Cannabinoide Nebenwirkungen und Komplikationen

Schmerz 2003 · 17:274–279 DOI 10.1007/s00482-003-0232-z Übersicht L. Radbruch1 · F. Nauck2 1 Klinik für Palliativmedizin,Universitätsklinikum Aachen ...
Author: Nicole Heidrich
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Schmerz 2003 · 17:274–279 DOI 10.1007/s00482-003-0232-z

Übersicht L. Radbruch1 · F. Nauck2 1 Klinik für Palliativmedizin,Universitätsklinikum Aachen 2 Malteser Krankenhaus Bonn,Universität Bonn

Cannabinoide – Nebenwirkungen und Komplikationen

Zusammenfassung In den letzten Jahren wird zunehmend der Einsatz von Cannabinoiden aus medizinischer Indikation diskutiert, was eine Bewertung der Nebenwirkungen erforderlich macht. Euphorische Stimmungsänderungen sind häufige, dysphorische Reaktionen seltene Nebenwirkungen.Es können akute toxische Psychosen, bei prädisponierten Patienten eine schizophrene Psychose ausgelöst werden.Cannabinoide beeinträchtigen kognitive und psychomotorische Fähigkeiten sowie verkehrsrelevante Leistungen.Bei chronischem Gebrauch ist eine Toleranzausbildung möglich.Tachykardie und Blutdruckabfälle sind häufige Nebenwirkungen am kardiovaskulären System.In Einzelfällen wurden Myokardischämien bei jungen und bis dahin gesunden Patienten berichtet.Nebenwirkungen am respiratorischen System entstehen v.a.durch die Inhalation beim Rauchen. Einige Berichte weisen bei Einnahme in der Schwangerschaft auf ein kanzerogenes Risiko beim Kind hin.Die vorliegende Literatur stellt insgesamt ein günstiges Nebenwirkungsprofil für Cannabinoide dar.Lebensbedrohliche Komplikationen sind sehr selten und wurden nach dem medizinischen Einsatz von Cannabinoiden noch nicht berichtet. Kontraindikationen zum Einsatz von Cannabinoiden sind Schwangerschaft oder kardiale Ischämien in der Vorgeschichte. Schlüsselwörter Cannabinoide · Cannabis · Nebenwirkungen · Komplikationen

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er medizinische Einsatz von Cannabis und Cannabinoiden erhält in den letzten Jahren zunehmende Beachtung bei Patienten und Ärzten. In einer Reihe von Publikationen wurde über den Einsatz von Cannabinoiden bei unterschiedlichen Indikationen wie ● ● ● ●

chronischen Schmerzen, Übelkeit und Erbrechen, Appetitsteigerung und Kachexie

berichtet. Synthetisch hergestelltes d-9-Tetrahydrocannabinol ist in den USA für die Behandlung von Übelkeit und Erbrechen nach Chemotherapie zugelassen. In einer kanadischen Umfrage berichteten 15% der Patienten mit chronischen nichttumorbedingten Schmerzen, Erfahrungen mit der Einnahme von Cannabis zur Schmerzlinderung zu haben [24]. In Deutschland ist d-9-Tetrahydrocannabinol (THC) seit der letzten Änderung der Betäubungsmittelverordnung 1998 verkehrsfähig. Während THC zunächst noch über die Auslandsapotheke bestellt werden musste, sind seit kurzem 2 Präparate von deutschen Pharmafirmen verfügbar. Der Stellenwert der Cannabinoide bei den unterschiedlichen Indikationen ist zurzeit jedoch noch nicht eindeutig geklärt. Neben der Beurteilung der Effektivität ist auch die Abwägung der Nebenwirkungen und Komplikationen notwendig.Während einer kurzfristigen

Cannabinoidtherapie werden v. a. die häufigen Nebenwirkungen über den Stellenwert in der Therapie entscheiden. Der Einsatz von Cannabinoiden zur Behandlung von chronischen Schmerzen oder zur Appetit- und Gewichtssteigerung bei Palliativpatienten wird aber als Dauertherapie erfolgen müssen, dabei sind auch die seltenen Nebenwirkungen und Komplikationen von Bedeutung. Pflanzliche Zubereitungen von Cannabis wie Haschisch oder Marihuana enthalten mehr als 60 Cannabinoide. Die psychomimetischen Nebenwirkungen, die von den Cannabiskonsumenten angestrebt werden, sind im Wesentlichen durch das THC vermittelt.Auch für den medizinischen Einsatz wird v. a. das THC genutzt. In klinischen Studien werden häufig auch synthetische Analoga untersucht (Nabilone, Levonantradol). Mit den pflanzlichen Zubereitungen können eine Vielzahl weiterer Inhaltsstoffe aufgenommen werden, der Rauch einer Marihuanazigarette enthält darüber hinaus weitere Schadstoffe ähnlich wie beim Rauchen von Tabak. Der THCAnteil in einem Joint kann stark schwanken. Während früher in der Regel nur 10 mg THC in einem Joint enthalten wa© Springer-Verlag 2003 Prof. Dr. L. Radbruch Klinik für Palliativmedizin, Universitätsklinikum Aachen, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule, 52074 Aachen E-Mail: [email protected]

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L. Radbruch · F. Nauck A review of side effects and complications with cannabinoid treatment Abstract In the last few years, the use of cannabinoids has been advocated for several indications, and evaluation of the side effect profile is necessary.Euphoric mood changes are among the most frequent side effects, while dysphoric reactions are less frequent.Triggering of acute psychotic episodes has been reported.Cannabinoids can initiate or exacerbate schizophrenic psychosis in predisposed persons.Cannabinoids impede cognitive and psychomotor performance, resulting in impaired driving ability.Chronic use can lead to the development of tolerance.Tachycardia and hypotension frequently are documented as adverse events in the cardiovascular system.A few cases of myocardial ischemia have been reported in young and previously healthy patients.Side effects on the respiratory system are induced by inhaling the smoke of cannabis cigarettes.Some reports have indicated a carcinogenic risk for the children when cannabis was used during pregnancy.In summary, a low risk profile is evident from the literature available.Lifethreatening complications are very rare and were not reported after use of cannabinoids for medical indications.Cannabinoids are contraindicated during pregnancy or for patients with a history of cardiac ischemias.

von Cannabiszubereitungen als Genussmittel führen. In der Übersicht von Tramer et al. [22] wurde das „High“-Gefühl bei 35% der Patienten und Euphorie bei 14% angegeben. Enthemmte Gesprächigkeit und Lachen werden häufig beobachtet. Andererseits können auch Dysphorie und Depression auftreten. Dysphorische Reaktionen können v. a. bei cannabinoidnaiven Patienten vorkommen. Bei einigen Patienten ist dabei auch das Auftreten von Angst und Panikanfällen bis hin zu paranoiden Gefühlen möglich. Gefühle von Kontrollverlust, Depersonalisierung und Realitätsverlust werden als weitere Nebenwirkungen angegeben. Zum Teil werden solche dysphorischen Reaktionen bei Cannabisbenutzern auch noch nach Wochen oder Monaten als Flashback erlebt, auch wenn es in der Zwischenzeit nicht zu einem erneuten Genuss von Cannabis gekommen ist.

ren, kann diese Menge bei modernen ertragreichen Sorten bis zu 150 mg betragen. Der vorliegende Bericht fasst die Informationen zu Nebenwirkungen und Komplikationen zusammen und stützt sich v. a. auf 2 Übersichtsarbeiten zu den Nebenwirkungen von Cannabis und Cannabinoiden aus den letzten Jahren [1, 12]. Zusätzlich wurde eine MedlineRecherche im Januar 2003 durchgeführt, um aktuelle Berichte zu Nebenwirkungen und Komplikationen unter Cannabinoidbehandlung zu finden (Tabelle 1).

Nebenwirkungen Zentrales Nervensystem Stimmungsänderungen sind häufige Nebenwirkungen nach Einnahme von Cannabinoiden. Euphorie, „High“-Gefühl und Entspannung sind die Wirkungen, die zum weit verbreiteten Gebrauch

Tabelle 1

Nebenwirkungen der Cannabinoide Nebenwirkung

Häufigkeit [%]

Quelle

14 35 84 13

[22] [22] [24] [22]

50 40 49

[22] [21] [22]

Stimmungsänderungen Euphorie „High“-Gefühl Dysphorie, Depression Kognitive Nebenwirkungen

Keywords

Müdigkeit

Cannabinoids · Cannabis · Psychotropic effect · Adverse events · Complications

Konzentrationsstörungen Psychotische Nebenwirkungen Paranoia Halluzinationen Auslösung einer Schizophrenie Depression

5 6 ? ?

[22] [22] Einzelfälle Evtl. kein Zusammenhang

Kardiovaskuläre Nebenwirkungen Arterielle Hypotension Tachykardie Kardiale Ischämie

25 ? ?

[22] Schwerwiegend: Einzelfälle Einzelfälle

Respiratorisches System Bronchitis Kanzerogenität

? ?

Bei Inhalation Bei Inhalation

? ? ?

Evtl. nicht relevant Evtl. nicht relevant Nicht eindeutig geklärt

Andere Nebenwirkungen Immunsuppression Infertilität Kanzerogenität bei Kindern nach Konsum in der Schwangerschaft

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Übersicht Während die Einnahme von Cannabis in der Regel eine Dämpfung aggressiver Impulse zur Folge hat, können insbesondere bei prädisponierten Patienten auch Aggressionen ausgelöst werden. Von den Befürwortern der pflanzlichen Zubereitungen wird vorgehalten, dass andere Cannabinoide wie z. B. das Cannabidiol in diesen Zubereitungen die psychotropen Nebenwirkungen des THC abschwächen können [9, 25]. Im direkten Vergleich von inhaliertem Marihuana und oral eingenommenem THC fanden sich jedoch keine signifikanten Unterschiede in den subjektiven Gefühlen der Probanden [14]. In einer randomisierten doppelblinden Studie an 16 Patienten mit multipler Sklerose fanden sich nach 4-wöchiger Einnahme keine Unterschiede zwischen Pflanzenextrakt und THC in den subjektiven Nebenwirkungen, bei 1 Patienten wurde nach Einnahme des Pflanzenextrakts eine 5 h anhaltende Psychose ausgelöst [15]. Nach einer initial exitierten Phase führen Cannabinoide zu einer generalisierten Hemmung im Zentralnervensystem und damit zu Müdigkeit und Konzentrationsstörungen. Die Einschränkungen der kognitiven Fähigkeiten betreffen Gedächtnisleistungen,Aufmerksamkeit und Veränderungen in der zeitlichen und räumlichen Wahrnehmung. Die subjektive Wahrnehmung kann allerdings eine Verbesserung der Denkleistungen vortäuschen. Die Wahrnehmung von Farben und Geräuschen kann verändert sein, oft wird eine intensivere Wahrnehmung von sensorischen Erlebnissen z. B. beim Essen, Musikhören oder Filmbetrachten geschildert. Zusätzlich werden Veränderungen in der motorischen Koordination mit verlangsamten Reaktionszeiten, verringerter Muskelkraft, Ataxie, Dysarthrie und anderen Einschränkungen beobachtet. Zusammen mit den kognitiven Beeinträchtigungen führen diese Veränderungen zu deutlichen Einschränkungen in den verkehrsrelevanten Leistungen. Bei Untersuchungen mit verkehrsrelevanten Testbatterien, im Fahrsimulator und bei Fahrtests auf der Straße wurden dosisabhängige Defizite in vielen Bereichen deutlich (Übersicht bei Ashton [1]).

Die Einschränkungen der Fahrtüchtigkeit können schon nach Dosierungen am unteren Ende des therapeutischen Bereichs (THC 5 mg) auftreten und auch nach einzelnen Dosen mehrere Stunden anhalten. Untersuchungen im Flugsimulator zeigen ähnlich deutliche Einschränkungen in den Leistungen von Piloten nach Gebrauch von Cannabis. In einer neueren Studie wurden sowohl nach Inhalation von Marihuana als auch nach oral appliziertem THC nur geringe Einschränkungen gegenüber Plazebo in einer psychomotorischen Testbatterie berichtet, allerdings waren die Probanden chronische Cannabiskonsumenten [14]. Hinweise auf eine geringere Einschränkung der psychomotorischen Leistungen beim chronischen Gebrauch von Cannabis wurden auch von anderen Autoren berichtet [26] und entsprechen den Erfahrungen bei Patienten mit einer chronischen Opioidtherapie, die auch bei stabiler Einstellung keine Einschränkungen der verkehrsrelevanten Leistungen aufweisen. Die Einschränkungen nach Gebrauch von Cannabis scheinen geringer als nach Alkohol zu sein, und es wurde vermutet, dass Cannabiskonsumenten die Einschränkungen deutlicher wahrnehmen und am Straßenverkehr entsprechend vorsichtiger teilnehmen (Übersicht bei Hall u. Solowij [12]). Während in vielen Untersuchungen auf einen hohen Anteil an Cannabisbenutzern bei Verkehrsunfällen hingewiesen wird, liegen bis jetzt keine Berichte über die Beteiligung von Patienten mit einer medizinisch verordneten Cannabinoidtherapie an Verkehrsunfällen vor.

Psychosen Die Einnahme von Cannabis kann eine akute toxische Psychose auslösen. Das klinische Bild ist vielschichtig, mit ● ● ● ● ●

Delirium, Verwirrtheit, Desorientiertheit, Realitätsverlust und optischen und akustischen Halluzinationen.

Von paranoiden, manischen oder schizophrenen Psychosen wurde berichtet. Solche psychotischen Episoden treten

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nur selten auf und sind in der Regel auf wenige Tage beschränkt. Sie wurden v. a. nach hohen Dosierungen berichtet. Ältere Berichte aus dem 19. Jahrhundert von Selbstversuchen mit Cannabiszubereitungen, bei denen oft erhebliche Dosierungen eingenommen wurden, geben lebhafte Schilderungen von psychotischen Episoden. Patienten mit psychiatrischen Vorerkrankungen oder mit einer familiären Anamnese einer Schizophrenie scheinen besonders anfällig für diese Nebenwirkung zu sein. Es gibt keine Hinweise darauf, dass der Konsum von Cannabis Psychosen auslösen kann bei Personen, die diese Psychose sonst nicht entwickelt hätten. Bei Patienten mit Schizophrenie kann die Erkrankung aber durch die Einnahme von Cannabis ausgelöst oder verstärkt werden, die Wirkung der antipsychotischen Medikation kann antagonisiert werden [8, 11]. In einer neueren epidemiologischen Studie war der Gebrauch von Cannabis mit einem erhöhten Risiko für psychotische Symptome (Odds-Ratio 2,76) und für behandlungsbedürftige Psychosen (Odds-Ratio 12,01) verbunden, allerdings war dieser Effekt v. a. bei den Patienten messbar, bei denen eine psychiatrische Vorerkrankung bekannt war [23]. Auch für Depressionen wurde in einer großen epidemiologischen Untersuchung ein erhöhtes Risiko bei Cannabiskonsumenten festgestellt, wobei keine Aussage über einen ursächlichen Zusammenhang möglich war [4]. In einer weiteren Arbeit wurden deutliche Unterschiede im klinischen Erscheinungsbild von cannabisinduzierten akuten Psychosen und akuten Schüben einer schizophrenen Psychose berichtet [18].

Kardiovaskuläre Nebenwirkungen Nach der Einnahme von Cannabinoiden können Tachykardie und Blutdrucksteigerung auftreten. Durch eine periphere Vasodilatation können aber auch lageabhängige Blutdruckabfälle vorkommen (Übersicht bei Sidney [19]). In der Übersicht von Campbell et al. [6] waren Blutdruckabfälle neben Sedierung die häufigste Nebenwirkung in den untersuchten Studien, in der Metaanalyse von Tramer et al. [22] wurde eine arterielle Hypotonie bei 25% der Patienten berichtet und eine Number needed to treat von 7,1 gegenüber den Vergleichssubstanzen in

den 30 kontrollierten Studien berechnet. Durch die Vasodilatation kann das Herzzeitvolumen um bis zu 30% gesteigert werden. Während dies bei jungen, gesunden Konsumenten in der Regel problemlos kompensiert wird, kann dadurch bei Patienten mit vorbestehender Herzerkrankung eine Dekompensation ausgelöst werden. Myokardischämien, Herzinfarkte und transitorische ischämische Attacken wurden vereinzelt nach Cannabiskonsum auch bei jungen und bis dahin gesunden Patienten berichtet. Bei der Autopsie von 6 Patienten im Alter von 17–43 Jahren wurden Hinweise auf akute kardiale Ischämien als Todesursache gefunden und gleichzeitig THC im Serum nachgewiesen [2]. Kosior et al. [16] berichteten über 2 Patienten im Alter von 24 und 32 Jahren, die nach Cannabis eine paroxysmale Tachkardie entwickelten, wobei ein Patient nach einem Reexpositionsversuch eine erneute Tachykardie erlitt. In anderen Fallberichten traten Myokardinfarkte nach der Kombination von Cannabis mit Alkohol, Kokain oder Sildenafil auf [7, 10, 17].

Nebenwirkungen am respiratorischen System Nebenwirkungen von THC oder anderen Cannabinoiden am respiratorischen System wurden nicht berichtet. Beim Rauchen von Cannabiszubereitungen werden jedoch eine Vielzahl von schädlichen Substanzen freigesetzt, die zur Irritation der Bronchien mit Bronchitis und Emphysem nach chronischem Gebrauch führen können. Unter anderem werden Kohlenmonoxyd absorbiert und Teer in der Lunge abgelagert. Die Schäden an der Bronchialschleimhaut nach 2–3 Cannabiszigaretten pro Tag sind vergleichbar mit denen nach 20 Tabakzigaretten. Einzelne Fallberichte geben Hinweise auf einen Zusammenhang mit dem Rauchen von Cannabis und Tumoren in Oropharynx, Zunge und Larynx. In einigen Fällen traten solche Tumoren auch bei jungen Patienten auf, die weder Tabak noch Alkohol konsumiert hatten. Epidemiologische Studien, die genauere Daten zur Kanzerogenität des Cannabisrauchs geben können, liegen jedoch nicht vor (Übersicht bei Hall u. Solowij [12]).

Andere Nebenwirkungen Eine Hemmung des Immunsystems durch Cannabis wurde in verschiedenen Tierversuchen nachgewiesen, konnte bisher aber beim Menschen nicht bestätigt werden. THC und Cannabidiol hemmten die Produktion verschiedener Zytokine in vitro [20]. In 2 Untersuchungen bei HIV-positiven Männern war der Gebrauch von Cannabis nicht mit einem erhöhten Risiko einer AIDS-Erkrankung verbunden (Übersicht bei Hall u. Solowij [12]). Ein Vergleich von Marihuana, THC und Plazebo zeigte bei HIV-positiven Patienten kaum Unterschiede in Immunfunktion oder Phänotyp über die Untersuchungszeit von 21 Tagen [5]. In einem Fallbericht wurde eine Aspergillose durch infizierte Marihuanazigaretten ausgelöst, allerdings bei einem immunsupprimierten Patienten nach Knochenmarktransplantation [13]. Der Gebrauch von Cannabis kann das Reproduktionssystem einschränken. Bei Männern liegen Hinweise auf eine geringere Zahl und Motilität der Spermien vor, bei Frauen kann die Ovulation unterdrückt werden (Übersicht bei Ashton [1]). Die Effekte des Cannabisgebrauchs auf die Fertilität wurden jedoch bis jetzt nicht näher untersucht.

In der Schwangerschaft können Cannabinoide die Plazenta passieren. Studien weisen auf einen Zusammenhang von Cannabiskonsum in der Schwangerschaft und nichtlymphoblastischen Leukämien,Rhabdomyosarkomen und Astrozytomen bei den Kindern hin,die Zusammenhänge sind aber nicht eindeutig belegt (Übersicht bei Ashton [1]).

Nebenwirkungen bei Langzeittherapie Beim wiederholten Gebrauch bildet sich innerhalb von Tagen oder Wochen eine Toleranz gegenüber vielen Wirkungen der Cannabinoide aus. Sowohl für die psychotropen Wirkungen als auch für die kognitiven und psychomotorischen Einschränkungen, aber auch für die Einflüsse auf das kardiovaskuläre System und die antiemetische Effektivität wurde eine Toleranzentwicklung beschrieben (Übersicht bei Ashton [1]).

Die Toleranz gegenüber vielen Wirkungen der Cannabinoide kann sich jedoch durchaus unterschiedlich für einzelne Effekte entwickeln, und eine Vorhersage über die Toleranzentwicklung ist schwierig. Werden Cannabinoide nach längerem Gebrauch abrupt beendet, kann ein Entzugssyndrom auftreten. Die Symptome sind ähnlich wie beim Entzug nach Opioiden oder Alkohol; Unruhe, Angst, Dysphorie, Erregbarkeit, Schlaflosigkeit, Muskelzittern und verstärkte Reflexe wurden beschrieben. Bei chronischen Cannabiskonsumenten wurde ein „Amotivationssyndrom“ unterstellt. Gemeint ist der anhaltende Mangel an Motivation, eine generelle Lustlosigkeit bei chronischer Intoxikation. Funktionelle Schädigungen im Zentralnervensystem konnten nicht nachgewiesen werden. Untersuchungen bei Langzeitkonsumenten wiesen jedoch einige kognitive Beeinträchtigungen im Vergleich mit Nichtkonsumenten nach. Dabei lässt sich aber oft schlecht unterscheiden, ob die Beeinträchtigungen durch den Cannabiskonsum entstanden sind oder ob die schlechteren Leistungen in diesen Tests vielleicht in Verbindung mit anderen (sozialen) Faktoren als Prädiktoren mit einem gehäuften chronischen Gebrauch von Cannabis einhergehen. Tests zur selektiven Aufmerksamkeit mit evozierten Potenzialen zeigten eine Verbesserung nach einer mehrmonatigen Abstinenz, die Leistungen waren jedoch immer noch signifikant schlechter als in der Kontrollgruppe (Übersicht bei Ashton [1]). In 2 großen epidemiologischen Studien wurde eine geringfügig erhöhte Mortalität bei Cannabiskonsumenten beschrieben, jedoch wurde diese Erhöhung in den beiden Studien in Schweden und den USA durch andere Faktoren wie erhöhten Alkoholgebrauch oder höhere Erkrankungszahlen von AIDS in der Gruppe der Cannabiskonsumenten erklärt (Übersicht bei Hall u. Solowij [12]). Zur medizinisch indizierten Cannabinoidlangzeittherapie liegen nur wenig Daten vor. Die meisten klinischen Studien beschränken sich auf kurze Beobachtungszeiträume. In einer Nachbeobachtung einer kontrollierten Studie wurden Sicherheit und Effektivität über 12 Monate bei 94 Patienten mit Anorexie bei AIDS beschrieben, die 2,5–5 mg/Tag Der Schmerz 4•2003

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Übersicht THC einnahmen [3]. Bei 44% der Patienten traten unter der Langzeittherapie Nebenwirkungen auf, in erster Linie psychotrope Nebenwirkungen bei 38%. Lebensbedrohliche Komplikationen wurden nicht berichtet. Die Behandlung mit THC wurde bei 20% der Patienten abgebrochen, v. a. wegen psychotroper Nebenwirkungen, und nur bei einzelnen Patienten wegen Asthenie, Palpitationen oder Tachykardie.

Eigene Patienten In der Schmerzambulanz der Klinik für Anästhesiologie des Universitätsklinikums Köln wird THC seit 1998 bei einzelnen Patienten mit therapierefraktären Schmerzen oder anderen Symptomen eingesetzt. In einer retrospektiven Auswertung wurden die Daten von 15 Patienten, die in der Schmerzambulanz mit THC behandelt worden waren, untersucht. Ein Abbruch der THC-Behandlung wurde bei 8 Patienten dokumentiert. Bei 2 Patienten blieb THC ohne Wirkung, davon bei 1 Patienten mit Schmerzen und 1 Patienten mit Übelkeit und Erbrechen. Bei den übrigen Patienten führten Nebenwirkungen zum Abbruch: Kopfschmerzen und Übelkeit, Benommenheit, Halluzinationen, Appetitverlust sowie Haarausfall und Appetitlosigkeit wurden von den Patienten als Abbruchgründe genannt. Von einem Patienten wurde die Therapie mit THC zwar als sehr effektiv betrachtet, wegen eines Herzinfarkts musste diese aber dennoch beendet werden.

Fall 1 Ein 73-jähriger Patient wurde in der Schmerzambulanz wegen brennenden neuropathischen Schmerzen in der gesamten linken Körperhälfte mit einer Intensität bis zu 9 auf der numerischen Rangskala (NRS, 0=kein Schmerz, 10=nicht stärker vorstellbare Schmerzen) vorgestellt. Die Schmerzen waren nach einem zerebralen ischämischen Insult vor 3 Jahren aufgetreten. Zusätzlich bestand eine Polyneuropathie mit Gefühlsstörungen an beiden Beinen. In der Vormedikation war der Patient u. a. mit oral appliziertem Tilidin/Naloxon, Morphin, Oxycodon, Hydromorphon und Amitriptylin behandelt worden sowie mit transdermalem Fentanyl.

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Die Behandlung mit THC 5 mg/Tag wurde eingeleitet, vom Patienten aber bereits nach 5 Tagen wegen Halluzinationen („weiße Mäuse“) wieder abgesetzt.

Fall 2 Bei einer 52-jährigen Patientin wurde ein Mammakarzinom mit Ablatio mammae, axillarer Ausräumung und adjuvanter Chemotherapie behandelt. Als Nebenbefund war eine Schrumpfblase bei chronischer Zystitis mehrfach operativ behandelt worden. 2 Jahre nach der Tumorbehandlung traten Schmerzen am Brustkorb auf, die zur Diagnose von Metastasen an den Rippen führten. Die analgetische Vorbehandlung umfasste Fentanyl transdermal, Fluoxetin und Dexamethason. THC wurde mit 5 mg/Tag angesetzt. Die Patientin fühlte sich nach der Einnahme den ganzen Tag benommen. Nachdem sie das Medikament abgesetzt hatte, kam es jedoch zu deutlichen Entzugssymptomen. Ein stufenweises Ausschleichen der THC-Medikation ließ sich dann problemlos bewerkstelligen.

Fall 3 Der 71-jährige Patient wurde wegen Phantomschmerzen bis NRS 8 nach Oberschenkelamputation vor 1 Monat im Rahmen einer arteriovenösen Verschlusserkrankung in der Schmerzambulanz vorgestellt. Da die Vorbehandlungen mit oraler Gabe von Hydromorphon, Gabapentin und Amitriptylin ineffektiv blieben, wurde THC 5 mg/Tag verordnet. Nach 1 Monat trat ein Hinterwandinfarkt auf, der mit einer perkutanen transluminären Rekanalisation behandelt wurde. Im Rahmen dieses Ereignisses wurde die THC-Therapie beendet.

Schlussfolgerungen Cannabinoide haben eine lange Geschichte als Sucht- und Genussmittel.

Das Risiko einer Gesundheitsschädigung scheint auch bei langfristigem Cannabinoidgebrauch nicht höher als bei Alkohol oder Nikotin zu liegen. In den letzten Jahren wird zunehmend über den Einsatz von Cannabinoiden aus verschiedenen medizinischen Indikatio-

nen diskutiert, daher ist eine Bewertung der Nebenwirkungen notwendig. Die pharmakologischen Eigenschaften der Cannabinoide können die Entstehung von Komplikationen erleichtern. Eliminationshalbwertzeiten bis zu 56 h, nach wiederholten Gaben sogar noch längere Ausscheidungszeiten aus dem Fettgewebe können zur Kumulation und spät auftretenden Komplikationen führen. Trotz dieser Bedenken sind bislang aber nur wenige bedrohliche Komplikationen nach dem Konsum von Cannabis berichtet worden.

Lebensbedrohliche Komplikationen nach dem Einsatz aus medizinischer Indikation wurden noch nicht veröffentlicht. Beeinträchtigende Nebenwirkungen wurden jedoch in vielen Studien berichtet und führten bei vielen Patienten zum Therapieabbruch. Die Bewertung der Nebenwirkungen ist dabei nicht immer einfach, da sie z. T. auch als positiv eingestuft werden können. So wird die Euphorie von einigen Patienten als unangenehm empfunden, von anderen aber als Vorteil des Medikaments gesehen. Bei Tumorpatienten kann die Euphorie sogar als therapeutischer Effekt angestrebt werden. Nicht eindeutig geklärt ist bis jetzt, ob die pflanzlichen Zubereitungen gegenüber den Einzelsubstanzen wie THC oder Nabilone vorteilhaft sind. In den wenigen vorliegenden klinischen Studien konnten solche Unterschiede nicht belegt werden. Unter den pflanzlichen Zubereitungen traten eher mehr Nebenwirkungen auf, so dass zurzeit zu einer Therapie mit den Einzelsubstanzen geraten werden muss. Auch zur Langzeitverträglichkeit fehlen Daten. Die Cannabistherapie wird bei vielen Patienten z. B. mit chronischen Schmerzen oder Spastizität bei multipler Sklerose voraussichtlich über viele Jahre durchgeführt werden. Angaben zu den Nebenwirkungen bei längeren Behandlungszeiträumen fehlen bislang. Nach der Literatur und den eigenen Erfahrungen können Cannabinoide nicht als Medikament der ersten Wahl empfohlen werden, da die Nebenwirkungen bei vielen Patienten eine effektive Langzeittherapie verhindern. Für Patienten, die unter einer konventionellen Therapie keine ausreichende Symp-

tomlinderung für Übelkeit, Erbrechen, Anorexie oder Schmerzen haben, kann der Einsatz von Cannabinoiden sinnvoll sein. Die geringe therapeutische Breite mit Nebenwirkungen oft schon im Bereich niedriger Dosierungen wird auch bei diesen Patienten eine Langzeittherapie oft verhindern. Für den Einsatz der pflanzlichen Zubereitungen lässt sich aus der Literatur kein Vorteil gegenüber der oralen Therapie mit THC erkennen. So lange keine weiteren Daten zur Sicherheit und Effektivität der Cannabinoide vorliegen, sollte die Therapie mit Cannabinoiden entsprechend sorgfältig überwacht werden. Aus der vorliegenden Literatur können Kontraindikationen formuliert werden. So sollten Cannabinoide nicht bei Patienten mit einer Vorgeschichte mit kardialen Ischämien eingesetzt werden, da die Gefahr eines Myokardschadens zu hoch ist. Ebenso sollten Cannabinoide nicht bei Schwangeren eingesetzt werden, wegen eines möglichen kanzerogenen Risikos beim Kind. Danksagung Die Universitätsprofessur für Palliativmedizin der Universität Aachen (Lukas Radbruch) wird durch die GrünenthalStiftung für Palliativmedizin gefördert.

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