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CO N T R A PU N C T U S Health Academy 01/2005 201 RUBENS UND „DIE VIER PHILOSOPHEN“ ODER DIE KUNS T, UNSICHTBARE S SICHTBAR ZU M ACHEN ■ K. G...
Author: Catharina Weiss
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Health Academy 01/2005

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RUBENS UND „DIE VIER PHILOSOPHEN“ ODER DIE KUNS T, UNSICHTBARE S SICHTBAR ZU M ACHEN ■

K. Giese

Urbanstraße 175, D-10967 Berlin

1. Von dem Sichtbaren



Vier Männer haben sich um einen Tisch versammelt. Drei von ihnen haben Platz genommen und lauschen etwas gedankenverloren, in sich versunken dem Ältesten, der gerade seinen Vortrag beendet zu haben scheint. Mit seiner gemessenen rhetorischen Geste ins Zentrum gerückt und mit dem Finger auf eine Textstelle eines vor ihm aufgeschlagenen Buches zeigend, beherrscht er als Hauptakteur den Diskurs jener Runde. Als ob er das Gesagte des Redners überprüfen wolle oder über einen Einwand sinnend, hält der Mann zu seiner Linken ebenfalls ein geöffnetes Buch in den Händen. Dass es sich hier um ein gelehrtes Gespräch handelt, wird unmissverständlich deutlich: Auf dem Tisch liegen einige schwergewichtige Folianten ausgebreitet, während in einer Nische über allen die Büste eines antiken Philosophen thront. Welche Fragen die Anwesenden erörtern, darüber gibt das Geschilderte keine eindeutige Antwort, doch verweist die über allen thronende, in einer Nische befindliche Büste des Philosophen Senecas darauf, dass sich die Anwesenden in einem philosophischen Gespräch befinden. Etwas zurückgesetzt und am Bildrand stehend, erkennen wir die vierte und heute noch bekannteste Person der Versammlung. Es ist Peter Paul Rubens (1577–1640), der Maler selbst, der sich nach einem längeren Italienaufenthalt um 1611/12 mit drei weiteren zu jener Zeit in Europa bekannten niederländischen Persönlichkeiten porträtiert hat [1, 2]. Der beherrschende Platz im Zentrum ist Justus Lipsius (1547–1606) zugewiesen. Im 17. Jahrhundert war er ein bedeutender Gelehrter an der für Europa ebenso renommierten Universität Leiden in den Nordniederlanden, von der wichtige Impulse für Wissenschaft und Forschung in alle Welt ausgingen. Lipsius war Historiker, Philologe und Philosoph [3]. In Rückbezug auf Senecas antikes Lehrgebäude der Stoa gilt er als Begründer und wichtigster Vertreter des Neostoizismus. Seine Lehre hat nicht nur nachhaltigen Einfluss auf die Anwesenden im Bild, sondern auch auf das philosophische Denken im 16. und 17. Jahrhundert ausgeübt. Zu seiner Rechten ist der Philologe Philipp Rubens (1574–1611), der

Abb. 1 Peter Paul Rubens: Die vier Philosophen, Öl auf Holz, um 1611. © Palazzo Pitti, Florenz

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Bruder des Malers dargestellt. Ihm wiederum gegenüber ist im Halbprofil der berühmte Humanist Jan Woverius (1576–1635) ins Bild gesetzt. Beide studierten bei Justus Lipsius und waren seine Lieblingsschüler. Philipp Rubens studierte darüber hinaus die Jurisprudenz und erwarb 1603 den Grad eines Doktors beider Rechte in Rom. Mit seiner Tätigkeit als Sekretär des Präsidenten des Geheimen Staatsrates der habsburgischen Niederlande, Richardot, begann er seine politische Laufbahn. Bereits wenige Jahre später, im Jahre 1609, wurde ihm das Amt des Stadtsekretärs von Antwerpen übertragen. So real auf uns das Gruppenbildnis auch wirkt, es ist wie viele Vertreter seines Genres ein reines Konstrukt. Die Versammlung der vier hat so nie stattgefunden. Sicherlich haben sich die gelehrten Freunde mit ihrem Lehrer und Mentor getroffen, doch wäre dies zum Zeitpunkt seines Entstehens weder zeitlich noch räumlich möglich gewesen. Das Bild sollte auch gar nicht den Eindruck einer realen Begebenheit evozieren. Dem gebildeten Betrachter jener Zeit war das unmissverständlich klar. Über diesen Umstand geben das Bild oder besser die Bildgegenstände beredte Auskunft. Sie alle repräsentieren über das eigentlich Dargestellte hinaus symbolhafte Bildformeln, deren Bedeutung in den gebildetsten Kreisen des 17. Jahrhunderts zum lesbaren Allgemeingut gehörten. In ihrer Summe weisen sie auf einen übergeordneten Sinnzusammenhang, der sich heute erst im Kontext genauer Betrachtung rekonstruieren lässt.

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Abb. 2

2. Von den Symbolen

Peter Paul Rubens: Bildnis Helene Fourments mit ihrem erstgeborenen Sohn Frans, Öl auf Holz, um 1635. © Bayrische Staatsgemäldesammlung, Alte Pinakothek, München

Betrachten wir das Umfeld der Tischrunde, so scheint sich die Szenerie in einem palastartigen Raum abzuspielen. Zwischen einem schweren roten Samtvorhang und einer kostbaren Marmorsäule öffnet sich hinter der Personengruppe der Blick in eine mediterrane Landschaft. Säule und Vorhang rahmen aber nicht nur den Ausblick ins Freie und charakterisieren den Raum als prachtvolles Gemach: Sie sind gleichzeitig Attribute, die immer wieder als Würdeformeln zur standesgemäßen Repräsentation adliger und fürstlicher Personen in Porträts ins Bild gesetzt wurden. Während die Säule als Folie Justus Lipsius zugeordnet ist, spannt sich der Vorhang über die Gebrüder Rubens. Die genannten Motive hat Rubens beispielsweise bei dem Doppelbildnis seiner zweiten Frau Helene Fourment und ihres erstgeborenen Sohnes Frans als Zeichen seines ausgeprägten Standesbewusstseins verwendet (Abb. 2) [1, 4]. Über diese allgemeine Bedeutung hinaus ist die Säule ein festgelegtes Attribut der Personifikationen von Fortitudo und Constantia, den Tugenden der Dauerhaftigkeit und Beständigkeit [5]. Ein Symbolgehalt, der bei der Dechiffrierung des Bildes noch von Bedeutung sein wird. Vergleicht man die Landschaftsdarstellung mit anderen aus jener Zeit, so wird deut-

lich, dass Rubens hier den Ausblick auf den Palatin bei Rom dargestellt hat [1]. Nehme man die topographische Verortung wörtlich, müsse sich die Zusammenkunft vor den Toren Roms in einer vornehmen Villa abgespielt haben. Doch das hat sie nicht. Die hier im Bild Anwesenden waren nie gemeinsam am selben Ort in Italien. Den Raum hat es nie gegeben. Und noch einen Hinweis gibt der Maler selbst, der zur Dekonstruktion des Ortes beiträgt: Es ist der Teppich, der als Schmuck den Tisch bedeckt. In den Niederlanden des 17. Jahrhunderts gehörten kostbare Teppiche als besonderes Ausstellungsstück und Statussymbol auf den Tisch der Elite und der reichen Bürger. Im übrigen Europa war diese Mode der Interrieurdekoration ungebräuchlich. So sehen wir die hier dargestellte Runde eher in die Studierstube eines vornehmen reichen niederländischen Bürger- oder Adelshauses als in eine italienische Villa versetzt. Aber nicht der Ort allein ist eine reine Fiktion Rubens, auch die Zeit ist im Bild zu einem Anachronismus eingefroren. Als das Bild entstand, waren zwei der Porträtierten schon tot. Justus Lipsius, der die beherrschende Stellung in der Runde einnimmt, starb bereits 1606, Rubens Bruder

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Philipp 1611, kurz bevor das Bild entstand. Auch diesen Umstand führt Rubens dem Betrachter durch eine ikonographische Anspielung vor Augen. In der Wandnische neben der Büste Senecas hat der Maler eine Vase platziert, in der zwei geöffnete und zwei geschlossene Tulpen die Lebenden und die Toten des Kreises anzeigen [1, 2]. Der unerwartete Tod des geliebten Bruders, der das glückliche Familienleben des Malers jäh überschattete, gilt in der Kunstgeschichtsschreibung, so zumindest die Vermutung, als Anlass der Entstehung des Gruppenporträts. Ob der Hund im Vordergrund am unteren Bildrand in diesem Zusammenhang freundschaftliche Treue symbolisieren soll, wie es seiner ikonographischen Bedeutung bis in die frühe Neuzeit entspricht, kann nur vermutet werden.

3. Von An- und Abwesenden Rubens Gemälde erfüllt in diesem Zusammenhang die Funktion eines Gedächtnisbildes, das Rubens zum ehrenden Andenken seines Bruders und seines Gelehrtenfreundes Justus Lipsius gemalt hat. Man könnte es daher als ein profanes Epitaph bezeichnen. Vergleicht man das Gemälde mit anderen Doppelbildnissen, insbesondere Gruppenporträts, wird deutlich, dass es im Œuvre des Malers eine Sonderstellung einnimmt. Keines dieser Bilder weist eine solche Fülle symbolaufgeladener Gegenstände und eine solche Dichte ikonographischer Anspielungen und Querverweise auf, wie das hier besprochene. Bei dem 1602 in Italien entstandenen Selbstbildnis „Rubens im Kreis der Mantuaner Freunde“ verzichtet er z. B. auf eine derart symbolische Instrumentierung fast vollständig (Abb. 3) [6]. Auch hier hat sich wie in unserem Bild eine Gruppe von Männern versammelt. Im Hintergrund öffnet sich der Blick auf ein gewaltiges Panorama einer mediterranen Landschaft. Der niedrige Horizont zieht den Blick in die Tiefe einer weiten Flussebene. An dem jenseitigen Ufer des Stromes ist eine Kirche zu erkennen, die angesichts des dramatischen Abendhimmels, der sich über die ganze Szenerie spannt, nichtig und klein wirkt. Die Männer vor dieser gewaltigen Kulisse scheinen sich ganz dem Naturschauspiel der untergehenden Sonne und der hereinbrechenden Nacht hinzugeben. Der aufwändige Apparat von Gegenständen und Motiven ist hier der Gegenüberstellung von Natur und der sie überwältigenden bestaunenden Menschen gewichen. Sieht man davon ab, dass die Szenerie im Freien spielt, ist es vor allem die Art der Kommunikation, die das Bild grundlegend von der gelehrten Tischrunde unterscheidet. Diese Diskrepanz zwischen beiden Gruppenbildnissen könnte nicht deutlicher sein. Dort ein nachdenklicher, besonnen um Argumente ringender Austausch – hier eine nonverbale, gelassene Harmonie und ein Gleichklang der Empfindungen. Es ist aber bei allen Unterschieden nicht allein das Genre des Gruppenbildnisses an sich und die nahezu identische Haltung Rubens, die das Bild als Vergleichsbeispiel

Abb. 3 Peter Paul Rubens: Rubens im Kreise der Mantuaner Freunde, Öl auf Leinwand, um 1602, © Wallratz-Richartz-Museum, Köln

prädestiniert. Es sind die hier abgebildeten Personen selbst. Soweit identifizierbar, ist Rubens Bruder Philipp und etwas zurückversetzt am Bildrand im Profil sein Lehrer Lipsius dargestellt. Ob wir in der Person im Vordergrund dem Maler gegenüber Jan Woverius vermuten können, muss offen bleiben. Auch die beiden Personen dahinter in der linken Hälfte sind bis heute nicht klar bestimmbar. Fest steht, dass das Bild etwa zur gleichen Zeit entstand, als der Maler seinen Bruder Philipp, der sich ebenfalls zu Studienzwecken in Italien aufhielt, in Mantua traf und mit ihm gemeinsam durch verschiedene norditalienische Städte reiste. In Verona stieß Jan Woverius zu ihnen. Ihr Zusammentreffen ist durch einen Brief von Philipp Rubens aus Padua bezeugt sowie durch die Inschrift des bekannten Kupferstiches „Judith und Holofernes“ [7]. Doch Justus Lipsius war zu dieser Zeit nicht in Italien, sondern lehrte in Leiden. Die Projektion von Personen an einer Begebenheit, an der sie nicht präsent sein konnten, ist eine Parallele, die ebenfalls beide Bilder gemeinsam haben. Das Mantuaner Freundesbild können wir als eine Art Vorwegnahme des späteren, um 1611 entstandenen Bildes annehmen. Was hat also Rubens dazu bewogen,

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Abb. 4 Pieter de Jode (d. Ä.): Porträt des Justus Lipsius, Kupferstich nach einem Gemälde von Abraham Janssens (d. Ä.), 1605. © Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster

das Sujet in eine ganz neue fiktive Konstellation zu übersetzen? Warum inszeniert Rubens ein Gespräch der sich Nahestehenden, das nie stattgefunden hat, und verleiht ihm so eine ernste, fast feierliche Stimmung? Und aus welchem Grund ist der Person des toten Lipsius so eine zentrale Rolle im Bild zugewiesen? Wir wissen, dass Rubens 1605 seinen Bruder Philipp in Rom traf. Es war wohl eines der letzten Male, die er seinen Bruder lebend sah. Wir wissen auch, dass sein Lehrer Justus Lipsius in Rom die Grundlage für seine spätere philosophische Arbeit legte. Damit ist der Bezug zumindest zum Ort des Geschehens angedeutet. Einen weiteren Hinweis kann uns hier der in der älteren Kunstgeschichte gebrauchte Titel „Lipsius im Kreise seiner Schüler“ oder „Die vier Philosophen“ geben. Alle Hinweise führen uns auf die Spur der Philosophie zurück.

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senschaft von den göttlichen und menschlichen Dingen auf. Dabei unterteilten sie ihr Lehrgebäude in die Bereiche von Logik, Physik und Ethik. In den vorgestellten Disziplinen der Philosophie stehen die Ethik und ein rigoroses Pflichtdenken im Mittelpunkt der Lehre. Als oberstes Prinzip formulierten die Stoiker, mit sich selbst und der Natur in Übereinstimmung zu leben. Dabei sollte alles, was der Natur zuwider liefe, bekämpft werden, um die Einsicht und Erkenntnis nicht zu verstellen. Die sittliche Lehre basierte auf der Vorraussetzung, dass die Welt als einheitlicher Körper gedacht wurde, der von einer allumfassenden Weltvernunft auch den Menschen einschloss. In dieser Vorstellung spiegelte der Mensch als Mikrokosmos den Makrokosmos wider. Der Unterschied zwischen Mensch und Universum war damit aufgehoben. In dieser von dem vernünftigen Weltgesetz beherrschten und geordneten Welt war alles durch die Vorhersehung der Vernunft vorausbestimmt. Um vor dem unausweichlichen Schicksal bestehen zu können, sollte sich der Mensch von allen Affekten befreien und sich allein dem Gesetz der Vernunft unterordnen. Allein der Weise, der sich allen Affekten und Leidenschaften entledigte, war wirklich frei, da er sich von der Vorhersehung befreien konnte. Er war das Idealbild der Stoiker. Als Wissender, der über die Vernunft zur Erkenntnis der Gesetzmäßigkeit der Welt gelangt, konnte er sich angesichts drohender Schicksalsschläge der unerschütterlichen Gelassenheit hingeben. Diese aus der Vernunft geborene Gelassenheit wurde zum Hauptmerkmal des Stoizismus und ist allgemein als die „stoische Ruhe“ bekannt. Während seinen Studien an der vatikanischen Bibliothek in Rom setzte sich Lipsius von 1567 bis 1569 intensiv mit den antiken Schriften auseinander und machte sich den Stoizismus zu eigen. Damit war die Grundlage für sein wichtigstes philosophisches Werk „De Constantia“ gelegt, das 1584 in Antwerpen erschien und ihm zum gefeierten Neuerer des Stoizismus in Europa machte (Abb. 5) [3]. Beson-

4. Vom Stoizismus Es ist schon erwähnt worden, dass Lipsius’ philosophisches Denken als Lehrer weitreichenden Einfluss auf die Geisteshaltung der Gebrüder Rubens und Jan Woverius hatte (Abb. 4). Im Mittelpunkt stand der von Lipsius begründete Neostoizismus, der auf der antiken Schule der Stoa basierte und von Zenon und Kition 300 vor Christus in Athen begründet wurde [3]. In der nachhellenistischen Zeit entwickelte sich der Stoizismus zu einer führenden philosophischen Strömung im römischen Reich, deren Hauptvertreter Seneca war. Die Stoiker fassten ihre Philosophie als eine Wis-

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Abb. 5 Titelvignette von Justus Lipsius’ Ausgabe „De Cruce“, Antwerpen 1599. Der Kupferstich zeigt, wie wichtig die Tugend der Beständigkeit vs. Constantia im Werk von Lipsius war. © Museum of the History of Science, Oxford (England)

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ders der ethische Zweig der Lehre fand vor dem Hintergrund der Religionswirren rege Aufnahme. Lipsius war selbst in die politische Auseinandersetzung und das konfessionelle Ringen um die richtige Religion verwickelt worden. Mehrfach war er gezwungen, den Ort seiner Lehrtätigkeit zu wechseln und konvertierte darüber hinaus zweimal. Lipsius traf mit seinem Werk den Nerv der Zeitgenossen, die angesichts der religiösen Unsicherheit und den folgenden verheerenden Zuständen des Dreißigjährigen Krieges nach Orientierung suchten [8]. Dass auch Peter Paul Rubens von dieser Geisteshaltung durchdrungen war, hat er mit einer Inschrift aus der zehnten Satire Juvenals, die er mit einer anderen an den Gartenportikus seines Antwerpener Anwesens anbringen ließ, Ausdruck verliehen: „Beten soll man um einen gesunden Geist in einem gesunden Körper, um eine mutige Seele, die den Schrecken des Todes nicht fürchtet, die von Zorn nicht weiß und nichts begehrt.“ [2] Dass dem Maler Rubens das Thema der stoischen Philosophie nicht losließ, beweist das ebenfalls 1611/12 entstandene Gemälde „Der sterbende Seneca“ (Abb. 6) [6]. Es sei in diesem Zusammenhang erwähnt, dass Lipsius 1605, ein Jahr vor seinem Tod, die von seinen Gelehrtenfreunden lang erwartete Seneca-Ausgabe veröffentlichte, die „L. Annaei Senecae Philosophi Opera quae extant omnia“. Seinen Freund und Schüler Philipp Rubens bat er, ein Exemplar dem Papst zu überreichen [9].

5. Vom doppelten Sehen oder der Kunst, Unsichtbares sichtbar zu machen Vor diesem Hintergrund des Exkurses erschließt sich uns nun das komplizierte Beziehungsgeflecht von symbolischen Anspielungen und Querverweisen sowie die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem im Bild der vier Philosophen. Damit klärt sich aber auch die erste Schicht der Bedeutung des Gemäldes. Die Säule als Attribut der Constantia spielt auf das Hauptwerk „De Constantia“ von Lipsius an. Sie steht aber auch für die Fortitudo, die Tapferkeit oder Standhaftigkeit, die eine der Grundtugenden des Stoizismus bildet. Die Beharrlichkeit, eng mit der Fortitudo verwandt, ist ebenfalls eine der gewünschten Eigenschaften des Idealbilds des Weisen innerhalb des stoischen Lehrgebäudes. Neben dem Sinn als Würdeformel hat die Säule also drei in sich verschränkte Bedeutungsebenen, die gemeinsam mit der Büste Senecas alle auf die stoische Philosophie verweisen. Die Wiedergabe von Lipsius mit seinen Schülern im Bild hat also nicht nur die Aufgabe eines ehrenden Porträts an sich, sondern erfüllt die Funktion, die gemeinsame Geisteshaltung der im Bild Versammelten zu vermitteln. Das erklärt auch, warum Rubens über den Tod hinaus die Lebenden mit den Toten vereint. Der Maler fordert also den Betrachter zum doppelten Sehen heraus. Neben der

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Abb. 6 Peter Paul Rubens: Der sterbende Seneca, Öl auf Holz, um 1612–1614. © Bayrische Staatsgemäldesammlung, Alte Pinakothek, München

Wahrnehmung der sichtbaren Welt soll er hinter die Dinge schauen. Diese Form der Bildbetrachtung war ein gängiges Verständnis der Malerei in der frühen Neuzeit. Die Malerei, so die Vorstellung, hat die Kraft, im Sichtbaren das Unsichtbare auszudrücken [10]. Dieser Vorstellung schließt sich die Analogie von Freundschaft und Malerei an, wie sie Leon Batista Alberti (1404–1472) und der Philosoph Michel Montaigne (1533–1592), ein Zeitgenosse von Lipsius, ausgelegt haben. Danach ist die Malerei wie die Freundschaft in der Lage, Abwesende zu vergegenwärtigen. Beide können vermittels göttlicher Kraft die Präsenz oder Sichtbarkeit eines Abwesenden herstellen. Das ist genau das, was uns der Maler hier demonstriert. Doch Rubens will mehr als nur ein ehrendes Porträt und eine gemeinsame Geisteshaltung der Anwesenden darstellen oder gar das Abwesende vergegenwärtigen. Der Verweis auf das doppelte Sehen als Akt der optischen Wahrnehmung und des schauenden Hinterfragens führt uns zurück zum eigentlichen Geschehen im Bild. Dargestellt ist ein Gespräch oder besser, wie schon erwähnt, ein Diskurs. Und dieser verläuft bei genauer Betrachtung nach einer festgelegten akademischen Gesetzmäßigkeit. So können wir in Lipsius bzw. seinem Fingerzeig auf eine bestimmte Textstelle die Hypothese formuliert sehen, während Jan Woverius mit ebenfalls vor

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ihm aufgeschlagenen Buch, die Gegenrede führend, die Antithese repräsentiert. In Philipp Rubens können wir die Synthese vermuten. Mit erhobener Feder scheint er die gewonnene Erkenntnis niederschreiben zu wollen. Rubens führt uns hier also nichts weniger als die Dialektik, die kritische Methode des Philosophierens, vor Augen. Der Maler im Bild ist allerdings am Diskurs des engeren Kreises nicht unmittelbar beteiligt. Als Zuschauer am Rande des Geschehens, noch eben der Landschaft zugewendet, blickt er uns über die Schulter an, als wolle er darauf hinweisen, dass das akademische Ringen um Einsicht nur dann zu einer echten Erkenntnis führt, wenn es aus der Enge der Studierstube heraus den Blick auf die Verhältnisse der realen Welt richtet.

Literatur

ANHANG

■ Glossar

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■ Autorenverzeichnis

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■ Contents / Abstracts

227

■ Reminiszenzen zum 15. Dresdner Palais-Gespräch

232

[1]

Huballa E (Hrsg.): Propyläen Kunstgeschichte, Bd. 9, Die Kunst des 17. Jahrhunderts. Propyläen-Verlag, Frankfurt am Main 1990, 168 und Taf. 108.

[2]

Liess R: Die Kunst des Rubens. Weisenhaus-Buchdruckerei und Verlag, Braunschweig 1977, 9–23.

[3]

Mittelstraß J (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. J. B. Metzler Verlag, Mannheim 1984, 620–621.

■ Danksagung

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[4]

Andersen L: Kunst im Bild – Barock und Rokoko. Holle Verlag, Baden-Baden 1969, 94–95.

■ Zur Schriftenreihe Health Academy

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[5]

Kirschbaum E (Hrsg.): Lexikon der Christlichen Ikonographie. Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 1971, 394–407.

[6]

Bauer C: Rubens. Prestel Verlag, München-Berlin-London-New York 2004.

[7]

Klassiker der Kunst, Rubens, Lizenzausgabe von Schuler Verlagsgesellschaft mbH, Hersching 1978, 12–13.

[8]

Wischer E (Hrsg.): Propyläen Geschichte der Literatur, Renaissance und Barock 1400– 1700. Propyläen-Verlag, Frankfurt am Main 1988, 494–508.

[9]

Oestreich G: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Duncker & Humblot, Berlin 1969, 82.

[10] Bätschmann O: Nicolas Poussin. Landschaft mit Pyramus und Thisbe. Das Liebesunglück und die Grenzen der Malerei. Fischer (Tb.), Frankfurt am Main 1987, 8–12. [11] Steenbeek AW: Justus Lipsius’ Saturnales Sermones. http://www.xs4all.nl/~tonio/ (06.02.2006).



Giese: Die vier Philosophen

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