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Burkhard Spinnen Belgische Riesen

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DER AUTOR Burkhard Spinnen, geboren 1956 in Mönchengladbach, lebt mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen in Münster. »Ich denke, das Thema von ›Belgische Riesen‹ betrifft Kinder so gut wie Erwachsene. Liebe und Freundschaft können in jedem Alter wunderbar sein oder viel Schmerz bereiten. Vielleicht kann das Buch eines für Kinder und Erwachsene werden. Ich habe versucht, eine große und eine kleine Geschichte ineinander zu flechten. Und ich habe versucht, alle meine Leser zum Lachen zu bringen.« (Burkhard Spinnen)

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Burkhard Spinnen

Belgische Riesen

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OMNIBUS ist der Taschenbuchverlag für Kinder in der Verlagsgruppe Random House

SGS-COC-1940

Verlagsgruppe Random House fsc-deu-0100 Das fsc-zertifizierte Papier Munken Print für Taschenbücher aus dem Omnibus Verlag liefert Arctic Paper Munkedals AB, Schweden. 2. Auflage Erstmals als OMNIBUS Taschenbuch Dezember 2004 Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform © 2000 by Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung GmbH, Frankfurt am Main Alle Rechte dieser Augabe vorbehalten durch OMNIBUS, München Umschlagbild: Nikolaus Heidelbach Umschlaggestaltung: Atelier Langenfass, Ismaning kb · Herstellung: CZ Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN-10: 3-570-21529-6 ISBN-13: 978-3-570-21529-6 Printed in Germany www.omnibus-verlag.de

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MEINER FAMILIE

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Konrad kommt rein

Die Tür geht auf. »Übrigens«, sagt Konrad, »draußen ist es total hell.« Im Schlafzimmer ist es jetzt auch ziemlich hell, weil Licht vom Flur hereinkommt, und daher kann Konrad sehr gut beobachten, wie einer der beiden Menschen, die in dem großen Bett liegen, sich blitzschnell die Decke über den Kopf zieht. Dabei sagt dieser Mensch etwas Unanständiges, das Konrad niemals sagen dürfte. Dieser Mensch ist: Der Papa. Außerhalb des Hauses heißt er Herr Bantelmann. Drinnen natürlich: Papa; und nur ganz selten: Wolfgang. Der Mensch war nicht immer der Papa. Darauf legt er besonderen Wert und davon erzählt er ziemlich oft. Konrad weiß Bescheid. 31 Jahre lang war der Papa unter anderem Sohn und Segelflugzeugmodellbauer, er war Führerscheinbesitzer und Bartträger und später war er auch der junge Geliebte des anderen Menschen, der jetzt neben ihm im großen Bett liegt. Erst seit zehn Jahren ist er der Papa; und obwohl zehn Jahre eine ziemlich lange Zeit sind, hat sich der Papa noch immer nicht so ganz ans Papa-Sein gewöhnt. Am allerwenigsten gewöhnt ans Papa-Sein ist er aber sonntagmorgens um sechs Uhr acht. Und genau das sagt er jetzt auch. Man kann es ganz gut verstehen, obwohl er die Decke über dem Kopf hat. 7

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Dass es sechs Uhr acht ist, sieht der Papa vermutlich durch einen kleinen Schlitz, den er zwischen Matratze und Decke gelassen hat, damit er noch Luft kriegt. Sechs Uhr acht steht in roten Zahlen auf der Leuchtanzeige des Digitalweckers. »Konrad«, sagt der Papa unter der Decke, »was hab ich dir verboten?« Konrad denkt. Verboten, verboten? Der Papa hat schon alles Mögliche verboten. Wie soll man da wissen, was davon er gerade meint. Zum Glück bekommt Konrad etwas Hilfe. Sie kommt von dem Menschen, der neben Papa im Bett liegt und einmal seine junge Geliebte war. Der Mensch ist: Die Mama. Außerhalb des Hauses: Frau Bantelmann. Drinnen natürlich: Mama; gelegentlich: Edith. »Es hat mit dem Reinkommen zu tun«, sagt sie. O ja, natürlich! Sofort ist Konrad im Bilde. Wie hat er das vergessen können! Es gibt ja ein besonders scharfes Verbot, das sich aufs Sonntagsmorgens-Reinkommen bezieht. Man soll nämlich, man soll nämlich – jetzt nur keinen Fehler machen! – man soll nämlich am Sonntagmorgen nicht vor, nicht vor – ja, man soll nicht vor einer bestimmten Uhrzeit reinkommen. Leider fällt Konrad diese Uhrzeit jetzt nicht ein. Das ist dumm. Und um keinen Fehler zu machen, sagt er sicherheitshalber gar nichts. Zum Glück hilft die Mama wieder. »Wie spät ist es jetzt?«, sagt sie. Und sie sagt es in einem vorwurfsvollen Ton. Konrad begreift. Vermutlich ist er also zu früh reingekommen. Das heißt, die Uhrzeit auf dem Digitalwecker könnte einen Hinweis darauf geben, zu welcher Uhrzeit man noch nicht reinkommen darf. Konrad schaut zur Uhr. »Sechs Uhr neun«, sagt er. Das ist wenigstens nicht falsch. 8

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»Großartig«, sagt der Papa unter der Bettdecke. Es klingt wie ein sehr böses Wort. »Und was haben wir dir verboten?« Schlagartig kann Konrad sich erinnern. »Ich soll sonntags nicht vor acht Uhr reinkommen. Ausnahme im Notfall, bei schwerer Krankheit oder bei Feuer.« Na, das war doch gekonnt! »Übrigens –«, sagt Konrad. Doch da heult der Papa auf. »Und was sollst du außerdem nicht?« Prompt fällt Konrad noch eine Kleinigkeit ein. Man soll, wenn das eben möglich ist, am Sonntagmorgen nicht vor acht Uhr reinkommen, und man soll, wenn man dann reinkommt, auf absolut überhaupt gar keinen Fall und nie und niemals seinen ersten Satz mit übrigens anfangen! Der Papa hat es erklärt. Er hat es sogar mehrmals erklärt. Zuletzt am vergangenen Sonntag. Es war ziemlich genau um die gleiche Uhrzeit und Konrad war gerade reingekommen. Das Wort übrigens, hat der Papa da gesagt, ist ein Wort, mit dem man bei einem Gespräch ein neues Thema an ein altes Thema anknüpft. Er hat es auch gezeigt, das Anknüpfen, mit beiden Händen. Konrad hat das verstanden. Übrigens ist ein Knotenwort. Man nimmt es wie eine Schnur und knotet zwei Gesprächsthemen zusammen, damit sie nicht auseinander fallen. »Richtig«, hat der Papa gesagt. Allerdings folge daraus messerscharf, dass man mit übrigens kein Gespräch anfangen könne. Für ein übrigens braucht man ja mindestens zwei Gesprächsthemen. Zwei! Und am Sonntagmorgen um sechs Uhr soundsoviel, da gibt es noch nicht einmal ein einziges Thema. Da gibt es vielmehr überhaupt gar kein Thema. 9

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An dieser Stelle der Erklärung ist der Papa dann ein bisschen laut geworden, obwohl es doch so früh war. »Kein Thema!«, hat er gesagt. Es gibt kein Thema, weil er, der Papa, sich überhaupt nicht in einem Gespräch, sondern vielmehr in einem Schlaf befindet! Und wenn einer der beiden zukünftigen Gesprächspartner sich noch in einem Schlaf befindet, dann muss der andere Gesprächspartner darauf verdammt noch mal Rücksicht nehmen und darf auf gar keinen Fall mit so einem dicken, fetten, hässlichen übrigens ins Zimmer platzen. Sie haben es dann am letzten Sonntag geübt: das Um acht - Uhr - Reinkommen - und - ein - Gespräch - Beginnen. Bis es klappte. O je! Jetzt hat Konrad so eine Ahnung. Und er ahnt ganz richtig. »Raus und noch mal reinkommen!«, sagt der Papa unter der Decke. »Muss das sein?«, sagt die Mama. Die Mama hat ein weiches Herz. Das wird immer wieder festgestellt. »Okay«, sagt der Papa unter der Decke, »du hast ein weiches Herz. Einverstanden. Aber wer beschwert sich mehr darüber, wenn er nicht ausschlafen kann? Du oder ich?« Das ist jetzt, was der Papa immer eine rhetorische Frage nennt. Rhetorische Fragen sind Fragen, auf die man nicht antworten muss, weil die Antwort feststeht. Und da die Mama trotz ihres weichen Herzens wirklich sehr sauer wird, wenn sie nicht ausschlafen kann, muss sie jetzt nicht antworten. Rhetorische Fragen, denkt Konrad, sind etwas sehr Praktisches. Leider fallen den Eltern viel mehr davon ein als ihm selbst. Und leider macht ihm die Mama jetzt ein Zeichen, das tatsächlich bedeutet: Rausgehen und noch mal reinkommen. Draußen auf dem Flur geht Konrad ein bisschen auf und ab, damit Mama und Papa Zeit haben einzuschlafen. Sie 10

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müssen ja schlafen, wenn er wieder reinkommt, sonst ist es nicht echt. Beim vierten Auf und Ab schaut er dann in Peters Zimmer, und da sieht er, dass der seine Decke weggestrampelt hat und jetzt auf allen vieren schläft. Konrad schaut sich das genauer an. Wie das aussieht! Den Hintern hoch und den Kopf auf den Vorderpfoten wie ein schlafender Hund. Neulich haben Papa und Mama abends vor Peters Bett gestanden, da schlief er auch so und da hat der Papa gesagt: »Ein Naturwunder.« Das sollte Peter eigentlich wissen. Vielleicht freut es ihn. »Übrigens«, sagt Konrad, »der Papa hat gesagt, du bist ein Naturwunder.« Dazu klopft er Peter auf den hochstehenden Hintern. »Wa-has?« »Ein Naturwunder. Du bist ein Naturwunder.« »Boooh. Wie spät ist es?« Das ist jetzt auch so eine rhetorische Frage. Peter ist nämlich fünf Jahre alt und versteht gar nichts von Uhrzeiten. Er redet nur nach, was andere so sagen. Also muss man ihm gar keine Antwort geben. Außerdem hat Konrad etwas anderes zu tun, als für kleine Brüder die Uhr abzulesen. Er muss ja jetzt richtig reinkommen. Also los! Als Erstes öffnet er langsam und vorsichtig die Tür zum Schlafzimmer. Sehr langsam und sehr vorsichtig, damit Mama und Papa keinen Schock bekommen. So ähnlich hat der Papa sich jedenfalls ausgedrückt. Und kaum ist er durch die Tür geschlüpft, schließt er sie auch schon wieder. Damit kein überflüssiger Lichtstrahl auf den Papa fällt. Der hat nämlich gesagt, möglicherweise sei er sonntagmorgens ein Vampir. Wenn aber Vampire zu viel Licht abbekommen, dann zerfallen sie zu Staub und das wäre doch schrecklich, denn dann müsste die Mama einen riesigen Staubhaufen aus dem Bett bürsten. Jetzt ist Konrad also im Zimmer drin. Und hier ist es to11

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tal dunkel. Kürzlich haben Mama und Papa neue Rollläden anbringen lassen, und die schließen so dicht, dass nicht das kleinste Strählchen Licht hindurchkommt. »Hermetisch verschlossen«, hat der Papa gesagt und dabei komisch gelacht. Konrad ist allerdings nicht sehr komisch zumute in dieser Dunkelheit. Er macht einen kleinen Schritt und sofort stößt er sich das Schienbein am Bett. Das tut weh, aber immerhin weiß er jetzt, wo er sich befindet. Was kommt als Nächstes? Richtig, als Nächstes muss er um das halbe Bett herumtasten, bis er die Ritze zwischen den beiden Matratzen spürt. Das ist nicht so schwierig und bald hat er sie gefunden. Aber jetzt wird es wieder anstrengend. Denn jetzt muss er ins Bett hinein und auf allen vieren die Ritze hochkrabbeln, ohne dabei der Mama oder dem Papa mit den Knien oder den Ellenbogen in etwas Empfindliches zu stoßen oder mit seinem schrecklich harten Kopf der Mama oder dem Papa einen Zahn auszuschlagen oder die Nase einzudrücken. Am besten, er hält sich ganz flach und tastet zuerst mit den Händen nach vorne, bevor er weiterkrabbelt. Der Papa hat das ein paarmal vorgemacht, aber leider hat Konrad dabei so schrecklich lachen müssen, dass ihm Tränen aus den Augen gelaufen sind und er gar nichts mehr hat sehen können. Immerhin scheint er jetzt bei einem Kopf angekommen zu sein. Vermutlich ist es Papas. Papas und Mamas Köpfe sind gut zu unterscheiden. Mama ist weich im Gesicht und hat lange Haare, Papa hingegen hat kaum Haare auf dem Kopf, dafür ist er im Gesicht sehr kratzig. Besonders am Sonntagmorgen, weil er sich samstags nicht rasiert. Konrad tastet noch einmal zur Sicherheit alles ab. Kein Zweifel möglich, das hier ist einwandfrei der Papa. Das wäre geschafft. 12

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Folgt schließlich der letzte Teil der Übung. Der ist allerdings ein bisschen peinlich. Denn Konrad selbst mag es zwar sehr, wenn man ihm über den Kopf streicht und dabei etwas Nettes ins Ohr flüstert. Aber anderen Leuten über den Kopf zu streichen und ihnen dabei etwas Nettes ins Ohr zu sagen, das findet er eher peinlich. Gut, dass es so dunkel ist. Konrad streichelt Papa über den Kopf und Papa schnurrt dazu wie die Katze von Tante Thea. Das klappt also. Und jetzt etwas Nettes sagen. Konrad bringt seinen Mund ganz nah an Papas Ohr. Bah! Papa riecht nach Knoblauch. Kindergift! Mama und Papa waren gestern in einem Restaurant, und in den Restaurants, in die Mama und Papa ohne Konrad und Peter gehen, gibt es nur Kindergift. Die ganze Speisekarte rauf und runter. Kindergift mit doppelt Knoblauch. Konrad findet das schrecklich. »Übrigens!«, sagt er. »Du riechst wieder nach Knoblauch.« »Konrad!«, sagt die Mama, und der Papa macht ein knirschendes Geräusch. Da geht die Tür auf – und mit einem Schlag ist es wieder ziemlich hell im Schlafzimmer. »Übrigens!«, sagt Peter. »Ich kann nichts dafür, dass ich wach bin. Da!«, er zeigt ins Bett, wo Konrad mittlerweile halb auf Papas Kopf sitzt. »Der Konrad! Der hat mich geweckt.« »Prima«, sagt die Mama und steht auf. »Ich geh dann mal duschen.« Der Papa sagt auch etwas, aber man kann es nicht hören, weil Konrad kurz zuvor mit seinem Knie gegen Papas Kopf gestoßen ist und der Papa sich jetzt mit beiden Händen die Nase hält. »Erzählst du uns eine Geschichte?«, sagt Peter. Er krabbelt auch ins Bett, und als er versucht, über Konrad hinweg13

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zusteigen, trifft er ihn mit dem Ellenbogen am Auge. Konrad schreit aber nur ein bisschen. Dann ruft er: »Ja! Erzählst du uns eine Geschichte?« Und alle drei, Papa, Konrad und Peter, wissen genau, dass das eine ganz einwandfrei rhetorische Frage ist.

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Die Waldschlange Anabasis

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ine rhetorische Frage ist das, weil der Papa gar nicht anders als mit einem kräftigen »Ja« antworten kann. Denn erstens erzählt er Konrad und Peter immer Geschichten und zweitens hat er erst gestern Morgen eine neue angefangen. Trotzdem sagt er nicht einfach »Ja«, sondern: »Ihr seid Tyrannen.« »Was sind Tü-Rannen?«, sagt Peter. »Tyrannen«, sagt der Papa, »das sind Gewaltherrscher.« »Hm«, sagt Konrad. Wenn Konrad »Hm« sagt, dann klingt das für fremde Menschen so, als würde er meinen: »Ach, so ist das.« Oder: »Super, das habe ich genau verstanden.« Sein Papa und seine Mama wissen aber mittlerweile, dass er damit etwas ganz anderes meint. Und zwar meint er: »Ich habe überhaupt nichts verstanden.« Oder auch: »Das gefällt mir nicht.« Jedenfalls muss der Papa das Wort Tyrannen etwas genauer erklären. »Tyrannen«, sagt er, »das sind in unserem Fall Menschen zwischen fünf und zehn Jahren, die keinerlei Rücksicht auf das Schlafbedürfnis ihrer Eltern nehmen.« Aha! Die Unterhaltung beginnt, gefährlich zu werden. Statt einfach weiter die Geschichte zu erzählen, will der 15

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Papa offenbar wieder einmal davon reden, was für eine unerträgliche Zumutung das eigentlich ist, frühmorgens von einem kaum erwachten Menschen zu verlangen, er solle eine Geschichte erzählen. Wenn er wenigstens eine fertige Geschichte erzählen könnte! Aber seine schrecklichen Söhne verlangen ja von ihm, dass er sich jedes Mal eine frische Folge aus einer komplett selbst erfundenen Fortsetzungsgeschichte für sie ausdenkt. Zum Glück ist Konrad schon einigermaßen geschickt darin, das Thema zu wechseln. »Wie groß ist die Waldschlange eigentlich?«, fragt er jetzt. »Sieben Meter«, sagt der Papa. »Im Ruhezustand. Gestreckt knapp neun.« Dabei streckt er sich. Geschafft. Denn damit sind sie endlich bei der Geschichte, die gestern Morgen angefangen hat. Die handelt nämlich von der Waldschlange Anabasis, die tief in einem großen und undurchdringlichen Urwald einen merkwürdigen Erdhügel bewacht. Tag und Nacht tut sie das, seit hunderten von Jahren, und gestern Morgen hat der Papa sehr ausführlich erzählt, welche längst ausgestorbenen Tiere schon bei ihr vorbeigekommen sind und sie gefragt haben, was sie da bewache, worauf die Waldschlange immer wieder gesagt hat, das könne sie nicht sagen, denn das sei ein großes Geheimnis. Wenn Konrad ganz ehrlich sein müsste, dann würde er sagen, dass dieser Anfang der Waldschlangen-Geschichte nicht unbedingt sehr vielversprechend geklungen hat. Möglicherweise war der Papa gestern Morgen so müde, dass ihm nichts anderes eingefallen ist, als irgendwelche Saurier an dieser Waldschlange vorbeilaufen zu lassen. Ungefähr so wie in den blöden Büchern, die Konrad früher gelesen hat, als er noch nicht lesen konnte. Da gab es diese Tiere, die anderen Tieren ein Loch in den Bauch fragten. Eine Kuh, die ihr Kälbchen verloren hatte, oder ein Kroko16

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dil, dem sein Baby-Krokodil abhanden gekommen war. Die ausgefragten Tiere sagten dann immer hübsch freundlich »Nein danke, bei mir nicht« oder etwas Ähnliches, bis dann das Kälbchen und das Baby-Krokodil irgendwo auftauchten und alle sich tierisch freuten und das blöde Buch zu Ende war. Allerdings weiß Konrad auch, dass es sehr ungeschickt wäre, gleich die erste Folge einer neuen Fortsetzungsgeschichte nicht gut zu finden und das auch noch laut zu sagen. Dann wäre nämlich der Papa beleidigt und das wiederum würde sich schlecht auf die Qualität der nächsten Folgen auswirken. Immerhin aber hat Konrad sich vorgenommen, dafür zu sorgen, dass bald etwas Spannenderes mit dieser Waldschlange passiert. »Du, Papa«, sagt er daher gleich, »wie hießen noch mal diese Leute, die dann den Erdhügel gefunden haben?« »Leute?«, sagt der Papa. Möglicherweise war er gestern Morgen sogar so müde, dass er sich überhaupt nicht daran erinnert, was er da im Halbschlaf vor sich hin gemurmelt hat. Davon sagt er aber nichts. »Welche Leute?«, sagt er stattdessen. »Na, diese Leute eben!«, sagt Konrad. »Ja, diese Leute«, sagt auch Peter. Und weil er sich immer bewegen muss, wenn er etwas sagt, tritt er dem Papa dabei ganz unabsichtlicherweise ein bisschen in den Bauch. »Puuh«, sagt der Papa. »Die Leute, die Leute – ja! – das waren die Leute von der Urwaldexpedition Nummer römisch Drei Strich Sieben unter der Leitung des weltberühmten Spezialwissenschaftlers Professor Doktor Franzkarl Forscher.« »Aha«, sagt Konrad. Also Urwaldexpedition Nummer römisch Drei Strich Sieben. Und weltberühmter Wissenschaftler Franzkarl Forscher. Sehr abenteuerlich klingt das 17

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gerade nicht. Aber immer noch besser als diese Saurierparade. »Ihr müsst euch das so vorstellen«, sagt der Papa, »mittlerweile sind wir im 21. Jahrhundert angekommen. Also heute.« Er kneift Peter ins Bein. »Welches Jahr haben wir heute?« »Zweiundzwanzigtausend«, sagt Peter prompt. »Beinahe«, sagt der Papa. »Und genau in diesem Jahr hat eine große Forschungszentrale beschlossen, die Expedition Nummer römisch Drei Strich Sieben unter der Leitung des besagten Franzkarl Forscher in den undurchdringlichen Urwald zu schicken, auf dass sie dort das Geheimnis des merkwürdigen Erdhügels ergründe.« »Woher wussten die denn von dem Hügel?«, sagt Konrad. »Der liegt doch mitten im undurchdringbaren Dschungel. Hast du selbst gesagt.« Jetzt lacht der Papa. Konrad und Peter kennen dieses Lachen. So lacht der Papa, wenn er etwas viel besser weiß als alle anderen Menschen auf dem Planeten Erde. Und richtig! »Luftaufnahmen«, sagt er triumphierend. »Luftaufnahmen aus einem Satellit. Mit Radar!« Damit könne man aus 83 Kilometern Höhe einen Lutscher fotografieren, und auf dem Foto sei dann genau zu erkennen, ob der Lutscher schon angelutscht ist und wer das getan hat. Genau so sei man in der Forschungszentrale auch auf den seltsamen Erdhügel aufmerksam geworden. »Was ist ein Satell-tit?«, sagt Peter. »Uaaah!« Konrad weiß längst, was das ist. Er will lieber wissen, wie die Geschichte weitergeht. »Stopp!«, sagt der Papa. Es ist nämlich vollkommen richtig, dass man fragt, sobald man etwas nicht versteht. Wie oft hat er das schon gesagt! Und also fängt er an, sehr genau zu erklären, was die Erde ist, was der Weltraum ist, was eine Erdumlaufbahn ist und was man sich infolgedes18

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sen unter einem Satelliten vorzustellen habe. Konrad wird dabei das Gefühl nicht los, dass der Papa sich irgendwie um die Geschichte zu drücken versucht. Endlich ist er mit dem Satelliten-Erklären fertig. Immerhin aber scheint ihn diese Erklärerei ein bisschen frischer gemacht zu haben, denn er klopft sich sein Kissen zurecht und setzt sich auf. »Also«, sagt er. »Da kommen nun Franzkarl Forscher und sein Expeditionsteam an dem rätselhaften Erdhügel an. Große Strapazen liegen hinter den kühnen Männern und Frauen. Vor wenigen Stunden erst haben sie die reißenden Wasser des Obernoko in schmalen Kanus durchschifft und am Tag zuvor wären sie beinahe das Opfer eines Angriffs von fingerlangen Kampfameisen geworden. Doch nun sind sie am Ziel. Sie schlagen ein Zeltlager auf, sie richten sich eine kleine Küche ein, machen erst einmal Kaffee für alle, holen die Streuselkuchen und die Puddingteilchen aus den Frischhaltedosen, essen alles ratzeputz auf, machen ein kleines Schläfchen im Schatten und dann – tja, dann packen sie alle ihre empfindlichen Messinstrumente aus.« »Fieberthermometer!«, sagt Peter. »Richtig«, sagt der Papa. »Sie packen ihre Fieberthermometer aus, ihre Seismografen, ihre Oszillofone, ihre Regressimpulsgeber und ihre Spektralanalysekonvertoren. Die stellen sie alle rund um den geheimnisvollen Erdhügel auf und schließen sie mit Kabeln an eine riesige Batterie, dann setzen sie sich vor ihre Kontrollmonitore und schauen sich an, was die vielen Geräte anzeigen: wunderbare Sinus-Kurven, herrliche Parabel-Äste, rautenförmige Cluster und strategische Datenballungen.« »Hm«, sagt Konrad. Der Papa überhört das »Hm« und erzählt weiter. Er ist jetzt so richtig in Fahrt. »Das alles«, sagt er, »kann natürlich der Waldschlange Anabasis nicht verborgen bleiben. 19

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Und nach den vielen tausend Jahren, in denen sie das Geheimnis des Erdhügels sorgsam bewahrt hat, verzehrt sie sich nun in brennender Sorge darüber, ob diese hochmodern ausgerüstete Forschertruppe ihr nicht das Geheimnis zu entreißen in der Lage ist.« Jetzt muss Peter sich wieder bewegen, obwohl er gar nicht weiß, was er sagen soll. »Still liegen!«, sagt der Papa. Er kann es nun einmal nicht leiden, beim Erzählen getreten zu werden. »Weiter!«, sagt Konrad. »Ach«, sagt der Papa. »Die arme Waldschlange.« Seine Stimme zittert ein wenig, so als müsste er gleich weinen. »Bebend vor Sorge beobachtet sie aus ihrem Versteck in der Krone eines Tatyrusbaumes, wie das Forscherteam rund um den merkwürdigen Erdhügel vor sich hin forscht. Und dauernd muss sie darüber nachdenken, was sie bloß tun könnte, um die unliebsamen Eindringlinge wieder weg von dem Erdhügel und am besten ganz aus dem Wald herauszutreiben.« Jetzt weiß Peter, was er sagen will. »Die Waldschlange!«, sagt er aufgeregt. »Die Waldschlange. Die Waldschlange.« Wenn Peter aufgeregt ist, dann drängeln sich die Wörter von innen vor seinem Mund; und weil jedes als Erstes hinauswill, passiert es oft, dass nur ein oder zwei herauskommen und danach gar keines mehr. Jetzt ist so ein Fall, und daher macht der Papa, was er immer macht, wenn Peter einen Wörterstau hat. Er bläst ihm nämlich leicht ins Ohr. Das kitzelt ganz furchtbar, Peter muss deshalb lachen und dabei werden die Wörter in seinem Mund so durcheinander geblasen, dass sie endlich der Reihe nach zwischen den Lippen herauskommen können. »Die Waldschlange muss sich einen Panzer kaufen und auf die Forscher schießen!« »So?« Nein, das gefällt dem Papa gar nicht. Warum bloß 20

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muss in den Vorschlägen der Jungs immer so viel geschossen werden? Das ist doch keine Lösung. Konrad ist ganz seiner Meinung. Er hat auch schon einen eigenen Vorschlag: »Die Waldschlange soll Franzkarl Forscher mit ihren Giftzähnen ins Bein beißen. Davon bekommt er zuerst eine Nervenlähmung, dann Atemstillstand und nach zehn Minuten fällt er tot um.« »Ich fasse es nicht!«, sagt der Papa. Das wollen wissbegierige Kinder sein! Schlagen sich sofort auf die Seite dieser forschungsfeindlichen Waldschlange. Dabei habe die Menschheit doch ein Anrecht darauf, dass merkwürdige Erdhügel erforscht werden. »Wo kämen wir denn hin«, sagt der Papa, »wenn alles Forschen verboten würde? Ohne Forschung gibt’s kein Lego, ohne Forschung gibt’s keine Pippi-Langstrumpf-Kassetten und ohne Forschung gibt’s keine Sams-CD. Also bitte, meine Herren – ein anderer Vorschlag!« »Ph«, sagt Konrad, und Peter macht ein Gesicht, als müsste er gleich weinen. Das hat der Papa natürlich nicht gewollt. »Gut, gut«, sagt er. »Vielleicht habt ihr ja Recht.« Aber zuerst müsse man doch erfahren, warum die Waldschlange unbedingt das Geheimnis des Erdhügels bewahren will. Und erst wenn man das wisse, dann könne man sich ein Urteil darüber erlauben, wie es weitergehen soll: ob diese forschen Forscher munter forschen oder ob sie aus dem Wald verschwinden sollen. »Und was ist das Geheimnis?«, sagt Konrad. »Und was ist das Geheimnis?«, sagt Peter. »Das Geheimnis«, sagt der Papa. »Das Geheimnis –« Er unterbricht sich. »Hat die Mama nicht gerade zum Frühstück gerufen?« »Nein«, sagt Konrad. Auf gar keinen Fall hat die Mama gerade zum Frühstück gerufen! 21

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»Also, das Geheimnis«, sagt der Papa, »das Geheimnis des Erdhügels besteht darin, dass –« »Ja?« »– dass darunter ein riesiger, geschliffener Kristall verborgen ist. Zehn Meter hoch und fünf Meter breit. So!«, sagt der Papa. »Jetzt wisst ihr’s!« »Ein riesiger, geschliffener Kristall!«, sagt Peter. Das ist vielleicht ein Zufall! Denn Peter interessiert sich in letzter Zeit ungeheuer stark für Edelsteine und Kristalle und überhaupt für Schätze und Piraten und dergleichen. Bei der Vorstellung von einem dermaßen riesigen Kristall muss er daher ziemlich kräftig mit den Beinen strampeln. Der Papa rutscht vorsichtshalber ein Stück zur Seite. »Jawohl«, sagt er. »Ein riesiger, in allen Farben funkelnder Kristall. Oben spitz und unten eher stumpf. Aber das kann man natürlich nicht sehen, denn er steckt zu mehr als der Hälfte in der Erde, und Erde ist auch über dem Stück, das herausschaut, sodass von außen wie gesagt nichts anderes zu sehen ist als ein merkwürdig geformter Erdhügel.« Der Papa ist sehr stolz auf seine Geschichte. Wenn er stolz auf seine Geschichten ist, dann hat er so einen bestimmten, sehr schwer zu beschreibenden Ton in der Stimme. »Hm«, sagt Konrad. »Aber warum muss die Waldschlange den Kristall bewachen?« Doch darauf bekommt er keine Antwort mehr. Denn jetzt ruft die Mama tatsächlich zum Frühstück. Woraufhin der Papa so schnell aus dem Bett springt, dass er beinahe auf Peters Bein getreten wäre.

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Das Dransfeld

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m Frühstückstisch sitzt Konrad so, dass er aus dem Fenster gucken kann. Darauf legt er allergrößten Wert; es wäre ihm unerträglich, irgendetwas zu versäumen, das sich draußen auf der Straße abspielt. Die Bantelmanns wohnen nämlich erst seit drei Wochen in ihrem neuen, eigenen Haus; seit dem Beginn der großen Schulferien. Dieses neue und eigene Haus steht mit vielen anderen neuen Häusern, die dem Haus der Bantelmanns sehr ähnlich sind, in der Hedwig-Dransfeld-Straße. Und weil hier alles so neu ist, kann sich Konrad auch nicht die kleinste Kleinigkeit entgehen lassen. Noch vor drei Wochen haben die Bantelmanns in der Danziger Straße gewohnt, mitten in der Stadt, dritter Stock, Tür rechts. Von der Danziger Straße zur Hedwig-Dransfeld-Straße ist es eine ziemliche Strecke. Konrad kennt den Weg mittlerweile genau, denn während das Haus gebaut wurde, sind sie ihn hunderte Male gefahren. Zuerst geht es aus der Stadt hinaus, die Steinbecker Straße entlang, an der die Häuser rechts und links immer kleiner werden. Bei der letzten großen Kreuzung vor dem Kanal, da, wo der neue Supermarkt steht, muss man nach rechts in eine Landstraße abbiegen. Eine Zeit lang sieht es dann so aus, als käme gar nichts mehr, aber schließlich kommt doch die Hedwig-Dransfeld-Straße. Sie biegt in Richtung 23

UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Burkhard Spinnen Belgische Riesen Roman Taschenbuch, Broschur, 224 Seiten, 12,5 x 18,3 cm

ISBN: 978-3-570-21529-6 cbj Erscheinungstermin: Dezember 2004

Klar und aufgeräumt, so hat Konrad es gerne. Doch dann entdeckt er, dass das Leben nicht immer im Weichspülgang dahinschnurrt. Er lernt Wirbelwind Friederike kennen, deren Eltern frisch getrennt sind. Friedz ist darüber nicht nur stinkwütend, sie will sich rächen! Und ausgerechnet der harmoniesüchtige Konrad und ein Riese von einem Kaninchen sollen ihr dabei helfen … Ausgezeichnet mit dem Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis 2001