Grundzüge der historischen lateinischen Sprachwissenschaft E. Tichy/M. J. Kümmel, Sprachwissenschaftliches Seminar der Albert-Ludwigs-Universität

Bibliographie: Standardwerke Speziellere Werke sind über die genannten Titel auffindbar. Am Schluss steht in Klammern die in den Literaturangaben der Lektionen verwendete Abkürzung. Zur Einführung in die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft BEEKES, Robert S. P., 1995: Comparative  Indo‐European  Linguistics.  An  Introduction. Amsterdam / Philadelphia: Benjamins. (= BEEKES) FORTSON, Benjamin W. IV, 2004: Indo‐European Language and Culture: an Introduction. Malden (MA) / Oxford / Carlton: Blackwell. (= FORTSON) MEIER-BRÜGGER, Michael, 2002: Indogermanische Sprachwissenschaft. 8., überarbeitete und ergänzte Auflage der früheren Darstellung von Hans KRAHE. Unter Mitarbeit von Matthias FRITZ und Manfred MAYRHOFER. Berlin / New York: de Gruyter. (= MEIER-BRÜGGER) SZEMERÉNYI, Oswald, 1990: Einführung  in  die  vergleichende  Sprachwissenschaft. 4. durchgesehene Auflage. Darmstadt: WBG. (= SZEMERÉNYI) TICHY, Eva, 2009: Indogermanistisches Grundwissen für Studierende sprachwissenschaftlicher Disziplinen. 3. Auflage Bremen: Hempen. (= TICHY) Historische Grammatiken des Lateinischen LEUMANN, Manu, 1977: Lateinische Laut‐ und Formenlehre. (Handbuch der Altertumswissenschaft 2. Abteilung, 2. Teil: Lateinische Grammatik von LEUMANN-HOFMANN-SZANTYR, 1. Band). Neuausgabe. München: C. H. Beck. (= LEUMANN) MEISER, Gerhard, 1998: Historische  Laut‐  und  Formenlehre  der  lateinischen  Sprache. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. (= MEISER) SIHLER, Andrew L., 1995: New Comparative Grammar of Greek and Latin. New York / Oxford: Oxford University Press. (= SIHLER) SOMMER, Ferdinand, 1914: Handbuch der lateinischen Laut‐ und Formenlehre. Eine Einführung in das  sprachwissenschaftliche Studium des Lateins. 2. u. 3. Auflage, Heidelberg: Winter. (= SOMMER). WEISS, Michael (2009): Outline of the Historical and Comparative Grammar of Latin. Ann Arbor: Beech Stave Press. Addenda & Corrigenda: http://ohcgl.blogspot.com/ Etymologische Wörterbücher ERNOUT, Alfred / MEILLET, Antoine, 1959, 1960: Dictionnaire étymologique de la langue latine. Histoire  des mots. 4ème édition, 4ème tirage … 2 Bde. Paris: Klincksieck. (= ERNOUT-MEILLET) WALDE, Alois / HOFMANN, J. B., 1938, 1954: Lateinisches etymologisches Wörterbuch. 3. neubearbeitete Auflage. 2 Bde. Heidelberg: Winter. (= WALDE-HOFMANN) DE VAAN,

Michiel, 2008: Etymological Dictionary of Latin and the other Italic languages. Leiden/Boston: Brill. (= DE VAAN)

Leitfragen: 1. Wie erfährt man etwas über die Vorgeschichte und ursprüngliche Bedeutung lateinischer Wörter? 2. Welche Darstellung der historischen Lautlehre des Lateinischen ist wissenschaftlich aktuell? 3. Welches Handbuch behandelt außer Laut- und Flexionslehre auch die lateinische Wortbildung?

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1. Der sprachhistorische Rahmen 1.1 Das Lateinische stammt nicht vom Griechischen ab Beide Sprachen sind allerdings miteinander verwandt, und zwar als „Schwestersprachen“ innerhalb der sogenannten indogermanischen (idg.) oder indoeuropäischen (ie.) Sprachfamilie, die u. a. auch die germanischen Sprachen und damit das Deutsche umfasst. Die wesentlichen idg. Sprachzweige sind (geographisch von Osten im Uhrzeigersinn): †Tocharisch: A (Ost-), B (West-) Indoiranisch: a) Indoarisch: Altindisch (Vedisch, Sanskrit) > Mittelindisch > Hindi etc. b) Iranisch: Avestisch, Altpersisch > Neupersisch, Kurdisch etc. Armenisch †Anatolisch: Hethitisch, Palaisch, Luvisch; Lykisch, Lydisch Griechisch Albanisch Italisch: Lateinisch (→ Romanische Sprachen), †Faliskisch, †Sabellisch: Oskisch, Umbrisch etc. Keltisch: †Gallisch, Irisch, Kymrisch (Walisisch), Bretonisch etc. Germanisch: †Gotisch, Nordisch, Englisch, Niederländisch, Deutsch etc. Baltisch: Litauisch, Lettisch, †Altpreußisch Slavisch: Russisch, Polnisch, Tschechisch, Bulgarisch etc. L SOMMER §2; MEISER §26; SZEMERÉNYI 9-13; BEEKES 17-30; TICHY §1.1; MEIER-BRÜGGER 18-39; SIHLER 2-12; FORTSON 8-11; (154-399).

Wesentliches Kriterium der Sprachverwandtschaft sind Entsprechungsreihen: z. B. (1) Nom. Sg. der Wörter für ‘Vater’ und ‘Mutter’ Tocharisch A pācar : mācar, B pācer : mācer

= altindisch (vedisch) pitā ́ : mātā ́ = jungavestisch pita : māta (neupers. pidar : mādar) = armenisch hayr : mayr = griechisch πατήρ patḗr : μήτηρ mḗtēr (→ modern patéras : mitéra) (= albanisch nur motrë ‘Schwester’!) = lateinisch pater : māter = altirisch athir : máthir (modern ['ahər] : ['mɑ:hər]) = altisländisch faðir : móðir = altenglisch fæder : mōdor = althochdeutsch fater : muoter (= balt. nur lit. mótė ['mo:tʲe:], lett. mãte ['ma:tɛ]) (= slav. nur aksl. mati, serbokr. mȁti, russ. mat')

L TICHY §1.2; MEIER-BRÜGGER 57-59.

Aufgrund regelmäßiger Entsprechungen in solchen Entsprechungsreihen können Stammbäume verwandter Sprachen erstellt werden, zunächst für bestimmte Laute (hier spricht man von Lautgesetzen) oder andere Merkmale. Man kann dann zumindest Teile der allen verglichenen Sprachen zugrundeliegenden Grundsprache (hier: Urindogermanisch) rekonstruieren, indem man eine wahrscheinliche Vorstufe aufstellt, aus der die bezeugten Resultate hergeleitet werden können, genau wie man aus den romanischen Sprachen das Lateinische rekonstruieren kann. 2

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Grundschema des Stammbaummodells am Beispiel des Anlauts von ‘Vater’: Uridg. *p-

Ved. Armen. Gr. Lat. Kelt. Germ. phppØfD. h. einem anlautenden p der meisten Sprachen entspricht arm. h, kelt. Null, germ. f. Die wahrscheinlichste Rekonstruktion ist *p, das im Arm. zu h wurde, im Kelt. geschwunden ist und im Germ. zu f wurde. Vereinfachtes Stammbaummodell mit Zwischengrundsprachen: Uridg.

Urindoiranisch

Uriranisch

Urgriechisch

Uritalisch

Ursabellisch

Urgermanisch

Ur-Latino-Falisk.

Vedisch Alt- Jungavestisch Altpersisch gr. Dialekte Umbrisch Oskisch Latein Faliskisch germ. Sprachen L MEISER §19-23; SZEMERÉNYI 14-28; BEEKES 2-4, 30f.; 54-62; TICHY §1.3-2.5; MEIER-BRÜGGER 57-63.

Unregelmäßige Entsprechungen und Wortschatzähnlichkeiten miteinander verwandter oder nicht verwandter Sprachen können durch sogenannte L e h n w ö r t e r entstehen, die aus einer fremden (meist Nachbar-)Sprache übernommen werden: (1) Regulär lat. v- : gr. β- : ved. g- (vgl. lat. veniō; osk. Perf. ben- < uridg. *gʷm̥ -i ̯e-, *gʷem- ‘kommen, gehen’, vgl. gr. βαίνω, ved. gam-) aber: lat. b- Å sabellisch b- < *gʷ- in lat. bōs ‘Rind’ ← Akk. Sg. ursabellisch *bōm (> umbr. bum) < uridg. *gʷṓm < voruridg. **gʷóu̯-m, vgl. gr. βοῦς mit dem homer. Akk. βῶν; ved. Nom. ́ = avest. gāuš, gąm; altir. bó; germ. *kō- > ahd. mhd. kuo > nhd. Kuh gáuṣ, Akk. gām (2) lat. t Å gr. θ in lat. tūs ‘Weihrauch’ Å gr. θύος n. aber regulär lat. f = gr. θ, ́ ai, russ. poln. z. B. lat. fūmus ‘Rauch’ (= gr. θυμ # ός ‘Mut’?) = ved. dhūmás ‘Rauch’, lit. Plural dūm dym < uridg. *dʰuh₂-mólat. fēcī ‘machte, habe gemacht’ ≈ gr. Aorist ἔ-θηκα; vgl. ved. dhā- ‘setzen, tun’; altengl. dōn, ahd. tuon; lit. dėt́ i, russ. det' usw. L MEISER §§7, 98,9; TICHY §1.6.

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1.2 Das Lateinische, die Sprachen Altitaliens und ihre Überlieferung 1.2.1 Die Geschichte des Lateinischen Die frühesten lateinischen Sprachzeugnisse stammen aus der 2. Hälfte des 7. Jh. v. Chr. Man kann die lateinische Sprachgeschichte heute folgendermaßen einteilen: 1. Frühlatein (vorliterarische Zeit)

bis ca. 240 v. Chr.

2. Altlatein

ca. 240 - ca. 150 v. Chr.

3. Vorklassisches Latein (bis Cicero)

ca. 150 - ~81 v. Chr.

4. Klassisches Latein: „Goldene“ Latinität bis zum Tode des Augustus

~ 80 v. - 14 n. Chr.

5. „Silberne“ Latinität bis zum Tode Trajans

14 - 117 n. Chr.

6. Archaisierende Periode bis zum Tode Marc Aurels 7. Spätlatein

117 - 180 n. Chr. 180 - 7. Jh. n. Chr.

8. Herausbildung der romanischen Einzelsprachen, Ende des Lat. als Umgangssprache; es bleibt als Kirchen-, Wissenschafts- und Verwaltungssprache erhalten (Mittel- und Neulatein) L SOMMER §7 Anm.; MEISER §1f.; MEIER-BRÜGGER 31-33; SIHLER 15-17.

1.2.2 Nachbarsprachen Außer dem reich bezeugten Lateinischen sind in Inschriften des antiken Italien auch zahlreiche andere Sprachen bezeugt. Nahe verwandt sind die anderen sogen. italischen Sprachen: Besonders 1) Faliskisch in Falerii (Cività Castellana) ca. 60 km nördlich von Rom, durch etruskisches Gebiet von Latium getrennt, 7.-2. Jh. Weiterhin 2) Sabellisch (Oskisch-Umbrisch) mit den folgenden Hauptzweigen: a) Oskisch (Samniten) in Samnium, Kampanien, Lukanien und Bruttium, 4. Jh. v. - 1. Jh. n. b) Umbrisch am mittleren Tiber (östl. Region Umbria), 6.-1. Jh. mit verwandten Dialekten südöstlich von Rom (Volskisch, Marsisch) c) Südpikenisch (Sabinisch) von der mittleren Adria bis in die Nähe von Rom; dazu dürften auch einige „präsamnitische“ Texte aus Kampanien gehören, 6.-4. Jh. und ferner 3) Venetisch in Venetien – Ferner stehen dem Lateinischen einige weitere verwandte (indogermanische) Sprachen: 4) Keltische Dialekte in Oberitalien: a) Lepontisch im Gebiet der lombardischen Seen b) Gallisch in der Po-Ebene 5) Messapisch (Illyrisch?) in Apulien und Kalabrien 6) Griechisch in Kolonien an den Küsten vor allem des Südens („Magna Graecia“) 7) Sikulisch in Ostsizilien – Zu den semitischen Sprachen zählt 8) Punisch (Karthagisch) in karthagischen Kolonien (Sardinien) – Sicher ebenfalls nicht idg., aber wahrscheinlich miteinander verwandt sind 9) Etruskisch von nördl. Roms bis zum Arno (Etrurien ~ Toskana) 10) Rätisch im Gebiet der mittleren Etsch L SOMMER §1; MEISER §1f.; MEIER-BRÜGGER 33f.; SIHLER 12-15.

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Grundzüge der historischen lateinischen Sprachwissenschaft E. Tichy/M. J. Kümmel, Sprachwissenschaftliches Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Leitfragen: 1. Nennen Sie die wichtigsten indogermanischen Sprachzweige!. 2. Was sind Entsprechungsreihen, und worüber geben sie Aufschluss? . 3. Was bedeuten die Zeichen =, < bzw. > und Å bzw. Æ zwischen Vergleichswörtern? 4. Was wird mit einem Stammbaummodell gezeigt? 5. Woran kann man erkennen, ob im Lateinischen ein Lehnwort vorliegt? Zwei Beispiele. 6. Von wann bis wann dauerte die als Altlatein bezeichnete Sprachepoche, und welche Epoche lag diesem unmittelbar voraus? 7. Welche sind die nächsten Nachbarsprachen des Lateinischen?

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2. Schreibung und Lautung 2.1 Die Schrift Alle Sprachen Altitaliens sind in Inschriften überliefert; verwendet werden Abkömmlinge eines "westgriechischen" (euböischen) Alphabets, meist spielt das Etruskische eine Vermittlerrolle. Das zugrundeliegende gr. Alphabet hatte die Zeichen (schematisiert, konkrete Formen weichen ab, unten die etruskische Transliteration): Α Β a b

Γ c

Δ Ε d e

F v

Ζ Η Θ Ι z h θ i

Κ Λ M N Ξ Ο Π Ϟ Μ Ρ k l m n s o p q ś r

Σ Τ Υ Χ Φ Ψ s t u xs φ χ

Das lateinische Alphabet wurde offensichtlich vor allem von den Etruskern übernommen und besaß zunächst die folgenden Zeichen (MEISER §38): A

B

C

D

E

F

Z

H

I

K

L

M

N

O

P

Q

R

S

T

V

X

C, K, Q standen allesamt für die Lautwerte k und g und wechselten ursprünglich nach dem folgenden Laut: vor e,i stand C, vor u stand Q, vor a K; schon früh wurde K weitgehend von C verdrängt. Das Zeichen F wurde zunächst für konsonantisches u gebraucht, in der Kombination FH für den (dem Gr. fremden) Laut f. Nachdem man für konsonantisches u dann bald das Zeichen V verwendete, konnte die Gruppe FH vereinfacht werden, so dass F nun alleine für f stand. Das Z ist nur in Alphabetreihen bezeugt und in seiner ältesten Funktion unklar (für stimmhaftes s [z] wird inschr. immer S geschrieben). In der ältesten Zeit wurde (wie im Etruskischen) linksläufig, rechtsläufig oder βουστροφηδόν (abwechselnd rechts- und linksläufig) geschrieben, bald setzte sich aber die rechtsläufige Schreibweise durch. Worttrennung fehlt häufig, kann aber durch Punkte geschehen (z. B. älteste stadtrömische Inschrift: ›SAKROS : ES|ED‹ sakros ezed ‘sacer erit’) Etwa um 250 v. Chr. wurde der Buchstabe G (als Abwandlung von C) für den bisher nicht von k unterscheidbaren Lautwert g erfunden (s. WACHTER, Altlateinische Inschriften, Bern 1987, §138-42) und trat an die Alphabetstelle des überflüssigen Z: A

B

C

D

E

F

G

H

I

K

L

M

N

O

P

Q

R

S

T

V

X

Ein Rest der früheren Schreibweise findet sich noch in der Abkürzung der Praenomina Gaius, Gnaeus als C., Cn. Cicero und Varro führten dann zur Schreibung gr. Wörter die Zeichen Y und (wieder) Z ein, so dass wir zu der bis auf weiteres endgültigen Alphabetreihe kommen: A

B

C

D

E

F

G H

I

K

L

M

N

O

P

Q

R

S

T

V

X

Y

Z

Ein teilweise archaisierender Reformversuch (u. a. mit Extrazeichen für konsonantisches u, ps) des Kaisers Claudius (persönlich!) blieb letztlich erfolglos und überlebte seinen Schöpfer nicht. Erst neuzeitlich ist die Differenzierung der Zeichen I und V in vokalisches I, U und konsonantisches J, V; noch im Mittelalter handelt es sich lediglich um formale Varianten. Die übliche Schreibung der lateinischen Texte mit differenziertem u und v ist von modernen Herausgebern eingeführt und nicht altüberliefert! L SOMMER §9; LEUMANN 1-15; MEISER §37-39f.; SIHLER 20f. Leitfragen: 1. Welche Sprachen, bzw. Schriftkulturen, vermittelten das Alphabet an Rom? 2. Welche Zeichen verwendete man im Frühlateinischen zur Wiedergabe der Laute k und g, und nach welcher Regel waren die Varianten verteilt?

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2.2 Synchrone Lautlehre des Lateinischen Lautinventar des (klassischen) Lateinischen: links die übliche Schreibweise der Laute (Phoneme), dahinter in Klammern die phonetische Realisierung in IPA-Lautschrift. L LEUMANN 15-23; LEUMANN §§17-22; MEISER §40-43; SIHLER 77f.; ALLEN, W. Sidney: Vox latina. A guide to the pronunciation of classical Latin. Cambridge 1965.

2.2.1 Vokale i [ɪ]

kurz e [ɛ]

o [ɔ] 

ī [i:]

u [ʊ]

lang ē [e:]

ō [o:]

ū [u:]

ā [a:] a [a] (Qualitätsunterschiede zwischen kurzen und langen Vokalen wie im Deutschen) Diphthonge: oe [ɔe̯] eu [ɛu̯] (fast nur in gr. Wörtern) ae [ae̯]

au [au̯]

2.2.2 Konsonanten Tenues Plosive Mediae (Aspiratae Frikative Nasales Liquidae

Labial p [p] b [b] ph [pʰ] f [f] m [m] Lateral Vibrant

Approximanten (Halbvokale)

u/v [w]

Dental t [t] d [d] th [tʰ] s [s] n [n] l [l ~ ł]2 r [r]

Palatal

Velar c [k] g [ɡ] ch [kʰ]

Labiovelar Glottal qu [kʷ] gu [ɡʷ] fast nur in gr. Lehnwörtern)

(ŋ [ŋ])1

i [j]

h [h]3

Wichtige Abweichungen von der heutigen deutschen Schulaussprache (bzw. typische Fehlerquellen für Deutschsprachige): − oe, ae, eu sind als Doppellaute o-e, a-e, e-u zu sprechen, nicht = ö, ä, oi. − Tenues sind immer unaspiriert, wie (z. B.) frz., ital., span. oder russ. − Doppelte Konsonanten (Geminaten) sind doppelt bzw. lang zu sprechen, mit Silbengrenze im Konsonanten, wie italienisch, vgl. z. B. ăg-ger gegenüber ă-ger − s ist immer stimmlos, auch im An- und Inlaut. − u/v ist bilabialer Halbvokal = engl. w (frz. ou in oui), (noch) nicht labiodentaler Frikativ wie engl. frz. v, dt. w; ebenso der zweite Bestandteil der Labiovelare.

1 2

3

Selbständig vor n (und m?), geschrieben g (agnus wohl = ['aŋnʊs]); sonst nur vor Velar g, c, qu. Ersteres (vorderes = unser l) im Anlaut, geminiert (ll) und vor ī ̆ (nicht vor ē!̆ ), letzteres (= velares, hinteres, „dark“ l wie z. B. engl.) sonst. Sehr schwach artikuliert und in der Volkssprache früh verschwunden.

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2.3 Silbenstruktur und Akzent Wörter gliedern sich in Silben, die aus einem oder mehreren Einzellauten bestehen und jeweils einen vokalischen Kern (Nukleus, Silbenträger) haben müssen. Enden sie auf Vokal, spricht man von offenen Silben, sonst von geschlossenen. Ein einzelner Konsonant nach Vokal gehört immer zur folgenden Silbe: a-ge-re, ha-bē-re, lū-cē-re, bei zwei oder mehr Konsonanten dagegen verteilen sich diese auf beide Silben (sie sind heterosyllabisch): ar-ma, nos-tra, ex-trā; auch Doppelkonsonanten werden auf beide Silben verteilt: mit-te-re, ag-ger. Eine Ausnahme machen Gruppen von mūta cum līquidā, also von Plosiv mit l oder r, in denen der Plosiv mit zur 2. Silbe gezogen werden kann (dann hat man eine tautosyllabische Gruppe): pat-rem oder pa-trem. Im Altlatein des Plautus und Terenz und für die klassischen Akzentregeln gilt letzteres sogar ausnahmslos. Für die Metrik und den Akzent ist es wesentlich, ob eine Silbe leicht (oder kurz) ist, also auf kurzen Vokal endet: ă-gĕ-rĕ, cŏ-quō, pă-ter, oder ob sie schwer (oder lang) ist, also entweder auf langen Vokal endet (Naturlänge): lā-tus, mā-ter, oder auf Konsonant (Positionslänge): ag-ger, ar-ma, can-tō. Im letzteren Fall bleibt der V o k a l trotzdem kurz, es ist daher irreführend, ihn mit Längezeichen zu schreiben. Auch vor silbenschließenden Konsonanten kann Langvokal stehen, diese eigentlich überlange Silbe wird aber dennoch wie eine einfache Länge gemessen: āc-tus, fōr-ma. Für die sprachliche Quantität wird auch der Begriff der More verwendet: Ein Kurzvokal hat eine More, ein Langvokal zwei Moren, ein Konsonant am Silbenende hat ebenfalls eine More. Als leichte (kurze) Silben gelten dann nur einmorige Silben, als lange Silben alle mit mindestens zwei Moren. L SOMMER §§161-165; LEUMANN §23; MEISER §13.

Bei der Akzentuierung von Wörtern werden bestimmte Silben hervorgehoben; dies kann durch höheren Atemdruck bzw. höhere Intensität geschehen oder durch eine Veränderung der Stimmlage, in manchen Sprachen auch durch Tonbewegungen. Für das Lateinische ist wie für das Deutsche wohl im wesentlichen eine Kombination aus beidem anzunehmen. Im klassischen Latein ist der Wortakzent im Prinzip automatisch geregelt und fällt nach dem Dreisilbengesetz auf die drittletzte Silbe, wenn die vorletzte Silbe leicht (einmorig) ist: iá-cĕ-re, génĕ-ris, sú-bĭ-tō, uó-lŭ-mus; pál-pĕ-bra, sonst auf die vorletzte Silbe: mŏ-lés-tus, ia-cḗ-re, uo-lū-́ men. Die Quantität der letzten Silbe spielt (anders als im Griechischen) keine Rolle: gé-ne-ră wie gé-ne-rī. Daher muss man die Quantität der Vokale in vorletzter Silbe wissen, um richtig betonen zu können. Für den Akzent zählen angehängte Wörter (Enklitika) wie -que, -ne mit, d.h. der Akzent kann sich dann gegenüber dem einfachen Wort verschieben: uí-rum → ui-rúm-que, -ne. Ausnahmen ́ > *audīit́ → audīt,́ *Valériī → Valérī; istūć e → istūć , gibt es bei Kontraktion oder Vokalverlust: audīvit *Sarsīnāt́ is → Sarsīnāś . Auch für griechische Wörter gelten im allgemeinen die lateinischen Regeln, es kommt daher zu Abweichungen von der griechischen Akzentstelle1. In einer vorklassischen Periode muss jedoch der Akzent jeweils auf der Anfangssilbe des Wortes gelegen haben, wie man an bestimmten Lautveränderungen erkennt. L SOMMER §§68-72; LEUMANN §§235246; MEISER §43.

1

Da im Deutschen bei griechischen Wörtern meist der lateinische Akzentsitz bevorzugt wird (s. LEUMANN ́ idēs gegenüber gr. Θουκυδίδης §241), kommt es zu Abweichungen wie deutsch Thukýdides ← lat. Thūcȳd

Thūkȳdídēs oder Homér ← lat. Homḗrus gegenüber gr. Ὅμηρος Hómēros (engl. ['hou̯mə(r)]). Vgl. auch ́ Paradígma ← lat. paradīgma gegenüber Parádigma ← gr. παράδειγμα parádeigma.

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Grundzüge der historischen lateinischen Sprachwissenschaft E. Tichy/M. J. Kümmel, Sprachwissenschaftliches Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Leitfragen: 1. Wieviele Vokale (d.h. Vokalphoneme) besitzt das Lateinische? 2. Worin besteht der Unterschied zwischen einfachem lat. g und Geminata gg, bzw. wie unterscheidet sich ager in der Aussprache und Silbenstruktur von agger ? 3. Wie wurde lat. l gesprochen, wie geminiertes ll ? 4. Wann ist eine Silbe offen, wann geschlossen, und worin besteht die Sonderstellung der Gruppe Muta cum liquida? 5. Welche Silben gelten für die lat. Metrik als leicht (als kurz)? 6. Welchen Regeln bestimmen den Wortakzent im klassischen Latein (und Altlatein), und welche Akzentregel galt zuvor (im Uritalischen und noch im Frühlatein)? .

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3. Diachrone Lautlehre 3.1 Vokale und Diphthonge: Hauptregeln Regel I: Die uritalischen Langvokale ā ē ī ō ū bleiben im Lateinischen in nahezu allen Stellungen erhalten. Sie können unter bestimmten Bedingungen gekürzt werden: − schon vorlat. vor Resonant (Nasal/Liquida/Halbvokal) + Konsonant (OSTHOFFS Gesetz, dadurch werden auch die Langdiphthonge gekürzt; MEISER §57,2) − altlat. im absoluten und durch t oder n gedeckten Auslaut in Zweisilblern mit kurzer erster Silbe: Iambenkürzungsgesetz (IKG), z. B. ĕgō > ĕgŏ; ămō > ămŏ. Gilt metrisch auch für Positionslängen: ădĕst = ∪∪ ! − im gedeckten Wortauslaut, wenn ein anderer Konsonant als -s folgt: amāt > amăt gegenüber amās. Die Kürzung vor -m ist wohl sehr früh, sonst fiel sie in die Zeit um 200 v. Chr. und ist bei Plautus noch nicht vollständig durchgeführt (MEISER §57,6). − im Hiat vor Vokal ("vocalis ante vocalem corripitur"): *dẹ̄u̯os > *dẹ̄os > dĕos > deus L SOMMER §§52, 54, 56, 58, 60, 84, 90; LEUMANN 53-55, 105-111; MEISER §44-48, 57.

Regel II: Die Behandlung der idg. Kurzvokale richtet sich nach dem frühlateinischen Anfangsakzent. In Erstsilben bleiben sie erhalten, sonst werden sie geschwächt (meist gehoben): B i n n e n s i l b e n h e b u n g (vereinfachtes Schema): Binnensilben

Endsilben

1. /_C$

2. /_$

1. /_r,n,m,CC#

2. /_d,s,t#

a

a

a

a

e i o u

e i u

e vor r/nach i i (Normalvertretung) u/i vor b p f m o nach Vokal vor ł u vor u̯ und velarem ł

e i o u

a vor r e

e i o

i (?) u

u

e i o u

i

u

L SOMMER §52, 53, 55, 57, 59, 74f., 89; LEUMANN 43-53, 79-90; MEISER §52-54.

Regel III: Die Diphthonge mit erstem Bestandteil a bleiben in Anfangssilben erhalten. Sonst wird fast immer monophthongiert, das Endergebnis ist gegen 150 v. Chr. erreicht. uridg. *ei ̯

urital. *ei ̯

frühlat. ei ̯

*oi ̯

*oi ̯

ei ̯ oi ̯

*ai ̯

*ai ̯

*eu̯ *ou̯ *au̯

alat.

(vor)klass.

ẹ̄ ›ei,e‹ > ī ̨

> ī

ai ̯ ei ̯

oe ›oi,oe‹ ų̄ ›oi,oe,ou,u‹ ai ̯ > ae ›ai,ae‹ ẹ̄ ›ei,e‹ > ī ̨

in Binnen-/Endsilbe oe nach Labial vor hinterem Vokal > ū sonst ae in Anfangssilbe > ī in Binnen-/Endsilbe

*ou̯

ou̯

ų̄ ›ou,oi,u‹

> ū

*au̯

au̯ ou̯

au̯ ų̄ ›ou,oi,u‹

au in Anfangssilbe > ū in Binnen-/Endsilbe

L SOMMER §61-66, 74; LEUMANN 60-73, 91; MEISER §44-48.

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Grundzüge der historischen lateinischen Sprachwissenschaft E. Tichy/M. J. Kümmel, Sprachwissenschaftliches Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Leitfragen: 1. In lat. Endsilben werden Langvokale vor Konsonant(en) fast immer gekürzt. Wann bleiben sie erhalten? 2. Was bewirkt das Iambenkürzungsgesetz, und unter welchen Bedingungen tritt es ein? Drei Beispiele. 3. Wie heißt und in welcher Weise wirkte das akzentabhängige Lautgesetz, durch das bei vielen lat. Verben in der Komposition mit Präverbien den Wurzelvokal verändert wird: faciō factus, aber afficiō affectus; teneō tentus gegenüber attineō attentus; dare datus, aber perdere perditus; cadere cāsus gegenüber occidere occāsus? Welche Vokale unterliegen diesem regelhaften Wechsel, welche nicht? 4. Welcher Laut liegt vor, wenn in altlateinischen Inschriften teils ei, teils e geschrieben ist, letzteres z.B. im Nom. Pl. m. ROMANE ? 5. Auf welche älteren Vokale bzw. Diphthonge kann klass. lat. ī (als Langvokal) zurückgehen. a) in allen Positionen (unkonditioniert),. b) in Mittel- und Endsilben? Erklären Sie das Nebeneinander von caedere caesus und occīdere occīsus.

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3.2 Synkope Bisweilen wurden Vokale in Binnen- und Endsilben so weit geschwächt, dass sie ganz wegfielen. Im absoluten Auslaut spricht man von A p o k o p e . Diese ist selten, vgl. aber dūc, dīc, fac < dūce, dīce, face, Pronominalformen wie hoc < hoc-ce, huic < alat. hoice sowie u̯iden neben restituiertem u̯idēs-ne. Sonst bezeichnet man den einzelsprachlichen Vokalausfall als S y n k o p e . Diese tritt in Endsilben regelmäßig ein bei Nominativen auf *-ris, *-ros, vgl. sacer < *sacerr < *sakers < *sakr̥s < sakros; ācer < *ācerr < *ākers < *ākr̥s < *ākris, aber auch in Erstsilbe bei ter < *tr̥s < *tris, vgl. gr. τρίς trís; außerdem nicht selten bei Nominativen auf *-tis, z. B. ars < *arts < *artis, und bei bestimmten Nominativen auf *-tos, z.B. damnās < *damnātos ‘verurteilt, verpflichtet’, Arpīnās ‘aus Arpinum’. In Binnensilben ist die Synkope weniger regelmäßig, vgl. aber gaudēre < *gāu̯idēre : gāu̯īsus; agellus < *agerlos < *agro-lo-; dexter < *deksiteros; pergō < *per-regō. L SOMMER §86; LEUMANN 92f., 95-99; MEISER §44-48.

3.3 Anaptyxe (oder Svarabhakti) Um das Sprechen von Konsonantengruppen zu erleichtern, kann ein Vokal eingeschoben werden. Im Lat. geschieht dies besonders zwischen Plosiv und l: pōclum > pōculum, *stablum> stabulum; *Herclēs > Herculēs oder *stablis > stabilis. Im Altlat. sind noch Formen wie piaclum (CIL I2 366) bezeugt. Doch geht nicht jedes spätere -ul-, -il- auf Anaptyxe zurück: in Deminutiva wie porculus liegt ein ursprünglicher Vokal vor: *porko-lo- zu porcus, ebenso in Siculus, Sicilia < *Sikolos, *Sikelia < gr. Σικελός, Σικελία. L SOMMER §87 LEUMANN 102ff.; MEISER §44-48.

3.4 Vokaldehnungen L a c h m a n n s Regel: Wenn auf alte *d, g (nur alte Plosive, keine Beispiele für b) ein t- oder s-Suffix folgt, wird kurzes e, a, o gedehnt, z. B. *ăg-tos > āctus von ăgere, *rĕg-tos > rēctus von rĕgere, *kădsos > *kāssos > cāsus von cădere, *măg-somos > *māksəmos > māximus gegenüber uĕctus von uĕhere, făctus von făcere usw. (i in uīsus dagegen wohl nach Perfekt uīdī wie umgekehrt sĕssus nach Perfekt *sezd-). E r s a t z d e h n u n g : Dehnung von Kurzvokalen bei Ausfall eines tautosyllabischen (zur selben Silbe gehörigen) Konsonanten, um die Silbenstruktur zu bewahren. Vgl. īdem < *iz.dem < *is-dem; sēdecim < *segz.dekem < *seks-dekem; pōnō < *poz.nō < *po-sinō (vgl. PPP po-situs); sīdō < *siz.dō < *si-sd-ō (redupliziert wie gr. ἵζω hizdō); ē-dūcō < *egz.dūcō < *eks-dūcō. Ursprünglich war dies auch der Fall bei n vor f oder s: Das n fiel aus, dabei wurde der Vokal gedehnt und nasaliert. Altlateinische Inschriften schreiben oft kein n, vgl. cosol, cesor, cosoleretur und die beibehaltene Abkürzung cos(s). Auch die Volkssprache hatte kein n, daher fehlt es in allen romanischen Sprachen, vgl. ital. mese, sposa. In der Gebildetensprache wurde das n (nach der Schrift) aber später wieder eingeführt, daher die Aussprache dēnsus, īnferus, cōnsul. L SOMMER §83; LEUMANN 112ff.; MEISER §44-48.

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3.5 Qualitative Veränderungen der Kurzvokale in Erstsilben o wurde schon uritalisch zu a a) in offener Silbe vor u̯ (außer wenn schon idg. betont): *kou̯éi ̯ō > *kau̯eō > lat. caueō ‘hüte mich’, aber *óu̯is > lat. ouis b) nach m- in offener Silbe: *mori > mare e wurde danach, aber noch uritalisch generell vor u̯ zu o: *neu̯os > *nou̯os > lat. nouos > nouus e wird vor velarem n [ŋ] zu i: tingō = gr. τέγγω téngō; dignus = [diŋnus] < *dek-no-s zu decet. e wird vor hinterem l in offener Silbe zu o ‘verdumpft’: oleum, olīua < *e.lai.u̯om, *e.lai.u̯a von gr. ἔλαιϝον, ἐλαίϝα; u̯olō, u̯olēs < *u̯e.lō, *u̯e.lēs (vgl. uelle, uelim mit erhaltenem e vor vorderem ll, li). In geschlossener Silbe entwickelt sich o vor hinterem l weiter zu u: u̯ult < u̯olt < *u̯elt; multa ‘Strafe’ < alat. molta (CIL I2 366); sulcus < *solkos, vgl. gr. ὁλκός holkós. Umgekehrt wurde o zwischen u̯ und r, s, t im 2. Jh. zu e: u̯ertit < u̯ortit, u̯estra < u̯ostra, u̯etō < u̯otō. L SOMMER §53, 57, 77; LEUMANN 45-50; MEISER §44-48, §??; B. VINE, HS 119, 2006, 211-249. Leitfragen: 1. Wie sind die Termini Apokope, Synkope, Anaptyxe definiert? 2. Erklären Sie, weshalb o-Stämme mit Stammauslaut -ro-, also Akk.Sg. auf -rum (z.B. puerum), im Nom.Sg. nicht auf †-rus ausgehen, wie man eigentlich erwarten sollte. 3. Was versteht man unter Ersatzdehnung, und unter welchen Bedingungen tritt sie normalerweise ein? 4. Weshalb heißt es im Lateinischen einheitlich noster, aber je nach Autor uoster oder uester ? .

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3.6 Konsonanten 3.6.1 Urindogermanisches System Im Indogermanischen gab es fünf Plosivlautreihen und drei Artikulationsarten: Labial

Dental

Palatal

Velar

Labiovelar

Tenuis (stimmlos)

*p

*t

*k̑

*k

*kw

Media (stimmhaft)

*b

*d

*g̑

*g

*gw

Media aspirata (stimmhaft-aspiriert)

*bʰ

*dʰ

*g̑ʰ

*gʰ

*gwʰ

Tenues aspiratae (stimmlos-aspiriertes *pʰ usw.), wie man sie früher ansetzte, sind wohl erst spät durch die Einwirkung von Laryngalen (s. 5.) aus Tenues entstanden; jedenfalls können sie für das Lateinische vernachlässigt werden. Kentum-/Satemsprachen Die drei Tektalreihen (Palatale, Velare, Labiovelare) sind in dieser Form nirgendwo erhalten, einzelsprachlich sind (meist) jeweils zwei Tektalreihen zusammengefallen: „Kentumsprachen“: *k̑ und *k > *k gegenüber *kw heth. toch. gr. ital. kelt. germ. „Satemsprachen“: *k und *kw > *k gegenüber *k̑ (> tś/ś/ts/s/θ) iir. balt. slav. Kennwort: ‘hundert’ im Lateinischen und Avestischen: centum vs. satəm L SOMMER §91; 107; LEUMANN 26f., 146-48; MEISER §27,1; 3; MEIER-BRÜGGER 115-117, 120f.; SIHLER 136-138; 151-157.

3.6.2 Die lateinische Entwicklung der Plosive Die Tenues p, t, k, kʷ und die Mediae b, d, g blieben grundsätzlich erhalten (gʷ jedoch nur nach Nasal, sonst dafür u̯ oder g). Die Mediae aspiratae wurden im Italischen (außer nach Nasal) zu Frikativen, im Anlaut stimmlos, im Inlaut stimmhaft. Im Lateinischen entwickelten sich die inlautenden stimmhaften Frikative β, ð weiter zu den Plosiven b, d; auch ɣ wurde neben Konsonant zu g, intervokalisch jedoch (wie auch im Anlaut vor Vokal) zu h. Schematisch: *bʰ

idg.

*dʰ

*gʰ

*gwʰ vor *u, mit u̯

*f-/β (mb)

urital.

lat.

f-

b

*f-/ð (nd)

*x-/ɣ (ŋg)

f-

h**, g

d, b*

*f-/ɣw (ŋgw)

f-

u̯, g*** (ngw)

*) b in Kontakt mit r, l, u/u̯ **) h im Anlaut vor Vokal, im Inlaut zwischen Vokalen ***) g vor Konsonant L  SOMMER §104-110, 112-14; LEUMANN 146-48; 150f., 154-56, 158f., 163-171; MEISER §27,1; §73f.; MEIERBRÜGGER 117, 120f.; SIHLER 136f.; 139-41; 146-149; 151f.; 158f.; 161-165.

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Sonderentwicklungen der Labiovelare a) *kw > k vor Konsonant: coquere, coquit, aber coxī coctum auch vor ursprünglichem *i ̯ (> lat. i): colliciae ‘Kehlrinne auf dem Dach’ < *-likʷ-i ̯ā- : liquēre (gegen MEISER §72,7 nicht auch vor altem Vokal *i; das einzige Beispiel wäre socius zu sequī, das aber auf *sokʷ-i ̯o-s zurückgehen dürfte) b) *kw > k vor ō,̆ ū:̆ vor ō:̆ colō, incola, aber inquilīnus ‘Mieter’, alle < *(-)kʷel- (o < e nur vor velarem l) cottīdiē, cum ‘als, wenn’, aber analogisch quot, quō usw., auch *coius > cuius usw. gegenüber alat. quoius *sekondos > secundus zu sequitur (aber für Plural *secuntur analogisch sequontur) *cocos > vulgärlat. cocus (Appendix Probi) > it. cuoco (analogisch coquos > coquus) coquere > afrz. cuivre; analogisch nach *cocō, *cocunt → *cocere > it. cuocere, (a)frz. cuire vor ū:̆ secūtus, locūtus zu sequī, loquī quercus, aber querquētum c) *gʷ > g

vor Konsonant: grātēs ‘Dank’, grātus ‘willkommen’, vgl. osk. Gen. Sg. braateís ‘des Gunsterweises’, alles aus italisch *gʷrā-t° < *gʷr̥H-t° (mit Laryngal, s. 4.3), vgl. ved. gūrtí- ‘Lob’, gūrtá- ‘begrüßt’ < *gwr̥H-ti-, *gwr̥H-tó-

d) *gʷ > u̯ vor Vokal (außer nach Nasal), ebenso intervokalisch *gʷʰ > *ɣw > u̯ u̯eniō = gr. βαίνω < *gʷm̥ -i ̯ō zu *gʷem-, ved. gam-, ahd. queman ‘kommen’ niu̯em = gr. νίφα < *snigwʰ-m̥ , vgl. ahd. snēw-, russ. sneg < *snoi ̯gwʰoanders ningu̯it < *sni-n-gwʰ-; nix < *nig-s < *snigwʰ-s (mit Stimmtonassimilation) e) Sabellische Lehnwörter im Lat. haben Labial für ursprünglichen Labiovelar: lupus (nicht †luquos/lucus oder †uolquos/uolcus) ← sabell. lupo- < *lukwo- ~ gr. λύκος; ved. vr̥ḱ as, got. wulfs = ahd. wolf < *u̯lk̥ ́ wos entlehnt auch popīna neben echtlateinischem coquīna bōs bou̯is (nicht †u̯ūs, †u̯ou̯is) ← sabell. *bō-, *bou̯- (umbr. Akk. Sg. bum) ~ gr. βοῦς βο(ϝ)ός; ved. gáu-ṣ gā-́ m gáv-e; ahd. kuo < *gwóu̯-/*gwṓ-/*gwéu̯L SOMMER §104-110; LEUMANN 148-51, 153f., 156-58; MEISER §72; SIHLER 139; 145-147; 157; 161f.

3.6.3 Der alte Frikativ (Sibilant) s im Lateinischen s blieb im Prinzip erhalten, doch gemeinitalisch inlautend in stimmhafter Umgebung > [z], lat. geschrieben s: inschr. Vetusia ‘Ueturia’; iouesat ‘iurat’, gramm. fesias ‘ferias’ Im 4. Jh. dann frühlat. z > alat. r zwischen Vokalen, Schreibung 312 vom Zensor Appius Claudius offiziell eingeführt: Valerii, Furii. genus : generis < *genos : *genez-es, vgl. gr. γένος : (γένους) γένεος < *génos : *géneh-os gerō : gestus < *gez-ō : *ges-tos Ausnahme: vor folgendem r blieb s dissimilatorisch erhalten, vgl. miser Auslautendes -s wurde im Alat. nur schwach artikuliert: inschr. nationu, aidile, Fourio = nationus, aedilis, Furius; erzeugt in der Metrik z.T. keine geschlossene Silbe: Quintu(s) pater Enn. ann. 295 L SOMMER §9,2 Anm.; LEUMANN 159-162 § 165 a, b, g β; SIHLER 168f.; 172f.

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3.6.4 Gewöhnliche Entsprechungen der lateinischen Konsonanten lat.

idg.

gr.

nhd.

ved.

p

*p

π

f

p, ph

d

t, th

h

k, c, ś, kh

centum, ἑ-κατόν , hundert, śatám

w, (h)

k, c

quis, τίς, wer, kás/cid

b t d c g qu f-

*b *bʰ *t

*d *dʰ

*k, *k̑

*g, *g̑ *gʰ, *g̑ʰ *kʷ

*dʰ*bʰ*gʷʰ-

β φ τ δ θ κ γ χ (κ) π, τ θ- (τ-) φ- (π-) θ-, φ- (π-, τ-)

pf, f(f) b z, ss t k, ch g

dē-bilis, βέλ-τερος, --, bálanebula, νεφέλη, nebel, nábhas-

d dh

decem, δέκα, zehn, dáśa  uidua, ἠ-ίθεος, witwe, vidhávā

g, j [dʑ] gh, h

tbb-

dh- (d-) bh- (b-) gh-, h- (g-, j-)



β, δ φ, θ ϝ>Ø

qu-, k, ch g, w w

h

*gʰ, *g̑ʰ

χ

g

gh, h

s

*s

h, σ

s

s, ṣ

l

m n i̯

*r *-s*l

*m *n *i ̯

ρ *-hλ μ ν ζ-, h-

pater, πατήρ, vater, pitā ́

b bh

*gʷ *-gʷʰ*u̯

r

Beispiele

g, j gʰ, h (g, j) v

trēs, τρεῖς, drei, tráyas

iugum, ζυγόν, joch, yugám angō, ἄγχω, eng, áṃhas-

faciō, τίθημι, tun, dádhāti ferō, φέρω, ge-bären, bhárati formus, θερμός, --, gharmá-

uīuos, βίος, queck-, jīvániuem, νίφα, -- snehauīcus, οἶκος, weich-bild, véśa-

hiems, χιών, -- hímāuehō, ϝεχετω, be-wegen, váhati septem, ἑπτά, sieben, saptá

r -r(-), -s(-)

r, l -s-, -ṣ-

ruber, ἐρυθρός, rot, rudhirágeneris, γένεος, (kälb-er), jánas‐

m

m

mortuus, ἄ-μβροτος, mord, mr̥tá-

y

iugum, ζυγόν, joch, yugám

l

r, l

n

n

j-

lingere, λείχω, lecken, reh-/lehnox, νύξ, nacht, náktam

Leitfragen: 1. Wie lassen sich lat. nix, niuis und das Nasalinfixpräsens ninguit auf eine gemeinsame Grundlage beziehen (aus einer gemeinsamen Wurzel ableiten), und worauf beruhen die lautlichen Unterschiede? 2. Lat. bōs geht auf das gleiche idg. Wort zurück wie dt. Kuh. Weshalb muss es im Lateinischen ein Lehnwort darstellen, und aus welcher Sprache ist es wahrscheinlich entlehnt? 3. In welcher Position kann ein lat. r auf frühlat. z (geschrieben s) zurückgehen? Drei Beispiele, in denen anstelle von späterem r noch s geschrieben ist. Mit welchem Terminus bezeichnet man diesen Lautwandel, und wann war er spätestens abgeschlossen? 4. (Anlautendes) f- wurde im Italischen neu entwickelt. Welche Laute entsprechen diesem Frikativ in griechischen Vergleichswörtern, und welche uridg. Laute liegen zugrunde? Jeweils ein Beispiel, insgesamt drei. 5. Weshalb ist es ausgeschlossen, dass lat. deus und gr. θεός miteinander etymologisch verwandt sind?

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4. Morphologie I: Morphonologie (Lautstrukturen und -wechsel) Morphologisch bedingte Lautveränderungen und Alternationen kann man mit sogenannten morphonologischen (morphophonemischen) Regeln beschreiben. Meist sind sie durch die Wirkung älterer Lautgesetze zu erklären. 4.1 Wortstruktur Wörter altidg. Sprachen bestehen normalerweise aus den folgenden Elementen: (Präfix +) (Reduplikation +) Wurzel (+ Primärsuffix) (+ Sekundärsuffix) + Endung Beispiele: lat. ac-cip-i-ā-tis = Präfix + Wurzel ‘nehmen’ + Präs.-Suffix + Modussuffix + Endung 2. Pl. lat. me-min-er-ī-s = Redupl. + Wurzel ‘denken’ + Perf.-Suffix + Modussuffix + Endung 2. Sg. lat. spec-tā-tōr-ēs = Wurzel ‘schauen’ + Verbalsuffix + Nominalsuffix + Endung Nom. Pl. L TICHY 42-46.

Die Grenzen der Elemente sind in den Einzelsprachen allerdings oft „verdunkelt“ und können nur auf einer früheren Sprachstufe erkannt werden. Beispiele: lat. ag-er < *ager-s < *agr̥-s < *ag-ro-s = Wz. ‘treiben’ + Nominalsuffix + Endung Nom. Sg. lat. lātrīna < lau̯-ā-trī-na = Wz. ‘waschen’ + Verbalsuffix + Nominalsuffixe + Endung Ø lat. cōg-i-t < *ko-ag-e-ti = Präfix + Wz. + Verbalsuffix (Themavokal) + Endung 3. Sg. 4.2 Ablaut Als Ablaut bezeichnet man den morphologisch geregelten Wechsel im Vokalismus indogermanischer Wortformen, und zwar von *ē ̆ mit *ō̆ oder Null. Zu unterscheiden sind demnach folgende Ablautstufen (C = beliebiger Konsonant; R = r/l/m/n; U̯ = i ̯/u̯): e-Vollstufe CeC

CeRC

CeU̯ C

o-Vollstufe CoC

CoRC

CoU̯ C

Nullstufe CC

CR̥ C

CUC

e-Dehnstufe CēC

CēRC

CēU̯ C

o-Dehnstufe CōC

CōRC

CōU̯ C

Ursache für den Wechsel ist teilweise der uridg. Akzent (erkennbar vor allem im Vedischen und Griechischen): im akzentuierten Wortelement (Wurzel, Suffix) blieb vor-uridg. *e erhalten (eVollstufe), sonst schwand es (Nullstufe): z. B. gr. Akk. πα-τέρ-α : Gen. πα-τØρ-ός; Präsens πείθ-ο-μαι : Verbaladjektiv πØισ-τό-ς; lat. Präsens ūrit < *ou̯zet < *h₁éu̯s-e-ti = ved. óṣ-a-ti : PPP ustus < *h₁Øus-tó-s = ved. uṣ-ṭá-s. Schwieriger ist die Erklärung der o-Vollstufe („Abtönung“) und der Dehnstufen (die aber wohl wirklich auf Dehnungen beruhen). L SOMMER §48; LEUMANN 36-38; TICHY 30-33; SIHLER 129-131.

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Im Lateinischen ist der Wechsel oft undeutlich geworden; es ergibt sich z. B. e-Vollstufe o-Vollstufe Nullstufe *teg- ‘bedecken’ e: tegō o: toga *leg̑- ‘sammeln’

e: legō gr. λέγω

gr. λόγος

*bʰei ̯dʰ- ‘vertrauen’

ei ̯ > ẹ̄ > ī: fīdō gr. πείθομαι

oi ̯ > oe/ū: foedus gr. πέποιθα 

*bʰeu̯g- ‘fliehen’

ou̯ > ū: fūgī gr. φεύγω

*prek-̑ ‘fragen’

re: precor

*ph₂-tér- ‘Vater’

Vok. pa-ter gr. πάτερ

Dehnstufe ē: tēgula ē: lēx   

i: fidēs gr. ἐπιθόμην, πιστός u: fugiō gr. ἔφυγον

ro: procus

*r̥ > or: *por(k)skō > poscō

gr. εὐ-πάτορα

pa-tr-is gr. πατρός

Nom. alat. patēr gr. πατήρ

L SOMMER §48-51; LEUMANN 29-36; MEISER §29; TICHY 30-33; SIHLER 108-111; 113-118.

4.3 Laryngaltheorie Manche Wurzeln und andere Elemente zeigen anstatt morphologisch erwarteter e-Vollstufe abweichenden Vokalismus: *a, *o, *ē, *ā, *ō. Eine einheitliche Erklärung unter Einschluss auch dieser Ablautreihen ergibt sich durch die schon 1878 von Ferdinand DE SAUSSURE begründete und später durch das neugefundene hethitische Material bestätigte Laryngaltheorie. Als „Laryngale“ (eig. „Kehlkopflaute“, Symbol H) werden bestimmte Konsonanten bezeichnet, die für das Urindogermanische rekonstruiert werden, aber in den meisten Einzelsprachen geschwunden sind und nur bestimmte Wirkungen hinterlassen haben. Es handelte sich wohl um Frikative, deren Artikulationsort vom hinteren Mundraum bis zum Kehlkopf zu suchen ist. Die Anzahl der uridg. Laryngale war lange umstritten; heute setzt man in der Regel drei Phoneme an, deren phonetische Bestimmung nur z.T. gelungen ist. Die Laryngale zeigen jeweils Affinität zu bestimmten Vokalen, daher die Laryngal-„Farben“: *h₁ – e, *h₂ – a, *h₃ – o *h₁ = [h], [ç] („ich-Laut“) oder [ʔ] („Knacklaut“) *h₂ = [χ] („ach-Laut“) *h₃ = [ʁ] (~ unser hinteres r) L MEISER §28,6-8; 76f.; TICHY 25; SIHLER 111f., 165-168. 4.3.1 Die wesentlichen Lautgesetze für Laryngale a) Laryngalumfärbung: bei unmittelbarem Kontakt wird voruridg. **e > uridg. *e/a/o **eh₁ > *eh₁ **eh₂ > *ah₂ **eh₃ > *oh₃

**h₁e > *h₁e > lat. e **h₂e > *h₂a > lat. a **h₃e > *h₃o > lat. o

b) Laryngalschwund vor Konsonant (C) und im Wortauslaut mit Ersatzdehnung *eh₁C > ēC

*ah₂C > āC *oh₃C > ōC

c) Laryngalvokalisierung zwischen Konsonanten gr. *Ch₁C > CεC *Ch₂C > CαC *Ch₃C > CοC lat. (wie in vielen anderen Sprachen) *CHC > CaC iir. *CHC > CiC oder CC: ved. pitā ́ = altavest. ptā gegenüber gr. πατήρ 18

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d) Entwicklung der Gruppen *n̥ (entsprechend m̥ , l ̥, r̥) + Laryngal vor Konsonant gr. *n̥h₁C > νηC *n̥h₂C > να#C (> ion.-att. νηC) lat. *n̥HC > nāC 

*n̥h₃C > νωC

e) Laryngalvokalisierung im Anlaut: gr. „prothetische“ Vokale gr. *h₁C- > ἐC*h₂C- > ἀC*h₃C- > ὀC-, vgl. armenisch *HC- > aClat., iir. und sonst *hxC- > C-, vgl. stēlla gegenüber gr. ἀστήρ, arm. astł f) Aspirierende Wirkung von *h₂ (iir., ausnahmsweise auch gr.) Endung der 2. Sg.Ind./Inj.Perf. *-th₂a/-th₂ai ̯ > gr. -θα, ved. -tha, lat. -(is)tī, heth. -tte g) Spurloser Laryngalschwund (einzelsprachlich, wo nichts anderes gilt). L RIX 68-76; MEISER §76f.; TICHY 26-28; SIHLER 38f., 42, 44f., 48f.; 98-106.

4.3.2 Weitere Auswirkungen für die Laut- und Formenlehre der idg. Grundsprache Es gab weder ein „Schwa indogermanicum“ *ə (> lat. a = iir. i) noch „lange Sonanten“ *n̥̄ usw., statt dessen jeweils *h1/2/3 (einzelsprachlich vokalisierter Laryngal) bzw. *n̥h1/2/3 usw. Außerdem sind die meisten einzelsprachlichen Langvokale auf ursprüngliche Verbindungen von Kurzvokal + Laryngal zurückzuführen. Es gab also (fast) keine Verbalwurzeln, die eine andere Struktur und einen anderen Ablaut hatten als C(C)eC(C) (Grundvokal *e, Einsilbigkeit), d. h. im Einzelnen a) keine Wurzeln mit anlautendem Vokal: Für *ag̑- ‘treiben’ in agō = gr. ἄγω ist *h₂ag̑- < **h₂eg̑- (~ h₂g̑-) anzusetzen Für *em- ‘nehmen’ in emō ist *h₁em- (~ h₁m-) anzusetzen; das reduplizierte Perfekt dazu hatte den schwachen Stamm *h₁e-h₁m- > lat. ēm- (vgl. 7.3.1.a und b) b) keine "langvokalischen" Wurzeln: Für *dō- ~ *də- ‘geben’ ist vielmehr *doh₃- < **deh₃- (~ dh₃-) anzusetzen: lat. dōnum = ved. dāń am < *dóh₃-no-m (7.3.1.b), mit anderem Suffix gr. δῶρον lat. datus = gr. δοτός < *dh₃-tó-s (7.3.1.c) c) keine "zweisilbigen" Wurzeln: Für *genē- ~ *genə- ~ *gnē- ‘erzeugen, gebären’ ist vielmehr *g̑enh₁- ~ *g̑n̥h₁- anzusetzen, also lat. genitor (< frühlat. *genatōr), gr. γενέτωρ, ved. jánitā < *g̑énh₁-tōr (7.3.1.c) ~ lat. (g)nātus, gr. -γνητος (κασί-), ved. jātás < *g̑n̥h₁-tó-s (7.3.1.d) Ähnlich *telh₂- ~ *tl ̥h₂- ‘aufheben’ (für *telā-), *sterh₃- ~ *str̥h₃- ‘ausbreiten’ (für *sterō-), also lat. lātus = gr. τλητός < *tl ̥h₂-tó-s (vgl. gr. τελα-μών ‘Tragriemen’) lat. strātus = gr. στρωτός < *str̥h₃-tó-s L RIX 36-39; TICHY 28-30; SIHLER 114, 118-128; 124-12. Leitfragen: 1. Aus welchen Elementen besteht die Form inacceptābilibus ? 2. Wie äußert sich in altlat. Inschriften und im klassischen Latein der Ablautunterschied zwischen e-Vollstufe (im Präsensstamm) und Schwundstufe (im PPP). a) bei einer Wurzel mit mittlerem i, z.B. *dei̯k̑- ? b) bei einer Wurzel mit mittlerem u, z.B. *deṷk- ? 3. Wie lassen sich genitor (= gr. γενέτωρ) und (g)nātus auf eine gemeinsame uridg. Verbalwurzel beziehen? 4. Inwiefern hat ēmērunt die gleiche morphologische Struktur wie pepulērunt ? (NB: -pul- < *-pol- < *pl̥-) .

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5. Morphologie II: Deklination (Nomen und Pronomen) 5.1 Nominalflexion I: deus/dīuus und die Flexion der o-Stämme Idg. *di ̯éu̯-/diu̯- ‘Himmel’ > ved. dyáuṣ, Gen. divás; gr. Ζεύς, Δι(ϝ)ός; lat. Dat. Di ̯ou̯-ei > I̯ou̯-ī war Grundlage einer Vr̥ddhi-Ableitung (wie *nu ‘jetzt’ Æ *n-é-u̯-o- ‘jetzig, neu’ > lat. nouos) idg. *d-e-i ̯u̯-ó- ‘zum Himmel gehörig, himmlisch; der Himmlische’ > ved. devá-, altirisch día, altnord. Týr, Pl. tívar (Gen. Sg. in altengl. Tīwes-dæg = mhd. zīstag), lit. diẽvas, frühlat. dei ̯u̯o-. Letzteres ergab durch lautgesetzliche Auseinanderentwicklung des Paradigmas im klassischen Latein zwei Wörter, deus und dīvus. Relevante Lautgesetze: 1. Schwund von u̯ vor ō:̆ dĕorsum < *dēu̯orsom [ĕ < ē durch Hiatkürzung], olĕum < *olẹ̄u̯om [ĕ < ẹ̄] lātrīna (aber lau̯āŕ e); *sẹ̄ u̯ēṣ > *sẹ̄s zweite betont war), die dann kontrahiert werden: *lau̯ātrīna > sīs (= sī u̯īs) L SOMMER §94,2; 6; LEUMANN 137f.; MEISER §63,2; 67,2-3; SIHLER 178-180.

Die Formen im Einzelnen Nom. Sg. m. *dei ̯u̯-ó-s > ved. dev-ás, vgl. gr. θε-ός > lat. *déi ̯u̯os > *dēụ́ ̯os > *dēọ́ s > dĕó s > deus vgl. inschr. duen-os > bon-us -os > -us ~ 250 v., nach u̯ verzögert, erst klassisch -VVS geschrieben Synkope des -o-, später Anaptyxe von -e- in altem -ros: frühlat. sakros > sacer Akk. Sg. m. *dei ̯u̯-ó-m > ved. dev-ám, vgl. gr. θε-όν > lat. *déi ̯u̯om > *dēụ́ ̯om > *dēọ́ m > dĕó m > deum vgl. *duen-om > bon-um; -o- > -u- in Endsilbe wie Nom. Sg. Gen. Sg. m. *dei ̯u̯-ó-si ̯o > ved. dev-ásya, vgl. gr. θε-οῖο/θε-οῦ > lat. *déi ̯u̯ozi ̯o > déi ̯u̯oi ̯i ̯o Æ (Endungsersatz) lat. *déi ̯u̯ī > dēụ́ ̯ī (ungleiche Vokale!) > dīu̯ī frühlat. Popliosio Valesiosio, später Titoio, Enn. ann. 120 Skutsch Metioeo Fūfetioeo; ebenso falisk. Kaisiosio, vgl. auch pronominal *kʷósi ̯o > *kʷózi ̯o > **quoi ̯i ̯o+s > cuius sonst lat. *-ī, belegt erst alat. seit dem 3. Jh. (inschr. Barbati) ebenso keltisch: gall. Segomari, air. firl (= lat. uirī) Ursprung in einer idg. Zugehörigkeitsbildung auf *-iH > *-ī, vgl. klass. compendī facere ‘(jdm.) etw. ersparen’ : compendium mit ved. mithunī ́ kr̥ ‘zu einem Paar machen’ : mithuná-m Dat. Sg. **dei ̯u̯-ó-ei ̯ > *dei ̯u̯ṓi ̯ > av. (vī-)daēuu-āi (Æ ved. dev-āý a), vgl. gr. θε-ῷ > lat. *déi ̯u̯oi ̯ Æ *dēọ̄́ > deō frühlat. inschr. numasioi, duenoi (> bon-ō), vgl. osk. húrtúí ‘horto’ Entwicklung zu kl.-lat. -ō nicht geklärt, Varianten je nach Folgelaut (Vokal/Konsonant)? Dat. auf *-ōi ̯ > -oi ̯ > -ō bleibt geschieden von Nom. Pl. auf -oi ̯ > -ẹ̄ > ī Abl. Sg. *dei ̯u̯-ó-ad > ved. dev-āt́ > lat. *déi ̯u̯ōd > *dēụ́ ̯ōd > *dēọ̄́ (d) > deō

frühlat. inschr. iouestod, fileod, alat. 186 v. in poplicōd, in preiuātōd, aber in agrō Teurānō -d schwand im 3. Jh., daher in der Literatur nicht reflektiert 20

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Lok. Sg. *dei ̯u̯-ó-i ̯ > ved. dev-é, vgl. gr. οἴκ-οι (relikthaft) > lat. -ei ̯ > -ẹ̄ > -ī nur Relikte: bellī domīque, Beneuentī etc.; Brundisiī unkontrahiert, da < -iẹ̄ Vok. Sg. *déi ̯u̯-e > ved. dév-a, vgl. gr. φίλ-ε im Lat. nicht fortgesetzt; zu erwarten *déi ̯u̯e > *dēụ́ ̯e > †dẹ̄ > †dī, wäre mit dem Nom. Pl. (= Vok. Pl.!) zusammengefallen; erst im christlichen Lat. verwendet und formal ersetzt durch Nom. deus (als ironische Nachahmung der Christen dee bei Tertullian) sonst lat. -e: amīce (aber fīlī < *fīlii ̯i < *fīlii ̯e) vgl. umbr. Tefre (Akk. Tefro) Nom. Pl. **dei ̯u̯-ó-es > *dei ̯u̯ṓs > ved. dev-āś (gr. θεοί nach pron. οἱ, dor. τοί < idg. *tói ̯) idg. Ausgang fortgesetzt in umbr. -us, -ur (ū < *ō); osk. gekürzt: Abellanús (ú = ŏ) lat. Endungsersatz nach dem Pronomen (wie gr.): *déi ̯u̯oi ̯ > *déi ̯u̯ei ̯ > *dēụ́ ̯ē ̣ > dẹ̄ > dī frühlat. poploe (Salierlied), alat. inschr. ploirume > plūrimī, foideratei ́ s t° (*-āns), vgl. gr. θε-ούς < -όνς Akk. Pl. *dei ̯u̯-ó-ms > aav. daēuu-ə̄ṇg, Æ ved. dev-āń ~ -āṃ > frühlat. deiuos /déi ̯u̯ōs/ > deōs, Länge des ō nach dem Nom. Pl. oder durch Ersatzdehnung; sicher *-ōns nach Nom. *-ōs in umbr. vitluf (verdeutlicht osk. feíhúss < *-ọ̄f + s) Gen. Pl. **dei ̯u̯-ó-om > *dei ̯u̯-ṓm, vgl. gr. θε-ῶν > lat. *déi ̯u̯ŏm > *dēụ́ ̯om > *dēọ́ m > dĕó m > deum; bei Ennius dīuum pater archaisierend für arch. dei ̯u̯om* nach Gen. Sg. *dei ̯u̯ī jünger deōrum (nach fem. deārum) -ōrum zuerst bei Adj. und Pron. in Analogie nach fem. -ārum (< pron. *-āsom, ved. -āsām) alat. inschr. Adj. duonorom; Subst. socium neben Pron. eōrum; noch klass. mīlle nummum Dat./Abl. Pl. *dei ̯u̯-ó-bʰos Æ ved. dev-ébhyas; im Ital. nur venet. -obos: louzeroφos ‘liberis’ Instr. Pl. *dei ̯u̯-ṓi ̯s > ved. dev-áiṣ, vgl. gr. θε-οῖς > lat. *déi ̯u̯oi ̯s > *déi ̯u̯ei ̯s > *dēụ́ ̯ēṣ > dẹ̄s > dīs frühlat. inschr. meois sokiois; liter. ab oloes ‘ab illis’ (Paul. Fest. 17 L.) vgl. osk. légatúís Núvlanúís ‘den Gesandten von Nola’, púst feíhúís ‘hinter den Mauern’ Lok. Pl. *dei ̯u̯-ói ̯-si/su > ved. dev-éṣu, vgl. gr. θε-οῖσι; mit Apokope ebenfalls > lat. *déi ̯u̯oi ̯s? So ergab sich für ‘himmlisch; Gott’ eine Flexion deus deum dīuī deō; dī deōs de(ōr)um dīs, so noch bei Plautus (nie deī, deīs). Zu *dei ̯u̯o- neugebildet Fem. lat. *dei ̯u̯ā- > *dẹ̄u̯ā- (inschr. deuas Corniscas CIL I2 975) > dīu̯ā-, zusammen mit Gen. Sg. mask. dīuī Ausgangspunkt des Adjektivparadigmas dīu̯us, -a, -um. Die übrigen Formen des Maskulinums ergaben zusammen mit dem neugebildeten Gen. Sg. deī (seit Cicero), Nom. Pl. deī (seit Catull) das Paradigma des Substantivs deus ‘Gott’. Von deus, deum aus wurde schon seit Plautus das substantivische Fem. dea neugebildet. Nom. Akk. Sg. n. (formal = Akk. Sg. m.) *néu̯-o-m > ved. náv-am gr. νέ-ον lat. nou̯om; vgl. inschr. manom, donom > donum Nom. Akk. Pl. n. *néu̯-a-h₂ > *néu̯ā > ved. náv-ā gr. νέ-α# lat. nou̯ă: form- und ursprungsgleich mit dem Nom. Sg. fem., der lat. Kurzvokal im Auslaut geht auf uridg. Laryngalschwund zurück (Variante vor Vokal und in Pausa) mit Länge dag. osk. prúftú-set ‘probata sunt’ (-ú = -o < *-ā) L SOMMER §190-203; LEUMANN 422-429; Gert KLINGENSCHMITT, Die lateinische Nominalflexion. In: Latein und Indogermanisch, ed. O. PANAGL/Th. KRISCH, Innsbruck 1992, 98-135; MEISER §94f.; SIHLER 256-265.

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Grundzüge der historischen lateinischen Sprachwissenschaft E. Tichy/M. J. Kümmel, Sprachwissenschaftliches Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Leitfragen: 1. Was ist die etymologische Ausgangsbedeutung von deus bzw. dīuus ? Das Grundwort der Ableitung (Ableitungstyp?) ist im Lateinischen erhalten; in welchen Paradigmen lebt es fort? 2. Durch welche beiden Lautgesetze schwand -ṷ- in der Weiterentwicklung von frühlat. dei̯ṷe/o-, und in welcher Form (welchen Formen) des Paradigmas blieb es erhalten? 3. Weshalb gibt es zu lat. deus keinen regulären Vokativ? 4. Weshalb tritt bei lat. Stämmen auf -ius im Gen.Sg. normalerweise Kontraktion ein (consilī), nicht dagegen im Nom.Pl. (flūuiī) und im Lok.Sg. auf -ī (Brundisiī)?

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5.2 Nominalflexion II: Die lateinische dritte Deklination und ihre Quellen Untertypen der lateinischen 3. Deklination a) konsonantische (Akk. Sg. -em, Abl. Sg. -e, Akk. Pl. -ēs, Gen. Pl. -um) und b) i-Stämme (-im, -ī, -īs, -ium); im Lat. weitgehend vermischt, besonders im sogenannten Mischtyp (-em, -e/-ī, -ēs, -ium). Nom. Sg. m./f. a) *-s > lat. -s: u̯ōx = u̯ōc-s, vgl. ved. vāḱ , avest. vāx-š ‘Stimme’, gr. νύξ < νύκτ-ς ‘Nacht’ *(-ē/ōR)-Ø > lat. hom-ō, pat-ēr > pater, vgl. ved. rāj́ -ā ‘König’, pit-ā ́ ‘Vater’, gr. τέκτ-ων, πατ-ήρ b) *-i-s > lat. turr-is, vgl. ved. agn-íṣ ‘Feuer’, gr. πόλ-ις ‘Stadt’ *-ē(i ̯)-ØÆ lat. -ē-s: aedēs, u̯ātēs, vgl. avest. kauu-ā ‘Seher’ < *kau̯-ā ́ (ved. kav-íṣ) Akk. Sg. m./f. a) *-m̥ > urit. *-əm > lat. -em: u̯ōc-em, vgl. ved. vāć -am, gr. νύκτ-α b) *-i-m > lat. turr-im (als Adverb auch noch partim), vgl. ved. agn-ím, gr. πόλ-ιν *-ei ̯-m̥ > *-eem > *-ēm > lat. -em: aedem, u̯ātem, vgl. avest. kauu-aēm < *kau̯-ái ̯-am [nicht mit MEISER schon uridg. *-ēm < **-ei ̯m!] Nom. Akk. Sg. n. ́ a, gr. γένος, ὄνομα a) *-Ø > lat. -Ø: genus, nōmen, vgl. ved. jánas, nām b) *-i-Ø > lat. -e oder -Ø (apokopiert): mar-e, animal, vgl. Adj. ved. śúc-i, gr. τρόφ-ι Gen. Sg. a) *-os = frühlat. alat. -os: Diouos > alat. -u(s): nationu(s), nominus, vgl. fal. Apolon-os, gr. νυκτ-ός *-es = frühlat. alat. -es: Veneres CIL I2 451 > alat. kl. -is: u̯ōc-is, vgl. ved. vāc-ás b) *-i-s (sonst nirgendwo bezeugt) in lat. turr-is? Vielleicht eher < *-es von Kons.-Stämmen, oder < *-i ̯-es, vgl. ved. ar-y-ás ‘des Fremden’? sabellisch dag. *-ei ̯-s > osk. -eís, umbr. -es, -er, vgl. ved. agn-éṣ [Dagegen nach P. Schrijver lat. -es übernommen aus sabin. -es < *-ei ̯s] Dat. Sg. a) *-ei ̯ > frühlat. -ei: recei, Mamartei > alat. -ẹ̄ : Marte(i), Ioue(i), uirtutei > kl. -ī: u̯ōc-ī, vgl. ved. vāc-ḗ, gr. myk. di-we = Διϝ-ει b) *-ei ̯-ei ̯ (vgl. ved. agn-áye) > *-eei ̯ > frühlat. *-ēi ̯ > *-ei ̯, weiter wie a: turr-ī Abl. Sg. a) Instr. *-eh₁ > *-ē, vgl. ved. vāc-ā,́ gr. myk. pod-e Æ (analogisch nach *-ōd) urit. Abl. *-ē-d > alat. ēd: [c]osoled, leged, aired, später ersetzt durch -e (ursprüngl. Lok.)

b) Instr. *-i-h₁ > *-ī, vgl. ved. ūt-ī ́ ‘mit Hilfe’ Æ urit. Abl. *-ī-d > frühlat. alat. -īd: opid, co[n]uentionid [Æ bouid bei Kons.-Stamm] > kl. -ī: turr-ī (Abl. instr. noch in der Formel ferrō ignī-que gegenüber sonstigem igne) Lok. Sg. a) *-i > lat. Abl. -e: u̯ōc-e, vgl. ved. Lok. vāc-í, gr. Dat.(-Lok.) νυκτ-ί b) *-ei ̯ > lat. Abl. -ī, lokativisch (an Konsonantenstämmen!) noch in rūrī ‘auf dem Lande’, temperī ‘rechtzeitig’; wohl urspr. aus *-ēi ̯, vgl. ved. agn-ā ́ ‘im Feuer’, gr. πόλ-ηι(?)

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Vok. Sg. a) *-Ø, vgl. ved. pítar, gr. πάτερ, lat. erhalten nur in Iūpiter/Iuppiter (auch Æ Nom.) < *Di ̯ou̯ pater, sonst ersetzt durch Nom. b) *-i-Ø ~ *-ei ̯-Ø, vgl. gr. πόλ-ι gegenüber ved. ágn-e, lat. immer ersetzt durch Nom. Nom. Pl. m./f. a) *-es > sabell. -s, z. B. osk. humun-s ‘homines’, vgl. ved. vāć -as, gr. νύκτ-ες; im Lat. (> †-is) ersetzt durch Ausgang der i-Stämme: u̯ōc-ēs b) *-ei ̯-es > *-ees > lat. -ēs: turr-ēs, vgl. ved. agn-áyas, gr. πόλ-εες > πόλ-εις Akk. Pl. m./f. a) *-m̥ s > *-n̥s > urit. *-əns > lat. -ēs: u̯ōc-ēs, vgl. ved. vāc-ás, gr. νύκτ-ας

́ b) *-i-ms > *-i-ns > lat. -īs: turr-īs, vgl. ved. agn-īń < agn-īṁṣ, gr. hom. πόλ-ῑς, kret. πόλ-ινς

Nom./Akk. Pl. n. a) *-h₂ > lat. -a: gener-a, nōmin-a, ́ ān-i, gr. γένε-α > γένη vgl. ved. jánāṃs-i, nām

b) *-i-h₂ (> lat. †-ī) → *-i(i ̯)-a > lat. -ia: mar-ia, tr-ia, vgl. ved. tr-ī ́ = gr. τρ-ία Gen. Pl. a) *-om = frühlat.: poumilionom > alat. kl. -um: u̯ōc-um, vgl. altkirchenslav. -ŭ: dĭn-ŭ ‘der Tage’ (Æ russ. dn-ej mit dem Ausgang der i-Stämme, s. b), mater-ŭ ‘der Mütter’ (dag. gr. νυκτ-ῶν in Analogie nach themat. θε-ῶν etc., s. 4.2) b) *-(i)i ̯-om > lat. -ium: turr-ium, vgl. slav. *-iju > -ĭjĭ, geschrieben -ĭi: aksl. gostĭi ‘der Gäste’, russ. gostéj Dat./Abl. Pl. a) *-bʰos (neben *-mos) > lat. -bus, nur in būbus sūb̆ us, vgl. gall. matre-bos sonst ersetzt durch den Ausgang der i-Stämme: u̯ōc-ibus b) *-i-bʰos (~ *-i-mos) > lat. -ibus: turr-ibus L SOMMER §208-220; LEUMANN 429-441; SIHLER 283-287, 311-19; MEISER §96-100; P. Schrijver, Substrateinflüsse und historische Lautlehre: Latein und Sabellisch. In: G. Meiser & O. Hackstein (Hsrsg.), Sprachkontakt und Sprachwandel: Akten der XI. Fachtagung der Indogermanischen Gesellschaft, Halle an der Saale,  17. ‐ 23. September 2000, Wiesbaden: Reichert, 573-589. Leitfragen: 1. Weshalb ist der Ausgang des Nom.Pl. in der 3. Deklination einheitlich -ēs, der Ausgang des Akk.Pl. hingegen teils -ēs, teils -īs ? Welche uridg. Ausgänge sind hier im Lateinischen fortgesetzt? 2. Im Uridg. hatten nur die o-Stämme einen eigenen Ausgang *-o-ad > -ōd (alat. GNAIVOD), sonst lautete der Abl.Sg. immer wie der Gen.Sg. Wie kam das Lateinische unter diesen Voraussetzungen zu Ablativformen auf frühlat. alat. -ēd (LEGED), -īd (OPID) bzw. auch klass. lat. -e (lēge)? 3. Die ā-Stämme enthalten das Suffix uridg. *-ah2-, gehörten also ursprünglich zu den Konsonantenstämmen. Erklären Sie auf dieser Grundlage das Zustandekommen der lat. Ausgänge. a) des Dat.Sg. auf -ae,. b) des archaischen Gen.Sg. auf -ās (z.B. in pater familiās) = gr. -ᾱς/-ης. c) des Gen.Sg. auf frühlat. alat. -āī (zweisilbig, z.B. in comoediāī) > alat., klass. lat. -ae, der außerhalb des Lateinischen keine Entsprechungen hat.

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6. Morphologie III: Konjugation (Verbum) 6.1 Konjugation des Präsens und seines Stammes Alle regelmäßigen lateinischen Konjugationen setzen die uridg. thematische Flexion fort, die durch den Themavokal *-o- ~ *-e- charakterisiert war. Am deutlichsten ist dies erkennbar in Klasse III(a) auf -ō, -is, -unt, wo der Themavokal nach Konsonant stand (s. u. 6.2). Sonst ist er teilweise nach Schwund von *i ̯ mit dem vorhergehenden Vokal kontrahiert: *-āi ̯ō > *-āō > lat. -ō *-āi ̯e-si > *-āes > *-ās > lat. -ās *-āi ̯o-nti > *-āont > *-ānt > lat. -ant

I

II

*-ēĭ ̯ō > *-ēō̆ > lat. -eō *-ēĭ ̯e-si > *-ēĕ s > *-ēs > lat. -ēs *-ēĭ ̯o-nti > *-ēŏ nt Æ *-ēnt > lat. -ent

IIIb

*-i ̯ō > *-i ̯ō > lat. -iō *-i ̯e-si > *-i ̯ẹs > *-is > lat. -is *-i ̯o-nti > *-i ̯ont > lat. -iunt

IV

*-ii ̯ō > *-i(i ̯)ō > lat. -iō *-ii ̯e-si > *-i(i ̯)ẹs > *-īs > lat. -īs *-ii ̯o-nti > *-i(i ̯)ont > lat. -iunt

Von der athematischen Flexion ohne Themavokal (vgl. die griechischen Verba auf -μι) sind im Lateinischen wenige Reste erhalten: Typisch sind Formen der 2. 3. Sg. und 2. Pl. ohne Vokal vor Endung bei den Verben esse: est, īre : īt,̆ uelle: uult und ēsse: ēst ‘essen’ (jünger edere: edit); außerdem haben diese Verben einen Konjunktiv auf -ī-̆ statt -ā-̆ (s. unten). Bei ferre ‘tragen’ sind Formen wie fert vermutlich sekundär durch Synkope entstanden. L SOMMER §316-20; LEUMANN 518f., 539-45, 566ff.; MEISER §120, 123-27; SIHLER 527-32; 536ff.

6.2 Konjugation der einfach thematischen Verben (Klasse IIIa) 6.2.1 Indikativ Präsens Aktiv (mit Primärendungen zur Bezeichnung der Gegenwart) uridg. *h₂ág̑-ō *h₂ág̑-e-si *h₂ág̑-e-ti *h₂ág̑-o-mos *h₂ág̑-e-tes *h₂ág̑-o-nti

> > > > > >

frühlat. *agō *ages *aget *agomos *agetes *agont

> > > > > >

alat. agō̆

agis agit agimus agitis agunt

gr. ἄγω ἄγε[ις] ἄγε[ι] ἄγομεν/-μες ἄγε[τε] dor. ἄγοντι

ved. áj-ā[mi] áj-a-si áj-a-ti áj-ā-mas(i) áj-a-[tha] áj-a-nti

got./ahd. -a/-u -is -iþ/-it -am/-um[ēs] -iþ/-et -and/-ant

russ. -u -eš -et -em -ete -ut

L SOMMER §315, 322f.; LEUMANN 512-15, 566f.; MEISER §128, 140; SIHLER 453-68; 532-36.

6.2.2 Indikativ Präsens Medium Æ Passiv Die uridg. Kategorie Medium (Funktion reflexiv ― intransitiv ― passiv), die funktional dem gr. Medium entsprach, wurde im Lat. sekundär auf passivische Funktion eingeschränkt. Reste der anderen Funktionen sind die sogenannten Deponentien wie sequitur ‘folgt’ < *sékʷ-e-to-r ≈ gr. ἕπεται, ved. sácate oder moritur ‘stirbt’ < *mr̥-i ̯é-to-r ≈ ved. mriyáte.

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uridg. *h₂ág̑-o-h₂ai ̯ *h₂ág̑-e-soi ̯ *h₂ág̑-e-toi ̯ *h₂ág̑-o-mesdʰə2 *h₂ág̑-e-sdʰu̯e *h₂ág̑-o-ntoi ̯

Æ Æ Æ Æ Æ Æ

frühlat. *agō-r *agezo *ageto-r *agomo-r *age[mVnVi] *agonto-r

> > > > > >

alat. agōr̆

agere Æ ageri-s agitur agimur agiminī aguntur

gr. ἄγο[μ]αι ἄγεαι > ἄγῃ ἄγεται, ark. -ετοι ἀγόμε(σ)θα ἄγεσθε ἄγονται, ark. -οντοι

ved. áj-[e] áj-a-se áj-a-te áj-ā-mah[e] áj-a-[dhve] áj-a-nte

L SOMMER §315, 322f.; LEUMANN 512f., 515-18; MEISER §142; SIHLER 470-480.

2. Sg. mit früherer Erweiterung auch *-zo-s > *-ros > alat. -rus: z. B. spatiarus CIL I2 1732. 6.3 Konjunktiv (mit Sekundär- oder Primärendungen) Æ lat. Futur Suffix des Konjunktivs war der Themavokal *-o- ~ *-e-, wie sich noch an der Flexion des lat. Futurs von esse zeigt (wie ago; ebenso urspr. das Futur des Perfekts und der faxō-Typ): uridg.

frühlat.

(a)lat.

urgr.

hom.

att.

ved.

*h₁és-ō

>

*ezō 



erō

*éhō

>

ἔω

>



ás-ā(-ni)

*h₁és-e-s(i)

>

*ezes 



eris

*éh(eis)

Æ

ἔῃς

>

ᾖς

ás-a-s(i)

*h₁és-e-t(i)

>

ESED

Æ

eri[t]

*éh(ei)

Æ

ἔῃ

>



ás-a-t(i)

*h₁és-o-mo(s)

>

*ezomos 



erimus

*éhomen

Æ

ἔωμεν

>

ὦμεν

ás-ā-ma

*h₁és-e-te(s)

>

*ezetes 



eritis

*éhete

Æ

ἔητε

>

ἦτε

ás-a-t[h]a

*h₁és-o-nt(i)

>

*ezond

Æ

erun[t]

*éhonti

Æ

ἔωσι

>

ὦσιν

ás-a-n(ti)

Der Konjunktiv thematischer Stämme hatte dementsprechend den doppelten Themavokal *-o-o~ *-e-e- > *-ō- ~ *-ē-, daraus entstand das lat. -ē-Futur (mit Verallgemeinerung des -ē- auf Kosten von *-ō-): vgl. 1./2. Pl. gr. ἄγ-ω-μεν, ἄγ-η-τε : lat. ag-ē-mus, ag-ē-tis L SOMMER §341f.; 345,6; LEUMANN 573, 577; MEISER §130ab; SIHLER 592-595.

6.4 Optativ (mit Sekundärendungen) Æ lat. Konjunktiv Das Suffix des Optativs war ablautend *-i ̯éh₁-/*-ih₁- > lat. -iē-/-īÆ -ī-. Es ist im Konj. Perfekt auf *-is-ī- > -er-ī-, dem faxim-Typ auf *-(s)s-ī- und in den relikthaften Konjunktiven der unregelmäßigen Verben esse, ēsse, uelle (sowie in alat. duim zu dare) erhalten, am besten bei esse: uridg.

frühlat.

alat.

(a)lat.

urgr.

hom. =att.

ved. s-yā-́ m

*h₁s-i ̯éh₁-m̥

Æ

*siēm

>

siem

Æ

sim

*éhi ̯ēm

>

εἴην

*h₁s-i ̯éh₁-s

>

*siēs 

>

siēs

Æ

sīs

*éhi ̯ēs

>

εἴης

*h₁s-i ̯éh₁-t

>

SIED

Æ

siē[t]

Æ

sit

*éhi ̯ēt

>

εἴη

*h₁s-ih₁-mé

>

*sīmo[s]

>

sīmus 



sīmus

*éhīmen

>

εἶμεν

*h₁s-ih₁-té

>

*sīte[s]

>

sītis 



sītis

*éhīte

>

εἶτε

[s-yā-́ ta]

*h₁s-ih₁-ént

>

*sii ̯end

Æ

sien[t]

Æ

sint

*éhii ̯en

>

εἶεν

[s-y-úr]

L SOMMER §345,2; 6; LEUMANN 573f.; MEISER §131,1; 4; SIHLER 595f.; 599.

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s-yā-́ s

s-yā-́ t

[s-yā-́ ma]

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Der ē-Konjunktiv der I. Konjugation kann in einigen Fällen ebenfalls auf den Optativ zurückgehen, nämlich bei den ursprünglich athematischen Faktitiva zu Adjektiven wie nou̯āre = heth. newaḫḫ-: urit. *nou̯ā-i ̯ē-s > *nou̯āēs > lat. nou̯ēs. Bei urspr. thematischen Verben auf *-ā-i ̯e- setzt er dagegen den Konjunktiv fort, hier nicht als Futur: *dōnā-i ̯e-e-s > urit. *dōnā(i ̯)ēs > lat. dōnēs usw. An der Stelle des idg. thematischen Konjunktivs und Optativs steht sonst der lat. ā-Konjunktiv, der lautlich kaum den Optativ fortsetzen dürfte (anzunehmende Entwicklung *-oi ̯h₁- > *-oi ̯a- > *-oa- > -ā- unbestätigt). Daher wohl aus dem Konjunktiv, und zwar zu Verben auf *-h₂-, bei denen der Themavokal zu *a umgefärbt war: **tl ̥néh₂-e-s > *tl ̥náh₂as > *tl ̥nās > urit. *tolnās > lat. tollās. L SOMMER §330-32; 6; LEUMANN 575; MEISER §131,1-3; 5; SIHLER 596, 598f. Leitfragen: 1. Auf welche Typen indogermanischer Präsensbildungen gehen die fünf regelmäßigen lateinischen Konjugationen zurück? 2. Wie kommt es zu dem lat. Nebeneinander von 2.Sg. Ind. Präs. agere (nur dies auch Ipt.) und ageris ? 3. Wenn thematisches agit agunt auf *h2aģeti *h2aģonti zurückgehen, was waren dann die uridg. Vorformen von athematischem est und sunt < urital. *sent, bzw. auch dt. ist und sind ? (NB. Die idg. Endung der 3.Plural lautet ab, in athematischen Paradigmen steht sie normalerweise in der e-Vollstufe.). 4. Welche uridg. Kategorie wird durch das lat. Futur fortgesetzt, und weshalb flektiert das lat. Futur von esse genauso wie der Indikativ Präsens Aktiv von agere ? – Im Frühlateinischen heißt es allerdings ESED, während der Ind. Präs. damals *aget gelautet haben muss; wie erklärt sich der unterschiedliche Auslaut? 5. Wie lautet das ursprüngliche lat. (d.h. frühlat. und in Nebenformen auch noch alat.) Paradigma des Konjunktivs von esse, und auf welches uridg. Paradigma geht es lautgesetzlich zurück (Kategorie, Modussuffix, Ablaut, Endungssatz)? Das gleiche Modussuffix tritt noch an anderen Stellen des lat. Verbalsystems auf; in welchen Kategorien bzw. Sonderformen liegt es vor?

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6.5 Das lateinische Perfekt und seine doppelte Herkunft 6.5.1 Funktionale Breite des Perfekts Das lateinische Perfekt hat, verglichen mit anderen Sprachen, eine Doppelfunktion und entspricht teilweise dem griechischen Aorist, teilweise dem griechischen Perfekt (nur teilweise entsprechend dem deutschen Präteritum u n d Perfekt): 1. Aus vergangener Handlung resultierender Zustand in der Gegenwart: „Eigentliches“ = resultatives Perfekt bzw. Zustandsperfekt, perfectum praesens; gr. nur Perfekt Verg. A. 2, 324 uēnit summa diēs d.h. ‘ist da’; quod dīxī, dīxī (und dabei bleibt es) meminī, ōdī lexikalisiert als funktionale Präsentien 2. Vordergrundtempus in der Erzählung in Opposition zum Hintergrundtempus Imperfekt: aoristisches (narrativ-perfektives) Perfekt, perfectum historicum; gr. nur Aorist Caes. B.G. 6,12,1 cum Caesar in Galliam uēnit, alterius factionis principes erant Haedui, alterius Sequani. Liv. 2,48,4 Aequi se in oppida receperunt murisque se tenebant. Zwischenbereich: Konstatierung vergangener Handlungen mit Gegenwartsrelevanz, besonders bei aktueller Vergangenheit: konstatierendes (faktisches) Perfekt Cic. Brut. 205 saepe ex eo audīuī gr. bei Homer eher Aorist ἤκουσα, klass. eher Perfekt ἀκήκοα: Od. 3,93f. εἴ που ὄπωπας … ἢ ἄλλου μῦθον ἄκουσας, S. Ph. 620 ἤκουσας, ὦ παῖ, πάντα S. Tr. 876 πάντ’ ἀκήκοας ~ ‘du hast richtig verstanden’ Die im Gr. erhaltenen idg. Kategorien Aorist und Perfekt sind wegen Überschneidungen im Zwischenbereich im Lateinischen (und generell im Italischen) zusammengefallen. L R. KÜHNER - C. STEGMANN, Ausführliche Grammatik der lateinischen Sprache, Zweiter Teil: Satzlehre, erster Band, Hannover 1912, 122-35; J. B. HOFMANN, Lateinische Syntax und Stilistik. Neubearbeitet von Anton SZANTYR, [Hdb. der Altertumsw. II 2, 2. Band], München 1965, 302f., 317-20; LEUMANN 508-11.

6.5.2 Formale Vielfalt der Perfektbildungen Auch die Form der lateinischen Perfektbildungen zeigt, dass sie aus mehreren Quellen stammen und nicht nur eine Kategorie fortsetzen. Stammbildung 1. Redupliziertes Perfekt Å idg. Perfekt meminī < *me-món-h₂ai ̯ zu hom. μέμονε ‘strebt’ Idg. *men ‘auf einen Gedanken kommen’Æ Perfekt ‘ist auf den Gedanken gekommen’ Æ ‘strebt/erinnert sich’ Auch italische Neubildungen nach alter Regel: frühlat. fhefhak- = osk. fefac- zu Präs. *fak-i ̯ō Sogar zu sekundären Verben wie memordī/momordī zu mordēre, hier liegen dann vielleicht alte Bildungen zu einem Primärverb vor, die einem neuen Paradigma zugeordnet wurden. Mit Dissimilation stetimus < *stestamos Å *ste-sth₂-més zu stāre 28

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2. Langvokalisches Perfekt, aus zwei Quellen: a) in erster Linie Å idg. redupliziertes Perfekt zu Wurzeln primae laryngalis sowie zu *sed ‘sich setzen’, analogisch ausgebreitet ēd- < *h₁e-h₁d-, ēm- < *h₁e-h₁m- zu ĕdō, ĕmō und sēd- < *se-sd- zu sīdō/sĕdeō Danach z. B. u̯ēn- zu u̯ĕniō b) Daneben auch ablautende Aoriste mit laryngalbedingtem Langvokal fēc- < *dʰéh₁k-, Wurzelaorist zu făciō < *dʰh₁k-i ̯ō, vgl. gr. ἔ-θηκ-α Danach z. B. cēp- zu căpiō 3. s-Perfekt Å idg. s-Aorist ̑ dīxit Å *deik-s-ed Å *é-dēi ̯k-s-t, vgl. gr. ἔ-δειξ-ε, avest. dāiš u̯ēxit Å *u̯ēk-s-ed Å *é-u̯ēg̑ʰ-s-t, vgl. ved. á-vāṭ, 1. Sg. a-vākṣ-am lat. inschr. RÉXIT = rēxit zu rĕgere und kirchenslav. Aoriste wie věsŭ Å *u̯ēdʰ-s-m̥ zu vedǫ Å *u̯édʰ-ō ‘führe’ bestätigen ē-Dehnstufe im Uridg. 4. v-Perfekt Å idg. Wurzelaorist und/oder Perfekt zu Wurzeln auf Langvokal mit Gleitlaut *-u̯-; Erklärung im einzelnen strittig; möglich z. B. fū(u̯)it Å *bʰū(u̯)-ed Å Aorist *é-bʰū-t, vgl. gr. ἔ-φῡ, ved. ábhūt oder urital. Perfekt *fu-fuu̯-ei ̯ Å idg. *bʰe-bʰuh₂-, vgl. gr. πέφῡκε, ved. babhūv́ a Neu analysiert als fū-u̯-ed bzw. *fu-fu-u̯-ei ̯ mit suffixalem *u̯ Danach *gnō-t (gr. ἔ-γνω) ‘erfuhr, lernte kennen’ Æ *gnō-u̯-ed Æ (g)nōu̯it usw. L  SOMMER §355-62; LEUMANN 585-602; MEISER §133-39; SIHLER 579-586; MEISER, Gerhard: Veni, vidi, vici. Die Vorgeschichte des lateinischen Perfektsystems. Zetemata 113. München: Beck 2003.

Personalendungen bzw. -ausgänge klass. / alat.

frühlat.

Perfekt

ital. Aorist

uridg. (s-)Aorist

-ī < -ẹ̄ < -ei