Biografisches Theater in der Firmvorbereitung

Theaterwerkstatt Heidelberg „Nun sag, wie hast du´s mit der Religion?“ Biografisches Theater in der Firmvorbereitung Ein theaterpädagogischer Ansatz...
Author: Gert Berger
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Theaterwerkstatt Heidelberg

„Nun sag, wie hast du´s mit der Religion?“

Biografisches Theater in der Firmvorbereitung Ein theaterpädagogischer Ansatz in der kirchlichen Jugendarbeit

Theoretische Abschlussarbeit im Rahmen der Vollzeitausbildung zur Theaterpädagogin (BuT)

Eingereicht von Verena Oehl (geb. Harter) Bahnhofstr. 22 69221 Dossenheim [email protected] TP 12-2

Abgabe am 05.11. 2012 An Wolfgang Schmidt Theaterpädagogische Akademie der Theaterwerkstatt Heidelberg

Inhaltsverzeichnis

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Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis ............................................................................................ II 1 Einleitung ....................................................................................................... 1 2 Jugendliche als Adressaten der Firmvorbereitung .................................... 3 2.1 Zum Begriff und Bedeutungsinhalt von „Jugend“ ...................................... 3 2.2 Jugend als Zeit des Suchens und Fragens in einer pluralisierten und individualisierten Gesellschaft ........................................................................ 5 2.2.1 Identitätsbildung als zentrale Aufgabe in der Jugendphase ................... 5 2.2.2

Identitätsbildung

in

einer

pluralisierten

und

individualisierten

Gesellschaft .................................................................................................... 6 2.3 Jugend, Religion und Kirche in einer pluralisierten und individualisierten Gesellschaft .................................................................................................... 8 3 Biografisches Theater ................................................................................ 12 3.1 Zum Begriff und zum Verständnis von Biografie ..................................... 12 3.2 Vom Ausgangspunkt zum Stück: Die Methode des biografischen Theaters ..................................................................................................................... 14 3.3 Grundmerkmale des Biografischen Theaters ......................................... 17 3.3.1 Die Arbeit am Nicht-Perfekten – Authentizität ...................................... 17 3.3.2 Distanzierung – Ästhetisierung ............................................................ 18 4 Biografisches Theater innerhalb der Firmvorbereitung .......................... 20 4.1 Thematisch-inhaltliche Akzente der Firmvorbereitung ............................ 20 4.2 Chancen und Hürden von biografischem Theater in der Firmvorbereitung ..................................................................................................................... 21 4.2.1 Biografisches Theater holt Jugendliche dort ab, wo sie stehen ........... 21 4.2.2 Biografisches Theater ermöglicht den Jugendlichen Erfahrungen mit sich selbst ..................................................................................................... 22 4.2.3 Biografisches Theater bietet Jugendlichen einen Raum für die Suche nach Sinn und Orientierung .......................................................................... 25 4.2.4 Biografisches Theater ermöglicht die Begegnung mit und Erfahrung von Kirche und Gemeinde ................................................................................... 27 Exkurs: Generationenübergreifendes biografisches Theater innerhalb der

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Firmvorbereitung .......................................................................................... 28 4.2.5 Biografisches Theater vermittelt wesentliche Inhalte der Firmung und ermutigt Jugendliche zu einem Leben aus der Kraft des Evangeliums ........ 29 5 Fazit .............................................................................................................. 30 Literaturverzeichnis ....................................................................................... 33 Internetquellen ............................................................................................... 35 Eidesstattliche Versicherung ........................................................................ 37

Einleitung

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1 Einleitung Firmvorbereitung ist eine ständig wiederkehrende Herausforderung und Aufgabe für die Verantwortlichen in den Kirchengemeinden und Seelsorgeeinheiten. Angesichts sich rasch verändernder Jugendszenen und der zunehmenden Distanz Jugendlicher zur Kirche muss sich Firmvorbereitung immer neu auf die Jugendlichen einstellen und angemessen Wege der Firmvorbereitung suchen. Dabei sind folgende Fragen leitend: Welches Modell der Firmvorbereitung ist zukunftsfähig? Wie kann an die Lebenswelt der Jugendlichen, die aus der Sicht der Erwachsenen und der Kirche immer auch eine „fremde“ Welt ist, angeknüpft werden? Wie kann Firmvorbereitung als offener und dialogischer Prozess gestaltet werden? Welche Wege ermöglichen Jugendlichen, das Wirken Gottes in ihrem Leben zu entdecken? In meiner Ausbildung zur Theaterpädagogin durfte ich in einem viertägigen Workshop die biografische Theaterarbeit kennenlernen und erfahren. Dabei hat mich begeistert, wie viel persönliches und berührendes auf der Bühne dargestellt wurde und wie viel Kreativität und Ästhetik spür- und sehbar war. Es gab viele kostbare, emotionale und bereichernde Momente, die alle durch einen persönlichen Bezug geprägt waren. Darüber hinaus wurde ein bestimmtes Thema vielseitig und vielschichtig durchleuchtet, was einen inneren Prozess in Gang brachte und zu neuen Denkanstößen führte, sowohl beim Darstellen als auch beim Zuschauen. Die Möglichkeit, die eigenen Erfahrungen, Meinungen und Lebenswirklichkeit in Bezug zu einem Thema zu setzen und das erarbeitete ästhetisch umzusetzen und zu inszenieren hat mich stark beeindruckt. Dabei durfte ich erfahren, welches Potential im Spiel mit der eigenen Person und dem eigenen Leben steckt und dass ich nicht „gut“ spielen muss, um eine ästhetische und aussagekräftige Wirkung auf der Bühne zu erzielen. Durch meine berufliche und persönliche Erfahrung in der kirchlichen Jugendarbeit und speziell der Firmvorbereitung kann ich sagen, dass dieser individuelle, ästhetische, körperliche, kreative Bereich darin noch zu sehr vernachlässigt wird. Es sollte mehr darum gehen, emotionale und körperliche Ebenen sowie bislang vernachlässigte ästhetische Formen in die Jugendarbeit zu integrieren. Die bisherige Praxis sollte durch Methoden der ästhetischen Praxis erweitert werden, da Jugendliche heute in MedienBild-Welten aufwachsen, eine andere Sprache sprechen als Kirche und sie (religiöse) Erfahrungen oft nicht in Worte fassen können. Meiner Meinung nach öffnet sich gerade hier ein großes Feld für die Theaterpädagogik. Im Theater gewinnt das Wort einen leibhaftigen Zusammenhang. Theater ist Wort, Körper, Mimik, Gestik, Bewegung, Bild. Es zeigt den lebendigen Menschen in seiner Suche nach Sinn und einem gelingenden

Einleitung

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Leben. Es handelt dialogisch und kontrovers und verschafft Themen eine Öffentlichkeit und befähigt zum Diskurs. „Das Theater ist die tätige Reflexion des Menschen über sich selbst“ sagte Novalis. Es bietet Formen und eine Ausdruckswelt an, in der der Mensch über sich, sein Verhältnis zu andern Menschen, zur Welt und zu Gott nachdenken und Erfahrungen machen kann. Die vorliegende Arbeit „Biografisches Theater in der Firmvorbereitung“ greift diesen Ansatz auf und will als Anstoß dienen, die theaterpädagogische Arbeit in die Firmvorbereitung zu integrieren. Sie geht auf die Forderung nach einer ästhetischen Wende innerhalb der kirchlichen Jugendarbeit ein und will als Antwort auf die zu Beginn formulierten Leitfragen verstanden werden. Des Weiteren wird dargestellt, inwiefern biografische Theaterarbeit innerhalb der Firmvorbereitung zu einem religiösen Bewusstsein und einer (Weiter)Entwicklung der Religiosität Jugendlicher beitragen kann. Dass Theater und Kirche etwas miteinander zu tun haben, wird dabei vorausgesetzt. Beide sind damit beschäftigt, unsere Wirklichkeit zu erweitern. Beide machen uns mit Unbekanntem vertraut und das Angebot: Lass dich auf etwas ein, was du nicht kennst.

Die vorliegende Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile. Der erste Blick gilt den Jugendlichen als Adressaten der Firmvorbereitung und den für die Arbeit relevanten, psychologisch-pädagogischen Aspekten sowie dem Verhältnis der Jugend zu Religion, Glaube und Kirche. Kapitel zwei der Arbeit stellt die Methode des biografischen Theaters dar und kristallisiert dabei einige Grundmerkmale heraus, die in der Arbeit mit Jugendlichen von besonderer Bedeutung sind und erläutert sie. Das folgende Kapitel schafft anschließend eine Verknüpfung der vorausgehenden Kapitel und überprüft, welche Chancen und Hürden sich durch die biografische Theaterarbeit innerhalb der Firmvorbereitung ergeben. Dazu werden kurz die thematischinhaltlichen Akzente der Firmvorbereitung erläutert und anschließend in Bezug zur biografischen Theaterarbeit gesetzt. Das abschließende Fazit fasst die wichtigsten Ergebnisse der Arbeit zusammen, wägt das Potential der biografischen Theaterarbeit innerhalb der Firmvorbereitung ab und ermutigt zum verantwortlichen experimentieren und phantasievollen Gestalten mit, durch und von jugendlichen Lebenswelten.

Jugendliche als Adressaten der Firmvorbereitung

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2 Jugendliche als Adressaten der Firmvorbereitung Wenn in dieser Arbeit von „Jugend“ die Rede ist, bedarf es zunächst einer Begriffsbestimmung über die Bedeutungsinhalte von Jugend und der Klärung, welches Verständnis von „Jugend“ der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt. Dabei wird zunächst auf die Verwendung des Begriffs im heutigen Sprachgebrauch und danach auf die bedeutenden psychologisch-pädagogischen Aspekte von „Jugend“ eingegangen. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf der Bedeutung der Identitätsentwicklung und der Konstruktion einer eigenen Biografie in der Jugendzeit.

2.1 Zum Begriff und Bedeutungsinhalt von „Jugend“1 Es ist heute schwieriger denn je, von der Jugend zu sprechen, denn die Jugend gibt es nicht. Die Jugend ist nicht eine Einheit, sondern umfasst unterschiedliche Jugendliche, die an unterschiedlichen Bereichen der Jugendkulturen teilnehmen und sich mit verschiedenen jugendkulturellen Angeboten identifizieren.2 Dennoch gibt es typische Merkmale, die die Situation der Jugendlichen kennzeichnet. Das neue universale Lexikon des Bertelsmann Verlags definiert Jugend als ein Lebensabschnitt, welcher „mit der Pubertät beginnt (etwa 12. Lebensjahr) und mit der physischen und seelischen Reife im Erwachsenenalter (etwa 20. Lebensjahr) endet.“3 Laut dieser Definition wird Jugend allgemein als ein Übergangsstadium vom Lebensabschnitt Kind zum Status des Erwachsenen bezeichnet.4 Im Handbuch psychologischer Grundbegriffe wird Jugend folgendermaßen definiert: „Der Begriff ‚Jugend‘, der sich historisch mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft entwickelte, bezeichnet sowohl eine Phase im individuellen Lebenslauf als auch eine gesellschaftliche Teilgruppe. (…). Als Jugendliche können gegenüber Kindern und Erwachsenen diejenigen bezeichnet werden, die mit der Pubertät die biologische Ge-

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Der Jugendbegriff wird im Kontext dieser Arbeit in Bezug zum Thema und den diesbezüglich bedeutenden Aspekten definiert. Zu beachten ist, dass der Jugendbegriff dynamisch ist, dessen Bedeutung sich zeit- und kulturgebunden wandelt. Ein einheitlicher Jugendbegriff konnte sich bisher nicht etablieren und das Thema Jugend ist in der Psychologie, Soziologie, Pädagogik sowie der Sozialisationsforschung kontrovers geblieben. 2 Vgl. Boschki 2008, 65. 3 Bertelsmann 2009, 454. 4 Diese Definition unterscheidet sich von der juristischen Sichtweise, nach welcher ein Jugendlicher oder eine Jugendliche ist, wer 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist. Vgl. hierzu die Broschüre zum Jugendschutzgesetz der Aktion Jugendschutz der Landesarbeitsstelle Baden-Württemberg. Vgl. www.ajs-bw.de [24.09.12].

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schlechtsreife erreicht haben, aber noch nicht alle Rechte, Aufgaben und Pflichten eines Erwachsenen (z.B. Wahlrecht) wahrnehmen.“

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Auch in dieser Aussage wird zur Bestimmung der Jugend eine Abgrenzung zu dem vorausgegangenen Stadium Kindheit, wie auch dem folgenden Erwachsenenalter herangezogen. Zudem wird darauf hingewiesen, dass Jugend zwei Bereiche umfasst, den individuellen als auch gesellschaftlichen. Um zu wissen, was diese Phase der Reifung beinhaltet, hilft ein Blick auf die entwicklungspsychologischen Aspekte des Jugendalters. Die Entwicklungspsychologie geht von einer Entwicklung des Menschen über die ganze Lebensspanne aus und teilt diese in unterschiedliche Lebensabschnitte und Lebensphasen ein. In jedem Lebensabschnitt treten Ereignisse ein oder laufen Prozesse ab, müssen eine Vielzahl an (Entwicklungs-)Aufgaben und Herausforderungen bewältigt werden, deren (nicht) erfolgreiche Bewältigung Auswirkungen auf zukünftige Veränderungen haben können. Innerhalb jeder dieser Lebensabschnitte ereignet sich Veränderung auf physischer, auf kognitiver und auf sozialer Ebene, welche sich überschneiden können und in Wechselwirkung zueinander stehen.6 Die Lebensphase des Jugendalters wird in der Entwicklungspsychologie gemeinhin auch als Adoleszenz bezeichnet. Sie beginnt mit der Pubertät und meint die Übergangsphase zwischen Kindheit und Erwachsensein, welche ungefähr zehn Jahre andauern kann.7 Die „Jugend“ stellt sich hier als eine eigenständige, zeitlich wesentlich ausgedehntere Lebensphase dar, mit typischen Kennzeichen und Lebensformen. Mit dem Eintritt in die Pubertät durchläuft der/die Jugendliche eine große Anzahl körperlicher, sozialer, sowie auch psychischer Veränderungen. Zu den grundlegenden Aufgaben dieser Phase zählen die Akzeptanz des reifer werdenden Körpers, der Erwerb erwachsener Denkweisen, das Erreichen emotionaler und finanzieller Unabhängigkeit, die Aufnahme reiferer Arten der Beziehung zu Gleichaltrigen beiderlei Geschlechts sowie die Entwicklung von Individuation und Identität. Wobei Individuation und Identität als übergeordnetes Merkmal in der Entwicklung des/der Jugendlichen gesehen werden kann.8

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Rexilius 1981, 513. Zu den einzelnen Lebensabschnitten in der menschlichen Entwicklung siehe u.a. Berk, Laura E.: Entwicklungspsychologie. 3. Aktualisierte Auflage, München 2005. 7 Vgl. Berk 2005, 474. 8 Vgl. hierzu die vier zentralen Entwicklungsaufgaben nach Hurrelmann 2007, 27f. 6

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Das, was unter „Jugend“ gemeint ist, kann in komprimierter Form folgendermaßen wiedergegeben werden: „Psychologisch gesehen, ist die Adoleszenz eine Anpassungsphase von kindlichem zu erwachsenem Verhalten. Soziologisch gesehen, ist sie eine Phase des Übergangs von der Abhängigkeit zur Selbstverantwortung. Pädagogisch gesehen schließlich, könnte man die Adoleszenz als die Zeit der Personalisation bzw. der Selbstfindung bezeichnen.“9 Für die vorliegende Arbeit spielen insbesondere die Bedeutung der Identitätsbildung und der Konstruktion eines eigenen Lebensentwurfes, als eine der Hauptaufgaben in der Adoleszenz, eine Rolle. Zudem spiegeln diese Aufgaben die Zeit der Adoleszenz als Zeit des Suchens und Fragens wider. Auf diesen Aspekt der Jugendphase soll im Folgenden näher eingegangen werden.

2.2 Jugend als Zeit des Suchens und Fragens in einer pluralisierten und individualisierten Gesellschaft 2.2.1 Identitätsbildung als zentrale Aufgabe in der Jugendphase Die Zeit der Jugend ist eine besonders sensible Phase für die Identitätsentwicklung. Es geht dabei zuvorderst um die Neu-Positionierung von sich zur Welt und um den Entwurf einer eigenen Lebensperspektive. Wer bin ich? Was gehört zu mir? Was ist mir wichtig? Was kann ich? Wo sind meine Stärken und Schwächen? Wo gehöre ich dazu? Woran orientiere ich mich? Wer war ich? Wer will ich werden? - Diese und ähnliche Fragen können als treibende Kräfte im Prozess der Selbstfindung verstanden werden.10 Doch was ist mit Identität gemeint? Das Duden-Fremdwörterbuch von 2007 definiert Identität im psychologischen Sinne als „die als ‚Selbst‘ erlebte innere Einheit der Person.“ Wenn es bei Identität demzufolge um das Gefühl geht, bei sich zu sein, man selbst zu sein, beinhaltet die Identitätsbildung die Entwicklung einer Vorstellung von sich selbst. E.H. Erikson beschreibt diesen Vorgang als eine Suche nach einer „Definition dessen, der man selbst ist, der eigenen Werte und der Richtung, die man in sei-

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Naudascher 1977, 52. Die Frage nach der eigenen Identität schließt viele der oben erwähnten Entwicklungsaufgaben ein und subsumiert diese. So bewirken diese Fragen, dass sich Adoleszente kritisch und konstruktiv-verändernd mit ihrer Kindheit und dem anderen Geschlecht auseinandersetzen, sich von erwachsenen Bezugspersonen ablösen, Wertvorstellungen, religiöse Überzeugungen und Prioritäten infrage stellen und verschiedene Lebensmöglichkeiten und (soziale) Rollen ausprobieren. Vgl. Berk 2005, 526-529.

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nem Leben einschlagen möchte.“11 Die Suche nach Identität beinhaltet folglich das Streben nach Selbstständigkeit und Selbstbestimmung, auch hinsichtlich der eigenen Ziele und Werte.12 Voraussetzungen dafür, dass ein Mensch sich mit sich selbst identisch erlebt sind, dass „die Fähigkeiten zur Selbstwahrnehmung, der Selbstbewertung und der Selbstreflexion entwickelt (sind).“13 Identität kann der Mensch jedoch nicht nur allein erwerben. Bei der Identitätsentwicklung spielen viele weitere (Einfluss-) Faktoren eine Rolle. Wesentlich hierbei sind vor allem soziale Faktoren, insbesondere Beziehungen. Einen besonderen Stellenwert stellen diesbezüglich Beziehungen zu anderen Jugendlichen und Gruppenzugehörigkeiten wie Peer-Group, Freundeskreis, Arbeit, Vereine und Cliquen dar.14 Auswirkungen auf eine gesunde Identitätsentwicklung haben darüber hinaus emotionale Unterstützung in Familie, Freundeskreis, Schulen und Gemeinden und die darin gegebene Freiheit, Wertvorstellungen, Überzeugungen und Ziele zu explorieren und eigenständig zu selektieren.15 Identitätsbildung ist eng verbunden mit Individuation, „der Entwicklung einer besonderen, einmaligen und unverwechselbaren Persönlichkeitsstruktur“16, mit individueller Lebensplanung und Selbstreflexion. Darauf soll in der folgenden Ausführung näher eingegangen werden.

2.2.2 Identitätsbildung in einer pluralisierten und individualisierten Gesellschaft Das Streben und die Suche nach Identität finden innerhalb einer hochdifferenzierten Gesellschaft statt, die durch eine Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen gekennzeichnet ist und Identitätssuche zu einer komplexen und schwierigen Aufgabe machen. Auf der Suche nach ihrer Identität haben Jugendliche einen großen Spielraum freier Wahlmöglichkeiten und stehen verstärkt vor der Aufgabe, sich eigene Lebenseinstellungen und Werthaltungen zu erarbeiten. Der „allgemein vorherrschende individualisierte Lebensstil“17 führt dazu, dass der Einzelne in zuvor nie gekanntem Maße selbst dafür verantwortlich ist, die eigene Biografie mit den gesellschaftlichen

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Berk 2005, 526. Während E.H. Erikson, dessen Arbeiten für die Verknüpfung der Identitätsfrage mit der Jugendphase wegweisend waren, den Prozess der Identitätsentwicklung als ‚psychischen Konflikt‘ bezeichnet, verwenden heutige Theoretiker dafür den der ‚Exploration‘. Dies beschreibt ihrer Meinung nach treffender, dass es sich bei der Identitätsbildung um einen allmählichen Prozess handelt, der zumeist ohne besondere Vorkommnisse abläuft. Vgl. Berk 2005, 527. 13 Hurrelmann 2007, 30. 14 Vgl. Boschki 2008, 65. 15 Vgl. Berk 2005, 534. 16 Hurrelmann 2007, 30. 17 Lätzel 2004, 29. Vgl. hierzu auch Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, 18. Auflage, Frankfurt am Main, 2006. 12

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Rahmenbedingungen zu verknüpfen. Bindungen, Traditionen und Institutionen haben ihre selbstverständliche Autorität und Prägekraft eingebüßt, Jugendliche sind heute kritischer gegenüber Normen, Regeln und festliegenden Abläufen. Der Einzelne wird selbst zum ‚Bastler‘ und ‚Entwickler‘ seiner eigenen Biographie, die zu einer ‚Patchwork- bzw. Wahlbiografie‘ wird. „Nicht vorgegebene Muster, sondern eigene Entscheidungen bestimmen über den Lebensverlauf: Welche Ausbildung ich mache, welchen Beruf ich ergreife, welchen Wohnort und Lebensstil, welche Familienform und Freizeitgestaltung ich wähle – all dies ist zunächst mir selbst überlassen.“

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Der/die Jugendliche hat die Aufgabe, aus einer Vielzahl von (Arbeits- und Freizeit)Möglichkeiten, sowie Wertvorstellungen und Glaubensrichtungen Elemente auszuwählen, die zu ihm oder ihr passen und eine eigene Identität zu bilden.19 Heiner Keupp spricht hierbei von „Patchwork-Identitäten“.20 Identität ist als Summe einzelner Teilidentitäten (z.B. berufliche Identität) zu begreifen, die durch flexible Identitätsarbeit in Einklang gebracht werden müssen. In dem Zwang zur Wahl liegt einerseits die Chance zur Selbstverwirklichung, sie kann den Einzelnen aber auch überfordern.21 Die Pluralisierung der Lebensbereiche und der ständige Anspruch sein Leben wertvoll und lohnenswert zu gestalten, führt verstärkt zu Unübersichtlichkeit, Unsicherheit und Druck, der Ohnmachtserfahrungen hervorruft und häufig Fragen nach dem Sinn und danach, was dem Leben wirklich Halt und Sicherheit gibt, stellen lässt.22 Diese Problematik skizziert der Soziologe Ulrich Beck unter dem Schlagwort „Risikogesellschaft“23. Der Mensch muss lebenswichtige Entscheidungen selbst treffen und kann sich nicht mehr an vorgegebenen Strukturen orientieren. Der ständige Zwang zur Wahl erzeugt Orientierungslosigkeit und Unsicherheit. Der Soziologe G. Schulze spricht in diesem Zusammenhang von einer „Erlebnisgesellschaft“24, in der jeder die Ziele von innen heraus selbst schaffen muss, da sie nicht mehr von au-

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Boschki 2008, 54. Dass Individualisierung der (jugendlichen) Lebenswelten nicht mit Individualismus gleichzusetzen ist, zeigt ein Blick auf die 16. Shell Jugendstudie, die im September 2010 erschien. Sie präsentiert eine aktuelle und differenzierte Sicht auf die Jugendgeneration in Deutschland im Alter von 12 bis 25 Jahren. Sie wird darin als eine pragmatische Generation bezeichnet, die stark leistungsorientiert und sozial engagiert ist und einen ausgeprägten Sinn für soziale Beziehungen hat, kommunikationsfreudig und werteorientiert ist (Familie, Freundschaft etc.). Der Einsatz für Werte geschieht aber aus einer jeweiligen subjektiven Betroffenheit heraus und verbindet sich häufig mit deutlichen Vorbehalten gegenüber großen Institutionen. Vgl. Shell 2010. 20 Keupp 2006. 21 Vgl. Lätzel 2004, 29f. Vgl. hierzu auch Mey, Günter: Immer diese Jugendforschung! In: Psychologie und Gesellschaftskritik, 35 (2), 2011, 27-49. 22 Vgl. Boschki 2008, 53. 23 Vgl. hierzu Beck 1986. 24 Vgl. hierzu Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft: Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt 2005. 19

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ßen vorgegeben werden. Das Lebensmotto lautet: „Erlebnis ist alles und ohne Erlebnis ist nichts“25. Dahinter steht das Bestreben, dem eigenen Leben einen Sinn zu geben und das persönliche Glück im Erlebnis, im emotionalen Kick, im Event zu finden. Adoleszenz ist die Phase in der sich der Jugendliche intensiv mit der Aufgabe der Identitätsbildung beschäftigt und auf der Suche ist: Auf der Suche nach sich selbst, einer eigenen Identität, einem eigenen Standort in der Gruppe bzw. Gesellschaft, nach einem glücklichen erfolgreichen, erfüllenden Lebensentwurf, nach Verlässlichkeit und Permanenz. Wie oben bereits angedeutet, kommt es in dieser Periode auch zu einer Entwicklung der Weltanschauung und des Glaubensverständnisses. Deshalb liegt es nun nahe, zu fragen, welche Konsequenzen diese Entwicklung für Religion, Glaube und Kirche in sich schließt. Auf diese Frage soll im folgenden Kapitel eingegangen werden.

2.3 Jugend, Religion und Kirche in einer pluralisierten und individualisierten Gesellschaft

Die Jugendzeit ist nicht nur im Blick auf die persönliche und soziale Identität eine Zeit der Suche, sie ist es auch mit Blick auf die religiöse Identität und den Gottesglaube. Hierbei spielen auch die oben erwähnte Pluralisierung und Individualisierung der Lebenswelten eine wichtige Rolle, da sich diese Gesellschaftsphänomene auch auf die religiöse Entwicklung auswirken. Im Hinblick auf die vorliegende Arbeit ist es nun von Interesse, das Verhältnis von Jugendliche und Religion, Christentum und Kirche näher zu betrachten und der Frage nachzugehen, welche Jugendliche sich eigentlich auf die Firmung einlassen und welche nicht mehr dabei sind. Viele Jugendliche sind religiös Suchende. Dabei suchen sie keine religiöse Denk- und Verhaltensmuster, die ihnen eine Institution wie Familie oder Kirche u.a. vorgibt, sondern sie sind auf der Suche nach einem eigenen Glauben, „den sie vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen und Beziehungen verantworten können.“26 Jugendliche, die an der Firmvorbereitung teilnehmen, befinden sich in einer Umbruchsituation, in der die Suche nach dem Selbst und dem eigenen Selbstbild von großer Bedeutung sind und Erfahrungen der Kindheit kritisch hinterfragt werden. Dies gilt ebenso für den eigenen Glauben.

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Fischer 2003, 14. Boschki 2008, 71.

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„Die kritische Bewertung und Bearbeitung überkommener, von der Eltern- und Erziehungsgeneration weitergegebener Wertvorstellungen und Weltanschauungen (…) ist als ein typischer Zug der Jugendphase zu werten. (…). Es kann das Bedürfnis entstehen, auf die religiöse Suche zu gehen und alternative Antworten anderer Religionen und Weltanschauungen auf die menschlichen Grundfragen kennen zu lernen, um sich autonom und individualisiert ein Sinnkonzept zu generieren. Genauso kann aber auch die christliche Weltsicht zusammen mit ihrem Gottesbild neu bearbeitet werden.“

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Hier wird die Tendenz zur Individualisierung der Religiosität sehr deutlich, deren primärer Bezugspunkt die eigene Erfahrung ist. Jugendliche wollen selbst bestimmen, was und wie sie glauben und wohin sie sich religiös orientieren. Dabei kristallisiert sich die Selbstbestimmung als ein zentrales Merkmal jugendlicher Religiosität heraus. Jugendliche verweigern sich dem christlichen Glauben in dem Moment, wenn sie sich vereinnahmt oder bevormundet fühlen. Dieses Verhalten der religiösen Entwicklung entspricht dem allgemeinen Entwicklungsverlauf, wonach sich der/die Jugendliche in der Adoleszenz von den Abhängigkeiten der Erwachsenen und Institutionen u.a. befreien will. Natürlicherweise distanziert sich der junge Mensch in dieser Phase von überkommen Wertvorstellungen und Lebensentwürfen.28 Die jugendliche Suche nach der eigenen Religiosität findet innerhalb einer pluralisierten Gesellschaft statt, die den jungen Menschen verstärkt vor die Aufgabe stellt, aus einer „schier unendliche Fülle an Möglichkeiten, religiös zu denken, sein Leben zu gestalten, sich religiöser Schnittmuster zu bedienen“29 auszuwählen, um sich daraus eigene Lebenseinstellungen und Werthaltungen zu erarbeiten. Er ist im Zuge der Individualisierung nunmehr für seinen Lebenssinn selbst verantwortlich.30 Die religiöse Vielfalt wird von heutigen Jugendlichen als selbstverständlich wahrgenommen. Und obwohl sie sich selten offen zu einer religiösen Einstellung bekennen, scheint unterschwellig dennoch ein religiöses Interesse zu 27

Schambeck 2007, 161. Vgl. hierzu James W. Fowlers Stufen der Glaubensentwicklung, u.a. in Baumann, Ulrike: Zugänge Jugendlicher zu Religion und Glauben, 12. In: Baumann, Ulrike/Englert, Rudolf/Menzel, Birgit u.a. (Hrsg.): Religionsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin 2005, 10-20. 29 Boschki 2008, 54. 30 Während christlicher Glaube und Religion in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts das gesamte gesellschaftliche Leben mit seiner volkskirchlichen Struktur geprägt haben, ist die Gesellschaft heute ausdifferenziert und der religiöse Bereich zu einem unter vielen autonomen Bereichen geworden. Der christliche Glaube und die christlichen Kirchen haben ihre Führungsrolle verloren und stehen in der pluralisierten Gesellschaft nun in Konkurrenz zu anderen religiösen Formen, zwischen denen der Einzelne subjektiv auswählen kann. Während der religiöse Markt pluraler geworden ist, gestaltet sich die Religionsausübung hingegen individueller. Dieser Spagat zwischen Individualisierung und Pluralisierung ist charakteristisch für die entfaltet Moderne. Dass der Begriff der Säkularisierung, mit dem gemeinhin die gesellschaftliche Entwicklung beschrieben wird, jedoch zu kurz greift, zeigen die „neue Suche, ja Sehnsucht nach Religion und religiöser Bindung angesichts der hochtechnisierten und hochkomplexen, unüberschaubaren und riskant gewordenen Welt.“ (Boschki 2008, 52). Trotz zunehmender Distanz zu kirchlichen Institutionen besteht ein Interesse an Spiritualität und Religiosität, wobei beides als eher private Angelegenheit betrachtet wird, die allgemein der Sinngebung und als ritueller Rahmen des Lebensvollzuges dient. Vgl. hierzu u.a. Lätzel 2004, 27-32. 28

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bestehen. Viele Jugendliche glauben, dass Religion zum Leben dazugehört und Positives bewirken kann. Dabei wird jedoch zwischen Religiosität und Kirchlichkeit unterschieden.31 Ein Blick auf die 16. Shell Jugendstudie32 scheint dies zu bestätigen. Nur relativ wenige der Jugendlichen zwischen 12 und 25 Jahren haben eine enge Beziehung zu kirchlich-religiösen Glaubensvorgaben. Etwa 69 Prozent der Jugendliche betrachten die Institution Kirche grundsätzlich als wichtig, sind jedoch gleichzeitig kirchenkritisch eingestellt. 68 Prozent sind der Meinung, dass sich die Kirche in Zukunft ändern muss. Rund 65 Prozent der Befragten finden in der Kirche keine Antworten auf Fragen, die sie heute bewegen. Generell ist eine zunehmende religiöse Unsicherheit festzustellen.33 Wie die Nähe und Distanz zu Religiosität und Kirche für die jeweiligen Jugendlichen aussieht, hat die Sinus-Milieustudie U2734 erfasst, die 2007 erschien. Die Studie gibt Hinweise zu den unterschiedlichen Werthaltungen und Milieuorientierungen heutiger (katholischer) Jugendlicher. Ein Ergebnis dieser Studie, das auch die Gruppe der jugendlichen Firmanden (welche der Altersgruppe der 14- bis 19-Jährigen zuzuordnen sind) betrifft, lautet: Katholische Jugendpastoral erreicht im Wesentlichen Jugendliche der bürgerlichen, traditionellen und postmateriellen Lebenswelt. Nur wenige Jugendliche aus den gesellschaftlichen Leitmilieus, („moderne Performer“ und „Experimentalisten“), finden Zugang zu Kirche und christlichem Glauben und leben eher in Distanz dazu.35 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit würde eine detaillierte Darstellung aller Milieugruppen zu weit führen. Im Sinne eines Zwischenresümees kann

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Vgl. Boschki 2008. 70 f. Vgl. Shell 2010, 30. Unterschiede zeigen sich hier v.a. zwischen Ost und West und Jugendli chen mit Migrationshintergrund. Während Religion in den neuen Bundesländern für junge Menschen zumeist bedeutungslos (geworden) ist, spielt sie in den alten Bundesländern noch eine mäßige Rolle. Im Gegensatz dazu haben Jugendliche mit Migrationshintergrund einen starken Bezug zur Religion, der in diesem Jahrzehnt sogar noch zugenommen hat. Vgl.http://www.shell.de/home/content/deu/aboutshell/our_commitment/shell_youth_study/2010/r eligion/ 33 Vgl. Shell 204-206, sowie http://de.statista.com/statistik/suche/q/religi%f6sitaumlt/ [19.09.12]. 34 Die Sinus-Milieustudie U-27 wurde vom Bund der deutschen katholischen Jugend und vom Jugendhilfswerk Misereor gemeinsam in Auftrag gegeben. Die Studie untersucht drei Altersgruppen: Kinder (913 Jahre), Jugendliche (14 bis 19 Jahre) und junge Erwachsene (20 bis 27 Jahre). Das Modell der Sinus-Milieus gruppiert Menschen einander zu, die sich in ihren Lebensauffassungen und Lebensweisen ähneln und macht darin Aussagen über Wertvorstellungen, Sehnsüchte, Zukunftsentwürfe, Einstellungen, Engagement sowie Haltung gegenüber Religion und Kirche heutiger Jugendlicher. Im Rahmen dieser Arbeit würde eine detaillierte Darstellung aller Milieugruppen zu weit führen. Hierzu soll ein Verweis auf die Literaturangabe genügen: Vgl. Bund der deutschen katholischen Jugend/Misereor: Wie ticken Jugendliche? Sinus-Milieustudie U27, Düsseldorf 2008. 35 Vgl. Ebertz 2008. Die Studie gibt darüber hinaus Aufschlüsse, wo es Berührungspunkte zwischen den Milieus gibt. Beispielsweise sind junge Menschen aus nahezu allen Milieus (die „Hedonisten“ und “Konsum-Materialisten“ nur sehr eingeschränkt) bereit, sich zu engagieren. Unterscheidungen gibt es diesbezüglich in den jeweiligen Motivationen, Formen und Feldern des Engagements: „Während die einen (‚Postmateriellen‘) als Bedingung für ihr Engagement z.B. eine flache Hierarchie, hohe Partizipationschancen und eine durch und durch demokratische Kultur erwarten, wünschen die anderen (‚Bürgerliche Mitte‘) ausdrücklich Harmonie, Geselligkeit und Dank und wieder andere (‚Experimentalisten‘) neuartige, ungewöhnliche Erfahrungen sowie Erweiterung ihres Bekanntenkreises. Das neue Leitmilieu der ‚Modernen Performer‘ erwartet insbesondere karrierenützliche Gegenleistungen und Handlungsspielräume, in denen sie ihre Kompetenzen erproben, darstellen und entfalten können.“ (Ebertz 2008,4). 32

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jedoch folgendes festgehalten werden: Die Mehrheit der Jugendlichen und somit ein Gutteil der Firmanden stehen der Institution Kirche kritisch gegenüber und ist nicht bereit, traditionelle Antworten unhinterfragt zu übernehmen. Die Kirche hat aus Sicht vieler Jugendlichen die Wahrheit nicht für sich gepachtet. Eine geringe Beteiligung an kirchlichen Aktivitäten ist nicht gleichzusetzen mit einem Fehlen religiöser Interessen (Sinnfrage, Beten, Weiterleben nach dem Tod u.a.). Jugendliche sind religiös ansprechbar, wenn die Glaubensinhalte ihnen helfen, das eigene Leben zu orientieren.36 Nicht selten stellen sich Jugendliche ihre eigene Religion zusammen und viele halten ihre Glauben für wertvoll, wenn sie ihn individuell gestalten können. An die Stelle eines in sich konsistenten Glaubens- und Wertsystem sind im Zuge gesellschaftlicher Individualisierung vielfältige Mischformen alltagspraktischer Religiosität getreten.37 Religiosität steht für Jugendliche im Dienste der Konstruktion der eigenen Biografie. Kirchliche Spiritualitätsangebote und Deutungsvorgaben der Institution Kirche werden in ihrem Nutzen für das eigene Leben angefragt und danach beurteilt, ob sie bestimmte Bedürfnisse erfüllen können und derzeit bei der Lebensbewältigung am nützlichsten erscheinen. Innerhalb der Patchwork-Biografie wird so häufig eine Patchwork-Religiosität konstruiert, in der das Bild von Gott, der Welt und den Menschen selbst zusammengesetzt wird.38 Junge Menschen greifen auf Kirche und Gemeinde zurück, wenn sie passgenau und nützlich sind und den eigenen Lebensentwurf unterstützen. Von bleibender Wichtigkeit sind dabei kirchliche Handlungen zu persönlichen Lebenswenden, wie Taufe, Firmung, Hochzeit und Beerdigung.39 Als wichtiger Ort der Religion Jugendlicher erweist sich somit die eigene Lebensgeschichte, innerhalb derer sich durchaus ein Interesse an kirchlich-getragenen Angeboten für eine individuell lebbare, religiöse Deutungs- und Verhaltenspraxis findet. Religion hat hier die Funktion der Deutung, Orientierung, Sinnfindung und des Sicherheitsgewinns.40 Allerdings soll das kirchliche Handeln dann auch auf diese Bereiche beschränkt bleiben. Junge Menschen wollen sich von der Kirche nicht in ihr persönliches Leben hineinreden lassen. Dogmen und Vorgaben werden als Eingriff ins Privatleben empfunden.41 Hier findet sich wieder das Merkmal der Selbstbestimmung hinsichtlich religiöser Entscheidungen, denn „Sinnstiftung lässt sich nicht unterweisen, sondern nur anregen.“42

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Vgl. Ziebertz 2003, 386. Vgl. Prokopf 2008, 197. 38 Vgl. Bongardt 2009, 13-14. 39 Vgl. Huber 2008, 71-72. 40 Vgl. Sellmann 2012, 42-52. 41 Vgl. Lätzel 2004, 31. 42 Baumann 2005, 18. 37

Biografisches Theater

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Ob und wie Theaterprojekte im Sinne einer biografischen Theaterarbeit innerhalb der Firmvorbereitung in der Jugendzeit als Zeit der Suche (u.a. nach der religiösen Identität) eine Rolle spielen können, wird im weiteren Verlauf der Arbeit zu untersuchen sein.

3 Biografisches Theater Was ist Biografisches Theater? (Auto)Biografisches Theater ist mittlerweile zwar ein geläufiger, jedoch kein eingrenzender und spezieller Fachbegriff, welcher eine spezielle Methodik oder Spielform umfasst. Vielmehr ist die Bezeichnung ‚Biografisches Theater‘ ein Oberbegriff für vielfältige Formen der biografischen Theaterarbeit.43 Allen Formen gemein sind dabei die eigenen Lebensgeschichten der Darsteller als Zentrum und Ausgangspunkt der Theaterarbeit. Die vorliegende Arbeit geht von einem theaterpädagogischen Ansatz der biografischen Theaterarbeit aus, wonach Theaterstücke ausgehend von den Lebensgeschichten der Teilnehmer entwickelt werden.44 Zunächst soll nun ein Blick auf die Bedeutung der Biografie als Ausgangspunk der biografischen Theaterarbeit geworfen werden.

3.1 Zum Begriff und zum Verständnis von Biografie Der Begriff ‚Biografie‘ stammt aus dem Griechischen bíos = Leben und gráphein = schreiben45 und meint sinngemäß die Beschreibung des Lebens(ab)laufs bzw. die Lebensgeschichte eines Menschen46. Dabei umfasst die Biografie sowohl die objektiven Daten des Lebenslaufes als auch die innere, emotionale und soziale Entwicklung einer Person, „unter Einbeziehung ihrer Werke und Leistungen und ihrer Beziehungen zu

43

Das Spiel mit eigenem oder fremdem biografischen Material hat in den letzten Jahren einen Aufschwung erlebt. Zu unterscheiden sind hierbei die professionellen biografischen Theaterproduktionen der Freien Szene, welche Stücke mit Laien inszenieren u.a. Rimini Protokoll, She She Pop und biografische Theaterarbeiten der Theaterpädagogik. Beide Arbeitsansätze weisen in ihren Arbeits- und Inszenierungsstrategien Berührungspunkte auf, unterscheiden sich jedoch bzgl. der Zielsetzung und des Anspruchs. Vgl. Köhler 2009, 42-45. 44 Professionelle Schauspieltechniken, wie bspw. die ‚Psychotechniken‘ Stanislawskis, bei denen der Schauspieler auf eigenes biografisches Material zurückgreift, um eine festgelegte Rolle individuell und authentisch auszufüllen, werden im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht näher betrachtet. Genauso wenig finden hierin bereits festgelegt Theaterstücke, in denen die Lebensgeschichte berühmter Persönlichkeiten nacherzählt wird und Rollenschema, die unter Einbeziehung von biographischem Material realisiert werden, Beachtung. Vgl. Gäbler 2003. 45 Vgl. http://www.duden.de/suchen/dudenonline/bios bzw. /grafie. 46 Wermke 2007, 138.

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Zeitgenossen sowie ihrer Stellung innerhalb des Geschichtsverlaus.“47 Die individuelle Lebensgeschichte bzw. Biografie eines Menschen ist, solange er lebt, ein fragmentarischer und unabgeschlossener Prozess, innerhalb dessen sich das Individuum bewegt und verändert. Sie entsteht durch die subjektive Verarbeitung, Deutung und Auslegung der persönlichen Erfahrungen, Erlebnisse und Entscheidungen, die innerhalb der Lebensspanne und dem vorstrukturierten Lebensbogen, also im Rahmen institutioneller und gesellschaftlicher Vorgaben, gemacht werden.48 Die persönlichen Erfahrungen, Ereignisse, Erlebnisse und Entscheidungen können sich sowohl vorhersehbar (normativ) als auch unabsehbar (krisenhaft) ereignen und mehr oder weniger tiefgreifend sein. Diese Veränderungen werden mitunter als (unangenehme) Einschnitte empfunden, „eben als etwas, was dazwischen kommt“49 und bewirken, dass die Lebensgeschichte nicht linear, in einem regelmäßigen Rhythmus verläuft, sondern von einer Ungleichzeitigkeit geprägt ist. Übergänge, die für jedes Individuum unumgänglich sind, sind Geburt und Tod. Weitere entscheidende Knotenpunkte innerhalb der jeweiligen Biografie sind u.a. Schuleintritt, Erwachsenwerden, Neueintritt in den Beruf, Arbeitslosigkeit, Ausscheiden aus dem Erwerbsleben, der Beginn einer Partnerschaft, die Geburt eines Kindes, Trennungen, Wohnortswechsel. Lebenswenden können sich auch innerhalb des rhythmisierten Jahres (u.a. Jahreswechsel, Geburtstage, Adventszeit) oder zeitgeschichtliche (bspw. Eintritt eines Krieges, Fall der Mauer) gestalten, wobei die Bedeutung hierbei je nach Betroffenheit und Lebensalter sehr verschieden ist.50 In einer pluralisierten Gesellschaft, in welcher der Mensch seine Biographie selbst entwerfen muss (Wahl- und Patchwork-Biografie) und „Handlungen und Begegnungen auf ihre Bedeutung für sein Leben (hin) befragt und sich einen Vers auf sie zu machen versucht“51 hängt die Suche nach der eigenen Identität eng mit der Suche nach dem Lebenssinn zusammen.52 Die jeweilige Lebensgeschichte ist der Ort, wo sich die Menschen darüber vergewissern, wie viel Sinn, Wert und Anerkennung ihr Dasein hat. Somit gewinnt die individuelle Biographie an Bedeutung und das Bedürfnis, das individuelle Leben zum Ausdruck und zur Geltung zu bringen, nimmt zu. Da Lebensgeschichten immer auch Bekenntnisse sind, ist darüber hinaus an ihnen abzulesen, welche

47

Bertelsmann 2009, 109. Vgl. Fechtner 2003, 43; Albrecht 2006, 193. 49 Roselt 2006. 50 Vgl. Zulehner 1990, 14-16. 51 Maurer 1981, 8. 52 Vgl. Lätzel 2004, 59. 48

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Sinn- und Wertorientierungen von der jeweiligen Person als letztgültig oder als (lebens) entscheidend angesehen werden.53 Zusammenfassend lässt sich Biografie nach Theodor Schulze als Prozess (die Biografie ist immer unabgeschlossen und offen für Veränderungen), Produkt (die Biografie ist der sichtbargemachte Lebensentwurf, der aus gesammelten Lebenserfahrungen resultiert) und Potential (innerhalb des Biografieentwurfs bestehen Möglichkeiten zur Bewusstwerdung, Bestätigung oder Erweiterung des eigenen Selbst- und Lebenskonzepts) betrachten.54

3.2 Vom Ausgangspunkt zum Stück: Die Methode des biografischen Theaters Ausgangspunkt der theaterpädagogischen biografischen Theaterarbeit ist das biografische Material jedes einzelnen Teilnehmers. Gemeint sind damit persönliche Erfahrungen, Werte, „Erinnerungen, Befindlichkeiten, Meinungen, Anliegen, Gedanken, Anekdoten, Geschichten und Selbstbilder der Akteure, die als biografisches Material generiert, somit sichtbar gemacht und als Arbeitsgrundlage genutzt werden.“55 Desweiteren sind auch Lieder, Fotografien, persönliche Gegenstände, Zeitungsartikel, Interviews, kollektive Ereignisse und vieles mehr als biografisches Material denkbar. Biografisches Theater baut folglich auf Lebenserfahrungen und Biografien (nicht auf literarischen Vorlagen – es sein denn, der Text dient als Folie und Reibungsfläche für die Entwicklung biografischer Erzählungen) auf, gibt ihnen eine Rahmung und entwickelt so daraus ein maßgeschneidertes Stück. Dabei wird künstlerischen, nicht therapeutischen Gesetzen gefolgt. Biografische Theaterarbeit ist Produktorientiert und bleibt nicht im Prozess haften. Um der biografischen Theaterarbeit Richtung zu verleihen, sollte zu Beginn der Arbeit ein biografischer Bezugspunkt bzw. Fokus festgelegt werden. Die biografische Fokussierung kann sowohl auf ein Thema, auf soziale Orte als auch auf die Begegnung zwischen verschiedenen sozialen Gruppen bezogen sein.56 Die Biografie der Darsteller interessiert somit aufgrund einer übergeordneten Fragestellung. Beim theaterpädagogischen Biografischen Theater müssen sich Leiter und Spieler sowohl der individuellen Biografie als auch dem Medium Theater an sich annähern, da ein Zugang zu Theater,

53

Vgl. Schweitzer 1996, 42. Vgl. Schulze 1993. Eine Zusammenfassung des dreidimensionale Verständnisses von Biografie findet sich bei Köhler 2009, 20-22. 55 Köhler 2009, 23. 56 Vgl. Köhler 2009, 45. 54

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Kunst und Kultur bei den Teilnehmern heutzutage nicht vorausgesetzt werden kann. Damit die TeilnehmerInnen eine Vorstellung davon bekommen können, auf was sie sich einlassen, empfiehlt es sich, gemeinsam Aufzeichnungen biografischer Theaterproduktionen anzusehen. Gleichzeitig kann dies, auch im späteren Verlauf des Prozesses, zu gemeinsamen Diskussionen anregen und Anregungen für die eigene Inszenierung bieten.57 Der Prozess kann in drei Stufen aufgeteilt werden: Die Materialsammlung, die (Material)Gestaltung bzw. Ästhetisierung anhand theatraler Mittel und die Stückentwicklung.58 Biografische Theaterarbeit erfolgt demzufolge in den Schritten Biografiegenerierung, Biografiebearbeitung und Biografiedarstellung. An erster Stelle des Prozesses steht die Sammlung und Generierung des biografischen Materials, welches mittels unterschiedlicher Methoden und Techniken zu szenischem Material umgesetzt wird. Wichtig ist es, diese Phase zunächst wertfrei zu gestalten und den Spielern die Möglichkeit zu geben, Positionen und Identitäten eigenständig zu entwerfen, unabhängig von künstlerischen, inhaltlichen oder dramaturgischen Vorstellungen.59 Es geht darum, dass der Einzelne zunächst nur sich selbst und seinen individuellen, persönlich relevanten Bezug zum Thema betrachtet. Gleichzeitig liegt der Schwerpunkt in dieser Phase darauf, ein positives Gruppengefühl zu etablieren, welche durch gegenseitiges Interesse und einen respektvollen Umgang untereinander gekennzeichnet ist. Solch ein Gruppengefühl kann durch Aufwärm- und Vertrauensübungen und gruppendynamische Spiele hergestellt werden.60 Zu szenischem Material gelangt man u.a. über szenisches Schreiben61, Verknüpfung mit Fremdtexten aus der Literatur oder Medienwelt, deren Inhalt mit eigenen Themen und Lebenserfahrungen verknüpft werden können62, über Verkörperungen und Improvisationen. Diese verhelfen dazu, einen sinnlichen Bezug zum Thema herzustellen, „in dem Sprechen, Handeln, Einfühlung sowie der Ausdruck von Emotionen und Bewegungsimpulsen zusammen kommen.“63 Spielanlässe können demzufolge neben mündlichen Erzählungen und Schriftstücken auch körperlich Haltungen und Ausdrucksweisen, Lieder, Fotografien, Filme und Objekte sein. Ziel der Materialsammlungsphase ist es, vielfältige

57

Vgl Köhler 2012, 67. Vgl. Köhler 2009, 25; Plath 2009, 56-150. 59 Vgl. Gäbler 2003, 35. 60 Vgl. Köhler 2009, 53; Plath 2009, 128 f. 61 Die Technik des szenischen Schreibens basiert auf assoziativen Grundtechniken. Man unterscheidet dabei vier verschiedene Methodengruppen: 1) Assoziative Verfahren, 2) Schreiben nach Vorgaben, Regeln oder Mustern, 3) Schreiben zu Text, 4) Schreiben zu Stimuli, vgl. hierzu das Handout „Biographisches Theater“ von Cornelia Wolf, 8-10. Zur Methode des Szenischen Schreibens siehe außerdem Hippe 2011, 70ff. 62 Vgl. hierzu Köhler 2009, 55; Plath 2009, 128. 63 Köhler 2009, 56. 58

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Biografiefragmente zu generieren, die das Fundament für die spätere Inszenierung schaffen. Abschließend werden, mit Blick auf den jeweiligen Fokus des Projekts, eingebrachte Ideen und Darbietungen der Teilnehmer selektiert und geordnet. Der „reflexive Selbstthematisierungsprozess“64 ermöglicht den Teilnehmern in dieser Phase lebensgeschichtliche Gemeinsamkeiten mit und Differenzen zu den Mitakteuren zu entdecken. In einem nächsten Schritt steht, auf dem Hintergrund der Stückentwicklung, der Ästhetisierungsvorgang des biografischen bzw. szenischen Materials, die Biografiebearbeitung, im Zentrum. Darin wird mit dem gesammelten Material, improvisierten Ausdrucksformen, szenischen Ideen bzw. Fragmenten, Stichwörtern u.a. experimentiert und dieselben mit Hilfe ästhetischer und theatraler Mittel gestaltet. Die (Rollen)Gestaltung und Biografiebarbeitung ist nun vom Ergebnis her motiviert, nicht mehr von einer biografischen Spurensuche. Ästhetische Mittel lassen sich auf Bewegungen (z.B. Freeze, Zeitlupe, Spiegeln, Standbild) und Sprache und Stimme (z.B. in verschiedenen Lautstärken und Gefühlslagen sprechen, chorisch sprechen) beziehen, betreffen technische Mittel (z.B. Mikrofon, Kamera, Musikinstrumente) und Mittel zur Verdichtung (z.B. Rhythmisierung, Wiederholung, Verfremdung).65 Die verschiedenen Darstellungstechniken organisieren und gestalten so, in chorischer oder solistischer Spielweise, die szenischen Fragmente. Die ästhetischen Elemente, die dafür angewandt werden können, hängen dabei sowohl von der Struktur der Gruppe, ihren Eigenheiten und speziellen Fähigkeiten ab, als auch von der inhaltlichen Stimmigkeit. Bei der Erarbeitung können dabei sowohl die sozialen Bezüge der jeweiligen Biografie als auch Einzigartigkeiten verstärkt werden. Je nach Intention werden unterschiedliche Artikulations-, Bewegungs-, und Gestaltungsformen erprobt.66 Im weiteren Verlauf des Prozesses rückt die Aufgabe in den Mittelpunkt, „das szenische Material zu ordnen und es auf den Zugang für einen Zuschauer hin zu überprüfen.“67 Gemeint ist hiermit die Erarbeitung eines roten Fadens bzw. einer ästhetischen Linie, welche(r) einzelne Szenen formal und/oder inhaltlich logisch miteinander verknüpft und verdichtet. Hierbei übernimmt der Spielleiter verstärkt die Aufgabe der konzeptionellen Führung. Die Biografievermittlung vor

64

Köhler 2009, 114. Eine Auflistung und Beschreibung unterschiedlicher ästhetischer Mittel sind zu finden bei Wolf 2012, 11f. und Plath 2009. 66 Vgl. Köhler 2009, 114 f. „Geht es in einem szenischen Fragment um die Betonung des Innenlebens, der Befindlichkeiten und Emotionen, liegt es nahe, mit den Darstellern eine einfühlende Spielhaltung zu proben. Möglich ist es aber auch, eine demonstrierende und zeigende Technik einzustudieren – insbesondere dann, wenn in einer Sequenz soziale Bezüge der jeweiligen Biografie markiert werden sollen. Gegebenenfalls liegt der besondere Gehalt der Szene aber auch in einem Darstellungsmodus, der sich allein auf den performativen Handlungsvollzug konzentriert, die Ereignishaftigkeit des Geschehens in einer biografischen Kommunikationssituation oder ausgestellten Selbstthematisierung betont.“ 67 Gäbler 2003, 36. 65

Biografisches Theater

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Publikum erfährt der Akteur als öffentliche Selbstinszenierung, die die theatrale Biografiearbeit abschließt. Norma Köhler hat die Strukturierung des Probenprozesses in folgender Tabelle 68 übersichtlich dargestellt.

Biografische

Materialsammlung

Rollengestaltung

Stückentwicklung

Biografische

Typisierung

Verdichtung

Theaterarbeit Dramaturgisches

Schlüsselkriterium Spurensuche Darstellung

Selbstthematisierung Ausdrucksfindung

Öffentliche Selbstinszenierung

3.3 Grundmerkmale des Biografischen Theaters Im vorherigen Kapitel haben sich schon einige Grundmerkmale des biografischen Theaters herauskristallisiert, von denen nun zwei wesentliche näher beleuchtet werden sollen, da sie gerade auch in der Arbeit mit Jugendlichen eine wichtige Bedeutung haben.

3.3.1 Die Arbeit am Nicht-Perfekten – Authentizität Biografisches Theater hat den Vorteil, dass es die Teilnehmer in schauspielerischer Hinsicht nicht überfordert. Im Gegensatz zum professionellen Theater sind schauspieltechnische Fähigkeiten eines Spielers keine Voraussetzung für die gemeinsame Theaterarbeit. Ausgangspunkt bilden die Persönlichkeit, die privaten Erfahrungen, das Wissen der Teilnehmer und mehr.69 Das Nicht-Perfekte betrifft sowohl die schauspielerischen Fähigkeiten, die körperlichen Grenzen als auch die eigene Biografie, die fragmentarisch, unabgeschlossen und offen für Veränderungen ist. Gerade das NichtPerfekte wird dabei zum Gegenstand des Spiels gemacht.

68 69

Köhler 2009, 115, Vgl. Gäbler 2003, 35.

Biografisches Theater

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„Man kann annehmen, die Nicht-Professionalität der Darsteller ist kein Mangel, mit dem es umzugehen gilt oder der kaschiert werden müsste, sondern ein Pfund, mit dem gewuchert werden kann.“

70

Biografische Theaterarbeit baut auf schon Vorhandenem bzw. Nicht-Vorhandenem auf und agiert damit auf vielfältige Weise. Beispielsweise werden mangelnde Professionalität und Pannen nicht kaschiert, sondern in die Inszenierung integriert. Der Fokus bei der biografischen Theaterarbeit ist in erster Linie auf den Inhalt, das ‚Was‘ und nicht auf das Können, das ‚Wie‘ gerichtet. Mittel- und Ausgangspunkt bildet der Einzelne mit seiner jeweiligen Biografie. In diesem Zusammenhang ist auch die Forderung nach Authentizität im biografischen Theater zu verstehen. Authentizität meint wörtlich übersetzt „Echtheit, Zuverlässigkeit, Glaubwürdigkeit.“71 Im Kontext der biografischen Theaterarbeit meint dies, auf ein ‚so tun als ob‘ zu verzichten und keine Rollen im Sinne eines sich hineinversetzen in eine andere Personen zu übernehmen.72 Es geht mehr um das zeigen, als um das darstellen. Echtheit und Glaubwürdigkeit sind dabei bezogen auf die Identifikation der Akteure mit den Inhalten, also darauf, dass das Dargestellte von den Spielenden selbst kommt und ihnen nichts Fremdes übergestülpt wurde.73 Echt und glaubhaft im Sinne einer absoluten Wahrheit des Dargestellten ist damit nicht gemeint. Lügen ist im biografischen Theater erlaubt, da es um die Inszenierung von Wahrheit und Fiktion geht.74

3.3.2 Distanzierung – Ästhetisierung Eine der zehn Regeln zur Biografischen Theaterarbeit mit Jugendlichen besagt, dass „Die Grenze zwischen intimer und persönlicher Erzählung nicht überschritten werden (darf).“75 Das ist, was jeder biografischen Theaterarbeit vorausgeht. Jeder Teilnehmer entscheidet selbst, welche Geschichten, Gedanken etc. er offen legt und welche er als privat einstuft. Wird etwas mitgeteilt kann davon ausgegangen werden, dass es persönlich ist und somit inszeniert werden kann. Voraussetzung dafür ist, dass der Spielleiter von Beginn an regelmäßig deutlich macht, dass jeder Teilnehmer als mündiger

70

Roselt 2006. http://www.duden.de/suchen/dudenonline/authentizität 72 Gäbler 2003, 36. 73 Vgl. Plath 2009, 26. 74 „Der spielende Mensch bestätigt nicht die reale Welt, sondern Entwickelt mit ‚Bausteinen der Wirklichkeit‘ neue Welten – teilweise der realen Welt genau entgegengesetzt, sie parodierend und sich über sie hinwegsetzend.“ Was Michael Beisswenger in Bezug auf die virtuelle Spielwelt eines Chatraumes äußert, trifft meiner Ansicht nach auch auf die Inszenierung von Wahrheit und Fiktion im biografischen Theater zu. Vgl. Beisswenger, Michael: Das interaktive Lesespiel. Chat-Kommunikation als mediale Inszenierung, Stuttgart 2002, 91. 75 Herrbold 2012, 21. 71

Biografisches Theater

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Partner ohne Vorbehalte Nein sagen und selbst entscheiden kann, wie viel er von sich preisgeben möchte.76 Doch auch bereits generiertes biografisches Material bedarf einer Distanzierung von der Privatperson. Es geht nämlich nicht darum, den ‚echten‘ Mensch auf der Bühne zu zeigen, sondern seine konstruierte Selbstdarstellung. Die Distanzierung erfolgt über Verfremdungstechniken und Methoden zur Ästhetisierung.77 Auch hier greift wieder eine der oben erwähnten Regeln zur Biografischen Theaterarbeit: „Die Methode muss sich ästhetischer Mittel bedienen, um die Jugendlichen zu schützen und ihnen eine mehrperspektivische Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie zu ermöglichen.“

78

Der Prozess der Ästhetisierung ermöglicht somit eine intensivere Auseinandersetzung mit sich selbst und den unterschiedlichen Aspekten eines Themas und gleichzeitig eine spielende Distanz zu eigenen Empfindung, Geschichten, Themen u.a. Die klare ästhetische Form bietet Sicherheit und die Möglichkeit zur Selbstdistanzierung. Der ästhetische Rahmen macht klar, dass es nicht darum geht, wahres Leben abzubilden oder vorzuspielen, obwohl es auch ausdrücklich spielerische Szenen geben kann.79 Man tritt mit seiner Geschichte in Erscheinung, ohne sich damit bloßzustellen oder Schutzlos auszuliefern. Das private Ich wird zum „künstlerischen Du“80, in dem das Selbst anhand ästhetischer und theatraler Mittel konstruiert wird und eine objektive Sicht auf persönliche Themen und die eigene Figur ermöglicht. Dies verhindert gleichzeitig auch eine übertriebene Beschäftigung mit sich selbst und ermöglicht eine Verbindung von individuellen und kollektiven Erzählungen und die Einbeziehung der individuellen Geschichte in einen allgemeineren Kontext.

76

Vgl. Köhle 2009, 136. Vgl. Kapitel 4.2. 78 Herrbold 2012, 21. 79 Vgl. Roselt 2011 80 Gäbler 2003, 36. 77

Biografisches Theater innerhalb der Firmvorbereitung

20

4 Biografisches Theater innerhalb der Firmvorbereitung Entscheidet man sich dafür, mit Jugendlichen im Rahmen der Firmvorbereitung biografisches Theater zu machen, stellt sich die Frage, warum sich die Jugendlichen mit ihrer eigenen Biografie theatral beschäftigen sollen. Welche (religiösen) Erfahrungsund Lernmöglichkeiten sind mit Biografiegenerierung, -bearbeitung und –darstellung verbunden? Wie passen die Ansätze der biografischen Theaterarbeit und die inhaltlichen Zielsetzungen der Firmvorbereitung überhaupt zusammen?

4.1 Thematisch-inhaltliche Akzente der Firmvorbereitung Sakramente81, setzen an Knotenpunkten des menschlichen Lebens, an konkreten Lebenssituationen, an. Dies soll verdeutlichen, dass Gott am Leben der Menschen teilnimmt, dass er es begleitet und trägt. Dadurch werden die Sakramente zu einem greifbaren Zeichen, nicht losgelöst vom konkreten Leben.82 So auch das Sakrament der Firmung, welches in der, für die Jugendlichen prägsamen Phase der Adoleszenz angesiedelt ist. Das Wort Firmung kommt vom lateinischen „firmare“ und heißt übersetzt bestärken, festigen, ermutigen. Die Firmung soll den Jugendlichen auf seinem Weg vom Kindsein zum Erwachsenwerden stärken und zu einer selbstständigen Glaubensentscheidung in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft hinführen. In diesem Sinne wird Firmung in den letzten Jahren vor allem als ‚Sakrament der Mündigkeit‘ verstanden.83 Aus diesem Verständnis heraus ergeben sich für die Firmvorbereitung folgende Ziele: -

Die Jugendlichen sollen dort abgeholt werden, wo sie stehen, mit ihren Erwartungen und Bedürfnissen, um sie von diesem Standort aus zu begleiten.

-

Den jungen Menschen sollen Erfahrungen mit sich selbst sowie das Entdecken und Weiterentwickeln der eigenen Fähigkeiten und Begabungen ermöglicht werden.

-

Den Jugendlichen soll ein Raum zur Auseinandersetzung mit sich selbst, dem eigenen Glauben, Hoffnungen und Zweifeln sowie Fragen an das Leben geboten werden.

81

Ein Sakrament ist eine „zeichenhafte(n) Verleiblichung der heilsschaffenden Nähe Gottes“. In den Sakramenten ereignet sich folglich die befreiende, vergebende, heilende und zusammenführende Nähe Gottes. Sakramente sind Liebesangebote Gottes die auf die Antwort des Menschen warten. Sie wollen die Beziehung zwischen Gott und Mensch stiften und vertiefen und sind Ausdruck der persönlichen Christusbeziehung. Vgl. Frohnhofen § 1, 1. 82 Vgl. Frohnhofen, § 2, 9. 83 Vgl. Die deutschen Bischöfe 1993, 50.

Biografisches Theater innerhalb der Firmvorbereitung

-

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Kirche und Gemeinde soll als Begegnungs- und Erfahrungsraum für Jugendliche erlebbar gemacht werden.

-

Die wesentlichen Inhalte der Firmung sollen kennengelernt und erfahren werden.

-

Die Jugendlichen sollen zu einem Leben aus der Kraft des Evangeliums ermutigt werden.84

4.2 Chancen und Hürden von biografischem Theater in der Firmvorbereitung Im Folgenden sollen die Zielsetzungen der Firmvorbereitung hinsichtlich ihrer Umsetzbarkeit mittels biografischer Theaterarbeit überprüft werden. Dazu werden die oben genannten Ziele zu Thesen umformuliert.

4.2.1 Biografisches Theater holt Jugendliche dort ab, wo sie stehen Die Gruppe der jugendlichen Firmbewerber ist meist sehr heterogen und stammt aus unterschiedlichen Lebenswelten (Milieus). Die jungen Menschen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Motivation, ihrer Einstellung zu Leben, Glauben, Gott und Religion, sowie in ihrer unterschiedlichen Distanz und Nähe zur Kirche. In der biografischen Theaterarbeit dürfen die Jugendlichen erfahren, dass sie, ihre Bedürfnisse und Meinungen ernst genommen werden und ihre eigene Geschichte, ihre ganze Peron, gefragt ist. „Über die Einbindung des biografischen Materials erfährt der Spieler, dass seine Haltung, seine Position zum Thema nicht nur wünschenswert, sondern absolute Voraussetzung für die Inszenierungsarbeit ist.“

85

Biografisches Theater schöpft aus der Lebens- und Erlebenswelt eines jeden Teilnehmers. Dadurch, dass anfangs weder eine Geschichte noch ein Text existiert, sind die Jugendlichen gefordert, eigene Beiträge zu liefern. Sie werden als Partner auf Augenhöhe auf einen gemeinsamen Weg eingeladen. Dies kann die Motivation steigern, sich intensiv mit einem Thema zu beschäftigen. Seitens des Spielleiters ist dabei von Bedeutung, dass er den Jugendlichen einen geschützten Raum für die persönlichen Geschichten, Gedanken, Wünsche u.a. eröffnet und eine vertrauensvolle Atmosphäre

84

Vgl. Hofrichter 2001, 14; sowie http://www.katholisch.de/de/katholisch/glaube/unser_glaube/firmung/firmung_fragen_und_antworten.php 85 Hoffmann 2006, 112.

Biografisches Theater innerhalb der Firmvorbereitung

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herstellt. Dies erleichtert den Jugendlichen, sich zu öffnen und sich auf den gemeinsamen Prozess einzulassen. Grundlegend ist hierfür auch, ein Kennenlernen der Gruppenmitglieder untereinander zu ermöglichen und für eine gute Gruppendynamik zu sorgen. Dies ist für die theaterpädagogische Arbeit im Allgemeinen eine wichtige Aufgabe, da darstellendes Spiel immer auch als kollektiver Vorgang angelegt ist, in dem das Verhalten der Gruppe stets in das das Verhalten des Einzelnen mit einfließt und somit auch die persönliche Entwicklung des Individuums beeinflusst.86 Zum gegenseitigen Kennenlernen, sich vorstellen und zur ersten Selbstinszenierung bietet sich das Spiel: „Drei Dinge die ihr über mich wissen müsst“ an. Dazu stehen alle im Kreis während jeweils eine/r in die Kreismitte geht und der Gruppe den eigenen Namen sowie zwei wahre und eine gelogene Sache über sich erzählt. Die Lüge wird dabei nicht öffentlich aufgelöst. Um ein Gefühl für die Gruppe (und auch für den Raum) zu entwickeln, ist das Gehen eine Grundübung in der Theaterpädagogik. Die Spieler bewegen sich „kreuz und quer“ durch den Raum, so dass sie gleichmäßig die Fläche nutzen und begehen. Nun beginnt ein Teilnehmer, etwas zu bekennen und die anderen verhalten sich dazu, z.B. „Alle die in der Kirche schon einmal eingeschlafen sind krabbeln auf allen Vieren…“ usw. Auf wen das nicht zutrifft, geht in normalem Gang weiter. Dieses „Bekennerspiel“ zielt darüber hinaus auf einen spielerischen Umgang mit Wahrheit, Fiktion und Provokation und die humorvolle Wahrnehmung der anderen und sich selbst.

4.2.2 Biografisches Theater ermöglicht den Jugendlichen Erfahrungen mit sich selbst In der Phase der Adoleszenz, in der junge Menschen auf der Suche nach dem eigenen Selbst und dem eigenen Selbstbild sind87 gilt für die Verantwortlichen in der Firmvorbereitung, die Jugendlichen in dieser Lebensphase unterstützend zu begleiten. Der Theaterregisseur und Philosoph Robert Ciulli bezeichnet „das Theater (als) einer der wenigen Orte, die einen Prozess der Selbsterkenntnis in Gang setzen können.“ Wie in Punkt 4.1 erläutert, birgt die eigene Biografie das Potential, sich seines eigenen Selbst- und Lebenskonzeptes bewusst zu werden, dieses zu bestätigen und zu erweitern. Die Beschäftigung mit und die Ästhetisierung und Inszenierung von Biografie auf der Bühne löst Prozesse aus, die sowohl künstlerisch-ästhetische Erfahrungen, als

86 87

Vgl. Wolf 2012. Vgl. Punkt 2 der vorliegenden Arbeit.

Biografisches Theater innerhalb der Firmvorbereitung

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auch soziale und Selbsterfahrungen ermöglichen können. Biografisches Theater fungiert so im Sinne der Theaterpädagogik sowohl als künstlerisch ernst zu nehmendes Theaterspiel als auch als Instrument kultureller und ästhetischer Bildung.88 Der theatrale Umgang mit der eigenen Biografie ermöglicht den Jugendlichen, sich mit sich selbst und ihrer Umwelt auseinanderzusetzen und diese Erfahrungen in theatrale Wirklichkeit umzusetzen. Diese Differenzerfahrung, die sich aus der Konfrontation von alltäglicher und theatraler Wirklichkeit ergibt, bildet ein Bewusstsein über die Gestaltbarkeit von Wirklichkeit und somit auch Biografie und schafft somit die Grundbedingung für ästhetische Bildung.89 In der Adoleszenz haben Jugendliche u.a. die Entwicklungsaufgabe zu meistern, die eigene Identität aufzubauen und zu stabilisieren. Die Frage „Wer bin ich?“ wird in der biografischen Theaterarbeit auf spielerisch-ästhetische Weise bearbeitet. Jugendliche können so die Erfahrung machen, dass ihre Identität konstruierbar und veränderbar ist. Gudrun Herrbold beschreibt die Wirkung der biografischen Theaterarbeit mit Jugendlichen folgendermaßen: „Sie können lernen, dass sich aus und mit der eigenen Geschichte ein ästhetischer Prozess entwickeln lässt. Dass aufgrund dieser Ästhetisierung eine vielschichtige Wahrnehmung möglich wird, die das subjektive Erleben anreichert und in Frage stellen kann. Dass eine Auseinandersetzung mit der Biografie die Selbstreflexion schult und buchstäblich Selbstbewusstsein schafft. Dass diese Theaterarbeit nur möglich ist, wenn man sich selbst und anderen mit Verantwortung und Respekt begegnet. Und nicht zuletzt geht es um die Erkenntnis, dass jede Biografie gestaltbar und einzigartig ist.“

90

Biografische Theaterarbeit gibt den Jugendlichen die Möglichkeit, sich mit ihrer gesamten Persönlichkeit in den Arbeitsprozess einzubringen. Darin liegt eine Chance, die Maike Plath, in Bezug auf ihre Arbeit in der Schule so formuliert: „Ausgehend von den Wünschen, Erwartungen und Gedanken der Schüler/innen können wir einen bildungsästhetischen Prozess in Gang setzen, der sie Schritt für Schritt in die Lage versetzt, sich mit den Themen unserer Welt auseinanderzusetzen und eine eigene Haltung dazu zu entwickeln.“

91

In der biografischen Theaterarbeit wird ein künstlerisch-ästhetischer Reflexionsprozess angestoßen, der den Jugendlichen dazu verhilft, eine persönliche, individuelle Stimme

88

Vgl. Rellstab 2009, 29. Vgl. Hentschel 2007, 29. Theaterpädagogik ermöglicht ästhetische Bildungs- bzw. Erfahrungsprozesse. Ästhetische Bildung meint zum einen die Entwicklung der Sinnes- und Wahrnehmungstätigkeiten sowie des Körperbewusstseins anhand kultureller Praktiken. Zum andren beschreibt es in einem engeren Sinne die wahrnehmende und gestaltende Auseinandersetzung für, durch und mit den Künsten wie Theater, Musik, Tanz, Bildende Künste, Medien etc. Vgl. Hentschel 2003, 9. 90 Herrbold 2012, 22. 91 Plath 2009, 8. 89

Biografisches Theater innerhalb der Firmvorbereitung

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innerhalb des gesellschaftlichen Kontextes zu finden. Durch die Distanzierung anhand ästhetischer Mittel kann die individuelle Stimme darüber hinaus in eine allgemeingültige Botschaft verwandelt werden. Biografisches Theater bietet die Möglichkeit, sich seiner selbst bewusst zu werden, sich selbst zu suchen und das eigene Selbst auch immer wieder Stückchen für Stückchen zu finden. Somit leistet es einen Beitrag zur kulturellen bzw. ästhetischen Bildung. Dies bezeichnet den Lern- und Auseinandersetzungsprozess des Menschen mit sich, seiner Umwelt und der Gesellschaft im Medium der Künste und ihrer Hervorbringung.92 In, durch und mit dem Medium Theater setzen sich die Jugendlichen mit sich und mit eigenen Sichtweisen zur Welt auseinander. Selbsterfahrung und –Distanzierung, Selbstwahrnehmung und -Gestaltung bedingen sich. Ästhetische bzw. kulturelle Bildung zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht defizitorientiert ist, sondern versucht, ausgehend von den vorhandenen Möglichkeiten, Stärken und Anlagen der TeilnehmerInnen kreativ, kommunikativ und darstellerisch zu stärken und zu fördern. So will auch die Theaterpädagogik und damit einhergehend das biografische Theater die Stärken der Teilnehmenden hervorheben. Sie „will auf spielerische Weise Wertvolles zum Blühen und Missstände zum Verschwinden bringen und will Veränderung, Entwicklung.“93 In diesem Sinne können junge Menschen in der biografischen Theaterarbeit Erfahrungen mit sich selbst machen sowie eigene Fähigkeiten und Begabungen entdecken und weiterentwickeln. Erfahrung bezieht sich jedoch nicht nur auf das im eigenen Leben Erlebte, sondern meint „alles, was uns zur Kenntnis gekommen ist oder unter bestimmten Umständen zur Kenntnis kommen könnte, als auch das, was uns momentan nicht bewusst ist, aber vielleicht aus dem ‚Vergessen‘ herausgeholt werden kann.“94 Biografisches Theater beruht auf solchen Erfahrungen und ermöglicht den Jugendlichen spielend mit sich selber, mit dem, was sie waren, was sie sind und wie sie sind und was sie und wie sie sein möchten umzugehen. So lernen sich die Jugendlichen im Spiel zwangsläufig selber kennen. Denn wer sich im biografischen Theater darstellt, wird im Probenprozess automatisch über sich selbst reflektieren: Was will ich mitteilen von mir? Was nicht? Habe ich eine Botschaft? Wie will ich mich darstellen? Eine Methode, in der die Jugendlichen etwas von sich mitteilen und das autobiografische Material gleichzeitig ästhetisieren, stellt zum Beispiel die Selbstpräsentation anhand von Schildern dar. Die Jugendlichen schreiben jeweils auf 4-8 Schilder je ein cha-

92

Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2012. Rellstab 2009, 45. Besondere Fähigkeiten, musikalische, gestalterische, sprachliche Talente können vom Spielleiter gezielt gefördert werden, indem sie aufgegriffen und in das Stück integriert werden. 94 Rellstab 2009, 64. 93

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rakteristisches Schlagwort oder Satz aus dem bisherigen Leben auf und präsentieren sich anschließend zu mehreren nacheinander auf der Bühne.

4.2.3 Biografisches Theater bietet Jugendlichen einen Raum für die Suche nach Sinn und Orientierung Junge Menschen, die auf dem Weg sind, einen von ihnen selbst verantworteten Lebens- und Glaubensentwurf zu entwickeln, brauchen einen Raum zur Auseinandersetzung mit sich selbst, dem eigenen Glauben und Gott, Hoffnungen, Zweifeln und Fragen an das Leben. Im Rahmen der Firmvorbereitung soll Jugendlichen ein solcher Raum geöffnet werden. Denn Menschen müssen „zunächst sich selber finden (…), um dann offen zu werden für Gott in ihrem Leben.“95 Die meisten Jugendlichen verlieren ihren zweifelsfreien Kinderglauben und treten in ein kritisches Verhältnis zum Glauben ein. Sie sehen, dass viele Lebensfragen und Probleme der Welt auch eine anspruchsvolle Glaubensantwort erfordern. Bei den religiösen Grundfragen des Menschen nach dem Woher und Wohin, dem Leid, dem Tod und dem Glück lassen sie sich nicht mit frommen Formeln vertrösten. Auf diese Fragen gibt es keine einfachen und schnellen Antworten. Sie bedürfen der gemeinsamen Bearbeitung, Reibung und Auseinandersetzung. Erst nachdem die anspruchsvollen Themen des Lebens nicht nur gedanklich sondern mehrdimensional bearbeitet wurden, können Denken und Glauben in der modernen Welt wieder miteinander verbunden und dann aufrichtig vertreten werden. Auf diesem Hintergrund kann der Prozess des biografischen Theaters als ganzheitlicher bzw. mehrdimensionaler Bildungs- und Lernprozess auf dem Weg hin zu einer eigenen religiösen Identität eine wichtige Rolle spielen. Biografische Theaterarbeit eröffnet einen Raum, in dem sich Jugendliche zweck-und wertfrei mit ihren (religiösen) Themen, christlichen Inhalten und ihren individuellen religiösen Erfahrungen ästhetisch auseinandersetzen können. Religiöse Identität ist untrennbar mit der eigenen Lebensgeschichte verbunden, in welcher Jugendliche unterschiedliche Erfahrungen mit Religion und Glaube gemacht haben. In der künstlerischen Auseinandersetzung mit diesen Erfahrungen, Fragen und Zweifeln kann bisher nicht fassbares, beschreibbares und/oder unsichtbares aufgespürt und sichtbar gemacht werden.96 Die religiöse Suche erfolgt im biografischen Theater nicht mehr rein rational-kognitiv, sondern mit Kopf, Herz und

95 96

Lätzel 2004, 149. Csikszentmihalyi 2003, 518.

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Hand.97 Es verweist darauf, dass der Mensch nicht nur Verstand, sondern auch Leib und Sinne hat. Theaterpädagogische Bildungsprozesse beziehen den Körper in die Suche nach der eigenen Bestimmung und dem Sinn des Lebens mit ein. Mit Worten nicht Beschreibbares u.a. kann so bewusst wahrgenommen, ausgedrückt und greifbar gemacht werden. So verhilft Biografisches Theater im Sinne der Theaterpädagogik dazu, dass „der Mensch in eigener Verantwortung Werte und Einstellungen zu sich, seinen Mitmenschen und seiner Umwelt entwickel(t).“98 Die Ästhetische Auseinandersetzung mit religiösen Themen und Fragen im biografischen Theater innerhalb der Firmvorbereitung eröffnet einen eigenen, sinnlich-wahrnehmenden und deutendgestaltenden Zugang zur Wirklichkeit. Ästhetische Lernprozesse fordern hierbei stets auch die subjektive, persönliche Stellungnahme. In den Jugendlichen soll die Fähigkeit geweckt werden, eigene Deutungen zu entwickeln und auf sie mit eigenen Entwürfen und Gestaltungen zu antworten. Innerhalb der Firmvorbereitung bietet es sich an, die biografische Fokussierung auf ein Thema zu beziehen, welches sich auf die Situation der Jugendlichen als religiös Suchende bezieht. „Was trägt mich in meinem Leben?“, „Gott in meinem Leben?“ „Gott – BegleiterIn in meinem Leben?“ „Was macht Sinn?“ sind nur einige Themenfragen, die sich in diesem Zusammenhang eignen könnten. Voraussetzung ist dabei, dass die Bearbeitung der Themen offen ist im Ergebnis und kein Lernen auf vorgegebene Antworten und Verhaltensmuster hin angezielt wird. Die Jugendlichen werden als mündige Spieler wertgeschätzt, die ihren je eigenen Zugang zu Religion, Gott und Kirche haben. Es gilt seitens des Spielleiters, die Jugendlichen ernst zu nehmen und sie in ihrer Kreativität und Ehrlichkeit zu unterstützen. Hier greift eine weitere Regel zur Biografischen Theaterarbeit mit Jugendlichen: „Die Jugendlichen dürfen nicht instrumentalisiert und als Thesenträger missbraucht werden.“99 Es darf also nicht darum gehen, aus den Jugendlichen „bessere“ Christen zu machen und nur bestimmte Formen und Ansichten zu akzeptieren, sondern sie in ihrem Suchprozess ehrlich und interessiert zu begleiten. Ist das Thema festgelegt, kann das szenische Material auf unterschiedliche Weise gesammelt werden. Anhand verschiedener Methoden des kreativen Schreibens beispielsweise können Jugendliche assoziativ und kreativ eigenes Material, Gedanken und Ideen generieren. Zum Beispiel können Fragen rund um das Thema „Ich und Gott?!“ oder „Was macht Sinn?!“ formuliert werden, die entweder an sich, den Mitspieler oder an das Publikum gerichtet werden. Den Reiz macht hier die Abwechslung zwi-

97

Vgl. hierzu auch die Leitgedanken der Theaterpädagogik in Rellstab 2009, 45f. Bildo 2006, 32. 99 Herrbold 2012, 21. 98

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schen philosophisch-tiefgründigen, indiskreten, naiven, absurden und sachlichen Fragen aus. Die Fragen-Methode kann auch eingegrenzt werden, indem nur Fragen formuliert werden, die mit Zahlen zu beantworten sind (bspw. Wie oft gehst du in den Gottesdienst?) Die gesammelten Fragen werden dann aus dem Publikum gestellt und die Akteure auf der Bühne antworten darauf, indem sie die Zahlen auf Schilder schreiben. Desweitern eignet sich die Methode des automatischen Schreibens um die Gedanken zu Impulsen (bspw. „Wenn ich an Gott/Kirche denke, denke ich…“) fließend aufzuschreiben. Auch biblische Texte, das Credo, Lieder, Fotos und vieles mehr eigenen sich für eine biografische Auseinandersetzung mit dem Thema. Egal welche Methoden zur Generierung gewählt werden: Im Mittelpunkt der Generierung sollte immer der/die Jugendliche mit seinen Lebensthemen und Glaubensfragen stehen. Im nächsten Schritt geht es dann darum, das generierte Material anhand ästhetischer Gestaltungsmöglichkeiten und Kompositionsmethoden zu inszenieren. Dabei kann sowohl der kollektive als auch persönlich-individuelle Bezug in den Fokus rücken. Aufgaben des Spielleiters sind es hierbei, (Spiel)Impulse zu geben, die Teilnehmer zu einem eigenen kreativen Umgang mit der ausgewählten Thematik heranzuführen und zu beobachten. Das Beschreiben und Formulieren des Gesehenen ist dabei mindestens genauso wichtig und sollte daher auch immer wieder von den Spielern übernommen und geübt werden. Dadurch wird die Wahrnehmung geschult und die Teilnehmer bilden nach und nach ein individuelles Empfinden von Ästhetik und Gefühl für das Medium Theater heraus. Die entstehenden Texte, Bilder, Szenen etc. können ein Bild über die tatsächlichen, ersehnten oder fantasierten Lebensbezüge zum Thema zeichnen und Ausdruck für die direkten und indirekten religiösen Erfahrungen Jugendlicher sein.

4.2.4 Biografisches Theater ermöglicht die Begegnung mit und Erfahrung von Kirche und Gemeinde Biografisches Theater innerhalb der Firmvorbereitung ermöglicht zum einen den Jugendlichen, sich im Raum von Kirche und Gemeinde, mit ihren Fragen und Themen zu bewegen und so Gemeinde und Kirche als Ort kennenzulernen, an dem es um sie als Person geht. Zum anderen ermöglicht Biografisches Theater der Gemeinde Jugendlichen und ihren Lebenswelten zu begegnen und diese zu erfahren. Denn Biografisches Theater ist immer auch Produktorientiert und zielt auf eine Aufführung hin. Wird Biogra-

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fisches Theater, das innerhalb der Firmvorbereitung entstanden ist, also öffentlich in der Gemeinde aufgeführt, wird damit ein Raum für Begegnung und Dialog von der „Randgruppe“ der jugendlichen Firmanden mit der Kerngemeinde eröffnet. Die verbale und spielerische Darstellung der individuellen und kollektiven Geschichten erfordert von den Zuschauern Aufmerksamkeit und regt zum Nachdenken an. Das Biografische Theater verbindet verschiedene Ausdrucksformen wie Bewegung, Mimik, Gestik, Geräusche, Kleidung und Sprache, durch welche die Vortragenden ihre Gedanken und Gefühle anderen, sowohl dem Publikum als auch den Mitspielern, mitteilen. Den Zuschauern wird hierbei ermöglicht, sich in das Gehörte und Gesehene einzufühlen, was zu einem besseren Verständnis untereinander beitragen kann.

Exkurs: Generationenübergreifendes biografisches Theater innerhalb der Firmvorbereitung Hinsichtlich der Ermöglichung einer Begegnung von Gemeinde und Jugendlichen ist es eine Überlegung wert, die Biografische Theaterarbeit innerhalb der Firmvorbereitung als Generationenübergreifendes Theaterprojekt anzulegen. Hier können sich zahlreiche Chancen eröffnen: Alle Spielerinnen und Spieler können sich mit den ganz individuellen Stärken, Erfahrungen, Ideen und Gedanken einbringen und im Idealfall voneinander profitieren, lernen und nebenbei die sozialen Kompetenzen ausbauen – egal, ob mit 16 oder 70 Jahren. Grundlegend ist hierbei: Bevor man an einen thematischen Stoff (Vgl. Punkt 4.2.3) geht, sollte sich sowohl zeitlich als auch inhaltlich intensiv mit der Zusammenführung der Gruppenmitglieder beschäftigt werden. Die unterschiedlichen Altersgruppen begegnen sich wahrscheinlich mit gewissen Vorurteilen, die spielerisch aufgegriffen und thematisiert werden müssen, damit ein konfliktfreies, offenes und gleichberechtigtes Miteinander ermöglicht wird. Gezielte theaterpädagogische Arbeit fördert den Dialog der Generationen, in dem sich mit den verschiedenen Lebenswelten, -erfahrungen und Zugängen zu Religion, Glaube und Kirche spielerisch auseinandergesetzt wird. Mit dem und über das Medium Theater findet Kommunikation statt, die innerhalb anderer Veranstaltungen im Rahmen der Kirchengemeinde so nicht stattfinden könnte.100 Die unterschiedlichen Sichtweisen der TeilnehmerInnen bestimmen und prägen hierbei Thema und Inhalt bei der Entwicklung der Theaterszenen. Menschen- und Altersgruppen, die sich sonst selten und – v.a. im Kon-

100

Vgl. hierzu das unveröffentlichte Protokoll zum Workshop „Generationentheater“ von und mit Helga Kröplin.

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text Kirche – eher mit Skepsis begegnen, kommunizieren und spielen als gleichberechtigte Dialogpartner miteinander. Das Theaterspiel schafft einen Freiraum, indem die verschiedenen Perspektiven der SpielerInnen wertungsfrei nebeneinanderstehen und aufeinandertreffen können. So kann sich ein Austausch ereignen über die Bedeutung von Glaube und Kirche im Leben der jeweiligen Generationen. Somit bietet das Theater die Möglichkeit zum Erfahrungsaustausch. Die eigene Meinung, Erfahrung und Standpunkte zu religiösen Themen fließen in den Probenprozess mit ein, was zu einem gegenseitigen Lernen führen kann. Für die jugendlichen Firmanden bietet der intensive Austausch mit anderen Generation darüber hinaus sowohl Identifikationsmöglichkeiten als auch Reibungsfläche auf dem Weg hin zu einem selbst verantworteten Lebensund Glaubensentwurf. Es kann ein ganzheitlicher Austausch über einzelne Glaubensgeschichten stattfinden und über die Hoffnung die sie erfüllt. Begegnung und Erfahrung von Kirche und Gemeinde kann über den Weg der generationenübergreifenden biografischen Theaterarbeit als kreative und ganzheitliche Begegnung stattfinden, bei der es um eine gestalterische Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen persönlichen Glaubensauffassungen und ihrer Weiterentwicklung geht.

4.2.5 Biografisches Theater vermittelt wesentliche Inhalte der Firmung und ermutigt Jugendliche zu einem Leben aus der Kraft des Evangeliums Über die Ästhetisierung des biografischen Materials findet eine vertiefte Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen, Gedanken und Anliegen statt und damit, wie diese ‚rübergebracht‘ werden können. Die Jugendlichen nehmen ihre Themen Schicht für Schicht auseinander, werden sich ihrer Dimension bewusst und können so (religiös) sprachfähig werden. Wie in Punkt 4.2.3 dargestellt, darf Biografisches Theater nicht als religionspädagogisches Programm instrumentalisiert werden. Jugendliche werden in dem, wie sie sind und was sie mitbringen wertgeschätzt. Sie selbst, nicht vorgegebene Antworten und Verhaltensmuster, bilden den Ausgangspunkt für die biografische Theaterarbeit. Legitim ist hierbei, dass es natürlich nicht ausgeschlossen werden kann und soll, dass die biografische Theaterarbeit innerhalb der Firmvorbereitung eine erneute oder erste Annährung zum Christentum anstößt. Wenn das eigene Leben eine Rolle spielen darf, kann sich der Mensch öffnen für spezifische Glaubensinhalte und den Kern dessen, was christlicher Glaube ausmacht. Dies darf jedoch nicht Voraussetzung sein für die biografische Theaterarbeit sein. Jugendliche müssen die Erfahrung machen, dass die gemeinsame biografische Theaterarbeit keine Bindung an die Gemein-

Fazit

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schaft der Glaubenden erfordert sondern dass sie Willkommen sind, im Kommen wie im Gehen. Auch wenn Jugendliche danach wieder in ihre eigenen gesellschaftlichen Milieus zurückgehen, wurde ein Part der eigenen Biographie durch die biografische Theaterarbeit innerhalb der Firmvorbereitung gefärbt. So kann Theater für die Darsteller in besonderem Maße sinnstiftender Teil für das eigene Leben sein, zwar nicht im Hinblick auf dessen Gesamtheit, aber im Hinblick auf ein Thema. Grundsätzliche darf angenommen werden, dass biografisches Theaterarbeit innerhalb der Firmvorbereitung den Jugendlichen ermöglicht, die Bedeutung der Firmung als Bestärkung und Ermutigung ganzheitlich (wenn auch implizit) zu erfahren.

5 Fazit Aus den Untersuchungen zu Jugend und Religion geht hervor, dass Firmvorbereitung für viele Jugendliche heute vor allem eines bedeuten: eine erste intensivere Begegnung mit dem kirchlichen Christentum. Darüber hinaus scheint für viele Jugendliche heute ganz und gar nicht klar zu sein, ob ein selbstautorisierter Glaube in der Kirche Raum findet, d.h. ob ihnen ein Glaube zugestanden wird, den sie aus eigener Überzeugung vertreten können. Jugendliche machen in ihrem Leben vielerlei Erfahrungen und zwar durchaus auch religiöse, aber sie finden kaum Räume, in denen sie ihre Erfahrungen ganzheitlich ausdrücken können. Vielen fällt es zudem schwer, ihre Erfahrungen sprachlich auszudrücken. Biografisches Theaterarbeit innerhalb der Firmvorbereitung kann Jugendlichen einen solchen Raum eröffnen und gibt ihnen die Gelegenheit, Erfahrungen mit sich selber und der persönlichen Glaubensauffassung zu machen. Biografisches Theater bewirkt etwas in und bei den Jugendlichen, indem sie Bewusstwerdung und Deutung ihres Lebens erfahren. Biografisches Theater bietet die Möglichkeit, mehrdimensionale Erfahrungen zu machen und Werk und Leben ästhetisch-dramatisch zu gestalten. Das Projekt „Biografische Theaterarbeit“ wird in der Regel ein Baustein innerhalb der Firmvorbereitung sein. Oft gibt es eine Projektphase, in der zwischen unterschiedlichen Projektangeboten gewählt werden kann. So kann gewährleistet werden, dass die Jugendlichen freiwillig mit dieser Methode arbeiten. Darüber hinaus besteht so die Möglichkeit, die Erfahrungen, die im biografischen Theater gemacht werden, bspw. in anschließenden Gruppentreffen, aufzugreifen und vom christlichen Kontext her zu deuten bzw. darauf aufbauend die Jugendliche mit der objektiven kirchlichen Glaubenslehre in Kontakt zu bringen. Grundlegend ist hierbei, dass biografische Theaterarbeit nicht un-

Fazit

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terweist und den Jugendlichen nichts Fremdes überstülpt sondern ihnen einen Raum für ihre Suche nach der eigenen Identität, nach dem eigenen Standort, nach dem eigenen Sinn gibt. Biografisches Theater spiegelt auf der Metaebene auch das Fragmentarische der Jugendphase wider. Wenn mehrere kleine Geschichten parallel laufen oder das Stück collagenartig aus mehreren Geschichten aufgebaut ist, wird dadurch auch der Jugendliche symbolisiert, der die Aufgabe hat, seine eigene Biografie zusammenzubasteln.

Wichtig scheint mir festzuhalten, dass das Biografische Theater einen Eigenwert hat. Die Bewusstmachung, Bearbeitung, Gestaltung und Inszenierung des persönlichen Glaubenslebens ist dabei ein eigener Schritt. Biografische Theaterarbeit ermöglicht den Jugendlichen, sich mit ihrer gesamten Persönlichkeit in den Arbeitsprozess einzubringen. Sie erfahren, dass sie in ihrer Lebenssituation ernst genommen werden und lernen so, sich selbst auch ernst zu nehmen und eigene Lebenshaltungen zu finden. Biografische Theaterarbeit kann einen bildungsästhetischen Prozess in Gang setzen, der Jugendliche Schritt für Schritt in die Lage versetzt, eigene Standorte zu bestimmen, sich mit ihrer persönlichen Glaubensauffassung auseinanderzusetzen und eine eigene Haltung zu entwickeln. Gerade in der für Jugendlichen schwierigen bzw. herausfordernden Phase der Suche nach Orientierung, ist es wichtig, Jugendliche mit ihren eigenen Vorstellungen und Glaubensauffassungen zu Wort (und Tat) kommen zu lassen. Biografisches Theater kann so auch als Sprachrohr für die Jugendlichen dienen, in einer Kirche, die oft als verstaubt und veränderungsresistent erfahren wird. So wirkt biografisches Theater innerhalb der Firmvorbereitung im Sinne der Theaterpädagogik verändernd und aufrüttelnd in die Kirche (als Teil der Gesellschaft) ein. Biografisches Theater ermöglicht über den Weg des kreativen, darstellerischen und ästhetischen Ausdrucks eine Kommunikation, die über die sprachliche Ebene hinausgeht und Jugendlichen so die Möglichkeit gibt, (religiös) „Sprachfähig“ zu werden. Dabei geht es nicht darum, dass das biografische Material in einer unverfälschten Echtheit auftritt, sondern als Element vielschichtiger Verknüpfungen von Fiktion, Realität und künstlerischer Konstruktion. Das biografische Theater bietet meiner Meinung nach ein theaterpädagogisches Potential, die jeweiligen Lebenswelten Jugendlicher, d.h. ihre Art zu leben, zu denken, zu reden und zu handeln, ihre persönlichen Geschichten, ihre Vorlieben und Interessen ästhetisch in den „Raum“ Kirche einzubringen. Die Jugendlichen finden Gehör, ohne sich bloßstellen und „gut“ spielen zu müssen. Im biografischen Theater werden Kopf, Herz und Hand angesprochen. Die Ästhetisie-

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rung kann dabei als deutend-gestaltender Zugang zur Wirklichkeit verstanden werden. Kirche, die Lebensraum sein will und die Lebenswelten Jugendlicher ernst nimmt sollte auf eine ästhetische Wende und damit auf biografische Theaterarbeit innerhalb der Firmvorbereitung nicht verzichten. Ich freue mich darauf, innerhalb der Firmvorbereitung ein biografisches Theaterprojekt durchzuführen und bin auf vielfältige Erfahrungen gespannt.

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Eidesstattliche Versicherung

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Eidesstattliche Versicherung Hiermit versichere ich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne Benutzung anderer als der angegebenen Hilfsmittel angefertigt habe. Alle Stellen, die wörtlich oder sinngemäß aus veröffentlichten und unveröffentlichten Schriften bzw. elektronischen Quellen entnommen sind, sind als solche kenntlich gemacht. Die Arbeit hat in gleicher oder ähnlicher Form noch keiner anderen Prüfungsbehörde vorgelegen.

Dossenheim, 5. November 2012

Verena Oehl