von Frauen und Männern bei politischen Entscheidungen sprechen sollten. Es geht um Horst Köhler, vor kurzem war er noch Kandidat für das Bundespräsidentenamt und er war zu Besuch bei seiner alten Universität in Tübingen, hielt dort einen Vortrag und beschrieb das 21. Jahrhundert als das Jahrhundert der Frau. Und dann führte er etwas umständlich aus, dass Wirtschaft und Politik doch mehr tun müssten, damit Frauen Familie und Beruf unter einen Hut bekommen. Eva Köhler saß irgendwo im Publikum, stutzte, schrieb was auf ein Papier und hielt es dann hoch: Männer auch. Köhler hatte vergessen, dass Männer eben auch andere Rollen einnehmen sollten. Für mich zeigt diese Episode zwei Dinge: Erstens:

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Podiumsgespräch

Die Politik muss sich inhaltlich doch noch gewaltig entwickeln und zum Zweiten: dazu braucht’s eben auch die richtigen Leute, eben nicht nur die Souffleuse aus dem Orchestergraben. Also, ich danke allen meinen Gesprächspartnerinnen, die hier sind und möchte sie kurz vorstellen. Rita Süssmuth, 67 Jahre, von der CDU, ist Ihnen sicher bekannt, zuletzt war sie Vorsitzende der Zuwanderungskommission. Das war ihr prominentestes Amt zuletzt. Sie ist vielfältig auch in anderen Bereichen aktiv. Die Professorin für Erziehungswissenschaften war 1985 Bundesministerin für Jugend, Familie, Gesundheit geworden und 1986 zusätzlich dann auch noch Frauenministerin, übrigens die erste ihrer Art auf Bundesebene. Sie hat lange Jahre den Vorsitz der Frauenunion innegehabt. Außerdem war sie natürlich Präsidentin des Bundestages für 10 Jahre und zudem Präsidentin der Europäischen Bewegung bis 1998. Vor Jahren schon hat sie in der Union für das Quorum gestritten. Sie war auch immer wieder als Kandidatin für das Bundespräsidentenamt im Gespräch. Neben mir sitzt Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Sie ist 52 Jahre alt und bei der FDP. Sie ist seit 1990 im Bundestag und dort europapolitische Sprecherin ihrer Partei. Sie war Bundesministerin der Justiz, soweit ich weiß auch die erste in diesem Amt von 1992 bis 1996. Sie trat damals zurück, weil sie gegen den großen Lauschangriff war. Die Juristin hat beim Deutschen Patentamt gearbeitet, sie ist Rechtsanwältin und Mitglied der deutschen Delegation bei der parlamentarischen Versammlung des Europarates. Sie ist keine klassische Frauenpolitikerin, aber sie hat eben immer streitbar in allen Politikbereichen für die Interessen der Frauen gekämpft. Sie sagt: Die EU ist der wichtigste politische Faktor in Deutschland für die Gleichberechtigung. Irmingard Schewe-Gerigk, 56 Jahre, bei den Grünen, im Bundestag seit 1994. Als frauen- und familienpolitische Sprecherin ihrer Partei sitzt sie im Ausschuss für, jetzt kommt wieder dieser lange Teil, Familie, Senioren, Frauen und Jugend; sie ist im Ältestenrat und im Rechtsausschuss des Bundestages. Sie hat sich in ihrer Laufbahn vielfältig mit Frauenthemen beschäftigt, sowohl in ihrer Partei, bei den Grünen, und in Nordrhein-Westfalen als auch darüber hinaus. Sie war Frauenbeauftragte der Universität in Hagen und hat auch im NRW-Frauenministerium gearbeitet. Sie sagt, die Quote ist wichtig und richtig, aber noch längst nicht genug, aber sie hat zumindest bei den Grünen einen gewissen Erfolg gezeigt, für eine andere Politik gesorgt. So, ich selbst bin Cordula Tutt. Ich bin Politikkorrespondentin bei der Financial Times Deutschland, beschäftige mich vor allem mit Wirtschaftsthemen und mit Europathemen. Vorher war ich bis Anfang letzten Jahres für das Mutterblatt Financial Times in London.

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Podiumsgespräch

Wo stehen wir aktuell? Was ist der Stand der Debatte? Wir haben Ende der Woche Europawahl. Am Wochenende wählen die Menschen in 25 EU-Staaten und sollen ein neues Parlament bestimmen. Das ist ein ziemlich entrücktes Parlament, wir wissen wenig darüber, allerdings, wir sollten es beachten, weil mindestens drei Viertel der deutschen Gesetze maßgeblich von der EU und eben auch von diesem dem Parlament beeinflusst werden. Man kann nicht mehr über diese Regulierungen hinwegsehen. Also ist es sehr wichtig, wer dort ist und was in Europa gemacht wird. Wir sollten genauer auf die EU-Institutionen schauen, die ja doch, wenn man der These von Frau Leutheusser-Schnarrenberger folgt, maßgeblichen Einfluss haben. Wir sollten auch im Abgleich immer mal wieder auf die deutsche Situation schauen, warum es vielleicht gerade in Deutschland sowohl mit der Umsetzung als auch mit der Repräsentanz von Frauen und ihren Themen hapert. Kurz, wie ist die Lage? Ich möchte Ihnen jetzt noch stichpunktartig ein paar Zahlen geben, damit Sie auf den Stand kommen, wie es im Moment in Europa aussieht. Bei den nationalen Parlamenten haben die Schwedinnen mit Abstand die Nase vorn mit 45 Prozent der Abgeordneten, Deutschland ist im oberen Mittelfeld mit knapp 33 Prozent, Italien liegt ganz hinten mit 11 Prozent. Bei den nationalen Regierungen, oho oho, habe ich gelesen, Deutschland ist ganz vorne, weil formal fast 40 Prozent der Regierenden Frauen sind. Wir haben 6 Ministerinnen, fragt sich natürlich noch, welche Ressorts sie bekleiden. Italien ist hier wieder ganz hinten mit 5 Prozent. Die alte EU insgesamt hat 23 Prozent Frauenanteil in den Regierungen. Allerdings bei den europäischen Gipfeln, da sind dann eben wieder die Krawattenträger ganz vorne, weil die Männer eben die entsprechenden Ressorts besetzen und dann eben fast reine Männerveranstaltungen rauskommen. So, zum europäischen Parlament: da haben wir 32 Prozent Frauenanteil, knapp etwas weniger bei der europäischen Volkspartei, der auch die CDU angehört. Etwas mehr bei den Sozialdemokraten und etwas deutlich mehr bei den Grünen. Deutschland hat 37,4 Prozent Frauen unter seinen Abgeordneten, allerdings jetzt die Kandidaten für das künftige Europaparlament, da sind nur noch 30 Prozent Frauen drunter. Also, insofern kann man jetzt schon sagen, dass der Anteil der Frauen zurückgehen wird. Die FDP ist ganz stiefmütterlich, da ist nur jeder 5. Kandidat eine Frau. Leutheusser-Schnarrenberger: Wenigstens ein aussichtsreicher Platz. Es ist ja auch immer eine Frage bei Bewerbungen. Hinten sind immer viele Frauen, vorne meistens weniger. Tutt: Als die kleine EU-Kommission noch zusammenkam, da waren es 4 von 20 Frauen. Jetzt ist ja kurzfristig die EU-Kommission bis zu ihrer Ablösung im November aufge-

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stockt worden mit beobachtenden Postenvertretern. Jetzt sind 7 von 30 Kommissaren Kommissarinnen. Bei der EZB sieht es ganz schlimm aus. Wir haben ein Direktorium und die EZB, die bestimmt über ihre Geldpolitik doch ganz maßgeblich, wie in Europa gewirtschaftet wird. Wir haben eine Österreicherin als Vertreterin unter insgesamt 18 Direktoriumsmitgliedern. Das sind dann immer diese Gruppenfotos mit einem bunten Element. Der EuGH hat ein Viertel seiner Richterposten mit Frauen besetzt, im Verfassungskonvent sah es ganz schlimm aus, waren nur 17 von 105 Mitgliedern Frauen; bei den Sozialpartnern sieht es auch ziemlich mau aus. Die Einzelheiten erspare ich Ihnen, aber Sie kennen ja bestimmt Ihre eigene Gewerkschaft, wie es da aussieht im oberen Bereich. Gut, also wir haben jetzt das Problem herausgearbeitet. Die Zahlen sprechen sicher für sich, das mögen Sie als Problem sehen, aber wahrscheinlich sind wir uns alle einig in unserer Einschätzung, es ist schlimm, aber wir könnten dann alle nur sagen, was wir gerne hätten und was wir schon immer wollten. Ich hoffe also, dass hier trotzdem auch kontrovers diskutiert werden wird und dass Frau auch ehrlich genug ist, zu sagen, wo es bisher geklemmt hat und wo man vielleicht die falsche Strategie verfolgt. Am Ende der anderthalb Stunden hoffe ich, dass wir vielleicht einige konkrete Anregungen, erste Schritte mitnehmen, was weiter getan werden kann und wir wollen am Ende auch noch eine kurze Diskussion eröffnen, damit Sie Ihre eigenen Anregungen beitragen können. Gut, also Frau Süssmuth. Es gibt weniger Kandidatinnen für das Europaparlament als vorher, auch im Bundestag ist der Anteil der Frauen nicht mehr unbedingt gestiegen bei der letzten Wahl. Geht jetzt alles wieder zurück oder woran mangelt es? Süssmuth: Also, zunächst mal möchte ich doch positiv betonen, dass der Frauenanteil im Parlament angestiegen ist. Als ich 1987 ins Parlament kam, war der Frauenanteil mit gerade einmal 10 Prozent ebenso niedrig wie zu Zeiten der Weimarer Nationalversammlung. Heute beträgt der Anteil 34 Prozent. Und dann komme ich zur nächsten These: Die Frauen sind immer so stark – in der Beteiligung und im Einfluss – wie sie selbst für etwas kämpfen. Zu erwarten, dass die anderen die Kohlen aus dem Feuer holen und dass die Männer nur auf einen Frauenanteil von 50 Prozent warten, das finde ich nun wirklich eine WolkenKuckucksheim-Politik. Und insofern kann es jetzt auf der Ebene der Beteiligung und der Einflussnahme nur in dem Maße besser werden, wie Frauen sich auch engagieren. Da bin ich beim selbstkritischen Teil. Politik ist eine ungeheuer anstrengende Sache. Das gilt nicht nur in Parlamenten. Wer in Personalräten ist oder in Betriebsräten, der weiß, dass das kein Zuckerschlecken ist. Man kann sich in unserer Frei-

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zeitgesellschaft auch ganz andere Aktivitäten vorstellen, aber man verändert dann auch nichts. Zu diesem Punkt noch einmal: Es war wichtig, dass auf der Pekingkonferenz deutlich wurde: Wo die Frauenbesetzung nicht wenigstens 25 Prozent beträgt, da ist der Einfluss gering. Man muss bärenstark sein oder sich eine Lobby schaffen, die nicht im Ausschuss oder im Kabinett sitzt, sondern außerhalb. Das haben wir ja auch immer mal wieder mit Erfolg versucht. Die andere Möglichkeit wäre, etwas wirklich strukturell zu verändern. Zu guter Letzt möchte ich anmerken: Ich habe zum Teil heute den Eindruck, dass Frauen sagen: ich verderbe mir doch nicht den Ruf mit einem Engagement in frauenpolitischen Dingen. Das schadet meiner Karriere so sehr, dass ich mir lieber neue Wege suche. Erstaunlich dabei ist eben nur: diese Frauen sind eben auch nicht in den Reihen der Finanzministerinnen, der Verteidigungsministerinnen, der Wirtschaftsministerinnen angelangt. Es gibt klassische Ressorts, die sich nur mühsam öffnen. Wir müssen uns klar machen, ob wir dahin wollen oder nicht. Nur verändert man weder Strukturen noch Einflussnahmen, wenn es einem nicht wichtig genug ist, dorthin zu kommen. Statt dessen lässt man sich verhindern. Notwendig ist es, gemeinsam Erfolgsstrategien zu entwickeln und durchzusetzen. Tutt: Frau Leutheusser-Schnarrenberger, warum stockt es, was die Beteiligung oder vielleicht auch die Einflussnahme angeht von Frauen, auch im Bezug auf Europa und vor allem, wie es scheint, auch in Ihrer eigenen Partei? Leutheusser-Schnarrenberger: Also, einmal haben Sie eben die Listen zur Europawahl angesprochen. Es lohnt sich, da genauer hinzuschauen, wo die Frauen denn dann letztendlich sind auf den Listen. Da gibt es ein Wahlrecht, da werden die Listen gestellt und die Reihenfolge kann nicht verändert werden. Das heißt, wenn kleinere Parteien, ich rede jetzt von meiner, sagt, wir kämpfen um die 5-Prozent-Hürde oder 5-Prozent-Klausel, wir hoffen, dass wir reinkommen, was sind realistische Plätze, da sind das, wenn wir die 5-ProzentHürde knapp nehmen, bei allen Imponderabilien vielleicht 6 oder 7 Mandate höchstens. Und dann haben wir immerhin eine Spitzenkandidatin, das ist die Frau mit einem sicheren Platz. Den nächsten Platz hat eine Frau, die ist auf Platz 11, da müssten wir schon das Projekt 18 verwirklichen wollen, was wir ja in der Form ad acta gelegt haben, damit diese Frau reinkäme. Also, man muss schon schauen, wie ist einmal die Bereitschaft da von Frauen, ich spreche jetzt bei meiner Partei, vielleicht auch in eine Kandidatur zu gehen, die von Haus aus nicht nur auf Erfolg angelegt ist. Denn das ist nicht unbedingt erfolgversprechend, wenn man nicht in einem Parlament ist, das hängt von so vielen Dingen ab, die letztendlich auch gar nicht die

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Spitzenkandidatin oder der Spitzenkandidat beeinflussen, ob man dann mit einem Mal wirklich eine reelle Chance bekommt, wie es jetzt aussieht. Und dann ist natürlich nach wie vor die Bereitschaft vielleicht bei manchen – und ich denke auch bei Frauen, das kann ich auch nachvollziehen – nicht so ausgeprägt, zu sagen, jetzt versuche ich da mich einzubringen, nämlich immer dann, wenn es nicht so erfolgreich ist, ist ja immer gerne eine Frau gewünscht. Da halten sich andere dann vornehm zurück. Es war bei der Bundespräsidentenwahl der vergangenen Jahre – auch bei meiner Partei hatten wir hervorragende Kandidatinnen in den vergangenen Jahren – immer wieder so ein Thema, dass es dann vielleicht nicht die Riesenchance ist, denn je nachdem, wie die Mehrheitsverhältnisse sind, sieht es dann am Ende anders aus. Das ist jetzt kein Vorwurf, es ist einfach ein Faktum. Also, ich denke, es liegt einmal mit daran, dass bei kleineren Parteien eher eine geringere Frauenrepräsentanz ist, weil Frauen sich, glaube ich, Gott sei Dank nicht mehr benutzen lassen, um hier vielleicht aussichtslose Kandidaturen wahrzunehmen. Zum anderen, glaube ich, liegt es auch etwas mit daran, dass Frauen das vielleicht noch nicht mit dem ausgeprägten Bewusstsein sagen, und deshalb habe ich diesen Satz gesagt: für mich ist Europa eigentlich der entscheidende Ort, wo auch für Frauen Politik gemacht wird, und zwar auch, wenn viele Frauen sich das in der Form noch nicht so sagen und sehen. Denken wir, wenn man sieht, wie man in den nationalen Parlamenten, nationalen Ebenen, Gremien versucht, doch den Anteil zu verbessern, dann sei das vielleicht noch vorrangig und wichtig. Aber es wird eben doch ein Großteil, Sie haben ja eine Zahl genannt, in der Europäischen Union, in der Kommission, die natürlich fast noch wichtiger von den Entscheidungen her als das Parlament ist, jedenfalls auf den Weg gebracht, die haben immer noch das alleinige Initiativrecht und die Frauen haben das vielleicht einfach bisher noch nicht so gesehen, wie wichtig diese Ebene für Einfluss bei Frauenpolitik ist. Ich hoffe, dass man das auch mehr rausstellt, mehr noch dafür wirbt. Ich könnte mir denken, dass das mit ein Grund ist, natürlich auch neben parteiinternen Strukturen, warum wir jetzt auf keinen Fall eine Verbesserung von Deutschland her bekommen werden, wenn einigermaßen ordentlich gewählt wird, wenn hoffentlich auch viele Frauen wählen gehen. Aber leider können Sie eben die Reihenfolge und die falschen Entscheidungen innerhalb der Parteien nicht noch korrigieren, wie das bei Landtagswahlen ja in manchen Ländern Gott sei Dank der Fall ist. Tutt: Frau Schewe-Gerigk, Ihre Partei hat die Quote, in den verschiedenen Parlamenten sind immer hälftig Männer und Frauen vertreten, weil die Listen eben so bestimmt

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werden, und Sie haben sogar auch, weil Sie eben das Mitbestimmungsrecht haben, in der EU-Kommission eine Kandidatin durchbekommen von Ihrer Partei. Das ging ja damals nicht so ganz reibungslos zu. Können Sie mal beschreiben, was für Schwierigkeiten das auch dann bereitet, wenn man eben die Möglichkeit hat? Schewe-Gerigk: Na ja, nach dem Kompliment von Frau Süssmuth könnte ich mich ja jetzt eigentlich zurücklehnen und sagen, wir haben überall mindestens 50 Prozent, in der Bundestagsfraktion sind es fast 60 Prozent Frauen, aber ich glaube, das ist nicht die Frage. Ob überall genügend sind, ist eine Voraussetzung, die andere Voraussetzung ist, was machen denn diese Frauen da, wenn sie an diese Positionen gekommen sind. Und da muss ich sagen, stelle ich es häufig fest, dass viele Frauen dann auch vergessen, dass sie sich vielleicht früher mal für Fraueninteressen eingesetzt haben, und dann nur noch ihre Inhalte machen. Das ist nicht bei allen so, aber man kennt so etwas. Das heißt, um wirklich eine neue Qualität zu haben und Gender Mainstreaming umzusetzen, bedarf es auch der Frauen und Männer, die in ihren Fachbereichen schauen, wie wirkt diese Maßnahme, die ich beschließe, denn auf Männer und wie wirkt sie auf Frauen, und die dann auch entsprechend andere Handlungen vorschlagen. Zur Frage der EU-Kommissarin, das war nach der gewonnenen Wahl und Die Grünen hatten ja drei Positionen als Minister oder Ministerin im Bundestag bzw. in der Regierung zu stellen. Da hat es einen ziemlich großen Aufstand der Frauen gegeben, als dann plötzlich zwei Männer als Minister vorgeschlagen wurden und nur eine Frau als Ministerin. Da wurde gesagt, das verletzt unser Statut, das geht nicht. Also, wir brauchen hier zwei. Es ist eine wunderbare Lösung dabei herausgekommen, was ja nicht in jedem Falle so ist, aber es war die Stelle einer EU-Kommissarin zu besetzen, einer für Finanzen, also ein richtig hartes Ressort, wie man sagt,obwohl ich die weichen Themen überhaupt nicht weich finde, wie manche das so sagen. Da hat sich wirklich gezeigt, dass hier ein Machtposten zu besetzen war von den Grünen und ich bin sehr froh, dass die Michaele Schreyer das übernommen hat. Und ich denke, sie hat ihre Arbeit auch gut gemacht. Jetzt, wenn das neue Parlament gewählt wird, wird es wieder neue Entscheidungen geben, jetzt haben alle Beitrittsländer auch zusätzliche Kommissare und Kommissarinnen zu bestellen. Wir werden mal schauen, wie das dann mit dem Frauenanteil aussieht. Trotzdem glaube ich, ist es sehr wichtig, dass die Frauen in Europa schauen, welche Politik wird denn da gemacht, und ich muss sagen, die nationalen Parlamente sind ungefähr genauso ausgestattet wie die Europaparlamente. Wenn man die Geschlechtergerechtigkeit haben möchte, muss man vor der eigenen Haustür anfangen, müssen wir in unseren Parlamenten anfangen und wir müssen auch schauen, welche

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Einflüsse es gibt aus Europa. Also, ich kann für meinen Bereich sagen, dass ich froh bin, dass wir viele Richtlinien aus Europa bekommen, weil ich den Eindruck habe, ohne diesen Rückenwind aus Europa hätten wir viel weniger hier in Deutschland, was umgesetzt würde, wir werden ja vielleicht gleich noch mal in die inhaltlichen Themen eingehen. Tutt: Genau, ich wollte nur mal so eine Anfangsrunde. Aber so ganz entlassen wollte ich Sie jetzt noch nicht aus diesem Punkt. Es war ja damals für Die Grünen überhaupt nicht einfach, überhaupt eine entsprechende Frau zu finden für diesen Posten. Und es ist ja auch jetzt beim nächsten Mal vielleicht eine Frage, wie Sie vorgehen werden. Also, es stehen ja wieder ab November Entscheidungen an. Es wird eine neue EU-Kommission geben und Die Grünen werden da ja auch einen Einfluss geltend machen können. Eigentlich müsste ja nach der Zählart der Grünen dann auch wieder eine Frau ran. Schewe-Gerigk: Ich meine, die Verhandlung kann ich jetzt hier natürlich auf dem Podium nicht führen, aber es ist ja nicht so, dass das ganz schwierig war, eine Frau zu finden. Also, Männer findet man ja immer sehr schnell und bei Frauen macht man sich viel Mühe und überlegt sich, welche könnte denn für welche Position auch zu finden sein. Wir haben das jetzt auch bei Gesine Schwan gesehen. Alle haben gesagt, da gibt es doch überhaupt keine Frau und da war eine Frau, die es geschafft hat, aus dem anderen Lager auch noch Frauen auf ihre Seite zu holen. Das heißt, wir müssen auch gucken, wo sind die Frauen und welches Profil haben die Frauen, und sie auch entsprechend einsetzen. Immer zu sagen, da gibt es keine, auf dieses Spiel möchte ich mich nicht einlassen. Süssmuth: Aber leider wird es im Moment so intoniert, dass keiner davon spricht, dass Frau Schreyer noch einmal eine Legislaturperiode Kommissarin bleiben könnte, sondern, dass Herr Verheugen, der zweite Kommissar aus Deutschland, Gewicht hat. Er hat einen hervorragenden Job gemacht als Erweiterungskommissar, sodass er zu Recht für einen möglichen Superkommissarposten im Gespräch ist. Die Weichen sind fast gestellt, so dass im Moment die Chancen nicht sehr groß sind, möglichst viele Frauen in Europa auf einflussreiche Posten zu bringen. Schewe-Gerigk: Es ist natürlich „Kaffeesatz lesen“ jetzt, das ist überhaupt keine Frage.

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Süssmuth: Andererseits sollte man auch nicht die „Kabinettsposten“ unterbewerten. Tutt: Die persönlichen Kabinetts, also der Stab des Kommissars? Süssmuth: Der Stab ist nicht zu unterschätzen. Wer da eine Generaldirektion innehat, der ist auf einem bedeutenden Posten. Ich würde gerne noch einen Gedanken ergänzen anhand eines Beispiels. Nach der Zuwanderungskommission wurde ein kleinerer Zuwanderungsrat in einer Zusammensetzung gebildet, in der ich die einzige Frau bin. Ich bin in einer globalen Kommission, die Kofi Annan zusammengestellt hat mit einem Frauenanteil von 40 Prozent. Frauen aus aller Welt. Es ist also nicht so, dass sie nicht da wären, und Frauen aus Indien, aus den Philippinen, aus Afrika haben ein starkes Selbstwertgefühl und wissen, wofür sie kämpfen. Wir brauchen rechtliche Regelungen und die praktische Umsetzung. Von einem bin ich überzeugt: Wir brauchen die Verankerung im Recht, im Statut, sonst bleiben wir Bittstellerinnen. Die Verankerung im Recht ist das A und O, ist eine unverzichtbare Voraussetzung, um Beteiligung und Teilhabe an Macht zu gewährleisten. Tutt: Aus Ihren Aussagen, die Sie gerade in der ersten Runde gemacht haben, hört man ja schon ein bisschen so heraus, wir sind im Grunde auch immer wieder auf uns selber zurückgeworfen. Die Frauen haben es oft noch nicht kapiert. Deshalb auch eben ihr erster Ansatz, wir brauchen eben doch mehr, was rechtlich festgesetzt ist und damit eine verlässliche Grundlage bildet. Gut. Da sind ja einige Ansätze, einige Initiativen von europäischer Seite, von der EU-Kommission, die unmittelbar einwirken auf deutsches Recht und die binden würden. Das prominenteste Beispiel sind wahrscheinlich die zwei Antidiskriminierungsrichtlinien, die unbedingt in deutsches Recht umgesetzt werden müssen. Andere Länder in Europa hatten das schon, bevor es diese Richtlinie gab. Jetzt sind alle gezwungen. Deutschland hinkt enorm hinterher. Konkret geht es um zwei Richtlinien, die eine davon legt fest, dass Diskriminierung am Arbeitsplatz verhindert werden soll. Da ist eine Art Beweislastumkehr vorgesehen oder zumindest mit Beweiserleichterung, dass, wenn Frauen diskriminiert werden, sie besser dagegen vorgehen können. Und das andere ist eine Richtlinie, die sich vor allem um die Diskriminierungen wegen Religionszugehörigkeit oder aber auch wegen der sexuellen Orientierung und anderen Dingen beschäftigt.

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In der Mache ist im Moment noch eine dritte europäische Richtlinie, die ist noch nicht durchgekommen. Sie wird vielleicht auch nicht durchkommen. Sie soll Frauen im Wirtschaftsleben besser stellen, z.B. durch einheitliche Versicherungstarife oder eben auch, dass man besser vorgehen kann, wenn man als Frau einen Kredit verweigert bekommt bei einer Bank: die Bank muss sich dann künftig anders absichern oder anders argumentieren, wenn sie abweist. Was schafft denn so eine Richtlinie, was kann die denn konkret in Deutschland verbessern, Frau Süssmuth?

sogenannte ethnische Herkunft und die Rasse, was ja ein furchtbarer Begriff an sich ist, aber der ist im europäischen Recht so vorgesehen, und wir haben als Grüne gesagt, und kämpfen da auch noch mit unserer Koalitionspartnerin, es kann nicht sein, dass man unterschiedlichen Schutz hat. Also, diejenigen, die aufgrund ihrer Rasse und Ethnie diskriminiert werden, die haben den vollen Schutz, diejenigen, die aufgrund einer Behinderung diskriminiert werden, bekommen ein bisschen Schutz und die anderen bekommen überhaupt nichts.

Süssmuth:

Wir möchten gerne als Grüne, jetzt spreche ich erst mal als Grüne, die SPD ist hier leider nicht vertreten, aber das nehme ich gleich unter Rot-Grün mit rein, wir möchten als Grüne, dass sowohl im Zivilrecht als auch im Arbeitsrecht ein Gesetz gemacht wird mit den gleichen Regelungen, weil wir sagen, es muss doch der Nachweis erst mal erbracht werden, ist die Migrantin diskriminiert worden, weil sie Migrantin ist oder weil sie Frau ist und das macht uns schon ziemlich zu schaffen. Diese letzten Richtlinien sind bis 2005 umzusetzen, insofern haben wir da noch ein bisschen Zeit.

Wie wir bei der Gleichstellung am Arbeitsplatz oder bei der Frauenförderung schon erfahren durften, basiert sie auf Rechtsansprüchen. Verankert sind auch Einspruchsrechte, Klagerechte und damit Durchsetzungsrechte. Ich finde, dass wir Frauen in Deutschland immens vom europäischen Recht profitiert haben. Es kommt auch nicht von ungefähr, dass beide Richtlinien erheblich verspätet in Deutschland zum Zuge kommen und wir wissen, diese würde die Frauen stärken. Deswegen würde ich das nicht unterschätzen. Es ändert noch nicht zwingend Bewusstsein und Handeln, wie folgendes Beispiel zeigt. Unlängst ordnete der Chef bei Mitzuhon – das ist eine Textilfirma im westfälischen Raum – an: wir wollen wie in den Medien an den Verkaufsständen keine älteren Frauen mehr haben. Das ist eine skandalöse Diskriminierung. Wo kommt eigentlich eine Gesellschaft hin, die so etwas tut? In dem Augenblick, wo europäisches Recht Gesetz ist, auch wenn die Richtlinie noch nicht in Deutschland umgesetzt ist, kann sich die Betroffene oder hier die betroffene Gruppe darauf berufen. Ich finde, das ist wichtig, dass wir das wenigstens zur Kenntnis nehmen. Tutt: Frau Schewe-Gerigk, warum hakt es so, die Umsetzung dieser Richtlinie, die ja eigentlich genau dem entsprechen müsste, für was Rot-Grün steht? Schewe-Gerigk: Ja, das können Sie wohl sagen. Wir hatten auch am Ende der letzten Legislaturperiode bereits damit begonnen, diese Gesetze zu machen und dann kam ein unglaublicher Gegendruck, der kam aus der Wirtschaft, der kam von Versicherungsunternehmen, der kam von der Kirche. Also, man kann ja auch niemanden aufgrund seiner oder ihrer Religion diskriminieren. Und da hat es solch eine starke, so einen starken und massiven Druck gegeben, dieses Gesetz jetzt nicht zu formulieren, dass wir das rübergezogen haben in die nächste Legislaturperiode und ich meine, der Druck ist nicht weniger geworden und man muss sich jetzt mal entscheiden. Wenn wir die Richtlinien eins zu eins umsetzen, dann haben wir da im Zivilrecht nur die

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Ich sehe das wie Frau Süssmuth, wir haben keine Antidiskriminierungspolitik in Deutschland. Das gab es früher hier gar nicht, in Amerika ist das ganz anders und hat ja auch viel gebracht. Wir müssen wirklich das hier bei uns auch etablieren und das Gesetz alleine hat schon einen wichtigen Wert. Aber ich finde, wir müssen auch an der Durchsetzung arbeiten und da wollen wir als Grüne ein Verbandsklagerecht, wenn jemand aufgrund seines oder ihres Geschlechts diskriminiert wird, dass diese Person dann sagen kann, das ist nicht nur mein Einzelfall, sondern das betrifft eine Gruppe von Frauen, von Menschen mit Behinderung und hier muss ein Verband klagen können. Ob das eine Gewerkschaft ist oder ob das ein Frauenverband ist, da möchten wir wirklich die Stärkung haben, weil man kollektiv benachteiligt wird und nicht die eine Frau, weil sie die Frau Müller ist, sondern weil das Geschlecht diskriminiert wird, und ich glaube, das wäre ein sehr starkes Mittel, um erst mal die Diskriminierung deutlich zu machen und da möglicherweise Klage zu erheben. Und auch hier haben wir z.B. von der Schweiz gehört, wo es das gibt. Es gibt ganz wenig Klagen, weil sich alle im Vorfeld schon einigen; wenn das so ist, ist das doch prima. Aber man braucht ein Instrument, um zu sagen, damit kann ich das durchsetzen. Oder bei Diskriminierung vom materiellen und immateriellen Schaden, dass auch hier das bezahlt wird, was tatsächlich an Schaden entstanden ist, damit das auch abschreckend wirkt bei den Arbeitgebern. Früher war es so, da musste der Arbeitgeber die Portokosten erstatten für die Bewerbung, die die Frau geschrieben hat. Ich meine, in solche Zeiten wollen wir nicht zurück und darum möchten wir ein starkes Gesetz, das wirklich auch hilft, diese Ansprüche durchzusetzen und darum dauert es jetzt noch so lange, aber ich kann Ihnen sagen, wir sind schon einen großen

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Schritt weiter, es wird wohl in der Sommerpause oder nach der Sommerpause direkt die erste Lesung des Gesetzes stattfinden. Tutt: Frau Schewe-Gerigk hat gerade den Umstand beschrieben, dass die EU-Kommission oft minimale Anforderungen vorgibt, dass aber jetzt in dem Fall eben die deutsche Debatte auch darum geht, mehr zu verankern und mehr rechtlich festzulegen. Gegen Sie steht aber doch die Bundesjustizministerin, Frau Zypries, und auch im Wirtschaftsministerium wird eben das anders gesehen als bei den Grünen, nämlich eben eher als ein minimaler Schutz und nicht als ein so weiträumiger Schutz, wie Sie sagen, also insofern haben Sie ja wenig Chancen, oder? Schewe-Gerigk: Na ja, es gibt große Interessengruppen, die ihre Privilegien natürlich verteidigen, und die in den Ministerien stehen und sagen, wenn das kommt, dann geht die Welt unter. Ich nehme nur das Beispiel Unisex-Tarife bei der Riester-Rente, wo wir es nun endlich mal geschafft haben, dass Frauen nicht 15 Prozent mehr einzahlen müssen, damit sie die gleiche Rente wie Männer bekommen. Und das war ein Kampf. Ich persön lich habe dafür zwei Jahre lang gekämpft und es schien aussichtslos, es wäre ohne die Frauen der anderen Fraktionen und den massiven Druck, auch von den Gewerkschaften, überhaupt nicht durchgekommen, weil die Versicherungsindustrie natürlich stark ist, das ist doch klar. Aber hier haben wir gesagt, da ist der Staat in der Pflicht, da muss er das machen. Ich denke, dass das auch richtig ist für andere Tarife.

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linie zusammenhängen, auch wenn dieser Teil eben noch nicht Vorgabe ist, können wir auch erst darüber sprechen. Gegen Ihre Sichtweise spricht ja, dass Versicherungsprodukte, die geschlechtereinheitlich ausgerechnet werden, oft teurere Produkte sind. Die Argumentation der Versicherungsbranche ist: wenn ich z.B. als Krankenversicherer oder als Rentenversicherer davon ausgehen muss, dass ich potentiell bis zu 100 Prozent weibliche Kundschaft habe, dann werde ich natürlich im Zweifelsfall für alle den Preis ansetzen müssen, den ich für einen Frauentarif bislang angesetzt habe. Und wenn ich einen billigen Preis ansetze, dann kommen ja alle Frauen sowieso zu mir und dann habe ich auf die Dauer ein massives Deckungsproblem, denn dann kann ich ja nicht mehr alles bedienen, was ich zugesichert habe. Insofern lässt es sich nicht ganz von der Hand weisen: es ist ja auch so, dass die Riester-Rente, daran zeigt es sich ja teilweise dann schon, teurer geworden ist. Das Preis-Leistungs-Verhältnis von Einzahlungen und ausgezahlten Leistungen hat sich verschlechtert und es sind auch hier maßgeblich Frauen, die dieses Produkt nachfragen. Männer können sich woanders versichern und haben ein besseres Preis-Leistungs-Verhältnis, wenn es nicht anderweitig übergeordnet verbindlich festgelegt ist, dass es einen unterschiedlichen Männer- und Frauentarif nicht geben darf. Männer werden sich andere Wege suchen, dann ist es halt ein Frauenprodukt. Schewe-Gerigk: Da frage ich Sie, warum die Frauen, die die Riester-Rente ja zu 15 Prozent teurer einkaufen müssen, warum die nicht in andere Produkte gegangen sind? Das ist genau das Gegenargument dazu oder ich frage, warum unterscheidet man nicht, dass man sagt, wir machen jetzt einen Satz für Migrantinnen, die leben weniger lange oder wir machen zeitweise einen Satz und unterbrechen den anderen. Also, man könnte doch auch darauf kommen, nach Ost und West differenzieren: nach wie vor ist im Osten die Lebenserwartung immer noch niedriger als im Westen, da könnte man sagen, im Osten werden die Tarife billiger, im Westen werden sie teurer. Also, das ist doch alles sehr willkürlich, die Differenzierung nach dem Geschlecht zu machen.

Also, Sie sprachen von der Richtlinie, die Frau Diamantopoulou ja noch machen wollte, wo es um den Zuwachs zu Waren und Dienstleistungen geht. Ich bin der Meinung, auch da müssen wir gleiche Tarife haben. Es werden auch mal Männer bevorzugt, bei der Kraftfahrtversicherung z.B. zahlen Männern mehr als Frauen, weil Frauen offensichtlich besser fahren. Man muss andere Kriterien finden, denn die Differenz, die Differenz in der Lebenserwartung, die wird ja immer dann hervorgeholt, wenn die Frauen mehr zahlen sollen, weil sie älter werden. Die Differenz ist zwischen Männern mit unterschiedlichen Berufen, also ein Maurer und ein Professor, viel größer als die Differenz im Durchschnitt zwischen Männern und Frauen. Und darum sage ich, ist es ein unzulässiges Instrument, nach dem Geschlecht zu unterscheiden. Und deshalb möchte ich gerne, dass das auch verankert wird und wir kämpfen da hart.

Ja, also bei Frauen muss man natürlich sagen, die Riester-Rente ist für Frauen eine passable Lösung, aber Männer können sich anderswo billiger einkaufen, das ist halt der Punkt. Diesen Einwurf lasse ich natürlich so gelten, das stimmt. Frauen sind natürlich keine Minderheit, Frauen sind potentiell die Hälfte der Versicherungskunden, insofern lohnt es sich da mehr, zu diskriminieren.

Tutt:

Leutheusser-Schnarrenberger:

Ich wollte jetzt eigentlich erst mal auf den EuGH zu sprechen kommen, aber wenn wir jetzt schon bei den Unisex-Tarifen sind, die ja mit der Antidiskriminierungsricht-

Man muss mal hinterfragen, warum denn unterschiedliche Tarife bisher eben da angesetzt werden. Da wird immer sehr argumentiert mit dem Alter. Frauen werden

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Tutt:

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im Durchschnitt älter als Männer. Aber mal genau zu untersuchen, wie ist das denn mit der Krankheit, was für Krankheiten haben Frauen, wie anfällig sind sie, was verursachen sie da für Kosten? Da kommen dann ganz andere Zahlen raus. Da kann ich eben nicht nur dieses eine Kriterium des Älterwerdens – wegen dem die Frauen ja sonst immer gerühmt werden – da es sich jetzt einmal in sein Gegenteil verkehren soll, zugrundelegen, sondern, da muss ich schon anders zu Werke gehen. Mit dieser reinen Versicherungstechnik, denke ich, wird man wirklich der Situation nicht gerecht und ich finde es gut, dass darüber intensiv diskutiert wird, auch und gerade jetzt, wo noch eine Richtlinie ja beraten wird. Die Richtlinie ist vom Dezember letzten Jahres und war ja innerhalb der Kommission auch schon sehr kontrovers. Wir kriegen jetzt einen Stillstand, weil einfach ein Umbruch da ist. Diese Diskussion, die bewegt unheimlich was.

eins, das ist so das Mindeste, was kommen muss, wenn gar nichts anderes geht, das ist es dann immer noch besser, als wenn gar nichts wäre – oder versucht man, mehr zu erreichen? Ich finde es von daher richtig, wenn man versucht, mehr durchzusetzen, aber letztendlich muss man auf alle Fälle eine Entwicklung in Gang setzen, die zu Veränderungen führt. Denn, wenn Deutschland wiederum in einen solchen Fristablauf kommt, tritt der kurz bezeichnete Mechanismus ein und der ist nun einer – weil es dann Bares kostet, und zwar die Staatskasse – der wirklich Druck auf politische Entscheidungsträger ausübt. Und ich finde, damit kann man auch argumentieren, das ist ein gutes Argument: auch wenn das kein Argument in der Sache ist, befördert und beschleunigt es die Argumentation der anderen Seite in der Sache ganz erheblich.

In meiner Fraktion ist es mit Sicherheit noch viel schwieriger, auch in meiner Partei, als bei Ihnen. Weil da sitzen nun gerade auch die Versicherungen als Lobby und zwar so, also sei das alles ganz entsetzlich. Wir haben als Frauen sehr früh und ganz klar gesagt, wir sind für Unisex-Tarife, also diese einheitlichen Tarife, jedenfalls keine unterschiedliche Bewertung nach dem Geschlecht. Wir haben zig Debatten in der Fraktion gehabt, haben dann bei Abstimmungen auch gesagt, da verhalten wir uns als Frauen anders und pro Unisex-Tarife, aber es ist bei uns im Moment nicht die Mehrheit bei den Entscheidungen, die anstehen, wo man diesen Gesichtspunkt berücksichtigen kann oder nicht. Also, es ist wirklich extrem mühsam, aber ich merke, dass schon jetzt, also in den laufenden Gesprächen deutlich wird, dass unsere Gesprächspartner – ich meine unsere männlichen Kollegen – sehen, dass an den Argumenten ja was dran ist, dass man hier auf die Dauer sehr wohl zu einer anderen Praxis und zu einer anderen Realität kommen muss.

Jetzt sind wir fast schon beim EuGH. Ist da jetzt schon ein Einwurf?

Ich denke, an diesen Richtlinien aus der EU ist eines tragend wichtig: die sind einfach mit Druck versehen. Wenn ein Land sie nicht umsetzt und die Frist verstreicht, kann es verklagt werden – Stichwort: Vertragsverletzungsverfahren – und es kann sogar Klagen geben von Personen, die durch diese Richtlinie begünstigt wären, aber benachteiligt sind, weil das nationale Recht nicht geändert ist. Dann gibt es ein sogenanntes legislatives Unrecht, weil eben der Gesetzgeber nichts gemacht hat. Durchs Nichtstun versetzt der die, ich sage mal in diesem Fall Frauen, wirklich in eine schlechtere Lage und es gibt schon Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofes, auch Deutschland betreffend, damals bei der Reisepauschalrichtlinie, wo dann der Staat verurteilt worden ist auf Schadensersatz. Also, das ist eben das, was auch Frau Süssmuth meint, wenn es „im Recht verankert“ ist, dann wirkt es sich natürlich auch anders aus, weil man dann nicht dran vorbeikommt. Und dann ist die Frage: wie macht man es in der konkreten Ausgestaltung? Macht man es eins zu

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Tutt:

Schewe-Gerigk: Also, ich wollte eigentlich einen Einwurf bringen zu dem, was Sie gerade gesagt haben, Frau Leutheusser-Schnarrenberger. Sie erwecken jetzt so den Eindruck, als seien die FDP oder auch nur die Frauen innerhalb der FDP alle für die gleichen Tarife für Männer und Frauen gewesen. Also, die Vertreterin der FDP im Frauenausschuss war die Einzige, die nicht dafür gestimmt hat. Wir haben das ja interfraktionell versucht. Und wenn Sie jetzt sagen, eins zu eins umsetzen... Wir haben gesagt, jetzt haben wir schon das Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft nicht bekommen, weil der Kanzler die private Vereinbarung mit den Wirtschaftsverbänden gemacht hat – mit den Verbänden, nicht mit den einzelnen Unternehmen – insofern muss sich da kein Mensch wundern, dass da nichts rauskommt. Und da haben wir gesagt, gut, als Gegenzug bekommen wir dann aber die Chance, bei der Umsetzung der EURichtlinie mehr zu machen, als nur eins zu eins und deshalb müssen wir einfach darauf bestehen, damit sich da was ändert. Tutt: Noch ein Einwurf? Süssmuth: Es ist kein Einwurf, sondern etwas, was ich hinzufügen möchte. Wir können nicht erwarten, dass wir im Sinne von Frauensolidarität, auch bei solch kniffligen und wichtigen Fragen, alle Frauen hinter uns bekommen. Aber Erfahrungen beweisen: je größer die Geschlossenheit interfraktionell, desto größer die Aussicht auf Erfolg: ob das Vergewaltigung in der Ehe war, der 218er-Kompromiss oder auch Unisex-Tarife. Sie haben aus allen Fraktionen immer einzelne Frauen, die erklären: „Aber nicht mit mir“.

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Es wäre viel gewonnen, wenn diese Frauen sich in der entscheidenden Phase zurückhielten, damit die Mehrheit gestärkt wird.

jemand persönlich sich in der Situation wiederfindet, diskriminiert zu sein, bis vor den EuGH zu gelangen?

Tutt:

Leutheusser-Schnarrenberger:

Gut, jetzt wollte ich endlich zum EuGH kommen. Das ist dann jenseits der Rechtssetzung, die von Europa kommt, eben das Mittel der Wahl, um bestimmte Dinge einzuklagen. Was ist denn für Sie ein Beispiel, wo eine EuGH-Klage durchschlagenden Erfolg im Interesse der Frauen hatte?

Es ist sehr mühsam. Da bedarf es der Bereitschaft, auch viele Hürden zu nehmen. Man kommt ja häufig nicht direkt zum EuGH, man muss zu erst den nationalen Instanzenweg, wie das so schön heißt, beschreiten. Es kostet Geld, man braucht einen Anwalt, teilweise Anwaltszwang, Anwaltspflicht, aber da sind ja Gott sei Dank auch Verbände da, die dann auch Einzelne so unterstützen, dass sie ihre Rechte effektiv wahrnehmen können. Aber es ist ganz schön mühsam und es dauert lange, es können darüber Jahre hinweg gehen, aber ich sage das ganz persönlich – beim Lauschangriff hat heute auch keiner mehr gedacht, wie das Urteil kommt; das hat fünf Jahre gedauert und es war acht Jahre nach meinem Rücktritt und jetzt habe ich zu 2/3 Recht bekommen – also lohnt es sich wirklich, auch bei diesen Dingen einfach zu sagen, man geht diesen steinigen Weg in wirklich grundlegenden Fragen. Ich würde auf keinen Fall, ich bin ja auch Anwältin, jemanden beraten und sagen, also probieren wir es mal bis zum EuGH. Dazu ist das einfach zu aufwendig, das muss dann eine wirklich grundlegende Frage sein, aber ich würde das dann immer auch als eine Möglichkeit sehen, die auch für andere etwas bewirkt.

Leutheusser-Schnarrenberger: Ich denke, was wahrscheinlich am meisten in Erinnerung ist, ist das Urteil über, ja zu dem Recht in Deutschland, dass Frauen nicht in die Bundeswehr dürfen. Das hat eine Debatte in Gang gesetzt, egal, wie man das Thema politisch zwischen den Parteien hier in Deutschland früher behandelt hat. Und da war die Debatte nicht nur über diesen konkreten Fall, sondern, sie ging ja in die Richtung: Darf das der EuGH überhaupt? Hat der nicht seine Kompetenzen überschritten? Was bedeutet das, wenn jetzt der EuGH daherkommt und mit seinen Maßstäben so in unser Rechtssystem eingreift. Also, das waren ja ganz grundlegende Debatten, weil nämlich die, die die Auswirkungen befürchten, gesehen haben: wenn sie das nicht grundsätzlich verhindern können – strukturell verhindern können – dann wird das natürlich in anderen Fällen auch so sein. Das ist für mich deshalb wirklich eines der wichtigen Urteile aus den letzten Jahren, gerade für Frauen, weil eben deutlich geworden ist, der EuGH hat hier die Möglichkeit, weil allgemeine Prinzipien und Grundsätze, die auch in Richtlinien in der Gesetzgebung der Europäischen Union festgelegt waren, verletzt worden sind. Sie haben nicht vorgeschrieben, wie wir damit umgehen, die Umsetzung haben sie Deutschland frei gelassen, aber sie haben gesagt, die Regelung, wie Ihr sie jetzt habt, wie Ihr das praktiziert, die geht so nicht. Das hat eben diese Debatte in Gang gesetzt und das wünsche ich mir einfach öfter, weil dann immer noch viel Spielraum für die – ja – politische Kreativität in Deutschland gegeben ist. Es ist also falsch, wie immer argumentiert wurde, jetzt hätte quasi der EuGH vorgeschrieben, dass hier Frauen in die Bundeswehr müssen. Weit gefehlt, überhaupt nicht der Fall, aber man hat damit gesehen: Der Einfluss der europäischen Institutionen – gerade auch des EuGH – ist immens und der EuGH hat von den Möglichkeiten ohne Grundrechte-Charta – die gibt es ja noch nicht verbindlich in der Europäischen Union – doch schon häufig Gebrauch gemacht. Ich finde, der EuGH war da immer mutig und Vorreiter und deshalb ist er in Deutschland auch immer kritisiert worden. Tutt: Andersherum mal gefragt. Wenn der EuGH denn so viel Einfluss hat, gerade auch im Arbeitsrecht und im öffentlichen Leben – wie realistisch ist es denn, wenn eben

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Tutt: Gehen wir noch einmal eine Stufe zurück, bleiben aber in Europa. Die europäische Verfassung, die so stark debattiert wird und noch nicht ganz ausformuliert ist, ist zumindest noch in einigen Punkten umstritten. Gibt es denn, ich frage jetzt am besten wieder Sie, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, weil Sie Juristin sind und europapolitische Sprecherin, ist die europäische Verfassung ein Rückschritt, was Fraueninteressen angeht oder einfach keine Verbesserung? Leutheusser-Schnarrenberger: Also, Rückschritt würde ich nicht sagen. Ich denke, in der Grundrechte-Charta sind schon die Grundsätze, die wir nie in unsere Verfassung bekommen haben, allein gleicher Lohn für gleiche Arbeit – das ist zwar inzwischen bei uns auch entwickelt, aber nicht in der Realität angekommen – das steht dort in der Verfassung künftig drin. Das haben wir jetzt auch schon, aber es wird noch mal verstärkt durch einen Artikel in der Grundrechte-Charta. Ich meine, insgesamt hätte man natürlich mehr machen können, es war ja die Forderung, ein eigenes Kapitel vorzusehen, das die Stellung von Frauen angeht, also so einen Querschnittsartikel oder ein Kapitel aufzunehmen und dort konzentriert die Regelungen zu benennen, auch der Juristinnenbund hat noch weitergehende Vorschläge gehabt. Aber, wenn ich mal solche

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Maßstäbe, auch nationale anlege, denke ich, bekommen wir einen Fortschritt mit der europäischen Verfassung. Leider können wir ja auch nicht alleine die Verfassung schreiben – und die Frauen haben sie auch nicht geschrieben, die hätten sie anders geschrieben, wie wahrscheinlich auch jede Partei für sich sie anders geschrieben hätte in gewissen Akzenten – aber ich denke mal, insgesamt halte ich die europäische Verfassung doch eher für eine positive Entwicklung. Tutt: Frau Schewe-Gerigk, wenn man jetzt in der Verfassung Gender Mainstreaming reingeschrieben hätte, was ja viele Europapolitikerinnen gefordert haben, was hätten Sie denn dann für Unterschiede oder für eine bessere Situation erwartet? Was würde den Unterschied ausmachen? Schewe-Gerigk: Ja, Gender Mainstreaming wird ja immer so diskutiert, als hätte man gestern die Frauenpolitik gehabt und heute hätte man Gender Mainstreaming. Das ist ja nicht der Fall. Wir brauchen eine gute Gleichstellungspolitik und wir brauchen Gender Mainstreaming als ein zusätzliches Instrument, so dass jede Entscheiderin und jeder Entscheider guckt, wie wirkt die Maßnahme. Ich hätte es gut gefunden und ich muss sagen, es hat ja viele Organisationen gegeben, die auch an der EU-Verfassung Kritik geäußert haben. Es hat viele Frauenorganisationen gegeben, die geholfen haben, dass das, was jetzt drinsteht, auch tatsächlich umgesetzt wurde. Und wenn wir gerade bei dem Prinzip Gender Mainstreaming sind: wir mussten unserem grünen Außenminister erst mal mit als Hausarbeit geben, dass er tatsächlich auch in der EUVerfassung diese Dinge durchsetzt. Das war auch nicht von vorneherein klar, dass das was mit Frauen zu tun hat. Und da war ich ganz froh, dass einige Sachen doch wirklich nun doch in der Verfassung stehen, andere, die wir uns gewünscht hätten – also ich hätte ein eigenes Kapitel Frauenpolitik auch wichtig gefunden in dieser europäischen Verfassung – das wurde jetzt leider nicht durchgesetzt. Ich sehe das aber ähnlich wie Frau Leutheusser-Schnarrenberger, dass das, was jetzt verankert wurde, mindestens deutscher Standard ist, vielleicht sogar ein bisschen darüber hinaus. Tutt: Gut, wir haben jetzt im letzten Teil gerade besprochen, wie die verschiedenen EUInstitutionen prägen und einwirken auf das Leben in Deutschland. Mich würde jetzt aber mal folgendes interessieren: warum denken Sie, dass immer noch so wahnsinnige Unterschiede herrschen, was die Beteiligung und gerade auch die inhaltliche Beteiligung von Frauen an Entscheidungen angeht? In Deutschland werden manche

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Vorgaben sehr langsam umgesetzt, aber es sind letztlich oft nationale Initiativen oder Gesetze, Vorbilder aus andern Ländern, die die Situation auf die Dauer konkret verbessern – in Frankreich, in Skandinavien sind andere gewachsene Strukturen und deshalb auch andere Möglichkeiten, etwas einzufordern. Was ist für Sie Vorbild an Skandinavien, Frau Süssmuth? Süssmuth: Das skandinavische Konzept oder die skandinavischen Konzepte gehen von einer selbstverständlicheren Gleichberechtigung aus. In Deutschland hingegen haben wir unendlich viel Zeit verloren durch nicht endende ideologische Debatten über die Rolle der Frau. Und das hört immer noch nicht auf. Nach dem Motto, wir sind doch anders, suchen wir nach künstlichen Unterschieden, die aber meistens auf die Kinderfrage gerichtet ist. Das wird zu häufig als reine Frauenfrage behandelt, obwohl das Männer genauso angeht. In den skandinavischen Ländern haben wir den höchsten Frauenerwerbsanteil und die höchste Kinderzahl. Wenn wir im Jahre 2004 noch so tun, als entdeckten wir die ganztätige Betreuung als etwas ganz Neues, dann frage ich mich: auf welchem Planeten befinden wir uns eigentlich? Es ist zwar allen Beteiligten bewusst, dass soziale Veränderungsprozesse länger brauchen als technische. Es gibt aber Nationen, die eine erstaunliche Bremswirkung haben und andere, die sich eher mit einem normalen Rhythmus auf Veränderungen einlassen. Das sehe ich als tieferen Grund in Deutschland und insofern machen wir es auch der jüngeren Frauengeneration sehr schwer. Schwerer als meiner eigenen. Wenn sie alles können sollen und alles gleichzeitig machen sollen, muss man sich fragen, wie muss dieses Wesen Frau beschaffen sein. Bisher nahm man immer an, der Mann sei multifunktional, faktisch sind es aber vor allem die Frauen. Deswegen ist dies jetzt ein ganz entscheidender Zeitpunkt, wo wir in veränderter Weise über Vereinbarkeiten neu nachdenken müssen, über unterschiedliche Zeiten und auch Zeitverläufe in der Biographie, statt uns nur drängen zu lassen von den Globalisierungsmustern der beschleunigten Zeit. Für die Frauen gibt es eine Menge zu tun. Das heißt, neue Themen zu besetzen und andere Lösungsansätze vorzubringen als wir im Augenblick präsentieren, wenn wir Verweigerung oder ein Mehr an psychisch-physischer Erkrankung verhindern wollen. Diese wichtige Faktoren muss man nicht länger tabuisieren: in unserer Gesellschaft darf man nicht krank sein. Aber ich finde, wir müssen die krankmachenden Faktoren und die befreienden Faktoren zum Thema machen. Denn es gibt einen erheblichen Anteil an Frauen, die zum Beispiel Kinder möchten. Dieser unerfüllte Kinderwunsch hat immer häufiger psychische Spätfolgen. Hier handelt es sich nicht einfach nur um eine individuelle Entscheidung, weil dahinter auch gesellschaftliche Zwänge stehen. Wer sich ganz bewusst

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gegen Kinder entschieden hat, das ist eine persönliche Entscheidung. Im Augenblick ermöglichen wir wenig an neuen Perspektiven zur Vereinbarkeit. Auf diesem Feld brauchen wir viel „brain trust“, neue Ideen und Projekte. Da liegen die tieferen Gründe, warum Frauen und immer wieder auch Männer zurück zum Alten wollen. Eine Rückkehr zum Alten ist nicht die Lösung. Vielmehr erhöhen Sie damit oft die Friktionen und Konflikte. Tutt: Sie wollen kurz was sagen? Schewe-Gerigk: Kurz noch mal zu den Kindern. Also, Frau Süssmuth, es war sicherlich Ihr Verdienst, dass Sie das Bild der Frau, der modernen Frau in der CDU, anders geprägt haben als das vorher der Fall war. Ich glaube aber, dass wir so wenig Kinder haben auch wegen der konservativen Familienpolitik der CDU, wo sich die Frauen entscheiden mussten: möchte ich denn eigentlich zu Hause bleiben und Kinder haben oder kann ich erwerbstätig sein? Und wenn heute 44 Prozent der Akademikerinnen kinderlos bleiben, dann hat das nicht mehr mit Biologie etwas zu tun, sondern damit, dass sich diese Frauen allein gelassen fühlen, dass sie eigentlich beides möchten, aber damals war es ja wirklich unfein, Kinder den ganzen Tag überhaupt in einen Hort zu geben oder jetzt die Betreuung unter drei, das wird ja von vielen auch konterkariert. Erst, als die Wirtschaft entdeckt hat, wir brauchen die Arbeitskräfte und diese Arbeitskräfte, sie gehen uns 2015 aus, wurde auf einmal die Debatte Zuwanderung geführt, da wurde die Debatte mit den Kindern geführt. Ich glaube, dass es wichtig ist, dass Politik Rahmenbedingungen schafft, dass Frauen Kinder bekommen können, dass Frauen erwerbstätig sein können, ebenso wie das Männer machen. Und was wir da an Frauenleben teilweise zerstören, das ist einfach nicht richtig. Wir können die soziale Frage stellen, aber dann kommt immer wieder die ökonomische Frage und die ökonomische Frage überlagert alles, wenn Kinder gebraucht werden, wenn unsere sozialen Sicherungssysteme nicht mehr halten, dann erst wird es diskutiert. Aber dass Menschen, die sich für Kinder entscheiden möchten, dies auch tun können müssen, zeigen die Umfragen vom Jugendinstitut. Fragen Sie junge Menschen, dann sagen die, ja wir möchten gerne zusammenleben, Kinder haben und in der Wirklichkeit können sie es dann nicht, weil eben die Gesellschaft sagt, du musst dich für das eine oder andere entscheiden. Und hier glaube ich, ist auch wichtig, dass Frauen da vorangehen und Möglichkeiten schaffen für andere Frauen. Dann ist mir da auch wirklich nicht Bange, aber da müssen wir noch ein ganzes Stück an Arbeit leisten und die U-3-Betreuung, die jetzt gerade zur Diskussion steht, wird vielen Frauen helfen, dass die Kinder qualifiziert betreut werden und sie selbst erwerbstätig sein können.

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Tutt: Möchten Sie dazu unmittelbar etwas entgegnen...? – bitte, Frau LeutheusserSchnarrenberger Leutheusser-Schnarrenberger: Ich möchte noch eine Bemerkung zu der Debatte machen, denn das alles debattieren wir seit Jahren, Ganztagsschule, Betreuung, Horte. Letztendlich ist das aber ein Gegenstand der Kommunalpolitik und Sache der Kommunalpolitiker, und nach deren Ansicht ist heute alles schlechter, weil es am Geld fehlt, weil dann auch wo anders wieder Prioritäten gesetzt werden. Also debattieren wir seit Jahren und wir haben noch nicht erreicht, dass wirklich das Rollenverständnis und die Verantwortung eben nicht nur von Frauen getragen werden müssen: wir Frauen müssen immer alles organisieren, multifunktional sein, funktionieren von morgens bis abends und das alles am liebsten gut aussehend bis in die hohen 60iger hinein. Ja und bei den Männern hat sich nichts geändert. Denn die Zahl der Hausmänner können Sie an einer Hand abzählen. Als ich Ministerin war, da war ein einziger, der gesagt hat, ich will, ich möchte einfach für meine Kinder da sein, ich will hier die Möglichkeit, also aus dem Ministerium, wo es viel leichter ist im öffentlichen Dienst als in der Wirtschaft, ich will diese Möglichkeit nutzen, es mögen jetzt ein paar mehr sein, aber sie sind prozentual absolut vernachlässigbar. Also, an diesem Verständnis hat sich nichts geändert und in einer Situation, wo es wirtschaftlich immer schlechter wird und wo wir hohe Arbeitslosenzahlen haben, wo jeder sagt, es ist gut, wenn man noch einen gut bezahlten Job haben kann, und den haben dann tendenziell dann mehr Männer als Frauen, sind Rahmenbedingen da, die eher schlechter sind für das, was wir hier diskutieren. Tutt: Bevor wir jetzt bei den alten Debatten hängen bleiben, wo die Grundlagen sich immer noch nicht geändert haben, wollte ich noch mal auf das Beispiel Skandinavien zurückkommen. Frau Leutheusser-Schnarrenberger, gibt es da irgendwas, was Gesetz dort ist, was maßgeblich dazu beigetragen hat, dass dort eben die Rollenverteilung nicht mehr so einseitig ist? Leutheusser-Schnarrenberger: Also, ich glaube, in Skandinavien ist es einmal ein Verständnis über Jahrzehnte hinweg, und zwar in allen Parteien in der Gesellschaft, in der Politik, dass das, was wir mühsam in Artikel 3 Abs. 2 mit einem Ergänzungssatz nach und nach mal aufgenommen haben, viel klarer schon von Anbeginn an formuliert. Das war auch ganz zu Beginn bei uns immer eine schwierige kontroverse Debatte, also es ist nicht einfach von selbst gegangen, aber in Skandinavien ist quasi dieses Gesellschaftsmodell der

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gleichberechtigten Teilhabe von Frauen anerkannt und gibt es schon, auch in den Verfassungen; also in Schweden ist es so – ich weiß jetzt nicht genau, wie es in der Norwegischen Verfassung formuliert ist – aber da gibt es das ganz klar, dass die Politik sich an diesem Verständnis ausrichtet. Das hat dazu geführt, dass schon im Bereich der Kinderbetreuung der Staat fast das Monopol bei der Trägerschaft von Kinderbetreuungseinrichtungen hat. Es ist also mehr staatlich konzentriert. Das kann jetzt den Liberalen gefallen oder nicht, aber, wenn es von der Wirkung insgesamt her so ist, dass wir sagen, wir debattieren da nicht, wo wir jetzt immer noch ja eigentlich geradezu vorsintflutlich dabei sind, dann bin ich sogar der Meinung, das ist auch etwas, was auch Liberale, wenn es diesen Durchbruch bringt, gut finden müssen und dann kann man immer noch nachher versuchen, Wettbewerbselemente reinzubringen. Tutt: Wären Sie als Liberale für geteilten Elternurlaub zwischen Vätern und Müttern wie das in Skandinavien ist? Leutheusser-Schnarrenberger: Ja, ich glaube nämlich, dass das wirklich das Mittel war, das etwas geholfen hat. Dass man sagt, Vater und Mutter nehmen diesen Elternurlaub oder die Elternzeit und wenn der Vater sie nicht nimmt, dann verfällt diese Zeit. Aber das hat natürlich auch was mit der Finanzierung zu tun. In Schweden wird eine Lohnersatzleistung gezahlt und bei uns ist es so, dass gar nicht lange überlegt wird, wer nimmt denn diese Zeit, weil immer noch Männer mehr verdienen als Frauen und dann das Geld in der Familienkasse fehlt. Ich denke, da müssten wir ansetzen und dahinkommen, dass die Elternzeit kürzer wird und stattdessen besser finanziert wird wie in Skandinavien. Im deutschen Steuerrecht hat sich ja ehrlich gesagt auch nichts geändert seit 1998, dass das frauen- und familienfreundlicher geworden ist. Schewe-Gerigk: Es ist eine andere Stimmung in Skandinavien. Wir hatten jetzt einen großen Empfang hier in Berlin, da waren auch skandinavische Männer da. Die sagten: wir verstehen das gar nicht, bei uns kriegte man so einen Empfang nie voll, weil die Männer alle sagen, um 16 Uhr haben wir Feierabend und da möchten wir zu unserer Familie, da gehen wir doch nicht zu so einem Empfang mit Schnittchen und Sekt. Da müssten wir jetzt auch mal hinkommen. Süssmuth: Wobei wir sagen müssen, dass das Schwedische System Jahrzehnte gebraucht hat, um das auch bei den Männern publik zu machen. Es sind auch dort jetzt nicht mehr als 12 Prozent. Es braucht seine Zeit, bis man neues Denken umsetzt.

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Tutt: Wir haben auch noch ein Nachbarland: Frankreich, wo auch sehr viel staatlich herbeigeschafft wird, eben auch ganz selbstverständlich die Kinderbetreuung, da wird im breiten Maße staatlich subventioniert. Aber in Frankreich, da würde ich gerne noch mal auf ein Beispiel zu sprechen kommen, wo gut gemeint nicht gut gemacht ist. Da gibt es seit 2000 das Paritätsgesetz, dass festlegt, weil eben so wenig Frauen in politischen Ämtern waren in Abgeordnetenpositionen waren, dass von 6 Abgeordneten auf einer Liste, die kandidieren, 3 Frauen und 3 Männer sein sollen, innerhalb dieser Gruppe der 6 ist die Reihenfolge egal. Das kann man selbst wählen. Das hat aber nicht funktioniert oder? Schewe-Gerigk: Ich glaube, das braucht ein bisschen Zeit. Ich finde das Modell des Paritätsgesetzes sehr gut, da wird es nämlich so gemacht, dass die Listen erst mal gar nicht angenommen werden, wenn sie nicht paritätisch besetzt sind oder die Parteien bekommen über die Parteienfinanzierung weniger Geld, wenn sie weniger Frauen aufstellen. Und ich glaube, am Geld entscheidet es sich, wenn das Geld kostet, dann stellen die Parteien auch Frauen auf. Und ich habe auch nicht den Eindruck, dass das die schlechtesten sind. Ich glaube, wir müssen diesem Modell noch ein bisschen Zeit geben. Ich finde das richtig, es ist ja das, was die Grünen ohnehin schon machen. Wir würden also die volle Parteienfinanzierung bekommen, aber nicht deshalb sage ich, dass das richtig ist. Aber Sie haben vorhin davon gesprochen, wir müssen die Strukturen ändern, wir müssen die Mechanismen ändern. Auf freiwilliger Basis läuft das nicht und das muss man jetzt gezielt versuchen. Süssmuth: Es ist aber das allererste Mal in Frankreich. In der Nationalversammlung lag der Frauenanteil bei 6 Prozent. Tutt: Aber mich erinnert das sehr stark an die Ausbildungsplatzabgabe. Da kann man sich eben auch freikaufen, wenn man nicht dem Soll entspricht. Süssmuth: Hier kann man sich nicht freikaufen. Schewe-Gerigk: Ich glaube nicht, dass das der Fall war. Bestimmte Listen werden gar nicht angenommen, weil es undemokratisch ist. Und ich muss sagen, ich finde, eine Gesell-

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schaft oder auch eine Partei oder ein Parlament, das Frauen ausschließt, ist undemokratisch. Da müssen wir was dran tun und wenn das eben nicht freiwillig geht, muss man auf solche Gesetze zurückgreifen.

Aber ich sage noch mal, dass ich mehrfach von einem „dissenting vote“ Gebrauch gemacht habe. Nicht so häufig, aber in wichtigen Dingen. Es hängt von uns, von unseren Entscheidungen ab.

Tutt:

Wenn niemand sich mehr wagt, auch in wichtigen Dingen einmal nein zu sagen, dann stirbt auch so ein Grundsatzrecht ab. Deswegen habe ich eben schon einmal betont, dass diejenigen, die voran wollten, immer gestärkt hervorgingen dann, wenn es ihnen gelungen ist, sich in wichtigen Fragen auch fraktionsübergreifend zusammenzuschließen. Am Ende werden diejenigen, die in – ich sage bewusst – „wichtigen“ Fragen auch einmal „nein“ sagen, mehr an Achtung gewinnen, als wenn sie ständig nur nachgeben und sich der Mehrheit anschließen.

Gut, nehmen wir mal an, dass das eben noch seinen Erfolg zeigen wird. Süssmuth: 1995 lag der Frauenanteil im Französischen Parlament bei 6 Prozent und stieg 2003 auf 12 Prozent mit dieser Regelung an. Wir sind immerhin bei über 30 Prozent, auch wenn der Anstieg langsam ist. Aber wenn dieser so weiter geht und keine Rückschritte erleidet – das hatten wir noch bei dem einen großen Anlass „Parlamentarier und 50 Jahre Bundestag“ ausgerechnet – dann ist ein Frauenanteil von 50 Prozent Frauen möglich. Tutt: im Jahr 2300. Süssmuth: So ungefähr. Dann hätten wir die 50 Prozent im Bundestag. Aber dann muss man über den Einfluss reden und wie er zustande kommt. Das ist eben der andere Punkt.

In diesem Zusammenhang sei noch einmal daran erinnert: in der Geschichte sind Gruppen, die lange Zeit benachteiligt, diskriminiert oder ausgegrenzt waren, nur dann vorangekommen, wenn sie sich zusammengeschlossen und mehr gewagt haben als andere. Deswegen überzeugt es mich nicht, dass man einfach sagt, da kann man nichts machen. Wir leben nicht in einem totalitären System, und wenn wir nun von selbst gar nichts mehr wagen und die Zivilcourage gleich Null ist, dann sollten wir uns zumindest anschließend nicht beklagen, dass es so langsam geht. Tutt: Ist dem was hinzuzufügen?

Tutt:

Leutheusser-Schnarrenberger:

Wir haben jetzt noch ungefähr 20 Minuten, die Endrunde, die wollte ich uns noch mal überlassen, aber, wenn Sie jetzt Anregungen, Kritik oder Fragen haben, dann möchte ich Sie bitten, das einzubringen. Sagen Sie bitte kurz, wer Sie sind und vor allem auch, an wen Sie sich richten. Gibt es irgendwelche Anregungen? Bitte.

Ich wollte gerne eines hinzufügen. Es ist eben auch wichtig, dass dieses Selbstverständnis die Abgeordneten haben. Ich denke, sie haben es meistens ausgeprägt, wenn sie das erste Mal in den Bundestag kommen, weil das ja eigentlich so genau die Vorstellung ist, die man von einem Abgeordneten hat und dann natürlich durch längeres Dabeisein, auch durch Jahre der Debatten. Auch wenn man sieht, wie eben verhandelt wird, wie versucht wird, mal Druck auszuüben, dass man sich auch mit der Mehrheit verhält, dann nimmt dieses Selbstverständnis tendenziell bei dem einen mehr und beim anderen weniger ab. Und was dann ganz schlimm ist, ist, wenn z. B., wie es Herr Müntefering, als es um die Mehrheit jetzt beim schwierigen Gesetz für die Regierung ging, sagt, wer nicht mitmacht, dann sorge ich dafür, der kriegt keinen Platz mehr, der wird nicht mehr aufgestellt bei der nächsten Bundestagswahl. Da muss – und das hat er ja nachher wieder relativiert, weil dann so ein, sagen wir mal, wirklich ein Schrei der Entrüstung kam quer durch alle Parteien und Gesellschaftsgruppen – einfach erreicht werden, dass dann so was eigentlich gar nicht mehr, nicht mehr nur nicht gesagt, sondern auch nicht mehr gedacht werden darf. Soweit sind wir noch nicht, sondern es wird versucht, zu organisieren und es ist eine strategische Minderheit in einer Fraktion. Wenn nämlich die Mehrheit einer Regierung

Anke Freitag (stv. Bundesvorsitzende der DJG): Eigentlich an alle drei Damen, gerade jetzt zum Ende kam das noch mal. Einfluss geltend machen unter dem Demokratieverständnis, und zwischendurch kam es auch in der Diskussion, möchte ich nachfragen: wie können Frauen, Abgeordnete im Bundestag ihre Rolle wahrnehmen, wenn es doch, was ja auch immer wieder in die Öffentlichkeit dringt, den Fraktionszwang in Abstimmungen gibt? Süssmuth: Sie werden im parlamentarischen System kein spannungsfreies System schaffen. Dem Grundgesetz nach ist der Abgeordnete nur seinem Gewissen verpflichtet. Trotzdem ist die Mehrheitsfindung von der Art, dass sie, wenn Sie nicht ganz gewichtige Gründe haben, darauf festgelegt werden, mit der Mehrheit zu stimmen.

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dünn ist, das habe ich ja selber auch erlebt, auf alle Fälle vier Jahre lang und einer ganz knappen, relativ knappen Mehrheit, da haben Sie schon als einzelne Abgeordnete ein ganz schönes Gewicht. Die anderen brauchen Sie nämlich für eine Mehrheit und wenn Sie da sagen, das mache ich nicht mit, dann gibt es eben keine Mehrheit. Das ist natürlich schwierig, dann sprechen Sie zig Mal mit denjenigen, die versuchen wollen, Sie zur Mehrheit zu bringen. Und das ist dann nicht so von Harmonie getragen, wie es eigentlich angenehmer ist, wenn man in einem schönen Kreis zusammensitzt und alle sagen, ja wunderbar, wir machen das ganz toll, aber dann hinterher weiß man im Zweifel immer, das musste jetzt wirklich sein und es hat sich gelohnt. Manchmal kann auch noch mal was verändern, es geht noch mal zurück, viele Erfahrungen auch einfach nachvollziehen, dann hat man nachher zugestimmt, aber man hat beim Prozess bis zur Zustimmung wirklich noch was in der Sache verändern können und deshalb darf man sich da nicht immer diesem Druck so hingeben und sagen, ich kann jetzt nicht anders. Man kann sehr wohl und es sind eher Frauen, die das so hinterfragen und nicht per se alles mitmachen, als es vielleicht Männer in Fraktionen sind. Das zeigt sich nämlich, wenn man das Abstimmungsverhalten im Bundestag mal genau analysiert. Schewe-Gerigk: Wir drei, die wir hier sitzen, sind ja wohl alle drei Personen, die das für sich in Anspruch genommen haben und das bringt auch viele Verletzungen mit sich, das ist nicht immer einfach und es kann auch sein, dass es mal bestimmte Positionen kostet. Trotzdem halte ich das für den richtigen Weg, auch ich gehöre einer strategischen Minderheit an und weiß, dass man da auch einiges erreichen kann. Und dieses Argument, der wird beim nächsten Mal nicht mehr aufgestellt, so was sagt ja nicht nur Herr Müntefering, das hat man vorher von anderen Leuten auch gehört. Das muss offensichtlich in vielen Köpfen sein. Und da muss ich sagen, da war es für mich immer gut, als gestandene Frau zu sagen, wenn du beim nächsten Mal nicht mehr auf die Liste kommst, dann gehst du eben in deine Universität zurück. Insofern war das für mich auch ein guter Schutz, im öffentlichen Dienst zu sein, freigestellt jetzt für diese Zeit im Parlament. Ich muss nicht jeden Mist mitmachen, ich sage: gut, ich habe die Abgeordnetenzeit gehabt, jetzt mache ich wieder das, was ich vorher gemacht habe. Und das gibt unglaublich viel Sicherheit und Freiheit, denn es gibt viele, die in den Parlamenten sitzen, die wüssten nicht, was sie machen sollten, wenn sie plötzlich nicht mehr dort sind. Und ich finde, daran müsste man sich auch noch mal stärker orientieren. Tutt: Sie hatten auch noch eine Frage?

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Weitschies (VBOB aus Bonn): Und zwar, einerseits, finde ich es positiv, dass vor uns jetzt hier Frauen von verschiedenen politischen Fraktionen sitzen, die sich relativ einig sind. Wenn ich das so beobachte, dann herrscht unter Ihnen tatsächlich also eine wunderbare Einigkeit, so dass ich denke, super mit den Frauen. Wenn jetzt eine reine Frauenpartei wäre, ohne dass die verschiedenen politischen Fraktionen dahinter sitzen, dann könnten wir tatsächlich was erreichen. Aber, was mich jetzt verblüfft, ist, wir hatten eben oder vorhin gehört, dass die Infrastruktur für Frauen, also sprich die Familienbetreuung absolut wichtig ist, damit Frauen stärker auch ihre Position ausbauen können, also das hat jetzt vielleicht mit Ihnen persönlich oder so nichts zu tun, aber schlichtweg mit dem politischen Geplänkel, das ich halt so wahrnehme für mich, als jemand, der sehr weit außen steht vom politischen Geschehen. Tutt: Gut, ich denke, das ist angekommen. Herrmann (Frauenbeauftragte VDR): Was die Kollegin gerade hier gesagt hat, das ist so etwas, was ich ganz gerne ergänzen würde. Was immer wieder irritierend ist und das ist für uns teilweise nicht so ganz nachzuvollziehen: Politiker meinen, dass politische Entscheidungen immer kostenneutral sein müssen. Und das kann eigentlich nicht gehen. Denn in dem Moment, wenn da also jetzt auf der einen Seite Schwerpunkte gesetzt werden, dann muss es sein, dass auf der anderen Seite irgendwo Kürzungen erfolgen müssen. Und das ist, meine ich, auch das, was eben hier im Frauenbereich oder hinsichtlich der Frauenpolitik verstärkt stattfinden müsste. Tutt: Ist das realistisch unter den Bedingungen einer stagnierenden Wirtschaft und eines riesigen Staatsdefizits? Leutheusser-Schnarrenberger: Also, ich denke nicht, dass die Kostenneutralität ein Grundsatz ist, der quasi als Obersatz für alles gilt, was man in der Politik entscheidet. Dann könnte man ja eigentlich überhaupt fast nichts mehr gestalten. Denn dann, wenn man das, und das haben wir seit Jahren, jetzt sieht, wo wir doch in ziemlicher Dimension Verschuldung haben, dann könnte man kaum noch gestalten, wenn man nicht irgendwo immer was wegnimmt und das wird nicht immer unbedingt so gehen. Was für mich aber wichtig wäre, dass man das Konnexitätsprinzip, nämlich gerade mit den Ebenen, die wir haben, wirklich auch nicht nur jetzt stärker auf Länderebene, teilweise ja in den

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Länderverfassungen verankert, beachten muss. Also, wer entscheidet, das war die Debatte, die mit dem Anspruch auf Kindergartenplatz ausgelöst wurde. Dass entschieden wird, wir wollen den Anspruch auf einen Kindergartenplatz, ist aus meiner Sicht richtig. Das bezahlt aber letztendlich nicht der Bund, sondern nach unserer föderalen Verfassung landet das auf der unteren Ebene und dann wird da nichts an Geld mitgegeben zur Absicherung. Und dann dauert es Jahre, vielleicht sogar in manchen Regionen noch viel länger, bis das tatsächlich realisiert wird. Also, wenn wir diesen Aspekt des Konnexitätsprinzips beachten – und ich würde ihn jetzt nicht nur als reine Lehre auf Bundesebene verstehen, weil dann hätten wir wahrscheinlich auch in vielen Bereichen keine Entscheidungen mehr. Aber wir sollten stärker beherzigen, dass man da versucht, wie man das auf die Reihe kriegen kann und nicht nur ein Gesetz hat, sondern dann auch tatsächlich sieht, dass die Ebene, die es ausführen muss, dann auch besser unterstützt wird. Und dann habe ich auch kein Verständnis für, dann sage ich mal solche Machtspiele im Bundesrat über Verteilung von Geldern, die natürlich ideologisch geprägt sind, weil man eben eine Ganztagsschule oder Ganztagsbetreuung nicht will, dann will man aber gerne das Geld, was dafür verwandt werden soll, für was anderes hernehmen – das kann natürlich nicht Sinn und Zweck der Übung sein. Also, diese Prinzipien, die, meine ich, müssen schon beachtet werden, aber man darf sie nicht wirklich zu dem alleinigen Maßstab machen, weil dann haben Sie letztlich in der heutigen Situation Stillstand von politischen Entscheidungen. Da können Sie dann nur eines machen: sparen und nichts mehr gestalten. Tutt: Frau Süssmuth. Süssmuth: Das gegeneinander Ausspielen von Bund, Ländern und Gemeinden bringt uns nicht weiter. Jetzt kann man eine strenge Ordnungspolitikerin oder Ordnungspolitiker sein und sagen, das durchbricht die föderale Ordnung. Dann sind Sie zwar ein guter Ordnungspolitiker, aber Sie lösen kein Problem. So haben wir bei dem ersten Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung, dem Recht auf einen Kindergartenplatz, ein Bundesgesetz zu Lasten Dritter gemacht. Auch nach den vielen Argumenten, da sei in Protokollen ein finanzieller Ausgleich festgelegt worden bei den Steuern, sage ich sehr klar: ohne den Zuschuss des Bundes für mehr Ganztagsbetreuung wäre nichts in Gang gekommen. Das ist das Novum. Man kann immer argumentieren, das gehe auf der Basis der Freiwilligkeit. Sie haben dann eine so ungleiche Entwicklung von Lebensverhältnissen bei der Kinderbetreuung. In aller Regel bleiben die Schwächsten auf der Strecke. Ein gut verdie-

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nendes junges Paar hat ganz andere Möglichkeiten, sich Betreuungsfreiräume zu schaffen als die Verkäuferin oder die Friseuse. Hier brauchen wir deutliche Prioritäten und – bei aller Entflechtung, die wir gerade wieder vornehmen zwischen Bund und Ländern – auch wieder Gemeinschaftsaufgaben. Wir haben das jahrelang im Hochschulbau betrieben. Doch wenn ich entflechte, dann muss ich dafür Sorge tragen, wie die einzelne Ebene das finanzieren kann. Im Augenblick gibt es auf der kommunalen Ebene die größten Engpässe. Hier muss sich auch eine Gesellschaft insgesamt entscheiden, welchen Stellenwert das Aufwachsen der nachfolgenden Generation hat. Das haben wir sträflich vernachlässigt. Tutt: Ich habe versprochen, pünktlich zu enden. Schewe-Gerigk: Ja, einen Satz nur dazu. Den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz, Frau Süssmuth, hätten wir nicht, wenn es nicht damals um den § 218 gegangen wäre und man gesagt hätte, man muss den Frauen etwas anbieten, dass sie das auch umsetzen können und das verfassungsrechtlich absichern. Das heißt, auch wenn Geld da gewesen wäre, wären wir heute immer noch nicht soweit und insofern bedarf es da einer riesengroßen Kraftanstrengung und da bin ich froh, dass der Bund für die Betreuung unter 3 und für die Ganztagsschulen jetzt Geld gibt, unabhängig davon, ob er zuständig ist oder nicht. Süssmuth: Damals habe ich daran intensiv mitgemacht, weil wir überhaupt nicht vorankamen: immer war irgendein Land, in dem Fall war es Niedersachsen, das das boykottierte – hatte ja den schlechtesten Entwicklungsstand bei den Kindergartenplätzen. Trotzdem muss ich wissen, es war zu Lasten Dritter. Tutt: Ich werde jetzt nicht mehr alle drannehmen können, ich kann nur noch eine Frage zulassen, damit wir nachher noch jede kurz ein Schlusskommentar machen können. Sie waren dran. Tut mir leid. Lühmann (Geschäftsführung dbb bundesfrauenvertretung, Polizeibeamtin): Frau Dr. Süssmuth, Sie haben zu Beginn der Runde gesagt, Frauen müssen um Positionen kämpfen. Das ist völlig richtig, Sie haben aber auch gesagt, dass eventuell die mangelnde Bereitschaft, flächendeckend diesen Kampf zu führen, dazu führen könnte, dass wir nicht die Anzahl von Frauen in Entscheidungspositionen haben,

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die wir uns wünschen. Viele hier im Saal sind Gewerkschaftsfunktionärinnen und wir haben auch eine lange Geschichte unserer Frauenvertretung hinter uns und ich sage mal rückblickend: wenn auch nur die Hälfte der Kandidatinnen, die sich auf Bundesebene bereit erklärt haben, Verantwortung zu übernehmen, gewählt worden wären, dann wären wir jetzt schon ein ganzes Stück weiter. Nur wir haben erlebt, dass noch nicht einmal diese Hälfte der Kandidatinnen durchgekommen sind. Und Frauen sind so, das wurde hier auch von Frau Leutheusser-Schnarrenberger angesprochen, dass es nicht unbedingt darum geht, diese repräsentativen Funktionen wahrzunehmen, sondern wir möchten auch Macht haben, wir möchten etwas durchsetzen und das kann man auch, die EU zeigt es, sehr gut in Gremien. Aber selbst dort werden wir ausgebremst, Frau Dr. Süssmuth: wenn wir sagen, wir möchten in dieses Gremium gehen, zur Not noch mit dem Gremiumbesetzungsgesetz, kriegen wir als Antwort, dass macht der Vorsitzende. So, und jetzt erzählen Sie uns, wie wir dagegen angehen sollen, Sie haben vor sich Frauen, die Verantwortung übernehmen wollen, die mit diesen Sachen zu kämpfen haben und die diese Antworten bekommen. Süssmuth: Darüber haben wir in diesen eineinhalb Stunden auch gesprochen. Das eine sind Fragen zum Rechtsstatus, zu Rechtsregeln und zu den Realitäten. Jetzt werden Sie sagen: ja, aber den Vorsitzenden kann man nicht klonen. Aber man kann das Rotationsprinzip einführen. Damit würde sicher gestellt, dass den Vorsitz für eine Wahlperiode ein Mann und für die nächste eine Frau innehat. Die negative Erfahrung, bereit aber nicht zum Zuge gekommen zu sein, kann man nur schrittweise in Erfolg umwandeln, wenn man sich entsprechende Strategien einfallen lässt. Dazu gehörten als ein wichtiger Bereich die rechtlichen Regelungen. Ferner sind uns die Männer in Machtfragen nach wie vor weit überlegen. Zum anderen haben sie in diesem Bereich eine lange Erfahrung. Nicht alle Strategien, die sie da einschlagen, möchte ich zur Nachahmung empfehlen, weil sie oft intriganten Charakter haben. Doch wenn Frauen kluge Strategien entwickelt haben, dann sind sie damit auch erfolgreich gefahren. Das zu wissen ist ganz wichtig auch im Hinblick auf die nächsten Wahlen. Tutt: Kurze Schlussrunde, wir müssen das Ganze jetzt langsam beenden. Ich hätte einfach die Frage an Sie, was ist der nächste wichtige Schritt, der für Sie frauenpolitisch oder was die Einflussnahme von Frauen angeht, ansteht und vielleicht, wenn Sie Frau Süssmuth, anfangen, an Sie hätte ich nämlich eine spezielle Frage. Was ändert

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sich mit Frau Merkel? Sie ist Fraktions- und Parteichefin, mögliche Kanzlerkandidatin, hat das für Ihre Partei und vielleicht auch für die deutsche Politik Folgen? Süssmuth: Es hat jedenfalls die männlichen Kollegen mächtig unter Druck gebracht. Punkt 1. Tutt: Bis in den tiefen Süden. Süssmuth: Punkt 2: es birgt jedoch die große Gefahr, dass sie eine einsame Entscheidung ohne Nachfolge bleibt. Ich gehe nicht davon aus, dass dieses Beispiel Schule macht. Deswegen ist es wichtig, zu fragen: wie verbreitern wir das eigentlich und wie verbinden wir gelungene und gekonnte Machtstrategien mit weiblichen Formen der Politik? Für die Zukunft wird es mehr und mehr darauf ankommen, dass wir nicht einfach männliche Verhaltensstile fortsetzen, sondern dass wir ganz massiv fragen, wie wir von Konfrontation zu Kooperation kommen. Wie verbinden wir, wie lösen wir das ständige Gegeneinander im Sinne von mehr Miteinander auf? Ich möchte es anhand einer Weltfrage erklären: Ich glaube nicht, dass wir die Konflikte, wie wir sie jetzt im Nahen Osten, im Irak, in Afghanistan und im Bezug auf die schwelenden sozialen Konflikte auch in unserem Land erleben, mit den alten Machtinstrumenten lösen können. Deswegen hoffe ich, dass wir Frauen nicht nur als Einzelne an Macht gewinnen, sondern, dass wir die Machtstrukturen auch verändern. Im Augenblick sind in den sehr stark verunsicherten Gesellschaften alte Machstrukturen gefragt. Tutt: Frau Schewe-Gerigk, was ist Ihr nächster Schritt, der ansteht? Schewe-Gerigk: Ich hatte das vorhin schon angekündigt, die Umsetzung der EU-Richtlinie, und darin ist auch das Thema Macht und Machtverteilung ganz wichtig. Und da finde ich, sollten wir als Frauen einfach auch aussprechen, wir wollen mehr Macht, dafür müssen Männer Macht abgeben. Diesen zweiten Halbsatz vergessen wir ja immer so leicht, aber es gibt eben nur eine bestimmte Menge an Macht und an Durchsetzungsmöglichkeiten und wir müssen einfach dazu stehen und sagen, so, wir wollen mehr davon und die anderen müssen dann eben weniger haben. Ich glaube, das wäre so eine Zielmarge, die ich hätte. Wenn ich jetzt so an die EU denke, dann wünsche ich mir natürlich viel stärker noch, dass die Kommission mindestquotiert wird. Das wäre eine Sache, und was noch,

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also am Geld hängt immer so vieles, was ich mir wünsche, das wäre GenderBudgeting, also, dass in der EU mal ganz genau geguckt wird, wie viel Geld wird denn für Männer ausgegeben und wie viel Geld wird für Frauen ausgegeben. Ich glaube, diese Ergebnisse wären sehr aufschlussreich und es gibt sehr viele, die das aus gutem Grund nicht möchten, weil man daraus ja auch Konsequenzen ziehen müsste. Wir wollen das jetzt mal versuchen in einem Ministerium das umzusetzen und zwar bei der Entwicklungszusammenarbeit, um zu gucken, wie sieht es denn tatsächlich aus und ich glaube, das wird eine spannende Frage werden. Und wie gesagt: die Machtfrage würde ich gerne mit vielen engagierten Frauen auch selbst umsetzen. Wir brauchen einfach Verbündete über die Fraktionsgrenzen hinweg, aber auch über alle gesellschaftlichen Gruppen hinweg, damit wir stark und mächtig werden. Tutt: Frau Leutheusser-Schnarrenberger, Sie haben das letzte Wort. Leutheusser-Schnarrenberger: Da kann ich unmittelbar anknüpfen, denn eines erleben wir ja seit Jahren: Freiwillig wird Macht nicht abgegeben und Frauen haben eben nicht die Macht, sprich den Einfluss, die Positionen, die sie hervorragend ausfüllen könnten und wo man letztendlich strukturelle Veränderungen mit anstoßen kann. Und so sehr ich das unterstütze und sage, wir müssen hier zusammenstehen und da muss man sehen, wie man die Männer aus der Macht kriegt. Wir kriegen sie entweder mit Mehrheiten aus der Macht, da wo Mehrheitsentscheidungen notwendig sind, wenn Sie die nicht haben, läuft das schon mal auf diesem Weg nicht. Dann kommt der zweite Weg, dass man sie versuchen muss zu überzeugen, dass es auch in ihrem Interesse wäre, wenn da mehr Frauen in den Entscheidungsgremien wären. Aber wir müssen auch Frauen, das denke ich, viel zielstrebiger machen, also Frauen leichter in die Lage versetzen.

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fessionalisiert werden, dass man eben mit der Schwäche, in der man sich befindet, auch zum Teil eine Stärke draus machen kann. Und wenn sie den Frauen das Gefühl geben, sie können das, dann wollen sie es nämlich auch. Leider nützt vieles von dem, was wir heute hier besprochen haben, nicht, um irgendetwas in der gesellschaftlichen Realität zu verändern. Aber diese Veränderung ist für mich nach meinen 14 Jahren Bundestagsmitgliedschaft eigentlich heute so mit das Wichtigste – neben natürlich den gesetzlichen Dingen, die durch Anstoß von der Europäischen Union kommen werden – was wir meiner Ansicht machen müssen, auch wenn es nur ein kleiner Beitrag ist, der noch nicht das bringt, was wir wirklich brauchen, um dann eben anders Entscheidungen treffen zu können. Von daher sage ich ganz ehrlich, finde ich es auch so wichtig, wenn ich sehe, aus was für Bereichen engagierte Frauen kommen und wo sie auch schon alle seit Jahren wirken, dass das nicht so eine Eintagsfliege ist. Jetzt sitzen wir hier auf einem Podium, haben unsere Positionen und jetzt muss man einfach – und ich weiß es aus meiner Partei, dass es auch nicht leicht ist – stärker sehen, wie man sich auch da so vernetzen und sich so gegenseitig unterstützen kann, dass wir die notwendigen Machtpositionen in nicht allzu weiter Ferne – hoffentlich in einem überschaubaren Zeitraum, jedenfalls vor 2300 – rein zahlenmäßig und mit dem dazu gehörenden Einfluss tatsächlich bekommen. Tutt: Ich danke Ihnen und hoffe, dass Sie alle etwas mitgenommen haben und es Ihnen ein bisschen Spaß gemacht hat!

Diese Auseinandersetzung, hoffentlich mit einem Ziel, auch mehr Kooperationen einzugehen, heißt für mich, dass sie auch Politikerinnen in dem Moment, wo sie professionell Politik machen, nämlich in einem Mandat sind, auch ganz anders gezielt voranbringen müssen. Ich brauche Mentoring, ich brauche Coaching, das muss selbstverständlich sein, nicht, dass, wenn Frauen neu in eine Fraktion kommen, sie erst mal fragen müssen, was gibt es denn hier und dann kriegt man ein Zimmer und dann hat man seine Mitarbeiter und das kriegen alle. Aber, dass das nicht selbstverständlich ist, das Bewusstsein fängt erst langsam an. Da, wo es man es professioneller machen kann, muss es ganz anders laufen, aus meiner Sicht, auch so pro-

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Schlusswort – Helene Wildfeuer

Helene Wildfeuer Bundesvorsitzende der dbb bundesfrauenvertretung

Schlusswort zur 3. Frauenpolitischen Fachtagung 2004 Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, sehr verehrte Gäste, Europa ist gut für die Frauen, das habe ich vor einigen Jahren schon mal gesagt. Das ist heute eigentlich bestätigt worden, jedenfalls am Vormittag. Nur wir müssen was daraus machen. Wir müssen die Chancen ergreifen und hier die notwendigen Schritte gehen. Frauenpolitik ist, egal in welchem Bereich immer ein weiter und steiniger Weg, den man mit Mut und Beharrungsvermögen gehen muss, das zeigt sich immer wieder. Widerstände sind dabei vorprogrammiert und man muss sie von vorneherein mit einrechnen, ohne daran zu verzagen, auch wenn es manchmal schwer ist. Gerade deswegen ist und bleibt es wichtig, die gemeinsamen Interessen zu bündeln, um im politischen Geschehen besser wahrgenommen zu werden. Dies gilt für die politische Arbeit in den einzelnen Bundesländern, für die Fachgewerkschaften ebenso und für die Arbeit auf der Bundesebene auch innerhalb des dbb. Eine Verankerung im Recht, das ist heute mehrmals deutlich herausgekommen, ist auch hier ein wichtiger Punkt, auch im dbb. Und die jüngsten Erfahrungen sollten wir hier nicht vergessen. Wir beklagen alle die Unterrepräsentation der Frauen in allen Gremien, aber Jammern und Klagen hilft nicht. Das zu ändern, ist unsere Aufgabe und die müssen wir zielführend mit geeigneten Strategien gehen. Wir können Frauen motivieren, Mandate zu übernehmen in Vorständen etc. pp, das tun wir auch. Wir können aber auch frei danach handeln, was Klaus Doppler in seinem Buch „Dialektik der Führung – Opfer und Täter“ mit folgendem Satz geprägt hat: „Wer etwas verändern will, muss stören, muss Irritationen schaffen, muss das Bestehende durcheinander bringen. Wer die bestehende Situation nicht aus dem Gleichgewicht bringt, kann nichts verändern.“ Ich glaube, das ist auch aus der Diskussion heute deutlich geworden. Wenn wir also die Repräsentanz von Frauen in Entscheidungspositionen stärken wollen, so geht das nicht ohne ein Hinterfragen der gegenwärtigen Situation als ersten Schritt. Ich möchte aber auch einen Schritt weiter gehen und das Wort „stören“ nicht negativ, sondern in einem positiven Sinne verstanden wissen. Stören heißt nämlich auch, etwas in sich Ruhendes und Manifestiertes in Bewegung bringen. Wer etwas ändern will, muss selbst den ersten Schritt tun. Lächeln allein hilft nicht weiter. Es ist wichtig, sich einzumischen, in eingefahrenen Strukturen produktive Unruhe zu stiften.

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Schlusswort – Helene Wildfeuer

Wenn auch ein Lächeln vieles erleichtert, so ist doch letztendlich die politische und sachliche Arbeit, die uns im Endeffekt weiterführt und in der wir unsere Kompetenzen unter Beweis stellen können und auch sollten. Frauenpolitik kann man nur vom aktuellen und individuellen Standpunkt aus konkret betreiben und weiter entwickeln. Meine lieben Kollegen und Kolleginnen, es geht mir nicht darum, zu lamentieren und zu klagen. Das haben Sie schon gemerkt. Aber es geht auch nicht ohne effektives Networking. Vorwärts kommt nur, wer vor Ort mitmischt und dabei den Kontakt zur Basis nicht verliert. Wer weiterkommen will, sollte nicht auf den Bus schimpfen, der nicht kommt, sondern selbst den ersten Schritt in Richtung seines Ziels gehen. Man kann nicht darauf warten, dass andere auf einen zukommen und für die eigenen Interessen aktiv werden. Wer etwas erreichen will, muss sich selbst persönlich engagieren und Verbündete suchen. Denn nur gemeinsam sind wir stark. Auch das ist glaube ich heute zum Ausdruck gebracht worden. Deswegen möchte ich zum Schluss Ihnen und uns für unsere Arbeit Mut und Durchhaltevermögen wünschen, beides ist unabdingbar. Lassen Sie uns in diesem Sinne konstruktiv anpacken und aktiv werden. Besuchen Sie regelmäßig unsere Homepage www.frauen.dbb.de und lesen Sie unsere Informationen und Broschüren, dort wird Ihnen geholfen. Die Geschäftsführung dankt Ihnen für Ihr Kommen und ich lade Sie bereits heute ein zu unserer nächsten Frauenpolitischen Fachtagung 2005 wieder hier nach Berlin. Interessante Themen werden wieder auf Sie warten, natürlich auch interessante Referentinnen und ich sage deshalb an dieser Stelle „Auf Wiedersehen 2005“ hier in Berlin und wünsche Ihnen eine gute Heimfahrt!

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