Briefe aus Bethlehem September -November 2009 von Axel Kajnath

Seite 1

Inhaltsverzeichnis

1. Brief aus Bethlehem, 14.09.2009: Das Bethlehem Bible College ...........................................................................................................3 2.Brief aus Bethlehem, 20.09.2009: Die Stadt Bethlehem und ihre Umgebung.........................................................................................6 3.Brief aus Bethlehem, 20.09.2009: Die Israelischen Siedlungen um Bethlehem....................................................................................11 4. Brief aus Bethlehem, 04.10.2009: Arabische Christen in Palästina.......................................................................................................15 5. Brief aus Bethlehem, 9.10.2009: Das Haus mit den 7 Mauern ...........................................................................................................20 6. Brief aus Bethlehem, 17.10.2009: Die Mauer........................................................................................................................................24 7. Brief aus Bethlehem, 25.10.2009: Checkpoint 300................................................................................................................................28 8. Brief aus Bethlehem, 1.11.2009: "Wer bremst ist feige" oder: Eine Fahrt im Servicetaxi von Bethlehem nach Ramallah ...................................................33 9. Brief aus Bethlehem, 7.11.2009: Grundzüge einer palästinensischen Theologie................................................................................37 10. Brief aus Bethlehem, 16.11.2009: "Das Schweigen brechen" (www.breakingthesilence.org.il)...........................................................41 11. Brief aus Bethlehem, 23.11.2009: 3 Monate Sabbatzeit – Was bleibt davon?.......................................................................................45

Seite 2

1. Brief aus Bethlehem, 14.09.2009: Das Bethlehem Bible College ( www.bethlehembiblecollege.edu) "Das Volk, das in Finsternis saß, hat ein großes Licht gesehen; und denen, die saßen am Ort und im Schatten des Todes, ist ein Licht aufgegangen." Mt 4,16 Das BBC wurde vor 30 Jahren von arabischen Christen in Bethlehem gegründet und ist bislang die einzige christliche Ausbildungsstätte in einem arabischen Land. Es hat zum Ziel arabische Christen auf ihren Dienst in den Gemeinden Palästinas vorzubereiten. Dies geschieht im Rahmen eines 4jährigen Baccelor-Studienganges, der vom Kulturministerium Palästinas anerkannt ist (vergleichbar wohl unseren Bibelschulen in Deutschland). Das BBC hat jeweils einen Aussenort in Nazareth und in Gaza.

Aussenansicht BBC

Letzte Woche hat für die etwa 30 jungen Leute - Männer und Frauen - das neue Semester begonnen. Sie kommen aus dem vielfältigen kirchlichen Hintergrund, den es hier in Palästina gibt: orthodoxe, protestantische und katholische Gemeinden. Der Unterricht findet auf arabisch statt und wird von verschiedenen Lehrern erteilt, die ihre theologische Ausbildung meist auf einem englischen oder amerikanischen College erhalten haben. Unterrichtsfächer sind Englisch, Landeskunde, biblische Archäologie, Altes und Neues Testament und systematische Theologie. Hier liegt der Schwerpunkt auf den Themen, die sich aus der besonderen aktuellen Situation ergeben: Friedens- und Versöhnungsarbeit. "In diesem Land, in dem Hoffnung und Verzweiflung wie Schwestern sind, bildet das BBC palästinensische Christen aus, um ihre Kirche leiten zu können und ein Licht zu sein für ihre christlichen und moslemischen Nachbarn", heisst es in dem Flyer des BBC. Seite 3

Die meisten Studenten wohnen während der Woche hier im BBC und sind nur am Wochenende zuhause. Nach Abschluss ihrer Ausbildung werden sie in ihren Gemeinden als Gemeinde- oder Jugendleiter arbeiten, in der Seelsorge tätig sein oder auch in einem anderen Beruf. Die Ausbildung wird durch ein gemeinsames geistliches Leben ergänzt. So beginnt jeder Tag (Montag-Freitag) um 8.00 mit einer gemeinsamen Andacht. Dazu versammeln sich alle Mitarbeiter - von der Putzfrau über die Angestellten der Verwaltung bis hin zu den Lehrern. Sie gestalten auch abwechselnd diese Andacht. Ich liebe vor allem ihre arabischen Lieder, die sie laut und gerne singen.

Morgenandacht

Um 13.00 isst man gemeinsam in der Mensa ein einfaches aber gutes arabisches Essen. Neben dieser ursprünglichen Aufgabe haben sich im Verlauf der letzten Jahre noch verschiedene andere Arbeitszweige im BBC entwickelt. 1. Tour guide program Hier werden Christen zu Reiseführern ausgebildet, die auf kompetente und originäre Weise die biblischen Stätten ihrer Heimat zeigen können. Daneben führen sie auch eindrücklich in die aktuelle politische Situation des Landes ein. 2. Das Gästehaus Es verfügt über insgesamt etwa 25 Betten und beherbergt Gruppen und Individualreisende aus der ganzen Welt. Im Moment bewohne ich dort ein geräumiges Doppelzimmer und genieße immer wieder die schöne Aussicht aus der rundum verglasten Küche im 3.Stock. Hier waren wir auch mit unserer kleinen Reisegruppe im vergangenen Jahr für drei Nächte zu Gast und werden es 2010 ebenfalls wieder sein.

Seite 4

3. Mass Media Center Es bildet junge Menschen im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit aus. Das Zentrum (es besteht aus 3 kleinen Räumen sowie einem Aufnahmestudio) produziert eine wöchentliche christliche Sendung, die dann hier in der Region ausgestrahlt wird. 4. Öffentliche Bücherei Die einzige in Bethlehem, die neben theologischen Büchern auch allgemeine Literatur in arabischer und englischer Sprache zur Ausleihe anbietet. Sie beinhaltet eine eigene Abteilung für Kinder und natürlich auch einen Computerraum. 5. Die Shepherd Society Das ist der diakonische Arm des BBC. Durch die äusserst angespannte wirtschaftliche Lage in der Region – verursacht durch die israelische Besatzung und die Folgen der Intifada - wurde dieser Zweig Mitte der 90er Jahre gegründet. Der Name geht auf Johannes 21,16 zurück, wo Petrus aufgefordert wird, für seine Schafe zu sorgen. Das Hilfsangebot umfasst die Verteilung von Lebensmitteln und medizinische Hilfe. So konnte etwa ein Hals-Nasen-Ohren Behandlungsraum in einer Klinik im benachbarten Beit Jala eingerichtet werden. Auch ein Arbeitsvermittlungsprogramm wird betrieben, was bei der hohen Arbeitslosigkeit von ca. 25% dringend nötig ist. Finanziert wird dieser Arbeitsbereich- wie die anderen weitestgehend auch- vor allem durch Spenden von ausserhalb, zumeist aus Amerika und England. Die Menschen hier am BBC bezeichnen sich gerne als die "lebendigen Steine", die die historischen Stätten am Leben erhalten und mit Leben erfüllen. Sie verstehen sich dabei als Hoffnungsträger des Lichtes, das vor 2000 Jahren hier in Bethlehem zu scheinen begann. Dieses Licht wollen sie leuchten lassen an dem Ort, der heute im Schatten des politischen Konfliktes und hoher Verluste steht. Nach meinem Empfinden tun sie das auf sehr überzeugende und liebenswerte Art und Weise.

Seite 5

2.Brief aus Bethlehem, 20.09.2009: Die Stadt Bethlehem und ihre Umgebung "Und du, Bethlehem Efrata, die du klein bist unter den Städten in Juda, aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei, dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist." Micha 5,1 Die Stadt Bethlehem liegt auf ca. 750 Meter Meereshöhe, etwa 10 Kilometer südlich von Jerusalem. Der Name „Bethlehem“ bedeutet in der hebräischen Sprache „Haus des Brotes“, während es im arabischen „Haus des Fleisches“ heisst. Eine dritte Herkunftsvariante verweist auf die mesopotamische Gottheit „Lachma“, den Gott der Fruchtbarkeit. Wie auch immer die genaue Herkunftsbezeichnung sein mag – allen drei Varianten gleich ist die Betonung der Fruchtbarkeit dieses Ortes sowie der gesamten Region.

Terrassenlandschaft mit Olivenbäumen

Daran hat sich bis heute –Gott sei Dank- nicht viel geändert. Noch immer quellen die Märkte der Stadt von allen nur erdenklichen Obst- und Gemüsesorten über, die die Bauern aus der ganzen Region hier anbieten. Bethlehem zählt etwa 30.000 Einwohner und ist mit den beiden Nachbarorten Beit Jala (ca. 15.000 Einwohner) und Beit Sahour (ebenfalls etwa so groß) mittlerweile zu einem einzigen Ballungsraum zusammengewachsen. Die drei traditionell christlich geprägten Orte (ehemals ca. 80% der Bevölkerung) haben durch die Auswanderung der Christen ihren Bevölkerungsanteil auf momentan etwa 25% verringert. Zu den mittlerweile mehrheitlich muslimischen Nachbarn besteht traditionell ein gutes Verhältnis. Dr.Bishara Awad, Präsident des BBC, schreibt dazu: "Ich bin stolz darauf, sagen zu können, dass das Verhältnis zwischen Christen und Moslems sehr gut ist. Sie sind unsere Nachbarn und behandeln uns gut. Wir sind nun seit 30 Jahren als Bible College Seite 6

an sehr zentraler und belebter Stelle am Ort. Direkt uns gegenüber, auf der anderen Straßenseite, ist seit 1948 ein Flüchtlingslager. Auf der Rückseite unserer Gebäude befindet sich -in etwa 500 Metern Entfernung- ein zweites. Alle Bewohner dieser Flüchtlingslager sind Moslems und wir wurden noch nie von ihnen, wie auch der gesamten moslemischen Gemeinde, bedrängt. Wir reichen ihnen die Hand. Sie sind uns gute Nachbarn und wir versuchen dasselbe für sie zu sein. Im Gegensatz zu all dem, was ich von auswärts höre, werden wir von den Moslems in keinster Weise bedrängt." Das 2.Bild dokumentiert dieses Verhältnis auf seine Weise. Es zeigt das Minarett der Hauptmoschee und dahinter die Türme der Geburtskirche. Beide Gebäude liegen am Manger Square, dem Hauptplatz des Ortes.

In der Stadtordnung ist festgehalten, dass der Bürgermeister des Ortes ein Christ sein muss (z.Zt. ein linksgerichteter Katholik). In der palästinensischen Autonomiebehörde ist die Region Bethlehem paritätisch mit Christen und Moslems vertreten. Wirtschaftlich gesehen hat die Region verschiedene Standbeine. Neben der bereits erwähnten Landwirtschaft sind es vor allem der Einzelhandel, die Tourismusbranche sowie der Abbau von Steinquadern in den großen Steinbrüchen der Umgebung. Zusammen mit Ostjerusalem und dem nördlich davon gelegenen Ramallah bildet Bethlehem die stärkste Wirtschaftsregion der Westbank. Hier werden rund 40% der gesamten Wirtschaftskraft Palästinas erbracht. Darin enthalten sind auch die Dienstleistungen in Krankenhäusern, Schulen und den Universitäten. Mittlerweile muss dafür aber leider die Vergangenheitsform gewählt werden, denn Bethlehem sowie Seite 7

die gesamte Region sind von der 40-jährigen Besatzung durch Israel und deren politischen Auswirkungen besonders hart getroffen. Die Region Bethlehem ist heute hineingequetscht zwischen der judäischen Wüste im Osten und der israelischen Sperranlage im Westen. Die Stadt selbst ist von zahlreichen jüdischen Siedlungen geradezu umzingelt. Sie trennt die Stadt von einer direkten, jahrhunderte langen Anbindung an Jerusalem. Die größte jüdische Siedlung, Maale Adumim mit ca. 35.000 Bewohnern im Osten Jerusalems gelegen, schneidet die einstige Wirtschaftsregion in zwei von einander getrennte Blöcke. Die einzige Verbindungsstraße beider Blöcke hat etwa die Größe einer kleineren Kreisstraße bei uns. Zudem steht jeglicher Personen- und Warenverkehr unter der Kontrolle des israelischen Militärs. Trotz der Erlangung der Autonomie im Jahr 1995 haben die palästinensischen Behörden nämlich nur über 3% ihres Landes (vor allem die Städte) die tatsächliche Kontrolle. Mit der Erlangung dieser Autonomie verbanden sich –vor allem im Blick auf die anstehende Jahrtausendwende- große Hoffnungen. Die UNESCO rief das Projekt „Bethlehem 2000“ ins Leben. Große Investitionen wurden vor allem im Bereich der Infrastruktur (Straßenbau, Hotels, Stadtsanierung) getätigt. Rund 4 Millionen Besucher aus aller Welt wurden erwartet. Die Millenniumsfeierlichkeiten sollten „ein Meilenstein für die Kultur des Friedens im mittleren Osten“ werden, heisst es in einem einheimischen Reiseführer des Jahres 1997.

Mauer-und-Reihenhäuser

Stattdessen kamen in Folge des Ausbruchs der 2.Intifada monatelange Ausgangssperren und ab dem Seite 8

Jahr 2002 die Errichtung der Sperranlage. Die gesamte Region wurde völlig isoliert, die Wirtschaft brach komplett zusammen. Der Tourismus ging im Jahr 2005 auf gerade einmal 20% der Zahlen aus dem Jahr 2000 zurück. Die Arbeitslosigkeit liegt noch heute zwischen 25% und 30%. Die Errichtung dieser Mauer –von Israel als Sicherheitsmaßnahme bezeichnet- hat den Menschen Bethlehems einen Großteil ihres Landes geraubt. Etwa 55% der Bevölkerung lebt unter der von der UN gesetzten Armutsgrenze von 2 USDollar pro Tag. Obwohl sich die wirtschaftliche Lage in den letzten Jahren allmählich erholt hat, hat sich an dieser schlechten Grundsituation nichts verändert. So ist Bethlehem heute eine Stadt im Schatten der Mauer (s.3.Bild). Die Luft und der Raum zur weiteren wirtschaftlichen Entwicklung ist ihr weitestgehend genommen. Das Problem der anhaltenden Abwanderung bleibt. Das 4.Bild zeigt diese Situation eindrücklich. Die Hoffnung auf eine positive zukünftige Entwicklung ist klein, solange sich am Grundproblem der israelischen Besatzung und des andauernden Landraubes nichts ändert.

Future Fashion

Seite 9

Future Fashion, Ausschnitt

Diese Situation wird Palästina nicht aus eigener Kraft ändern können. Das Land und seine Menschen sind dabei auf die Hilfe von aussen angewiesen. Solche Unterstützung kann beispielsweise dadurch geschehen, dass Menschen dieses noch immer schöne Land besuchen, ihren Bewohnern Gehör für das schenken, was ihnen auf dem Herzen liegt. Und nicht zuletzt ihnen eine Stimme verleihen, die nicht aufhört auf das anhaltende Unrecht hinzuweisen.

Seite 10

3.Brief aus Bethlehem, 20.09.2009: Die Israelischen Siedlungen um Bethlehem "Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe? " Psalm 121,1 Jeden Morgen trete ich an mein Fenster und genieße den Blick auf die gegenüberliegende Ortschaft Beit Jala. Morgens ist sie in das Licht der aufgehenden Sonne getaucht und am Abend geht sie glutrot hinter ihr unter.

Blick aus Fenster auf die Siedlung Gilo

Wenn ich dabei meinen Blick von rechts nach links gleiten lassen, fällt er –wo auch immer ich hinblicke- auf israelische Siedlungen, die sich wie eine Kette um bzw. über Bethlehem und Beit Jala herum aufreihen. Auf dem ersten Bild ist das deutlich zu sehen. Am rechten Rand steht der Kirchturm, der zu einem Konvent italienischer Schwestern gehört. Vom Minarett am linken Rand wurde während des Fastenmonats Ramadan täglich der Nachtgottesdienst über Lautsprecher in die ganze Umgebung übertragen. Und alles überragen die Wohnblöcke der israelischen Siedlung Har Gilo. Eine ganz eigene Art von „Trinität“, wie ich finde (Bild 1). Diese Siedlung wurde bereits in den 70Jahren auf Land errichtet, das den Bewohnern von Beit Jala gehört. Heute hat sie rund 30.000 Bewohner. Wenn ich von Gilo im Norden beginnend langsam nach Süden blicke, sehe ich, dass alle Hügelkuppen über Beit Jala mit israelischen Funkstationen besetzt sind. Wie mag da wohl der oben zitierte Psalmvers auf die palästinensischen Bürgerinnen und Bürger wirken? Im Regierungsbezirk Bethlehem (ca. 650 qkm) mit seinen rund 180.000 Bewohnern liegen etwa 20 israelische Siedlungen, die von rund 47.000 Siedlern bewohnt werden. Sie besetzen damit etwa 1/3 der Grundfläche dieses Bezirkes. Die beiden Orte Bethlehem und Beit Jala sind mittlerweile bereits von drei Seiten von einem regelrechten Siedlungsring umgeben. Er schneidet die beiden Orte von ihren direkten Nachbarorten Hebron und Jerusalem ab und nimmt ihnen zugleich jegliche Möglichkeit zu weiterer Entfaltung. Die Seite 11

Region Bethlehem droht zu einem großen Freiluftgefängnis zu werden. Die Aus- und Eingänge dazu werden mit Hilfe von checkpoints durch israelische Sicherheitskräfte kontrolliert. Die einzelnen Siedlungen sind mit sog. Siedlerstraßen an das Kernland Israel, in dem Fall an Jerusalem, direkt angebunden. Palästinensische Bürger dürfen sie nur mit Genehmigung benutzen. Eine große Brücke überspannt deshalb das Tal vor Beit Jala (Bild 2). Diese Straßen haben in der gesamten Westbank mittlerweile eine Länge von rund 1.600 Km.

Blick vom Tal auf Gilo

Alle Siedlungen oder Funkstationen entstehen bevorzugt an strategisch wichtigen Punkten: auf Bergkuppen und über großen unterirdischen Wasservorräten. Dadurch wird die Kontrolle über die gesamte Region und über deren Ressourcen gewährleistet. In unmittelbarer Nähe von Siedlungen befindet sich deshalb zumeist auch ein israelischer Militärposten. Die Motivation jüdischer Siedler ist zum einen religiös begründet. Dies trifft z.B. auf die radikalen Siedler in Hebron zu, die ihr Recht hier zu wohnen auf die Bibel zurückführen. So geschieht das auch bei manchen Siedlungen in „Judäa und Samaria“, wie die Siedler diese Region Palästinas bezeichnen. Sie betonen damit ihr überkommenes Recht, diesen alten biblischen Boden wieder zu besiedeln. Der größere Teil der Menschen aber, die etwa in den großen Siedlungen um Jerusalem herum wohnen (Gilo, Har Homa, Maale Adumim), tut dies aus wirtschaftlichen Gründen. Die Bewohner dieser Siedlungen erhalten hohe Steuererleichterungen bzw. günstige Kredite zum Erwerb von Wohneigentum. Zugleich verfügen sie über eine sehr gute Infrastruktur (Schulen, Freizeitmöglichkeiten, Sozialprogramme), was vor allem für junge Familien attraktiv ist. All diese Siedlungen liegen jenseits der sog. „Grünen Linie“, der international anerkannten Waffenstillstandslinie des Jahres 1949. Um sie dennoch errichten zu können, wurde palästinensisches Land zu „Staatsland“ erklärt und konfisziert. Bereits während seiner ersten Amtszeit Ende der 90-Jahre hat Benjamin Netanjahu diesen Siedlungsbau immens vorangetrieben. Das dritte Bild zeigt, wie dabei vorgegangen wird. Trotz heftiger Proteste aus Bethlehem und von Seite 12

verschiedenen palästinensischen und israelischen Bürgerrechtsbewegungen wurde Ende der 90-Jahre der Hügel Abu Ghneim, der zu Beit Sahour gehört, abgeholzt und mit dessen Bebauung begonnen (Bild 3). Mittlerweile ist darauf eine groß ausgebaute Siedlung unmittelbar vor den Toren Jerusalems entstanden, die in den kommenden Jahren ebenfalls 30.000 Bewohner haben soll. Jerusalem umgibt sich sozusagen mit einem Gürtel von Siedlungen, um sich gegen die arabische Umgebung abzuriegeln.

Har Homa seit 1999

Obwohl alle Siedlungen auf palästinensischem Gebiet erbaut wurden, unterliegen sie israelischem Recht und verfügen auch über eine israelische Infrastruktur. Dies führt faktisch zu einem 2-Klassensystem, das von Palästinensern wie auch israelischen Bürgerrechtsbewegungen als neue Form von Apartheid verstanden wird. Diese Siedlungen sind ein klarer Verstoß gegen Artikel 49 der IV. Genfer Konvention, der besagt, dass „keine Teile der eigenen Zivilbevölkerung in besetztes Gebiet gebracht werden dürfen“. Die UN hat u.a. in ihrer Resolution 452 aus dem Jahr 1979 Israel aufgefordert, „die weitere Planung und Errichtung jüdischer Siedlungen auf arabischem Gebiet zu beenden“. Der Ökumenische Rat der Kirchen hat in einer Erklärung vom 7.September 2009 Israel zum sofortigen Stopp des Siedlungsbaues und zur Auflösung aller bestehenden Siedlungen aufgefordert. Zugleich ruft er zu einem Boykott derjenigen Waren und Dienstleistungen auf, die auf besetztem palästinensischem Gebiet produziert werden (www.oikumene.org). "Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe?"Die momentanen zaghaften politischen Gespräche zeigen, dass es vor allem diese Siedlungen sind, die einem dauerhaften Frieden in der Region im Wege stehen. Ich denke, um zu einem solchen Frieden zu kommen, werden beide Seiten Unterstützung von aussen brauchen. Israel durch eine klare Zusicherung in den Grenzen von 1949 in Sicherheit leben zu können. Dies hat die PLO im Jahre 1993 getan und die arabische Liga in ihrer Friedensinitiative 2002 ausdrücklich bestätigt.

Seite 13

Die palästinensische Seite braucht nun genauso dringend eine baldige, klare Zusage, den 1949 ebenfalls versprochenen eigenen Staat endlich zu erhalten. Ohne ihnen dabei die lange vorenthaltene Gerechtigkeit zukommen zu lassen, wird solch ein Friede nicht zu erreichen sein.

Karte der israelischen Bürgerrechtsbewegung "Betzelem", die den Siedlungsbau dokumentiert

Originalkarte zum Herunterladen (pdf-Format): www.btselem.org Seite 14

4. Brief aus Bethlehem, 04.10.2009: Arabische Christen in Palästina "Wie hören wir denn jeder seine eigene Muttersprache? Parther und Meder und Elamiter und die wir wohnen in Mesopotamien und Judäa, Kappadozien, Pontus und der Provinz Asien, Phrygien und Pamphylien, Ägypten und der Gegend von Kyrene in Libyen und Einwanderer aus Rom, Juden und Judengenossen, Kreter und Araber: wir hören sie in unseren Sprachen von den großen Taten Gottes reden. " Apg 2,8-11 Mancher mag überrascht sein, wenn er von der Existenz arabischer Christen in Palästina hört. Sind die Araber nicht alle Moslems, wie die Israelis alle Juden sind? In Wirklichkeit hat sich die kulturelle und ethnische Vielfalt des Volkes Gottes im Heiligen Land bis auf den heutigen Tag erhalten. Die palästinensischen Christen sind ein kleiner Teil davon, die sich in 13 verschiedene Kirchen aufteilen. Diese kann man wiederum in drei große Gruppen einteilen. Da sind zum einen die verschiedenen orthodoxen Kirchen (griechisch, armenisch, koptisch, u.a.). Daneben gibt es die katholischen Kirchen (römisch, melkitisch, syrisch, u.a.) und schließlich noch die protestantischen Kirchen (anglikanisch, lutherisch, freikirchlich). Insgesamt leben im Heiligen Land etwa 200.000 arabische Christen.

Taufe in einer orthodoxen Kirche

Sie verstehen sich in erster Linie als Teil der arabischen Welt, die ihre Abstammung auf Ismael, den Seite 15

Erstgeborenen Sohn Abrahams zurückführt. Schon vor dem Aufkommen des Islam waren einige arabische Stämme zum Christentum übergetreten. Mit der Ausbreitung des Islam bekamen diese Christen nun eine wichtige Brückenfunktion in der Vermittlung christlicher Gedanken und dem Islam. Mit den moslemischen Arabern haben sie nicht nur die Sprache gemein (sie rufen z.B. Gott als "Allah" an), sondern ihre Kultur, die wechselvolle Geschichte und nicht zuletzt auch das Verwurzeltsein mit ihrem Land. So wird beispielsweise der Nationalheilige Palästinas, Georg der Drachentöter (arab. "Al Khader") sowohl von den Moslems, als auch von den Christen verehrt.

Hl.Georg/Al Khader, der Drachentöter

"Die christliche Literatur und theologische Schaffenskraft während der Abbasidenzeit (ca. 750-1050 n.Chr.) war äusserst umfangreich. Man sagt, nach dem lateinischen seien die meisten christlichen Werke auf arabisch geschrieben worden. Bis auf den heutigen Tag betonen die Christen im Heiligen Land das Arabischsein als festen Bestandteil ihrer geschichtlichen und kulturellen Identität" (Bethlehem Comunity Book, Ed.Arab Educational Institute, Bethlehem 1999). In zweiter Linie sind sie Palästinenser, worunter man die Bewohner der Landschaft Palästinas versteht. Ein eigenes Nationalbewusstsein hat sich unter ihnen erst zu Beginn des 20.Jahrhunderts zu entwickeln begonnen. Dies geschah zeitgleich mit dem damals weit verbreiteten Nationalismus, zu dem letztlich ja auch der Zionismus gehört. Der hat 1948 zur Gründung des eigenständigen Staates Israel auf palästinensischem Grund und Boden geführt. Ca. 750.000 Palästinenser, darunter etwa 50.000 Christen, haben dadurch ihre Heimat verloren und sind zu Flüchtlingen geworden. Für sie sind die Ereignisse dieser Zeit bis heute "Al Nakba (=die Katastrophe)". Seite 16

Seitdem sind die arabischen Christen Teil des israelisch-palästinensischen Konfliktes. Mit ihrer Heimat haben sie auch ein wesentliches Stück ihrer Identität verloren. Seit mehr als 40 Jahren leben sie nun bereits unter israelischer Besatzung – und sind Teil des Widerstandes dagegen. Michael Sabbah, der 1987 als erster Palästinenser Lateinischer Patriarch und Erzbischof von Jerusalem wurde, schreibt dazu: "Die Besatzung ist eine Ungerechtigkeit, die beendet werden muss. Deshalb ist Widerstand dagegen eine Pflicht, wie auch ein Recht. Als Christen rufen wir zu einem gewaltfreien Widerstand auf. In unseren Augen sind alle Menschen von gleicher Würde. Sie haben alle dieselben Rechte und Pflichten. Niemand darf –aus welchen Gründen auch immer- unterdrückt werden. Hier ist unser von Gott gewollter Ort, Jesus zu bezeugen. Dabei sind Juden und Moslems unsere Gesprächspartner." (Cornerstone 43/2007. Journal von "Sabeel", Ökumenisches Zentrum der Befreiungstheologie in Jerusalem) Heute ist dieses reiche, christliche Erbe in großer Gefahr, was die nachfolgenden Zahlen verdeutlichen mögen. Im Jahr 1948 lebten in Jerusalem etwa 26.000 arabische Christen. Hochgerechnet mit der durchschnittlichen Geburtenrate müssten es heutzutage ca. 90.000 Christen sein. Tatsächlich aber sind es nur mehr ca. 7.500. Das bedeutet einen Rückgang um rund 90%.

Christlicher Türstock in Beit Jala

Die heiligen Stätten des Christentums drohen zu einem Museum zu werden. Der Anteil der Christen unter den auswanderungswilligen Palästinensern ist auffallend hoch. Sie sind im Durchschnitt Seite 17

besser ausgebildet als ihre muslimischen Mitbürger und leiden deshalb besonders unter der politischen und wirtschaftlichen Perspektivlosigkeit ihrer Heimat. Aber nicht nur zur Aufrechterhaltung der langen Tradition ist der Fortbestand der christlichen Gemeinden im Heiligen Land wichtig. Salim Munayer, Dozent am Bethlehem Bible College, nennt noch andere Gründe. Die arabischen Christen sorgen für die Bodenhaftung unseres christlichen Glaubens. Sie lehren uns, dass Bethlehem ein realer Ort auf dieser Erde ist. Ein Ort der Unterdrückung und des Leids. Damals wie heute. Auf dieser Erde wurde Jesus geboren; hier wurde er selbst zum Flüchtling. In diesem Land lebte und lehrte er; hier starb er schließlich auch. Die Christen vor Ort sind Garanten dieser Einsicht und verhindern, dass diese Orte, wie auch unser Glaube selbst zu einem bloßen Museum werden. Die palästinensischen Christen bilden seit Jahrhunderten eine Brücke zwischen Ost und West, zwischen dem Abend- und dem Morgenland, zwischen Juden, Christen und Moslems. Als eine Minderheit stellen sie heute der Mehrheit von Juden und Moslems die Frage nach Frieden und Gerechtigkeit. Erstmals sind Juden in der Situation eine Mehrheit gegenüber den Christen zu bilden. Auch die Art, wie Moslems diese Christen behandeln, ihr Verhältnis zu einander, kann ein Beispiel sein für das Verhältnis von Moslems und Christen in Europa und Amerika. Die Christen hier vor Ort sind es letztlich auch, die es verhindern, dass aus dem ungelösten politischen Nahostkonflikt eine Auseinandersetzung der Religionen Juden – Moslems wird.

Vaterunser in arabischer Kalligraphie

Seite 18

Und schließlich erinnern sie uns an die Botschaft vom Kreuz, da sie nicht über eigene Macht verfügen. Das Kreuz erinnert an die eigene Verwundbarkeit und die geforderte Solidarität mit den Schwachen. Es ruft nicht zuletzt zur Versöhnung mit unseren Gegnern auf. („Die Einzigartigkeit palästinensischer Christen“ Dr. Salim Munayer in: “Bethlehem speaks”; Ed.Garth Hewitt, London 2008) Es ist diese befreiende Kraft unseres Glaubens, die uns die palästinensischen Christen mit ihrer Existenz lehren. Wir sollten ihre Stimme hören und ihr auch in unseren Kirchen mehr Gehör verschaffen.

Seite 19

5. Brief aus Bethlehem, 9.10.2009: Das Haus mit den 7 Mauern Die Trennmauer von Bethlehem windet sich an einer Stelle in einem Halbkreis um ein großes alleinstehendes Haus. Eine enge Straße zwängt sich zwischen der neun Meter hohen Mauer und dem Gebäude hindurch zum Eingang des Hauses. Ich bin zu Besuch bei der hier wohnenden Familie Anastas.

Das Haus der Familie Anastas

Das Haus steht in unmittelbarer Nachbarschaft zum Grab der Patriarchenfrau Rachel. Sie wurde hier von ihrem Mann Abraham beerdigt. Seitdem wird die Stätte von Juden, Christen und Moslems in gleicher Weise verehrt. Jetzt aber wurde die Gedenkstätte durch die hohe Mauer aus ihrer vertrauten Umgebung regelrecht herausgeschnitten und ist nur mehr für jüdische Pilger zugängig. Claire, die noch junge Mutter des Hauses, lädt mich in das Wohnzimmer der Familie im Zweiten Stock des Hauses ein. "Ahlan Wasachlan", sagt sie freundlich und stellt mir ein Glas Fruchtsaft auf den Tisch. Dann beginnt sie zu erzählen. "Hier in diesem Haus lebe ich mit meiner ganzen Familie. Meine Schwiegermutter ist jetzt bei uns, nachdem sie einen Schlaganfall hatte. Mit meinem Mann und den vier Kindern bewohnen wir dieses Stockwerk. Unter uns wohnt mein Schwager mit seiner Familie. Insgesamt sind wir fünf Erwachsene und neun Kinder. Früher waren noch mehr Menschen hier in der Nachbarschaft aber sie haben ihre Häuser verlassen wegen der schlimmen Situation."

Seite 20

Claire im Gespräch mit Touristen

Mit "früher" meint Claire die Zeit, als es hier noch keine Mauer und keinen Checkpoint gab. Damals lag ihr Haus an der Hauptverkehrsstraße, die Jerusalem mit Bethlehem verband. In unmittelbarer Nähe zum Rachelgrab betrieb die Familie einen florierenden Souvenirshop. Pilger der drei Hauptreligionen kamen, um hier ihre Andenken zu kaufen. Der Familienvater hatte eine kleine Autowerkstatt in der Garage; die Familie konnte gut von den Einkünften leben und gehörte sicherlich zu den bessergestellten Familien von Bethlehem. "Früher", damit ist auch die Zeit gemeint, als sie noch frei gehen konnten, wohin sie wollten. Die Kinder gingen in Jerusalem zur Schule; die gemischtkonfessionelle Familie (Claire Katholisch; ihr Mann griechisch-katholisch; die Schwiegermutter griechisch-orthodox) besuchte die Gottesdienste in Jerusalem; Freunde und Familienangehörige lebten zumeist ebenfalls dort. "Wir lebten mehr in Jerusalem als hier und an den Wochenenden sind wir oft ans Mittelmeer zum Baden gefahren", erklärt Claire. All das änderte sich mit dem Ausbruch der 2.Intifada im Jahr 2000. Aufgrund der unmittelbaren Nähe zum Rachelgrab und der Tatsache, dass das Grundstück der Familie Anastas groß und unbebaut war, wurde es von der israelischen Armee beschlagnahmt und in ein Militärcamp umgewandelt. Unmittelbar vor ihrer Haustür wurde eine Straßensperre errichtet. Die einstige Hauptstraße war zur Sackgasse geworden und die Umgebung wurde zum Sperrgebiet erklärt. Lediglich der Familie Anastas war es erlaubt ihr Haus zu betreten und zu verlassen.

Seite 21

Blick aus dem Eingang des Hauses

Fast ein Jahr lang dauerte damals die verhängte Ausgangssperre, die nur zur Erledigung von Einkäufen für wenige Stunden am Tag aufgehoben wurde. Nachts lag das Haus aufgrund seiner Lage von zwei Seiten unter Beschuss. Zum Schutz kauerte sich die Familie im Hausflur zusammen. Aus dieser Zeit haben vor allem die Kinder bleibende traumatische Schäden erlitten; auch Claire ist darüber krank geworden. Eigentlich will die Familie ihr Haus nicht aufgeben; wohin sollten sie auch gehen? Manchmal aber kommen diese Gedanken, vor allem, wenn sie an die Zukunft ihrer Kinder denkt. Die Einkommensquelle der Familie ist seitdem völlig zusammengebrochen; sämtliche Ersparnisse sind mittlerweile aufgebraucht. Die älteste Tochter studiert an der Al-Quds-Universität, droht aber das Semester zu verlieren, da das Studiengeld in Höhe von ca. € 1.500.- nicht aufgebracht werden kann. Der ältere Sohn hat Lernschwierigkeiten und muss eine besondere Förderung erhalten, die ebenfalls viel Geld kostet. "Mag sein, dass sich die Lage anderswo etwas entspannt hat", sagt Claire "nicht aber bei uns. Im Gegenteil; vor einigen Wochen haben die Israelis rund um unser Haus Videokameras installiert. Nun sind wir unter ständiger Beobachtung und können nicht einmal mehr in der Wohnung ungestört sein."

Seite 22

Blick aus dem Wohnzimmer auf die Mauer

Nach zwei Stunden und reichlicher Bewirtung mit arabischem Kaffee und Gebäck, verabschiede ich mich von der Familie. Ich bedanke mich für die Einladung und das offene Gespräch und Claire sich ihrerseits dafür, dass ich mir ihre Geschichte angehört habe. "Niemand soll so etwas ertragen müssen. Manchmal haben wir den Eindruck von aller Welt, vor allem von den Christen ausserhalb, vergessen zu sein. Unsere Hoffnung setzen wir auf Gott. Er hat uns schon oft in aussichtlosen Situationen weiter geholfen", sagt sie noch zum Abschied. Kurz bevor das Haus hinter der Mauer verschwindet, drehe ich mich nochmals um und winke zurück: zu Claire und ihrem Haus mit den sieben Mauern.

Seite 23

6. Brief aus Bethlehem, 17.10.2009: Die Mauer "Denn ER ist unser Friede, der aus beiden eines gemacht hat und den Zaun abgebrochen hat, der dazwischen war, nämlich die Feindschaft. " Eph.2,14 "Jerusalem – Bethlehem Love – Peace" In großen Lettern steht dieser Slogan auf einem Riesenposter, das an der Trennmauer im Checkpoint 300 von Bethlehem hängt. Geschmückt ist es mit Aufnahmen der Hauptsehenswürdigkeiten dieser beiden weltberühmten Städte. An einem Ort wie diesem, der die tiefe Zerrissenheit des Heiligen Landes wie kein anderer dokumentiert, ist dieses Werbebanner für mich in höchstem Maße zynisch.

Jerusalem-Bethlehem; Love-Peace

Im Jahr 2002 begann Israel als Reaktion auf die palästinensischen Selbstmordattentate während der 2. Intifada mit der Errichtung dieses Bauwerkes. Als "Sicherheitszaun" wird es von Israel bezeichnet. Und tatsächlich sind seitdem die Selbstmordanschläge deutlich zurückgegangen bzw. haben – Gott sei Dank- mittlerweile ganz aufgehört. Dies allerdings auf die Errichtung der Mauer zurückzuführen ist freilich reichlich spekulativ. Man muss beispielsweise auch die arabische Friedensinitiative aus demselben Jahr erwähnen, die u.a. die Anerkennung Israels in gesicherten Grenzen zusagt, sobald es zum Abschluss eines Friedensvertrages kommt. Aus palästinensischer Sicht ist das Bauwerk eine inhumane Trennmauer, die Familien und Nachbarschaften zerreißt; Schüler und Studenten von ihren Bildungseinrichtungen abhält; Arbeiter von ihrer Arbeit fernhält; Kranken eine angemessene medizinische Betreuung versagt und nicht zuletzt Bauern an der Bewirtschaftung ihrer Äcker und Felder hindert. Sie trennt aber eben auch Israelis und Palästinenser von einander. "Aus Sicherheitsgründen“, so die israelische Version, ist israelischen Staatsbürgern der Zutritt in die Westbank untersagt. Seite 24

Zutritt für Israelis verboten/Beit Jala Militärposten

Tatsächlich hat das aber zur Folge, dass sich die Bürger beiderseits dieser Mauer niemals persönlich begegnen können. Sie könnten dabei ja entdecken, dass der jeweils andere gar nicht so schlimm ist, wie ihn die offiziellen Medien beider Seiten gerne darstellen. Vielleicht soll mit diesem Verbot aber auch nur verhindert werden, dass israelische Bürger erfahren, was ihre Regierung in der Westbank tatsächlich macht. Insgesamt hat diese Trennmauer eine Länge von ca. 700 Km, während die sog. "green line", also die international anerkannte Waffenstillstandslinie des Jahres 1949 lediglich rund 300 Km lang ist. Betrachtet man eine entsprechende Landkarte (z.B. bei www.btselem.org), dann stellt man schnell fest, warum die Differenz so erheblich ist. An vielen Stellen nämlich schlängelt sich die Mauer tief in palästinensisches Land hinein und bildet dabei große Blasen. Diese Blasen umfassen israelische Siedlungen in der Westbank bzw. strategisch wichtige Punkte, wie z.B. Militärstationen auf Bergkuppen oder unterirdische Wasservorräte. Der Verlauf der Mauer bindet dies alles direkt an das Kernland Israel an. Lediglich 3% der Mauer verlaufen auf dieser "green line"; 79% östlich davon auf palästinensischem Grund und Boden. Allein die Region Bethlehem hat auf diese Weise 7.300 Dunam Land (1 Dunam= 0,25 acre) verloren. Insgesamt hat Palästina durch die Mauer 12% seines Landes an Israel verloren. Das folgende Bild dokumentiert deutlich eine Maxime Israels, die den Verlauf der Mauer an vielen Stellen bestimmt: "So viel Land wie möglich und so wenig Menschen wie nötig".

Seite 25

Viel Land wenig Leute

Zum größten Teil bildet ein stark gesicherter Zaun, begleitet von einer Militärstraße, diese Trennmauer; nur in dicht besiedelten Gebieten, wie z.B. hier in Bethlehem, ist es eine ca. acht Meter hohe Betonwand. Sie wird mit zahlreichen, oft sehr phantasievollen Graffitis bemalt.

Mauergrafittis

Ein Segment dieser Mauer, ca. 2 Meter breit und 8 Meter hoch, kostet rund $ 5.000.-. Die Gesamtkosten belaufen sich auf mehr als $ 1 Milliarde. Finanziert wird diese Trennmauer zu einem großen Seite 26

Teil auch mit Hilfe amerikanischer Unterstützung in Form von etwa $ 3 Milliarden Wirtschaftshilfe jährlich. Die Auswirkungen dieser Mauer auf das Alltagsleben der Palästinenser sind verheerend; ich habe sie bereits oben erwähnt. Bauern, die ihr Farmland jenseits dieser Mauer haben, können dafür grundsätzlich eine Genehmigung (permit) beantragen, um ihr Land bewirtschaften zu können. Die Erteilung so eines permits wird jedoch sehr restriktiv gehandhabt und nur rund 10% erhalten es letztlich. Wer aber sein Land 3 Jahre lang nicht bewirtschaften kann, droht es als sog. "Staatsland" an Israel zu verlieren. Der internationale Gerichtshof in Den Haag hat seit dem Jahr 2004 den Bau dieser Mauer mehrmals verurteilt und Israel aufgefordert den weiteren Ausbau zu stoppen – jedoch ohne damit irgendetwas zu bewirken. Jerusalem – Bethlehem Love – Peace Im Rahmen des "Weltmarsches für Frieden und Gewaltlosigkeit", der am Mittwoch dieser Woche in Bethlehem stattgefunden hat, sprach der Erzbischof der griech.-orth.Kirche von Jerusalem, Vater Attalah Hannah, an der Mauer stehend folgende Worte:

Erzbischof Attalah Hannah

"Danke an alle, die heute gekommen sind für die Solidarität mit uns Palästinensern hier in der Stadt, in der Frieden und Hoffnung für die ganze Welt geboren wurden. Wir, Christen und Moslems, haben die Hoffnung nicht aufgegeben, dass diese Mauer fallen wird. In diesem Moment stehen auf der anderen Seite der Mauer wahrscheinlich israelische Soldaten und ich hoffe, ihr hört uns jetzt: Diese Mauer wird fallen wie die Mauer in Berlin! Wir machen jetzt eine schwere Zeit durch. Aber die Ungerechtigkeit wird enden – das ist unsere Hoffnung." Seite 27

7. Brief aus Bethlehem, 25.10.2009: Checkpoint 300 "Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen. " Psalm 18,30 Mit meinem heutigen Brief lade ich Euch zu einem "Spaziergang" durch den Checkpoint 300 in Bethlehem ein. Für uns Deutsche, die wir in Besitz eines EU-Passes sind, ist das normalerweise kein Problem. Sehr viel anders freilich sieht das für die meisten Bewohnerinnen und Bewohner der Westbank aus. Sie erhalten nämlich nur in wenigen Ausnahmefällen eine Erlaubnis die Grenze zu Israel oder nach Jerusalem zu überqueren.

Ankunft Checkpoint

Wenn wir von Jerusalem kommend der Jahrtausende alten Handelsstraße folgen, auf der bereits der Patriarch Jakob unterwegs war, versperrt uns heute auf der Höhe des Rachelgrabes eine hohe Mauer die direkte Weiterfahrt. Wir müssen den Bus verlassen und zu Fuß durch den Checkpoint gehen.

Seite 28

Checkpoint morgens

Dieses Bild ist am frühen Morgen auf der Bethlehemer Seite aufgenommen. Täglich queren laut Zählungen von EAPPI etwa 2.500 Arbeiter den Checkpoint, um zu ihrer Arbeit nach Israel zu gelangen. Der Checkpoint wird für sie um 5.00 morgens geöffnet. Um aber sicher zu sein, als eine der ersten die Grenze zu überschreiten und pünktlich zur Arbeit zu erscheinen, warten nicht wenige bereits ab 3.00 hier. Die Wartezeit nach Öffnung des Tores beträgt täglich ungefähr 1-1 ½ Stunden, denn die Sicherheitsvorkehrungen sind hoch. Nach dem Durchqueren eines Drehkreuzes und eines ersten Körperscanners mit Passkontrolle direkt am Durchlass der Mauer, geht es über einen Parkplatz in die eigentliche Abfertigungshalle. Dort gibt es erneut ein Drehkreuz, einen weiteren Scanner für das Gepäck; die Männer müssen ihren Gürtel und die Schuhe durchleuchten lassen und nach dem nächsten Drehkreuz steht man an der eigentlichen Passkontrolle an. Der Checkpoint verfügt zwar über insgesamt 12 Kontrolltore, von denen sind morgens normalerweise aber nur vier für Aus- und Einreise gleichzeitig geöffnet, was die Wartezeit entsprechend verlängert.

Seite 29

Handkontrolle Checkpoint

Hier werden nun der Pass und die Arbeitserlaubnis kontrolliert. Zusätzlich muss jeder Ausreisende seine Handfläche auf ein Handlesegerät legen. Damit sind alle Arbeiter auch datenmäßig erfasst. Dieses Handflächengerät bereitet mitunter Schwierigkeiten, denn die meisten der Arbeiter sind auf dem Bau o.ä. beschäftigt und ihre Hände entsprechend verschmutzt oder verletzt. Der diensthabende Soldat bzw. die Soldatin, meist blutjunge ca. 20-jährige, geben dann mit einem wortlosen Nicken aus ihrer panzerglasgesicherten Kabine den Durchgang frei. Ansonsten ist der gesamte Checkpoint völlig anonym. Nur morgens patrouillieren gelegentlich Soldaten mit Gewehr im Anschlag auf Laufstegen über den Köpfen der Ausreisenden. Wenn es irgendwo nicht ganz glatt läuft, ertönt eine Stimme aus dem "Off" und sagt irgendetwas auf Hebräisch, was kaum jemand versteht. Dann wird mit entsprechendem Nachdruck die Aufforderung wiederholt. Diese Anweisungen wirken besonders auf Kinder äußerst einschüchternd und Mütter haben dann alle Hände voll zu tun, um ihre Kleinen wieder zu beruhigen.

Seite 30

Poster come and feel the glory

Poster come and feel the glory (Ausschnitt)

Zur seelischen Auferbauung ist das sterile Gebäude mit attraktiven Plakaten der israelischen Tourismusbehörde geschmückt. Eines zeigt beispielsweise eine glückliche Familie, die am Strand des Mittelmeeres spielt; „Wo das ganze Jahr Ferien sind“, lautet die dazugehörige Aufschrift. Oder –wie auf unserem Bild zu sehen-, die Innenaufnahme der Gethsemanekirche am Ölberg mit der Aufschrift "Come and feel the glory – Israel". Für mich sind beide Plakate an diesem Ort und vor diesen Menschen nichts anderes als blanker Seite 31

Zynismus. Denn beide Orte sind für die hier Vorübergehenden beinahe unerreichbar weit weg. Zu Beginn dieses Jahres gab es auf dem Gebiet der Westbank insgesamt 617 israelische Sperren. Diese können ganz unterschiedliche Formen haben: Straßensperren, Erdwälle, Eisentore, die auf die Felder der Bauern führen, Beobachtungstürme mit Kameras, Tunnel und eben Checkpoints wie den eben beschriebenen. Sie alle haben zur Folge, dass die Bewegungsfreiheit der einheimischen Bevölkerung erheblich eingeschränkt wird und jederzeit kontrollierbar ist. Eine halbwegs genaue Zeitplanung im Blick auf Arbeit, Schule, Arzttermine o.ä., ist damit beinahe unmöglich; sie erschweren bzw. verhindern oft auch das normale tägliche Leben der palästinensischen Bevölkerung. Die ca. 300 Km lange Westbank ist durch diese Sperren in viele kleine zusammenhangslose Flecken zerteilt, was ein einheitliches Staatsgebilde derzeit völlig undenkbar macht.

Seite 32

8. Brief aus Bethlehem, 1.11.2009: "Wer bremst ist feige" oder: Eine Fahrt im Servicetaxi von Bethlehem nach Ramallah Frohgemut besteige ich am Samstagmorgen eines der vielen Servicetaxis (sprich: Serviis), um einen Ausflug nach Nablus, einer Stadt im Norden der Westbank, zu machen. Sobald das Sammeltaxi mit seinen sieben Sitzplätzen voll ist, wird gestartet. Die erste Etappe bringt mich nach Ramallah, wo ich umsteigen muss. Spätestens nach der zweiten Bodenwelle greifen alle Mitfahrer freiwillig zum Sicherheitsgurt. Es beginnt die Ramallah-Ralley. Um von Bethlehem dorthin zu gelangen, muss man den Großraum Jerusalems weiträumig umfahren, da er von Palästinensern nur mit einer besonderen Erlaubnis betreten werden darf. Die kleine Straße führt zunächst durch langgezogene Ortschaften, in denen erstmals ausprobiert wird, wie schnell und wie hoch man zwischen den einzelnen Bodenwellen beschleunigen kann. Gehsteige, Verkehrszeichen u.ä. gibt es natürlich nicht. Der Straßenverkehr richtet sich hier nach dem Motto: "Es gilt das Recht des Stärkeren". Vor unübersichtlichen Kurven wird nicht etwa die Geschwindigkeit reduziert, sondern anhaltend auf die Hupe gedrückt. Bald geht es steil und in engen Serpentinen in ein tiefes Wadi hinab, um gleich danach die nächste Bergkuppe mit Vollgas in Angriff zu nehmen. Mein erstes Stoßgebet während dieser Fahrt gilt dem Fahrer. Möge auch ihm ein wenig daran gelegen sein, unser Ziel sicher zu erreichen. Zur Unterhaltung der Fahrgäste wird das Radio eingeschaltet, aus dem lautstark arabische Musik ertönt. Zwischendurch wird noch schnell das Fahrgeld (NIS 17.-; ca. € 3.-) dem Fahrer vorgereicht und bei Bedarf das entsprechende Wechselgeld zurückgegeben.

Fahrt im Service-Taxi

Seite 33

Nach etwa einer Stunde Fahrt (ca. 35 Km) und dem Passieren zweier israelischer Straßensperren ist dann unser Ziel erreicht. Trotz der eigentlich moderaten Außentemperaturen bin ich das erste Mal an diesem Tag durchgeschwitzt. Bin ich feige? Oder habe ich nur zu wenig Gottvertrauen? Wenn sieben Leute inständig beten und sich der achte auf’s Fahren konzentriert – was soll da schon Schlimmes passieren? Al Hamdulallah! (Gott sei Dank!) Begegnung mit einem jungen Moslem Ich lerne Mo´men, einen etwa 30-jährigen Architekten, in der Moschee von Nablus kennen. Dort sitze ich am Boden auf den weichen Teppichen und notiere mir ein paar Gedanken in mein Notizbuch. Er tritt an mich heran und fragt freundlich, woher ich komme und was ich hier in Nablus mache. Dann lädt er mich ein, am sogleich folgenden Mittagsgebet teilzunehmen. Als die Moslems damit fertig sind, kommt er wieder zu mir, fragt ob ich ein wenig Zeit habe und er mir seine Stadt zeigen könne. "In Deutschland meinen die Leute, die Moslems seien missmutige und bedrohliche Menschen", sagt er - um mir in den folgenden sechs Stunden das Gegenteil davon zu beweisen. Ich vertraue mich ihm an und sollte es nicht bereuen. Zunächst führt er mich in die alte Hauptmoschee des Ortes, die früher einmal eine byzantinische Kirche war. Wir schlendern zusammen durch die wunderschöne und turbulente Altstadt von Nablus. "Kannafeh" sei eine Spezialität dieser Stadt, die ich unbedingt probieren müsse. Natürlich weiss er, wo es das beste "Kannafeh" gibt und führt mich dorthin. Wir essen eine große Portion dieses warmen Ziegenkäses, der mit süßer Flüssigkeit übergossen und überbacken ist; bestreut ist das alles mit fein gehackten Pistazien. Es ist wirklich sehr lecker und macht für die nächsten Stunden satt. Zur Erinnerung kauft er mir noch ein Kilo frischer Baklavastücke, die ich mit nach Bethlehem nehmen solle. Am kommenden Montag wird die ganze Belegschaft des Bible College das unverhoffte Geschenk des jungen Moslem als Nachtisch genießen. Nach dieser Stärkung führt Mo´men mich in sein Büro, wo er mir seine innenarchitektonischen Arbeiten zeigt, die sehr modern sind. Wir führen ausführliche Gespräche über den Islam und das Christentum. Aber erklär mal einem Moslem, dass wir nicht an drei Götter glauben! Oder wie das sein kann, dass Gott einen Sohn hat; und wer, bitte schön, ist dann die dazugehörige Mutter? Er zeigt mir seinen Koran, den ich allerdings nicht berühren darf, und liest mir daraus mit Erklärungen vor. Zum Glück gibt es ja Abraham, den wir als unseren gemeinsamen Urururgroßvater bezeichnen können. Es folgt eine Fahrt in seinem Auto zu verschiedenen seiner Geschäfte, die er eingerichtet hat; dem Haus seiner Eltern und einer zweiten Gebetszeit in der Moschee. Dann noch die Fahrt hinauf auf den Berg Ebal, von dem man eine wunderbare Sicht auf die im Tal liegende Stadt hat. Auch seine Universität zeigt er mir mit einem gewissen und durchaus berechtigten Stolz. Als ich andeute, dass ich noch in eines der alten Hamams möchte, für die Nablus ebenfalls bekannt ist, bringt er mich zu einem der ältesten. Auf dem Weg dorthin schlendern wir durch einen besonders schönen Teil der Altstadt, den er mir unter architektonischem Gesichtspunkt erklärt. Dann betreten wir das alte Hamam aus dem 17.Jh.. Mo´men erklärt dem Bademeister, was ich alles möchte und verabschiedet sich dann freundlich. Nicht ohne sich vorher bei mir dafür zu bedanken, dass wir uns begegnet sind und ich mit ihm in seiner Stadt unterwegs war. Eine unvergessliche interkulturelle und interreligiöse Begegnung mit einem Menschen, der mir Eindruck gemacht hat.

Seite 34

Mo´men im Büro

Besuch in einem Hamam Mo´mem, mein moslemischer Begleiter, bringt mich zu einem alten Hamam aus osmanischer Zeit. Er verhandelt kurz mit dem Bademeister und überlässt mich dann meinem Schicksal. Ich bekomme Handtuch, Leintuch, Seife und Schwamm ausgehändigt und werde in die Umkleidekabine geschickt. Während ich –mit einem Lendenschurz bekleidet- auf weitere Instruktionen warte, habe ich Zeit, mir das alte Hamam genauer zu betrachten. Errichtet im 17.Jh. ist es zwar mehrmals neu gestrichen worden, Wasser zur Reinigung scheinen hier aber nur die Besucher (an diesem Tag nur Männer) und nicht auch die Einrichtung abzubekommen. Zuerst beginnt die Aufwärmphase. Ich werde auf einen großen Marmorblock gelegt, der von unten mit Olivenholz beheizt wird und angenehm warm ist. Ein uraltes und verrostetes Leitungsrohr wird aufgedreht und spuckt umgehend heißen Wasserdampf über meinem Haupt aus. In wenigen Minuten ist der alte Raum mit seiner Kuppel in dichten Dampf gehüllt. Nachdem ich so ein paar Minuten andächtig verharre, folgt die zweite Aufwärmphase – nun schon etwas heftiger. Ich werde dazu in einen kleinern Raum geschoben und soll dort Platz nehmen. Wiederum wird ein Rohr geöffnet, das nun schon deutlich intensiver und auch heißeren Dampf versprüht. In wenigen Minuten drückt es mir den Schweiß aus allen Poren; in ganzen Bächen läuft er mir über meinen Körper. Seite 35

Es folgt sodann Aufwärmphase drei: Das Heißwasserbad. Drei stufen führen in das Marmorbecken hinab, in dem ich in ca. fünf Minuten gar gekocht werde, um anschließend auf der großen Marmorbank mit einem rauen Handschuh vom Bademeister abgerieben werde. Ich glaube neben den alten Hautteilen ist auch ein Gutteil heiler Haut durch seine kräftige Hand abgerieben worden. Rot wie ein Krebs begebe ich mich zur abschließenden "Massage" durch den Hauptmasseur. Ich vermute in seinem Hauptberuf ist er Metzger. Jedenfalls knetet er mich mit seinen kräftigen Händen dermaßen durch, dass ich manchmal kurz vor dem Aufschreien bin und im nächsten Augenblick befürchte, meine Knochen würden jeden Moment unter der Belastung zusammenbrechen. Aber ich überlebe diese Sonderbehandlung erstaunlicherweise unbeschadet. Danach darf ich mich duschen und frisch bekleidet im Empfangsraum ein Glas süße Mandelmilch zu mir nehmen, Die mir freundlich angebotene Wasserpfeife lehne ich dankend ab. So betrete ich nach einer guten Stunde arabischer Intensiv-Wellness porentief gereinigt wieder die staubigen Gassen der Altstadt von Nablus.

Im Hamam

Seite 36

9. Brief aus Bethlehem, 7.11.2009: Grundzüge einer palästinensischen Theologie "„Und der Gerechtigkeit Frucht wird Friede sein, und der Ertrag der Gerechtigkeit wird ewige Stille und Sicherheit sein, dass mein Volk in friedlichen Auen wohnen wird, in sicheren Wohnungen und in stolzer Ruhe. " Jes 32,17f Im Laufe der 90er Jahre beginnen Theologen aus verschiedenen Kirchen Palästinas eine eigenständige Theologie zu entwickeln, die sie selbst als „kontextuelle, palästinensische Theologie“ bezeichnen. Sie ist mit Namen wie Elias Chacour (melkitischer Bischof in Haifa), Naim Ateek (anglikanischer Priester bei Sabeel, einem ökumenischen, theologischen Zentrum in Jerusalem) und Mitri Raheb (lutherischer Pfarrer in Bethlehem) verbunden. Um die Grundgedanken dieser Theologie zu verstehen, muss man –wie bei vielen anderen Dingen in diesem Land auch- in die Geschichte Palästinas blicken.

Nakba

Ein Schlüsselwort in der jüngeren Geschichte dieses Landes lautet "Nakba". Es heißt übersetzt "Katastrophe" und meint nicht in erster Linie die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948, sondern die Folgen, die diese Staatsgründung für die alteingesessenen Bewohner dieses Landes mit sich brachte. Sie wurden zu Hunderttausenden aus ihrer angestammten Heimat vertrieben, über 400 ihrer Dörfer wurden zerstört und es wurde mit der ethnischen Säuberung des neuen Staates Israel begonnen. Mit dieser Vertreibung verloren die Palästinenser nicht nur ihr Hab und Gut, ihre Häuser und Felder, sondern auch ein gutes Stück ihrer Identität. Angesichts dieses Schicksals tauchten grundlegende Fragen auf. "Weshalb müssen wir für etwas büßen, das wir nicht verschuldet haben (Holocaust)? Warum erleiden wir solche Ungerechtigkeit und alle Welt sieht dabei stillschweigend zu?" Die palästinensischen Christen stürzten Fragen wie diese in eine tiefe Glaubens- und Identitätskrise. Haben die jüdischen und christlichen Zionisten mit ihrem Verständnis der Bibel Recht, wenn sie in Seite 37

der Rückkehr der Juden und der Errichtung eines eigenen Staates den Willen Gottes sehen? Werden wir Palästinenser von Gott dafür bestraft, dass wir das Land unserer Vorväter lieben und darin bleiben wollen? Solche Gedanken, die freilich erst ziemlich spät in Worte gefasst werden, bilden eine Wurzel zur Ausbildung einer eigenständigen palästinensischen Theologie. Es ist eine Theologie der Befreiung von physischer und geistlicher Gefangenschaft. Zugleich ist es aber auch eine Befreiung der Theologie eines bis dahin einseitigen, unhinterfragten Bibelverständnisses.

Logo Sebeel

Eine zweite wichtige Wurzel ist in der 1.Intifada der Jahre 1987 bis 1993 zu sehen. Die Frustration der Palästinenser darüber, dass sich trotz vieler Verhandlungen und Gespräche an ihrer alltäglichen Lebenssituation nichts ändert, die fortschreitende Besiedelung ihres Landes und der damit verbundene Raub ihres Vaterlandes vielmehr weiter vorangetrieben werden, führen schließlich zum Ausbruch dieser Intifada. Sie war eine gewaltfreie Basisbewegung, die alle Alters- und Bevölkerungsschichten umfasste. Die Intifada (=“Abschüttelung“) hatte ein neues palästinensisches Selbstbewusstsein zur Folge und stärkte die Rückbesinnung auf die eigene Kultur und Tradition. Sie verschaffte dem Anliegen der Palästinenser große Beachtung in den weltweiten Medien. Eine entsprechende Solidarität und geistliche Unterstützung ist in der kontextuellen, palästinensischen Theologie zu sehen. Ein sehr zentraler Begriff dieser Theologie ist die Frage nach der Gerechtigkeit, die allen Menschen widerfahren soll. Der Blick wird dabei besonders auf Gottes Fürsorge für die Armen und Unterdrückten gelenkt, denen diese Gerechtigkeit verheißen ist. Seite 38

Aus diesem Blickwinkel heraus wird die Bibel neu gelesen. Zentrale Begriffe des "zionistischen" Bibelverständnisses, Erwählung und Landverheißung beispielsweise, werden dabei kritisch untersucht und neu interpretiert. Die Erwählung Israels ist ein freier Gnadenakt Gottes, aus dem kein Anspruch, keine Ideologie abgeleitet werden kann. Es ist ein Zuspruch an eine oft selbst unterdrückte und verfolgte Minderheit, der diesen Menschen Trost spenden möchte (s.Jes 41,8-10). Diese Erwählung wurde dem Volk Israel aber nicht bedingungslos gegeben, sondern Glaube und Gehorsam ihrem Gott gegenüber gefordert. Wann immer Israel stark, selbstsicher und reich geworden ist, schickte Gott Propheten, die vor Selbstgerechtigkeit mahnen sollten (s.Hos 13,4-9). Die Erwählung Israels ist kein reiner Selbstzweck. Israel sollte vielmehr ein Zeugnis des Schöpfergottes für die Heiden sein. Erwählung ist demnach niemals exklusiv zu verstehen, sondern inklusiv, d.h. andere Völker und Menschen in dieses Heil Gottes einschließend (s.Jes 42,6f.). Wo Israel das vergaß, drohte ihm der Verlust seines Landes. Die zweite große Herausforderung für palästinensisches Bibelverständnis ist die Landverheißung. Sie wurde Israel vor allem zur Patriarchen- und Exilszeit gegeben, einer Ära seiner Geschichte also, während derer es selbst staatenlos war. Auch diese Verheißung war in erster Linie an besitzlose, verzweifelte Menschen gerichtet, um ihnen Mut und Trost zuzusprechen. Und auch diese Verheißung war Israel nicht bedingungslos gegeben, sondern ebenfalls an den Gehorsam Gott und seinen Geboten gegenüber gebunden (s.Lev 26,27-33; Jes 28,16f.). Zu jeder Zeit lebten im übrigen Fremde im Land, denen besondere Achtung entgegengebracht werden sollte. Auf die heutige Situation übertragen sollte das folgendermaßen verstanden werden: „Das Land sollte Heimat für zwei Völker sein. Jedes der beiden Völker sollte dieses Land als Gabe Gottes sehen, die miteinander geteilt werden soll. Friede und der Segen des Landes sowie der beider Völker hängt an dieser Bereitschaft zum Teilen. Nur dann werden die biblischen Verheißungen erfüllt werden“ (Mitri Raheb: Ich bin Christ und Palästinenser). In dieser Situation der Unterdrückung, in der Israel seine Verheißungen von Gott gegeben wurden, sehen sich heute die Palästinenser nach mehr als 40 Jahren israelischer Besatzung. Aus dieser Lebenssituation heraus lesen und verstehen sie heute die Botschaft der Bibel. Manche der atl. Geschichten fallen ihnen dabei schwer zu lesen. Dagegen werden ihnen Bibelworte wichtig, die Jesus selbst als einen Menschen zeigen, der am eigenen Leib eine Besatzungsmacht, Flucht und Vertreibung erleben musste. Durch die gemeinsamen Wurzeln im Land fühlen sie sich ihm in besonderer Weise verbunden. Ihr Glaube ist dabei nicht nur stilles Erdulden, wie sie es in ihrer Alltagswirklichkeit oft genug hinnehmen müssen, sondern ein aktives Mitwirken an der Errichtung von Recht und Gerechtigkeit im Land. Der arabische Bischof Elias Chacour, der selbst aramäisch, die Sprache Jesu spricht, weist darauf hin, dass in den Seligpreisungen Jesu das Wort "selig" ein aktives Verb ist. Es bedeutet soviel wie "sich selbst auf den Weg machen, um das Ziel zu erreichen". Matthäus 5,7+9 übersetzt er deshalb folgendermaßen: "Steh auf! Geh vorwärts! Tu was! Bewege dich, der du hungrig und durstig bist nach Gerechtigkeit, du sollst befriedigt werden. Steht auf! Geht vorwärts! Tut was! Bewegt euch, ihr Friedenmacher, ihr werdet Kinder Gottes genannt werden". Ermutigung zu solchem Handeln sowie die Kraft dazu erhalten die palästinensischen Christen durch den Glauben an ihren Landsmann und Bruder Jesus. Er hat die Liebe Gottes zu allen Menschen gebracht, ohne Ansehen ihrer Herkunft oder Volkszugehörigkeit. S. dazu Paulus in Gal 3,26-29 und Eph 2,14-22.

Seite 39

We are still like an olivetree

Diese palästinensische Theologie wird gerne auch als "Olivenbaumtheologie" bezeichnet. Der Olivenbaum ist das nationale Symbol Palästinas und Ausdruck seines Selbstverständnisses. Mit seinen Wurzeln ist er tief mit diesem Land verbunden. Lange Zeiten der Dürre übersteht er und treibt doch immer wieder von neuem seine Zweige und Blätter aus. Jahrhunderte lang kann dieser Baum dann Früchte tragen. Für die Menschen hier im Land ist der Olivenbaum ein Zeichen ihrer tiefen Verbundenheit mit diesem Land sowie ihrer Standfestigkeit, mit der sie an ihrem Glauben an die Liebe und an die Gerechtigkeit Gottes festhalten. Er ist letztlich auch Ausdruck ihrer Hoffnung auf ein Ende der Unterdrückung und der Errichtung eines dauerhaften Friedens.

Seite 40

10. Brief aus Bethlehem, 16.11.2009: "Das Schweigen brechen" (www.breakingthesilence.org.il) Unsere Gruppe von überwiegend jugendlichen Internationalen ist mit Yehuda Schaul in den Hügeln südlich von Hebron unterwegs, dort also, wo die Landschaft bereits in den Negev überzugehen beginnt. Yehuda stellt sich uns selbst folgendermaßen vor:

Yehuda Schaul

"Ich wurde vor 26 Jahren in Jerusalem als Sohn eingewanderter Amerikaner geboren. Jahrelang war ich ein 'rechtgläubiger Vorzeigeisraeli'. Nach dem Abitur ging ich –wie in Israel vorgeschrieben- für drei Jahre zur Armee. Von 2001-2004 war ich zunächst als einfacher Soldat, später dann als Vorgesetzter von 120 Soldaten in der südlichen Westbank eingesetzt. Mehr als ein Jahr davon habe ich in der Stadt Hebron gedient." Seine "Erleuchtung" kam, als er wie ein Zivilist über seinen Einsatz nachzudenken begann. "Unter uns Kameraden sprachen wir darüber, was wir hier eigentlich tun. Was bedeutet das Motto ‚Wer nicht für uns ist, ist unser Feind?’ Hebron ist dafür ein schlimmer Beweis. So beschlossen wir, Hebron nach Tel Aviv zu bringen. Mit unserem Entlassgeld gründeten wir -65 Leute, die in Hebron ihren Militärdienst geleistet hatten- im März 2004 „Breaking the Silence“. Heute sind wir etwa 700 ehemalige Soldaten, alle zwischen 22 und 28 Jahre alt." Ihre erste Aktion war eine Ausstellung mit Bildern, Videos und Berichten von Soldaten über ihren Einsatz in Hebron. Bis heute sehen sie die Aufklärung junger Menschen, die ihren Armeedienst noch vor sich haben, die Öffentlichkeitsarbeit und geführte Touren wie der unseren als ihre HauptSeite 41

aufgabe. In einem Flyer beschreibt die Gruppe ihre Aufgabe: "Die Hügel südlich von Hebron sind weit weg von Tel Aviv. Sie werden von den Medien und in der öffentlichen Diskussion weitestgehend ignoriert. Die große Region und die vielen Palästinenser, die hier leben, sind in den Gesprächen, wie der Konflikt in der Zukunft behandelt werden soll, weitestgehend vergessen. Wir Soldaten, die in dieser Region unseren Militärdienst geleistet haben, haben mit eigenen Augen gesehen, zu welchen Konsequenzen diese erwähnte Missachtung führt. Mitglieder von "Breaking the Silence" sehen es jetzt als ihre zivile Pflicht an, die israelische Gesellschaft darüber zu informieren, was in ihrem Namen in den besetzten Gebieten geschieht. Wir halten ihr gleichsam einen Spiegel vor, der widerspiegelt, was der Preis für unsere Präsenz in diesen Gebieten ist." Die Realität dieser Besatzung dokumentiert Yehuda dann mit Beispielen von Straßensperren, die die Bewegungsfreiheit der Palästinenser erheblich einschränken. Die aggressive Präsenz der Siedler in diesem Gebiet hat tätliche Übergriffe auf palästinensische Bauern zur Folge. Ihre Brunnen werden vergiftet, ihre Behausungen und Pflanzungen immer wieder zerstört. Damit wollen die Siedler bewirken, dass die Palästinenser aufgeben und die Gegend verlassen.

Palästinensische Familie

Das Militär hat dabei offiziell nur die Rolle, die Siedler zu beschützen und bei Streitigkeiten die Parteien voneinander zu trennen. Sie können Siedler nicht bestrafen, da diese israelischem Recht unterstehen für deren Überwachung die Polizei zuständig ist. Deren nächste Station ist allerdings weit weg. Aufgabe des Militärs ist es zudem auch in dieser Region ständige Präsenz zu zeigen. Yehuda Schaul berichtet von einer solchen Routinepatrouille: "Du bist auf Patrouille und siehst am Straßenrand eine schwarze Plastiktüte liegen. Was mag da wohl drin sein? Du hast drei Möglichkeiten: Auf die Tüte schießen und schauen, was passiert. Einen Experten rufen, der sich die Sache genauer anschaut, was aber lange dauert. Oder den nächsten vorbeigehenden Palästinenser auf zu fordern, die schwarze Tüte hochzuheben und wegzuSeite 42

bringen." Am Beispiel der alten Ortschaft Susya wird uns die Besatzungsrealität vorgeführt. 11 palästinensische Familien wurden daraus vertrieben, weil ihr Dorf wegen einer aufgefundenen alten Synagoge zur archäologischen Zone erklärt wurde. Heute leben diese Familien etwa zwei Kilometer entfernt davon in Zelten bzw. halbhohen Hütten und bewirtschaften das umliegende Land. Die Familie, bei der wir zu Gast sind, hat sogar die schriftliche Urkunde aus der Osmanenzeit über den Besitz dieses Grundstücks. Das ist höchst selten, denn dafür mussten damals hohe Steuern bezahlt werden. Aber dieses Papier verhindert heute, dass die Familie von ihrem Grund vertrieben wird. So hat es der oberste Gerichtshof von Israel bestätigt. Um ihnen das Leben hier allerdings zu erschweren, erhalten sie keine Erlaubnis, irgendwelche Hütten oder feste Behausungen zu errichten. Ihre Wohnhöhle wurde niedergebrannt und zugeschüttet. Ihr Brunnen vergiftet. Die verbleibende, kleine Quelle reicht gerade für die Familie aus. Wasser und vor allem Futter für die Schafe muss für teures Geld zugekauft werden.

Zerstörte Wohnhöhle

Die Familie wird –Gott sei Dank- seit einigen Jahren schon von mehreren israelischen Friedensaktionsgruppen unterstützt. So hat beispielsweise Betselem eine Kamera installiert, die das Anwesen ständig überwacht und evtl. Übergriffe durch die Siedler dokumentiert. Drei israelische Ingenieure haben dafür jüngst in Eigeninitiative einige Solarzellen sowie Windräder errichtet, die die Hütten jetzt mit Strom für Kühlschränke und PCs sowie Licht am Abend versorgen. www.btselem.org/english/Video). Die SZ vom 03.11.2009 berichtete auf Seite 3 ausführlich darüber. ISM (International Solidarity Movement) ist ständig mit 2 freiwilligen Internationalen vor Ort Seite 43

(www.palsolidarity.org). Mit Stacheldrahtzäunen werden die Bauern am Zutritt zu ihren entfernter liegenden Feldern gehindert und somit auch daran, diese zu bestellen oder mit ihren Tieren andere Weideplätze aufzusuchen. Wer aber drei Jahre lang sein Feld nicht bestellt, verliert es an den Staat Israel als "Staatsland". Dieses darf nur für israelische Bürger verwendet werden. Vor 1967 waren ca. 20% der Westbank sog. "Staatsland"; heute sind es bereits über 40%. Wer wiederum 10 Jahre lang ein Feld bestellt, darf es danach sein Eigen nennen. So kommen die Siedler "legal" zu immer mehr neuem Land.

UN-Draht hält Bauern fern

Verzweiflung und Hoffnung liegen hier also sehr nahe beieinander. Dank der Aufklärungsarbeit von „Breaking the Silence“ brauchen sich die palästinensischen Familien aber nicht vergessen zu fühlen. Auf der Heimfahrt nach Jerusalem zieht Yehuda seine Folgerung aus dieser Situation: "Ihr (d.i. die israelische Gesellschaft) habt uns gesagt, was wir hier tun sollen. Jetzt wollen wir euch zeigen, was wir für diesen Staat getan haben und euch gleichsam den Spiegel vorhalten: so schaut Besatzung in der Realität aus. Gleichzeitig haben wir in unserer Armee einen sog. 'Ethikcode''. Wenn wir uns auch künftig aufrecht im Spiegel betrachten wollen, müssen wir eines von beiden aufgeben."

Seite 44

11. Brief aus Bethlehem, 23.11.2009: 3 Monate Sabbatzeit – Was bleibt davon? "„Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig stark. " 2.Kor 12,9 Drei reich gefüllte Monate hier in Bethlehem liegen nun hinter mir. In dieser Zeit habe ich viel erleben dürfen und bleibende Erinnerungen sammeln können. Ich will versuchen in wenigen Sätzen die für mich prägendsten Erlebnisse weiter zu geben. Zu allererst denke ich an die vielen Begegnungen mit einer zwar kleinen aber überaus lebendigen und vielfältigen Kirche. Die arabischen Christen in Palästina sind stolz auf ihren Glauben und stehen zu ihm in einer muslimisch geprägten Gesellschaft. Darin sind sie eine Minderheit von gerade einmal 2%, die aber selbstbewusst das jahrhundertealte Erbe des christlichen Glaubens an seinem Entstehungsort vertritt. Die tiefe Verbundenheit mit ihrem Land ist ihnen dabei besonders wichtig. Sie fühlen sich als diejenigen, die das steinerne, historische Erbe unseres Glaubens bis auf den heutigen Tag mit geistlichem Leben erfüllen.

Gottesdienst in der Presbyterkirche von Bethlehem

Als nächste Erinnerung habe ich den oftmals gehörten Satz der Menschen hier im Ohr "Kommt und seht selbst!" Er ist auf dem Hintergrund des Eindrucks gesprochen, von der weltweiten Kirche Jesu Christi weitestgehend vergessen zu sein. "Kommt und seht selbst!", was es heißt mehr als 40 Jahre unter einer Besatzung zu leben, die von den christlichen Kirchen im Westen oftmals sogar mit Verständnis geduldet wird. Mit ihren muslimischen Nachbarn haben auch die arabischen Christen den Eindruck, dass ihnen Unrecht widerfahren ist. "Weshalb müssen wir für etwas büßen, das wir nicht zu verantworten haben?" Sie meinen damit den Holocaust und die daraus folgende Gründung des Staates Israel auf ihrem Grund und Boden. "Warum erleiden wir solches Unrecht und keiner tut etwas dagegen?", sagen sie und meinen die damit verbundene Vertreibung aus ihrer Heimat. Solche Fragen stürzen die arabischen Christen bis heute in eine große Glaubens- und Identitätskrise. Seite 45

Kirche und Wachturm

Moslems beim Gebet

Seite 46

"Wer den Frieden sucht, der muss auch von Gerechtigkeit reden", sagen sie etwa im Blick auf Psalm 85,10f. Während Israel berechtigterweise auf seine Sicherheit so großen Wert legt, ist es bei den Palästinensern die Frage nach der Gerechtigkeit, die ihnen widerfahren soll. Von diesen beiden Standpunkten aus nähern sich beide Völker dem gemeinsamen Wunsch, in diesem Land in Frieden mit-oder wenigstens nebeneinander leben zu können. Ein weiterer, bleibender Eindruck betrifft die Begegnung mit den Moslems. Ich denke beispielweise an jene mit einem jungen muslimischen Architekten, die ich in Nablus hatte. Er lädt mich zum Gebet in die Moschee ein und sagt: "In Deutschland meinen doch viele Leute, die Moslems seien missmutige und bedrohliche Menschen". In den folgenden sechs Stunden sollte er mir das Gegenteil davon beweisen. Er zeigt mir seine Stadt, lädt mich zum Essen ein und wir diskutieren dabei viel über den Islam und das Christentum. Dieses kleine, persönliche Erlebnis scheint mir durchaus aussagekräftig zu sein für das Verhältnis der beiden Religionen hier im Lande zu einander. Seit Jahrhunderten leben sie als Nachbarn Seite an Seite und teilen dieselbe Sprache und Kultur und leiden nicht zuletzt gemeinsam unter der aktuellen politischen Situation. Mit den dabei gemachten Erfahrungen können die Christen Palästinas auch künftig eine Art Brückenfunktion haben zwischen Ost und West, zwischen arabischer und westlicher Welt. Sie, die die Ursprünge unseres christlichen Glaubens seit 2000 Jahren lebendig halten, sind heute in der Gefahr unterzugehen. Sie brauchen Ermutigung und Unterstützung von außen und fordern diese von uns westlichen Christen auch nachhaltig ein. Aus christlicher Verbundenheit heraus sollten wir uns ihrem Wunsch nicht verschließen. Wie heißt es doch in 1. Kor. 12,26? "Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit."

Seite 47