Binnendifferenzierung in der Sekundarstufe Das Praxisbuch

Sekundarstufe I + II Karin Kress Binnendifferenzierung in der Sekundarstufe – Das Praxisbuch Profi-Tipps und Materialien aus der Lehrerfortbildung U...
Author: Lukas Roth
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Sekundarstufe I + II

Karin Kress

Binnendifferenzierung in der Sekundarstufe – Das Praxisbuch Profi-Tipps und Materialien aus der Lehrerfortbildung Unter Mitarbeit von Michaela Pappas

Methodenkartei, Vorlagen, Checklisten

INHALTSVERZEICHNIS WAS DIESES BUCH IST UND WAS ES NICHT IST

KAPITEL 1

EINLEITUNG 5

„WER ARBEITET HIER EIGENTLICH?“

KAPITEL 2

GELENKTE UND NATÜRLICHE DIFFERENZIERUNG 8

Tagesplan

17

Spickzettel

18

Lerntheke

19

Freiarbeit

20

DIE QUADRATUR DES KREISES

KAPITEL 3

VARIANTEN DER BINNENDIFFERENZIERUNG 21 23

3.1 Die Leistungsdifferenzierung

Bewertungsraster und Anforderungsprofile

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Lernzeit

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Gestufte Hilfen

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Helferhände & Co.

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Gruppenpuzzle

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3.2 Differenzierung nach Lerntempo

Lerntempoduett

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Tafelkino

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Monatsplan

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3.3 Neigungsdifferenzierung und Themenwahl

Schülermoderation

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Thematisch sortierte Gruppenarbeit

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Projektarbeit

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Wochenplan

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Zettelwand

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Themenportfolio

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3.4 Vielfältige Lernzugangsweisen und Multiple Intelligenzen

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Stationenlauf

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Textrundgang

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Lerntagebuch

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INHALTSVERZEICHNIS „STATT IMMER IM GLEICHSCHRITT, JETZT DAUERND GETRENNT?“

KAPITEL 4

FÜR EINE PRAGMATISCHE EINBINDUNG DER BINNENDIFFERENZIERUNG IM UNTERRICHT 79

Lernlandkarte

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Gelbe Pinnwand

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KAPITEL 5

BINNENDIFFERENZIERUNG IM METHODENQUINTETT ZUR INDIVIDUELLEN FÖRDERUNG 84 87

Lehrer als Station

DEN BODEN BEREITEN

KAPITEL 6

LERNREFLEXION ALS GRUNDLAGE DER BINNENDIFFERENZIERUNG 88

Checklisten

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Meine Insel

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Wandzeitung

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Graffiti

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Placemat

100 „WÜRDEN WIR JA GERNE, WENN WIR DIE MATERIALIEN HÄTTEN!“

KAPITEL 7

MATERIALIEN NUTZEN, ANPASSEN UND SELBST ERSTELLEN 101 BENOTUNG UND LEISTUNGSMESSUNG

KAPITEL 8

DIFFERENZIERTE KLASSENARBEITEN

„JETZT IST ABER SCHLUSS!“

KAPITEL 9

WO DIE MÖGLICHKEITEN DER BINNENDIFFERENZIERUNG ENDEN UND WIE EIN ZUSAMMENSPIEL MIT DER ÄUSSEREN DIFFERENZIERUNG SINNVOLL IST 114

Materialsammlung

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Methodenübersicht

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KAPITEL

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1. WAS DIESES BUCH IST UND WAS ES NICHT IST EINLEITUNG Bücher zur Förderung von Schülerinnen und Schülern1 durch aktivierende Methoden und Maßnahmen zur Binnendifferenzierung werden von echten Überzeugungstätern geschrieben – von Kolleginnen und Kollegen, die die Erfahrung gemacht haben, dass eine wohlüberlegte Verabschiedung vom Unterricht im Gleichschritt nicht nur die Nachhaltigkeit der Lernergebnisse ihrer Schüler, sondern auch die eigene Zufriedenheit steigern kann.

hat seinen eigenen Stil und individuelle Stärken, mit denen er seine Schüler erfolgreich unterrichtet. Das richtige Maß an Vertrauen in die Schüler und in die eigenen Fähigkeiten als Lehrer wirkt wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Lässt man den Schülern ihre Verantwortung, ist man oft überrascht, mit welchem Ernst sie diese auch wahrnehmen. Es ist jedoch schwer zu sagen, bei welchen Kollegen dieses Vertrauen eintritt und sich daraus dann alles Weitere ergeben kann, und bei wem die Sorge überwiegt, die Schüler auf diesem Weg zu verlieren bzw. zu wenig „im Griff“ zu haben. Letztlich kann mir niemand die Entscheidung abnehmen, wie viel ich in einer Klasse lenken will und wie viel Verantwortung – vielleicht auch differenziert bezogen auf den Grad an Selbstständigkeit der Einzelnen – ich meinen Schülern schrittweise übertrage.

Wer sich auf ein schülerorientiertes Arbeiten einlässt, geht in direkten Kontakt zu den Schülern, hält ihre Fragen, ihr individuelles Verstehen und Nichtverstehen aus und macht mit gezielten Lernanlässen Informationen über die jeweiligen Lernstrategien der Schüler sichtbar. Lernen „passiert“ neurobiologisch betrachtet zwar permanent – zielgerichtetes und abprüfbares Lernen ist aber von vielen Unwägbarkeiten abhängig. Die zahllosen täglichen Lernerfolge der Schüler sollten ein Grund für Stolz und Freude sein, damit wir diejenigen Fälle, in denen unser Lernarrangement an der Vorstellungswelt der Schüler vorbeigeht, nicht als Scheitern oder Abweichung vom erfolgreichen Normalfall erleben.

Dieses Buch ist trotz Sympathien und zahlreicher Methodenentlehnungen kein Buch der Reformpädagogik. Es ist kein Plädoyer für eine komplette Umstellung des Unterrichts auf Freiarbeit oder Projektarbeit. Es bedient nicht die Debatte über die Ersetzung des dreigliedrigen Schulsystems durch eine Gesamtschule. Es ist auch nicht dagegen. Die Schwierigkeiten, mit heterogenen Gruppen umzugehen, ähneln sich in den verschiedenen Schulformen, haben aber auch ihre spezifischen Eigenarten je nach Schülerklientel und Einzugsgebiet der Schulen. Unser Beitrag zur Binnendifferenzierung und individuellen Förderung ist ein Beitrag für diejenigen, die sie umsetzen müssen, und zwar nicht in einer bildungspolitischen Schulutopie, sondern tagtäglich in sehr unterschiedlichen Unterrichtsrealitäten.

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Ein Überzeugungstäter lässt sich von weniger optimalen Rahmenbedingungen nicht abschrecken. Die an einer Stelle investierte Zeit zahlt sich an anderer Stelle aus oder spart zumindest Energien, die verloren gehen, wenn man versucht, Lernen gegen den Widerstand der Schüler durchzusetzen. Die Erwartungen an Lehrer in der öffentlichen Wahrnehmung sind hoch und meistens widersprüchlich. Idealismus im Ganzen, gepaart mit einer ordentlichen Portion Pragmatik im Konkreten und der richtigen Dosis Humor helfen zwar, so manche Hürde in der Arbeit zu meistern – in unseren Lehrerfortbildungen können wir Idealismus jedoch nicht zur Voraussetzung für das Gelingen von Unterricht machen. Neben der Überzeugung, dass differenzierte Unterrichtsformen sich positiv auswirken und in ganz verschiedenen Nuancen im Schulalltag auch machbar sind, muss für uns als weiterer Aspekt hinzukommen: Jeder Lehrer

Binnendifferenzierung ist in unserer Lesart keine neue Unterrichtsphilosophie, vielleicht nicht einmal ein neues Modell, das Voraussetzungen schaffen soll für die Herausforderungen einer zeitgemäßen Bildungspolitik. Auch wenn eine sehr spezifische schulpolitische Stimmung im Zuge der PISA-Studien ihr Spotlight auf den Begriff wirft und er in diesem Kontext an Prominenz gewinnt.

1 Aufgrund der besseren Lesbarkeit ist in diesem Buch im Folgenden mit Schüler auch immer Schülerin gemeint, ebenso verhält es sich mit Lehrer und Lehrerin etc.

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EINLEITUNG

Für uns waren diese Veranstaltungen sehr intensive Beratungssitzungen mit vielen Experten, und so ist dieses Buch auch am ehesten eine Sammlung von „best-practice“-Beispielen von Lehrerinnen und Lehrern mit ganz unterschiedlichen Antworten auf die Frage, wie sie ihre Schüler am besten auf die Zukunft vorbereiten. Einige der besonders schönen Unterrichtsbeispiele aus unseren Fortbildungen haben wir unter der Überschrift „So mache ich das …“ als eine Art nachgestellten „O-Ton“ aus dem Gedächtnis in das Buch mit aufgenommen.

Die Binnendifferenzierung wird gleichermaßen unter- wie auch überschätzt. Sie wird von Politikern gerne als Zauberformel aus dem Hut gezogen, wenn es um die Frage geht, wie Lehrer in Klassen mit dreißig Schülern und sehr unterschiedlichen Leistungsniveaus jedem Schüler gerecht werden können. Diese Antwort ist leicht, sie ist kostengünstig, weil sie bei gleicher Lehrerzahl suggeriert, dass Klassengrößen wieder auf ein Maß ansteigen könnten wie zur Zeit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Wenn man dann fragt, wie die Binnendifferenzierung unter Rahmenbedingungen funktionieren soll, die sich jedenfalls nicht verbessern, bekommt man Antworten ungefähr in dem Tenor: Binnendifferenzierung wirkt sich positiv auf die Schüler aus, wird ihrer Persönlichkeit, ihren Stärken und Schwächen und individuellen Lerntypen gerecht, motiviert sie, hilft zur Demokratieerziehung, weil Schüler Vielfalt als etwas Positives und Gewinnbringendes erleben. Und weil das alles wahr ist, jedoch mit der Frage, wie Binnendifferenzierung in Klassen mit dreißig Schülern funktionieren soll, schlechterdings nichts zu tun hat, treten all die positiven Effekte der Binnendifferenzierung in diesen Diskussionen wieder in den Hintergrund. Wenn Binnendifferenzierung geeignet ist, Unterricht zu verbessern, dann verbessert sie vermutlich auch Unterricht in großen Klassen. Vielleicht bietet sie sogar Chancen, wo andere Methoden längst an ihre Grenzen stoßen. Man wird diesen Verbesserungen jedoch nicht gerecht, wenn alle Erfolge an der Frage gemessen werden, ob die Binnendifferenzierung auch die gesellschafts- und bildungspolitischen Probleme unserer Zeit lösen kann.

Die Arbeit, mein Thema inhaltlich zu durchdenken und an die konkrete Klasse anzupassen, kann mir keine Methode abnehmen, auch wenn Methodentrainings manchmal suggerieren, dass man allein schon durch Umstellung auf eine bestimmte Methodenrichtung ein besserer Lehrer wird. Im Umkehrschluss heißt dies aber auch, dass Methoden nicht als ein fixes System übernommen werden müssen, um zu funktionieren. Wir haben uns bemüht, die Methoden zwar als Ausgangspunkt zu nehmen, wollen aber mit möglichst vielen Abwandlungen und Variationen dazu einzuladen, sie als Steinbruch für eigene Ideen weiterzuentwickeln und zu verändern.

Zusammen haben wir zu den Themen „Binnendifferenzierung“ und „Individuelle Förderung“ an mehr als vierhundert Schulen Seminare durchgeführt, die sich je nach Schülerklientel mit sehr unterschiedlichen Schwierigkeiten und Lösungsstrategien beschäftigten. Allen Kollegen gemeinsam war und ist dabei ein ernsthaftes Ringen um die besten Formen von Unterricht, auch wenn sich in den Veranstaltungen oft scheinbar unvereinbare Konzepte gegenüberstanden.

So stehen die Kapitel zur Erklärung und Sortierung der Ansätze zur Binnendifferenzierung auch nicht als isolierter Theorieteil für sich, sondern bieten eine reichhaltige Entscheidungsgrundlage, wie sich die verschiedenen Abwandlungen auf

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Keine Methode bleibt gleich, wenn unterschiedliche Kollegen sie einsetzen oder der gleiche Kollege mit unterschiedlichen Lerngruppen arbeitet. Auch die beschriebenen Methoden dienen uns daher als Transportmittel für Ideen. Methoden sind kein Selbstzweck oder eine Garantie dafür, dass uns die Ziele des Unterrichts gelingen. Sie können mir aber als Planungsgerüst eine große Hilfe bei der Vorbereitung von Unterrichtsstunden sein und mir die Organisation der verschiedenen Phasen abnehmen, sodass Zeit frei wird, in der ich mich inhaltlich und auf der Beziehungsebene mit den Schülern auseinandersetzen kann. Wir präsentieren Ihnen kein starres Gesamtkonzept, sondern ein Modulsystem, das sich flexibel an Ihre je individuelle Unterrichtsgestaltung anpassen lässt.

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KAPITEL

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Über die erste Auswahl an konkreten Unterrichtsmaterialien erhalten Sie einen Einstieg in weitere Recherchen, aber auch Ideen für die Erstellung oder Umarbeitung von Materialien.

die Unterrichtsführung auswirken können. Aus diesem Grund haben wir uns gegen einen separaten Methodenanhang entschieden, sondern Methoden und Erläuterungen direkt nebeneinandergestellt.

Lassen Sie sich von der Menge der Beispiele nicht erschlagen. Vieles werden Sie so oder ähnlich selbst schon in Ihrem Unterricht praktizieren.

Unsere Methodenkartei bietet einen besonderen Komfort für die Unterrichtsvorbereitung: Kleben Sie die Karten nach dem Kopieren zu A5-Karten zusammen und laminieren Sie sie gegebenenfalls. Auf der beigefügten CD-ROM findet sich zusätzlich eine Blankovorlage, um eigene Methoden zu ergänzen.

Sollten Sie trotzdem das Bedürfnis haben, „erst mal einzusteigen“, bietet Ihnen das Kapitel 4 zur Einbindung der Binnendifferenzierung in die Unterrichtsphasen einen guten Zugang. Viel Spaß!

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Die vorgestellten Phasenabläufe sind so flexibel veränderbar, dass sie sich auf verschiedene Unterrichtsvorhaben abstimmen lassen und kompatibel mit der eigenen Reihenplanung sind.

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GELENKTE UND NATÜRLICHE DIFFERENZIERUNG

2. „WER ARBEITET HIER EIGENTLICH?“ GELENKTE UND NATÜRLICHE DIFFERENZIERUNG

„Geht das überhaupt Stoffplan?“

bei einem sehr engen

„Warum soll ich im Unterricht diffe renzieren? Am Ende müssen doch alle wied er die gleiche Prüfung schreiben!“

Wenn man die Schüler zu wenig anleitet, können sie schnell mit der Wahl von Aufgaben überfordert sein. Schüler, die eigenverantwortliches Arbeiten nicht gewöhnt sind, nehmen Entscheidungsfreiheiten gerne zum Anlass, darüber zu diskutieren, ob Gar-nichts-Tun nicht die beste aller Wahlmöglichkeiten darstellt. Auf der anderen Seite ist eine enge Lehrerlenkung bei der Aufgabenzuweisung ebenso arbeitsaufwendig wie störanfällig, da sie die Schüler wenig motiviert und in der „Konsumhaltung“ bestätigt: Der Lehrer wird’s für mich schon richten. Dann ist der Lehrer auch schnell der Buhmann, wenn die Schüler schlechte Noten schreiben. Bei aller Professionalität kann der Lehrer den Schülern aber auch nur bis vor die Stirn schauen und das Anforderungsprofil der Aufgaben nicht passgenau auswählen. Es besteht also auch hier die Gefahr der Unter- oder Überforderung. Glücklicherweise sind die Vorteile der einen Variante geeignet, die Nachteile der anderen auszugleichen. Es läuft also auf eine Kombination beider Varianten hinaus.

„Ist das nicht ein irrsinniger Arbeitsaufwand? Ich schaffe doch das Pensum jetzt schon kaum, wenn ich alles vorbereite – und dann noch die ganzen Korrekturen!“

r überhaupt? Wie oft „Wollen das die Schüle uns das nicht einfach höre ich: ,Können Sie erzählen?‘“

„Viele Schüler sind doch gar nich t selbstständig genug. Überfordert es nich t gerade die Leistungsschwachen, wenn sie sich jetzt auch noch Aufgaben nach unte rschiedlichen Niveaustufen aussuchen sollen?“ denen ht diejenigen Schüler, „Stigmatisiere ich nic e?“ ufträge zuweis ich einfachere Arbeitsa

Es gibt aber eine ganze Bandbreite an Varianten, wie man die Binnendifferenzierung anleiten kann. Kollegen verbinden mit dem Begriff „Binnendifferenzierung“ oft zuerst die Vorstellung, dass sie jedem Schüler sagen, was er tun soll, und dann alle Arbeitsergebnisse einzeln kontrolliert werden.

Viel hängt dabei von der Art der Aufgabenstellung ab, die in sich schon eine Differenzierung enthalten kann. So lassen sich offene und geschlossene Aufgaben unterscheiden.

Die Binnendifferenzierung kann in zwei Varianten gesteuert werden: Entweder übernehme ich als

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Lehrer die Zuweisung von Aufgaben an Schüler mit unterschiedlichem Bedarf, oder ich schaffe ein Arrangement, in dem die Schüler wählen können, welche Aufgaben sie als Nächstes sinnvoll bearbeiten. In beiden Varianten behält der Lehrer die Regie; es wäre daher irreführend, im einen Fall von Lehrerlenkung und im zweiten Fall von Schülerlenkung zu sprechen. Allerdings ist das Ziel klar: Die Schüler sollen schrittweise dazu befähigt werden, selbst Verantwortung für ihren Lernprozess zu übernehmen.

Das Stichwort „Binnendifferenzierung“ ruft zahlreiche Assoziationen hervor, negative wie positive, zunächst einmal aber eine ganze Reihe Fragezeichen:

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KAPITEL

2

INFORMATION: Beispiele für geschlossene und offene Aufgaben Geschlossene Aufgaben

Offene Aufgaben

Füllt den Lückentext aus.

Bildet zehn Sätze mit dem Wortartenwürfel.

Bearbeitet die Aufgaben 3 – 5 auf S. 12.

Arbeitet in den nächsten zehn Minuten an den Aufgaben auf S. 12.

f (x) = x2 – 4 x + 3 Berechnet die Nullstellen.

Bildet eine Funktion, die ihre Nullstelle an der gleichen Stelle hat wie im Beispiel oben.

Wandelt die folgenden Zitate in die indirekte Rede um wie im Beispiel oben.

Schreibt einen Dialog zum Wochenende, wandelt ihn anschließend in die indirekte Rede um.

Beschriftet das folgende Diagramm einer Zelle:

Beschriftet alle Zellorganellen, die ihr kennt:

Arbeitet die fünf Kernargumente aus dem Zeitungsartikel heraus.

Schreibt einen Leserbrief zu dem Zeitungsartikel. Geht dabei auf die Kernargumente des Artikels ein.

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Bei einer geschlossenen Aufgabe wenden die Schüler einen einheitlich vorgegebenen Lösungsweg an. Es gibt also eine Lösungsstrategie und eine Lösung. Eine offene Aufgabe kann dagegen mit unterschiedlichen Strategien bewältigt werden und lässt meist auch mehrere Lösungen zu.

den Schülern erst gelernt werden. Auch unter den Selbstkorrekturvarianten gibt es gut geeignete und weniger gut geeignete (s. Kap. 7). Offene Aufgaben haben den Vorteil, dass ich in der Vorbereitung nicht unterschiedliche Aufgaben konzipieren muss, um unterschiedlichen Leistungsständen, Tempi und Lernzugangsweisen gerecht zu werden. Für einen festen Zeitrahmen wird eine Aufgabe gestellt, die die Schüler mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten bewältigen können. Offene Aufgaben haben diagnostisches Potenzial, da sowohl die individuelle Arbeitsweise als auch das Verstehen bzw. Nichtverstehen der Schüler sichtbar werden. Anschließend kann ich sichtbar gewordene Missverständnisse aufholen, Wissenslücken schließen oder Anreize für eine weitergehende Beschäftigung mit der Thematik anbieten.

Arbeiten alle Schüler im Gleichschritt an geschlossenen Aufgaben, entsteht ein minimaler Aufwand bei Vorbereitung, Ergebnissicherung und Korrektur. Werden geschlossene Aufgaben jedoch zur Binnendifferenzierung genutzt, vervielfacht sich der Arbeitsaufwand sofort. Die Aufgaben müssen gestellt, betreut, korrigiert und weiterführende Ergebnisse auch gesichert werden. Dieser Effekt bleibt – unabhängig davon, ob ich die Aufgaben zuweise oder Schüler aus einem Aufgabenpool wählen lasse. Materialien mit Selbstkorrektur können dabei die Arbeit erleichtern, wenn man nicht den Anspruch erhebt, sie als „Selbstläufer“ einzusetzen. Auch ein kritischer und ehrlicher Blick auf die eigenen Arbeitsergebnisse muss von

Die Vielheit der Arbeitsergebnisse, die auch bei offener Aufgabenstellung entsteht, kann ich in der Regel besser als Bereicherung für die Weiterarbeit

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GELENKTE UND NATÜRLICHE DIFFERENZIERUNG

mit der ganzen Klasse nutzen, da sie als Facetten gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Die Schüler können sich zielführendere Strategien voneinander abgucken. In der gemeinsamen Sicherungsphase steht der Lehrer dann als Experte zur Verfügung, um Tipps für effizientere Bearbeitungswege zu geben.

AcI näherbringt – alles das sollen sie ja erst noch werden und lernen. Die Schüler sind aber Experten für „ihr“ Lernen und ihre Entscheidungsfähigkeit. In der Formulierung jeden da abholen, wo er steht, die zu einer Art Leitsatz der individuellen Förderung geworden ist, steckt schon eine gewisse Fehlannahme: Schüler stehen nicht irgendwo herum und warten darauf, dass wir sie einsammeln. Jeder Mensch entwickelt sich permanent weiter. Hat man also einen Punkt ausgemacht, auf den man glaubt, eingehen zu können, hat sich der Schüler in der Regel von diesem Punkt schon wieder entfernt. Will man Schüler sinnvoll unterstützen, muss man sich ihrem Prozess anpassen und ein Stück mitgehen. Das heißt auch, sie als jene Personen anzusprechen, die sie vielleicht erst noch werden. Dies erfordert eine Art vorauseilendes Vertrauen, das die Schüler mitunter zu sich selbst noch gar nicht gefunden haben. Die Entscheidung dafür, diesen nächsten Schritt dorthin zu gehen, müssen sie jedoch selbst treffen.

Im Unterrichtsalltag lassen sich nicht nur Aufgabenzuweisung und Aufgabenwahl, sondern auch offene und geschlossene Aufgaben kombinieren. Es entstehen vier Felder, in die sich die Differenzierungsvarianten einsortieren lassen, mit einem fließenden Übergang von der gelenkten Differenzierung (Zuweisung von unterschiedlich geschlossenen bis offenen Aufgaben durch den Lehrer) bis zur sogenannten natürlichen Differenzierung (offene Aufgabenstellungen oder Schülerwahl). Fließender Übergang zwischen den Polen gelenkte und natürliche Differenzierung: natürliche Differenzierung Schülerwahl + offene Aufgaben

Zuweisung + geschlossene Aufgaben

Schülerwahl + geschlossene Aufgaben

Wenn die natürliche Differenzierung dieses Entscheidungsangebot ist, etwas zu tun, von dem die Schüler noch gar nicht wussten, dass sie es können, dann ist die gelenkte Differenzierung der stützende Rahmen. Gerade wenn Schüler noch jung sind, müssen wir ihnen Potenziale in den Rucksack packen, die ihnen später nützlich sein können, auch wenn sie beim Packen lieber die ganze Last sofort wieder auspacken würden. Mit einem leeren Rucksack aber kommt man nicht weit! In der Hoffnung, dass sie das nötige Instrument in ihrem Gepäck finden, wenn es darauf ankommt, müssen wir Motivations- und Interesselosigkeit zeitweise stellvertretend für die Schüler überbrücken.

gelenkte Differenzierung

Die Frage, welchen Schüler ich bereits selbstständiger arbeiten lassen kann und wen ich kleinschrittiger anleiten muss, gehört zu einer der ersten Entscheidungen bei der Binnendifferenzierung. In der Realität hängt sie leider allzu oft von den zur Verfügung stehenden zeitlichen und organisatorischen Ressourcen ab und erst in zweiter Linie von der Frage, was der einzelne Schüler braucht. Binnendifferenzierung heißt nicht, dass ich meine Schüler von nun an ausschließlich allein an ihren individuellen Arbeitsbereichen tüfteln lasse und mich selbst zwischen 20 –30 Schülern aufteilen muss. Aus bildungstheoretischer Sicht ist es verlockend zu sagen, dass die Schüler den Rhythmus vorgeben. Unser Schulsystem ist aber nicht darauf ausgerichtet, dass einzelne Schüler innerhalb einer Gruppe wesentlich länger an einem Inhalt arbeiten, bis auch sie ihn verstanden haben.

Diese Brücken sind jedoch nicht für alle gleich. Und so besteht die eigentliche Kunst der Binnendifferenzierung darin, zu entscheiden, wem wie viel Lenkung gut tut, immer in der Bereitschaft, auszuprobieren, ob die Schüler mit etwas mehr Selbstständigkeit schon zurechtkommen. Die fachliche Entscheidung, wer welchen Schwierigkeitsgrad an Aufgaben gerade bewältigen kann, tritt hinter diese Entscheidung sogar zurück, zumal wenn man sich bewusst macht, dass Aufgaben nicht per se leicht oder schwer sind, sondern immer im Kontext von bereits behandelten und neuen Inhalten zu sehen sind – eine Aufgabe ist also immer nur für einen bestimmten Schüler leicht oder schwer.

Auch wenn ich binnendifferenziert unterrichte, muss ich die eigenen Ressourcen auf eine Klasse verteilen. Schüler mögen keine fachlichen Experten sein und je nach Alter vielleicht auch keine Experten dafür, was ihnen langfristig gut tut und welche konkrete Lernstrategie ihnen in Latein den

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Zuweisung + offene Aufgaben

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KAPITEL

BESONDERHEITEN DER GELENKTEN DIFFERENZIERUNG

che schmaleren Varianten der Differenzierung zu lenken, die Mut machen sollen, mit Ausnahmen von der Regel selbstverständlicher umzugehen.

Eine Montessori-Kollegin, die während der Hospitation in einer Freiarbeitsstunde gefragt wurde, woher die Schüler denn wüssten, was sie als Nächstes tun sollten, antwortete etwas irritiert über die Frage: „Das sage ich ihnen. Ich bin doch dabei und kann jederzeit beraten.“

Die folgende Variante einer gelenkten Differenzierung bezogen auf die Sozialform soll nicht Ihre sonstige Arbeitsanweisung ersetzen, sondern wie alles andere unter Abwägung der didaktischen Ressourcenanalyse Ihr Repertoire als Lehrer ergänzen.

Das erscheint in unserem Regelschulsystem erst einmal schwer vorstellbar, wenn 28 Schüler gleichzeitig mit einer Aufgabe beginnen. Wenn man differenziert arbeiten lässt, ist es schlicht unmöglich, allen Schülern gleichzeitig mündlich verschiedene Arbeitsanweisungen zu geben.2

Beispiel 1: Mündlicher Arbeitsauftrag – gelenkte Differenzierung nach Sozialform Murat, arbeite bitte mit Clemens. Dennis, Meike und Lutz, jeder von euch diesmal bitte alleine, damit ihr euch gut konzentrieren könnt. Alle anderen dürfen aussuchen, ob sie lieber mit einem Partner oder allein arbeiten. Laura, wenn alle angefangen haben, kann ich mit dir über deine Frage von vorhin sprechen.

Bevor wir uns methodische Unterstützungen anTagesplanarbeit (S. 17) schauen, wie z. B. durch die Zuweisung von unterschiedlichen Aufgaben an die Schüler anders geregelt werden kann, lohnt es sich aber, die Aufmerksamkeit zunächst auf sol-

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An diesem Beispiel lassen sich direkt einige Merkmale der gelenkten Differenzierung aufzeigen:

Vorteile (Beispiel 1):

Nachteile (Beispiel 1):

 Jeder Schüler kann in einer Weise arbeiten, mit der er persönlich die gestellte Aufgabe optimal bewältigen kann: Bei einzelnen Schülern kann ein Helfersystem eingesetzt werden, wo es wirklich effektiv ist. Der wichtige Motivationsaspekt von gemeinsamer Arbeit unter Freunden wird genutzt. Schüler, die auf der anderen Seite besser alleine vorankommen, sich schnell ablenken lassen oder gar die ganze Klasse aufmischen, bekommen eine engere Anleitung.  Die Schüler erhalten durch die klaren Ansagen eine Orientierung für den Lernprozess, sodass sie sich ganz auf die Lerninhalte konzentrieren können.  Die Schüler können mit den Aufgaben sofort anfangen, ohne sich erst über das Wie ihrer Arbeit Gedanken machen zu müssen.  Ich kann diejenigen Arbeitsformen einsetzen, die ich als Experte für die Ziele, die ich erreichen möchte, und mit meinen geschulten Kenntnissen über die Schüler für sinnvoll erachte.

 Es besteht die Gefahr einer Stigmatisierung derjenigen Schüler, denen ich abweichende Arbeitsaufträge zuweise: Anders als bei der natürlichen Differenzierung lädt die Lenkung durch den Lehrer geradezu ein zu Diskussionen über Sinn und Zweck bzw. die Hintergründe für diese Entscheidung.  Ich kann mich bei der Zuordnung verschätzen.  Um Schülern ihre unterschiedlichen Aufgaben zuzuweisen, benötige ich in der Vorbereitung mehr Zeit.  Ich muss Aufmerksamkeit auf die Überlegung verwenden, wer wie am besten arbeitet.

2 Die Freiarbeit in der Montessori-Pädagogik lebt aber gerade davon, dass die Schüler an Aufgaben arbeiten, die unterschiedlich viel Zeit in Anspruch nehmen. Es ist daher schon rein rechnerisch selten der Fall, dass mehrere Schüler gleichzeitig mit Aufgaben fertig sind oder mit neuen Aufgaben beginnen. Die Lehrer wechseln in ihrer Tätigkeit also zwischen Erklärungen, Lernberatung und ggf. Kontrolle der Ergebnisse.

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GELENKTE UND NATÜRLICHE DIFFERENZIERUNG

Im zweiten Beispiel wird deutlich, wie ich auch fachlich-inhaltlich gelenkt differenzieren kann, ohne zahlreiche unterschiedliche Ergebnisse zu generieren, die schwer zu korrigieren, zu sichern und zusammenzuführen wären.

Beispiel 2: Aufgabe an der Tafel – gelenkt differenzierte Hausaufgaben; Thema: Inhaltsangabe Schreibt eine Inhaltsangabe nach den bekannten Kriterien zu dem vorliegenden Zeitungsartikel. Niels, Laura, Cedric und Julian: Schreibt sechs Einleitungssätze, die sich in möglichst vielen Formulierungen unterscheiden. Beachtet dabei die Kriterien für den Einleitungssatz einer Inhaltsangabe.

Im folgenden Beispiel wird vier Schülern eine andere Aufgabe als dem Rest der Klasse zugewiesen. Die Phase liegt im letzten Drittel einer Reihe zum Thema „Inhaltsangabe“. Niels, Laura, Cedric und Julian gehören zu den eher leistungsschwächeren Schülern bzw. haben Schwierigkeiten, regelmäßig ihre Hausaufgaben zu machen.

Viele der Vor- und Nachteile von Beispiel 1 treffen auch hier zu.

Vorteile (Beispiel 2):

Nachteile (Beispiel 2):

 Durch die Reduktion von Menge und Komplexität der Aufgabe erhöhen sich die Chancen, dass die vier Schüler die Hausaufgabe überhaupt angehen.  Die komplette Inhaltsangabe hätten sie evtl. nur oberflächlich geschrieben, mit der Differenzierung wird ihr Blick auf ein Spezialproblem gesteuert, das sie dafür intensiver bearbeiten.  Bei der Besprechung der Hausaufgaben kommt den vier Schülern eine wichtige Rolle zu. Ihre Arbeit geht nicht in der Menge der anderen (leistungsstärkeren oder schnelleren) Schüler unter.  Für die vier leistungsschwächeren Schüler steigt die Chance auf ein Erfolgserlebnis, weil sie nicht nur auf eine Formulierung festgenagelt werden, die entweder gut oder schlecht ist.  Ich kann mit der Gegenüberstellung verschiedener Einleitungssätze bei der Besprechung der Hausaufgaben einsteigen. Alle anderen Schüler, die nur je einen Einleitungssatz im Verlauf ihrer vollständigen Inhaltsangabe geschrieben haben, können ihre Formulierungen mit den unterschiedlichen Varianten vergleichen.

 Die Besprechung der Einleitungssatzvarianten sollte zumindest auch für das Mittelfeld der Klasse zusätzliche Anregungen bieten. Ansonsten verwendet man unproportional viel Zeit für die Schwächen einzelner Schüler im Klassenverband.  Für die Weiterarbeit in der ganzen Klasse relevante Aufgaben unzuverlässigen Schülern zuzuweisen, birgt immer die Gefahr, dass die Arbeitsergebnisse fehlen, auf die später aufgebaut werden soll. Sie sollten also wie hier die Aufgabe direkt an mehrere Schüler verteilen oder einen Plan B bereithalten (z. B. in diesem Fall mehrere andere Schüler zunächst ihren ersten Satz vorlesen lassen, falls alle vier ihre differenzierte Hausaufgabe nicht erledigt haben sollten).

BESONDERHEITEN DER NATÜRLICHEN DIFFERENZIERUNG

angeführt werden sollten. Selbstständiges Lernen ist jedoch weder Voraussetzung noch Synonym für die Binnendifferenzierung. Es ist vielmehr ein Lernziel, das mithilfe der Binnendifferenzierung neben anderen Lernzielen erreicht werden kann. Zu große Offenheit erschwert die zielgerichtete Arbeit und frustriert die Schüler.

Unter der natürlichen Differenzierung stellt man sich schnell größere Unterrichtsarrangements wie Referate oder Projektarbeiten vor, bei denen die Schüler ihren eigenen Arbeitsprozess selbst organisieren, sich Ziele setzen, Ressourcen analysieren und Fortschritte evaluieren. Fakt ist, dass die Schüler frühzeitig an selbstständiges Lernen her-

Das Maß an Selbständigkeit, das die Schüler bewältigen können, ist ein Kriterium, nach dem

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Hinzu kommen …

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KAPITEL

ich ebenfalls differenzieren kann. Wenn ich die Selbstständigkeit schulen möchte, entlaste ich die Lernarrangements von inhaltlichen Lernzielen, umgekehrt muss ich den Schülern zum Erreichen inhaltlicher Lernziele das nötige Maß an Information und Beratung zuteil werden lassen, damit sie produktiv arbeiten können.

dieselbe Menge an Vokabeln zu merken. Trotzdem suggerieren wir Schülern oft durch unsere Erwartungshaltung, dass eine bestimmte Menge dem „Normalmaß“ entspricht. Im Sinne der Binnendifferenzierung kalkuliert der Lehrer dagegen von vornherein ein, dass die Schüler in ihrem je eigenen Tempo arbeiten und dadurch zwangsläufig unterschiedlich viele Vokabeln behalten.

Offene Aufgaben und natürliche Differenzierung entstehen oft schon durch minimale Umstellungen in der Formulierung von Aufgaben.

Beispiel 3: Mündlicher Arbeitsauftrag – natürlich differenziert nach Menge; Thema: Vokabeln

Die nächste Aufgabe kommt in ihrer geschlossenen Variante („Lernt die Vokabeln auf S. 128.“) seltener im Unterricht vor. Kaum jemand erwartet, dass alle Schüler gleich lange brauchen, um sich

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Holt eure Vokabelkartei auf den Tisch. Arbeitet zehn Minuten mit der Vokabelkartei.

Vorteile (Beispiel 3):

Nachteile (Beispiel 3):

 Der Vorbereitungsaufwand ist nicht größer als bei einer geschlossenen Aufgabenstellung. Verglichen mit der gelenkten Differenzierung, der Vergabe von unterschiedlichen geschlossenen Aufgaben, spare ich deutlich Zeit.  Die Aufgabe bietet ausreichend Orientierung, sodass auch weniger selbstständige Schüler nicht überfordert sind, verhindert aber auch, dass schnellere Schüler beginnen, Däumchen zu drehen.  Die Aufgabe ist kompatibel mit einem für den Lehrer verlässlichen Zeitmanagement.  Die meisten Schüler arbeiten gemäß ihren Möglichkeiten. Ich erhalte so Freiräume, in denen ich mich um Schüler kümmern kann, die eine intensivere Unterstützung von mir benötigen.

 Die Schüler wissen vielleicht nicht, wie viel sie leisten könnten, und bleiben unterhalb ihrer Möglichkeiten.  Der Lehrer muss die Arbeitsorganisation von der Bearbeitung der Aufgabe trennen, damit die Lerntempo- und Mengendifferenzierung nicht schon bei der Zeitspanne beginnt, die manche Schüler brauchen, um ihre Materialien – hier die Vokabelkartei – bereitzuhaben.

Als weiteren Nachteil bei dieser Aufgabe könnte man anführen, dass auch von den langsameren Schülern später in der Leistungsüberprüfung verlangt wird, alle Vokabeln zu beherrschen. Dies ist jedoch kein spezifisches Problem der natürlichen Differenzierung, vielleicht nicht einmal ein spezifisches der Binnendifferenzierung, sondern ein

grundlegendes Problem beim Lernen in Gruppen auf der einen Seite und vorgegebenen Standards zur Leistungsüberprüfung auf der anderen Seite. Jeder Unterricht muss dieser Prüfung standhalten. Wie sich damit umgehen lässt, wird im Kapitel zur Lerntempodifferenzierung (s. Kap. 3.2) ausführlicher behandelt.

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GELENKTE UND NATÜRLICHE DIFFERENZIERUNG

In offenen Aufgaben kann nicht nur das Ergebnis, sondern auch Art und Menge der Lösungswege variieren: Beispiel 4: Arbeitsblatt – Offene Aufgabenstellung, Mathematik (Klasse 5) Schülerbeispiel 1:

Aufgabenstellung:

Frage: Wie viele Busse müssen von der gleichen Linie befahren werden? 3

Finde möglichst viele unterschiedliche Arten von Rechenaufgaben.

Rechnung: Antwort: Man braucht von Montag bis Freitag 3 Busse. Schülerbeispiel 2: Frage: Du hast samstags ein Treffen. Du musst um 22.50 Uhr da sein. Um wie viel Uhr musst du den Bus nehmen, wenn du „In der Rott“ aussteigen willst? Rechnung: 22.50 Uhr – 23 Minuten = 22.27 Uhr Antwort: Du musst den Bus um 22.20 Uhr nehmen. Schülerbeispiel 3: Frage: Wie oft hält der Bus in der Woche an der Ruhr-Uni? Rechnung: Der Bus fährt von Montag bis Freitag am Tag 14 Stunden lang dreimal die Stunde bis 19 Uhr. Montag bis Freitag: 14 Stunden × 3 = 42 42 × 5 Tage = 210-mal Ab 19.00 Uhr: 3 × 2 = 6 6 × 5 Tage = 30-mal Ab 23.00 Uhr: 1 × 1 × 5 Tage = 5-mal Samstag: 17 Stunden × 2 = 34-mal Ab 23.00 Uhr: 1-mal Sonntag: 15 Stunden × 2 = 30-mal 6 Uhr, 23 Uhr: 2-mal 210 + 30 + 5 + 34 + 1 + 30 + 2 = 312-mal

Dieses Beispiel für eine offene Aufgabenstellung erfordert von den Schülern schon mehr mathematische Kenntnisse und auch ein gewisses Maß an Kreativität oder zumindest die Bereitschaft, sich auf Denkspiele einzulassen. Im obigen Beispiel leiten die Schüler mathematische Fragestellungen

aus einem Busfahrplan ab. Hier steht im Vergleich zur Arbeit mit der Vokabelkartei das diagnostische Potenzial der Aufgabe im Vordergrund. Die Aufgabe steht am Beginn der Arbeit mit einer neu zusammengesetzten Klasse, die auch der Lehrer noch nicht gut kennt:

Vorteile (Beispiel 4):

Nachteile (Beispiel 4):

 Alle Schüler können gleich lange sinnvoll arbeiten.  Die Differenzierung entsteht aus der Aufgabenstellung heraus. Ich brauche keine gesonderte Vorbereitung für einzelne Schüler vorzunehmen.

 Die Informationen, die ich über das Lernen der Schüler auf diese Weise generiere, müssen auch an anderer Stelle sinnvoll von mir verarbeitet werden.

3 Der Schüler meint: Wie viele Fahrzeuge müssen auf der Linie insgesamt im Einsatz sein?

Karin Kress: Binnendifferenzierung in der Sekundarstufe – Das Praxisbuch © Auer Verlag – AAP Lehrerfachverlage GmbH, Donauwörth

Antwort: Der Bus hält in einer Woche 312-mal an der Ruhr-Uni.

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Karin Kress: Binnendifferenzierung in der Sekundarstufe – Das Praxisbuch © Auer Verlag – AAP Lehrerfachverlage GmbH, Donauwörth

KAPITEL

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Vorteile:

Nachteile:

 Die Ergebnisse können in einer gemeinsamen Phase gesichert werden. Auch leistungsschwächere Schüler können ihre Aufgaben einbringen.  Während der Einzelarbeit können Sie erste Rechnungen bereits kontrollieren oder das Gespräch mit einzelnen Schülern suchen.  Die Schüler lernen durch den Vergleich mit anderen Schülern.  Die Schüler können ihr Maß an Kreativität und an mathematischen Fähigkeiten voll ausschöpfen und sind motiviert.  Die Schüler bearbeiten die mathematischen Phänomene intensiver als bei der bloßen Anwendung von Rechenwegen. Das Verständnis für Textaufgaben wird gefördert.  Die Aufgabe enthält einen direkten Lebensweltbezug.  Es entstehen kommunikative Anlässe. Neben der Leistungsdifferenzierung beinhaltet die Aufgabe also auch vielfältige Lernzugangsweisen. Sprachbegabte Schüler können ihre Stärke nutzen, um sich mathematische Inhalte anzueignen. Die Versprachlichung mathematischer Operationen wird bei allen Schülern gefordert.  An den Lösungen und Rechenwegen der Schüler kann ich erkennen, welche Lerninhalte in ihrem aktiven Vermögen stehen bzw. welche Missverständnisse sich eingeschlichen haben. (In der ersten Fragestellung des Schülers schreibt er die Rechnung gar nicht erst auf. In der zweiten überspringt er wichtige Informationsschritte.)  Nicht nur der Lehrer, sondern auch die Schüler sehen an ihren Arbeitsergebnissen, über welche Fähigkeiten sie verfügen. Ich kann die Ergebnisse als Anlass für ein Lerngespräch mit dem Schüler nutzen.

 Schüler möchten ein Feedback zu ihrer Arbeit, was bei großen Lerngruppen unter Zeitdruck oft zu kurz kommt und zu Frustrationen führen kann.  Je nach Atmosphäre in der Klasse haben leistungsschwächere Schüler evtl. Hemmungen, ihre Arbeitsergebnisse zu zeigen, weil sie einen „geheimen Lehrplan“ vermuten, in dem die gefundenen Aufgaben nicht gleichberechtigt nebeneinanderstehen.  Sehr leistungsstarke Schüler finden evtl. Aufgaben, die sich nicht in eine gemeinsame Weiterarbeit mit der Klasse integrieren lassen. Ich muss mir also überlegen, wie ich mit solchen Arbeitsergebnissen im Folgenden umgehen will.

Bei der Gegenüberstellung von Vor- und Nachteilen der jeweiligen Aufgabenbeispiele werden Sie vielleicht bei einzelnen Argumenten gedacht haben: Das kann man aber auch ganz anders sehen. Die Kombination von offenen und geschlossenen Aufgaben und die Entscheidung zwischen Zuweisung und Schülerwahl haben viel mit der eigenen

Unterrichtsführung, den konkreten Rahmenbedingungen vor Ort und der Einbindung der Aufgabe in die thematische Reihe zu tun. Vor- und Nachteile sind daher nicht absolut zu sehen, sondern allenfalls als Effekte, die entstehen, je nachdem, an welchen Stellschrauben ich im Unterricht drehe.

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