Beweisen und Argumentieren

4 Zur Unterrichtskultur II 35 Beweisen und Argumentieren Die Mathematik wird gemeinhin als eine von Strenge und Exaktheit geprägte Wissenschaft od...
Author: Norbert Krämer
33 downloads 2 Views 466KB Size
4 Zur Unterrichtskultur

II

35

Beweisen und Argumentieren

Die Mathematik wird gemeinhin als eine von Strenge und Exaktheit geprägte Wissenschaft oder auch als „beweisende Disziplin“ (Heintz 2000) angesehen. Sowohl wissenschaftliche mathematische Publikationen als auch Lehrbücher werden traditionell in der Form „Definition – Satz – Beweis“ geschrieben. Diese deduktive Darstellung gilt als charakteristisch für die Mathematik. Das Beweisen ist also eine typische und zentrale mathematische Tätigkeit. Demzufolge spielt es auch für den Geometrieunterricht in der Sekundarstufe I eine wichtige Rolle. Allerdings können nicht einfach in der Fachwissenschaft praktizierte (und dort angemessene) Vorgehensweisen für den Unterricht kopiert werden. Vielmehr gilt es, ausgehend von der Bedeutung des Beweisens in der Fachwissenschaft, eigenständige und für Schülerinnen und Schüler in der Sekundarstufe I sinnvolle Formen zu finden. Im Folgenden wird deshalb insbesondere das Argumentieren in den Mittelpunkt gestellt. Entsprechend den aktuellen Bildungsstandards für den mittleren Schulabschluss gilt „mathematisch argumentieren“ (KMK 2004, S. 7) als eine allgemeine mathematische Kompetenz. Im Unterschied zum an fachwissenschaftlichen Standards orientierten Beweisen wird beim Argumentieren ! die Bedeutung weiter gefasst – das Begründen ist nur ein Teilaspekt des Argumentierens, das darüber hinaus u. a. auch das Beschreiben, Erläutern und Bewerten von Lösungswegen, das Stellen geeigneter und zielführender Fragen oder das Einordnen von Beispielen und Gegenbeispielen umfasst (vgl. ebd. S. 13 f.), ! nicht nur formales Schließen zugelassen – Argumentieren kann auch umgangssprachlich erfolgen und sich wesentlich auf Modelle und Zeichnungen oder die Anschauung stützen. In dieser Sichtweise ist Argumentieren eine mathematische Kompetenz, die in formales Beweisen münden kann, aber nicht unbedingt muss, sondern in allen Schulformen und Jahrgangsstufen eine eigenständige Bedeutung besitzt. Allerdings wird die Abgrenzung von Beweisen und Argumentieren in der Literatur sehr unterschiedlich vorgenommen (vgl. Hanna 2000; Holland 2007; Mariotti 2006; Walsch 1975).

36

II Beweisen und Argumentieren

1 Beweisen in der Geometrie Ausgehend von der Frage, welche Bedeutung das Beweisen in der Fachwissenschaft Mathematik besitzt und wie es dort durchgeführt wird, lassen sich bereits erste Hinweise für eine sinnvolle Behandlung im Mathematikunterricht gewinnen.

1.1 Was ist ein Beweis? Diese Frage lässt sich – auch unter Experten – nicht leicht beantworten. Einerseits herrscht in der Scientific Community weitgehend Konsens darüber, wann ein Beweis als solcher akzeptiert wird. So werden an einen Beweis üblicherweise folgende Ansprüche gestellt: ! Lückenlosigkeit und Vollständigkeit: Ein Beweis sollte mit Hilfe der logischen Schlussregeln lückenlos und vollständig darlegen, dass die Behauptung aus den Voraussetzungen sowie den Axiomen und Definitionen und anderen, schon bewiesenen Aussagen folgt. ! Minimalität: Ein Beweis sollte sich nur auf diejenigen Voraussetzungen stützen, die für die Gültigkeit der Behauptung unbedingt nötig sind. Ferner sollten die einzelnen Argumentationsschritte keine Redundanzen enthalten. ! Formalisierung von Struktur, Sprache und Symbolik: Beweise werden häufig in einer formalisierten Struktur präsentiert; Gleiches gilt für die gepflegte Fachsprache, die sich darüber hinaus durch ein hohes Maß an Präzision auszeichnet (z. B. „es existiert ein“ versus „es existiert genau ein“); ferner werden häufig Symbole (etwa für Quantoren) verwendet. Beweise, die diesen Kriterien nicht genügen, werden – etwa in zur Veröffentlichung eingereichten wissenschaftlichen Texten – nicht als solche akzeptiert. Ob eine Argumentation als „schlüssig“ bezeichnet werden darf, ist jedoch letztlich immer auch eine Wertungsfrage, wenngleich die Meinungen darüber in der Mathematik meist deutlich weniger auseinanderklaffen als in den diskursiv geprägten Geistes- und Sozialwissenschaften (vgl. Heintz 2000, S. 177 ff.). Die Akzeptanz von Beweisen besitzt also stets eine soziale Komponente: Ein Beweis ist, was Mathematikerinnen und Mathematiker als Beweis gelten lassen – es gibt keine absoluten Kriterien dafür, wann ein Beweis als gültig angesehen werden kann. Beweise sind vielmehr stets kultur- und zeitabhängig: Sowohl Euklid (um 325 v. Chr.) als auch Hilbert (1899) strebten jeweils einen deduktiven Aufbau der Geometrie an; ihre Darstellungen unterscheiden sich aber erheblich (vgl. Kapitel XI). Auch war lange umstritten, ob Computerbe-

1 Beweisen in der Geometrie

37

weise als vollgültige mathematische Beweise zu akzeptieren sind, so beim Beweis des Vierfarbensatzes (Appel und Haken 1989) oder der Keplerschen Vermutung (Hales 2005), abgesehen von der Problematik, unabhängige Experten zu finden, um diese sehr umfangreichen Beweise zu überprüfen.

1.2 Funktionen des Beweisens Warum wird in der Mathematik überhaupt bewiesen? Entgegen einer weitverbreiteten Ansicht erfolgt dies nicht nur, um zu überprüfen, ob eine Behauptung gilt – Beweise spielen vielmehr eine zentrale Rolle bei der Entwicklung, Systematisierung und Darstellung mathematischen Wissens (vgl. Fischer und Malle 1985; Hanna 2000; Hanna und Jahnke 1996; Hersh 1993). So lassen sich u. a. folgende Funktionen des Beweisens unterscheiden: ! Verifizierung: Ein Beweis bestätigt zunächst, dass eine Behauptung gilt. ! Erklärung: Ein Beweis zeigt weiter auf, warum eine Behauptung gilt und insbesondere, unter welchen Voraussetzungen sie gilt. ! Einordnung und Systematisierung: Durch einen Beweis wird ein Satz in ein umfassendes deduktives System eingeordnet. Begriffe werden miteinander vernetzt und in einen größeren Rahmen eingeordnet, was den Aufbau einer gesicherten und in sich geschlossenen Theorie unterstützt. ! Kommunikation: Ein Beweis trägt zur Darstellung und Verbreitung mathematischen Wissens bei und ist ein wesentlicher Aspekt bei der Kommunikation über mathematische Inhalte; er ist ein Mittel des rationalen Argumentierens und Überzeugens. ! Exploration und Entdeckung: Ein Beweis kann dazu beitragen, die Bedeutung einer Definition oder die Konsequenzen einer Annahme aufzuzeigen. Beweise sind Mittel zum Erkennen und Erforschen von Zusammenhängen sowie zur Entwicklung von Begriffen, sie liefern möglicherweise sogar neue Vermutungen. Beweise dienen also einerseits der Sicherung mathematischen Wissens, andererseits aber auch dem Verstehen. Beweise stehen nicht isoliert für sich, sie sind vielmehr eingebunden in ein Geflecht mathematischer Aktivitäten. So kann es durchaus sinnvoll sein, mehrere Beweise für einen Satz zu führen, wenn dadurch unterschiedliche Beziehungen dieses Satzes zu anderen Sätzen, Definitionen und Begriffen deutlich werden. Für den Geometrieunterricht bedeutet dies, dass auch dort das Beweisen nicht auf seine Verifizierungsfunktion reduziert werden darf, zumal an der Gültig-

38

II Beweisen und Argumentieren

keit einer Aussage häufig ohnehin keine Zweifel bestehen. Vielmehr müssen auch die anderen Funktionen, insbesondere die Erklärungsfunktion, zum Tragen kommen. Beweise und das Beweisen müssen ferner so gestaltet werden, dass sie zum Verständnis der Aussage beitragen (Beispiel 1). Beispiel 1: Beweise zum Satz über die Winkelhalbierenden im Dreieck Der Satz „Die Winkelhalbierenden im Dreieck schneiden sich in einem Punkt; dieser ist der Mittelpunkt des Inkreises.“ kann auf unterschiedliche Weise bewiesen werden. Ein erster Beweis lautet wie folgt: Die Winkelhalbierenden schneiden sich paarweise. Denn hätten zwei der Mittelsenkrechten keinen Schnittpunkt, so wären sie parallel und damit auch die zugehörigen Dreiecksseiten, es gäbe also kein Dreieck. Jeder beliebige Punkt P der Winkelhalbierenden w/ ist gleich weit von b und c entfernt. Analog ist jeder Punkt der Winkelhalbierenden w, gleich weit von a und c entfernt. Der Schnittpunkt S von w/ und w, ist deshalb gleich weit von a und b entfernt, gehört also zu w > . Das bedeutet, dass auch w > durch S läuft. Folglich schneiden sich alle drei Winkelhalbierenden in S, und S ist von allen drei Seiten des Dreiecks gleich weit entfernt, so dass sich durch S ein Kreis konstruieren lässt, der alle drei Seiten berührt, der Inkreis des Dreiecks.

w, b

S

P

w/ a

c Dieser Beweis verifiziert nicht nur, dass jedes Dreieck einen Inkreis besitzt, sondern auch, warum dies gilt. Dabei tritt insbesondere die Abstandseigenschaft der Winkelhalbierenden deutlich zutage. Zugleich liefert der Beweis ein Verfahren zur Konstruktion des Inkreises; er zeigt ferner auf, dass es sinnvoll ist, den Begriff Inkreis überhaupt zu definieren. Der zweite Beweis ist ein Kongruenzbeweis: Auch hier wird zunächst gezeigt, dass sich die Winkelhalbierenden paarweise schneiden. Vom gemeinsamen Schnittpunkt S der beiden Winkelhalbierenden w/ und w, wird das Lot auf die drei Seiten a, b und c gefällt; die Lotfußpunkte wer-

1 Beweisen in der Geometrie

39

den mit D, E und F bezeichnet. Die beiden rechtwinkligen Dreiecke ADS und ASF sind wegen ! /1 0 / 2 (Eigenschaft der Winkelhalbierenden w/ ) ! AS 0 AS (gemeinsame Seite beider Dreiecke) ! !9ASD! = !9ASF! (Winkelsumme im Dreieck und rechter Winkel) kongruent nach dem WSW-Satz, und es gilt SF 0 SD . Analog sind auch die beiden Dreiecke DBS und SBE kongruent, und es gilt SD 0 SE . Folglich ist der Punkt S von allen drei Seiten gleich weit entfernt, und es kann ein Kreis konstruiert werden, der alle drei Seiten berührt.

w,

A

E S

b /2 /1

C

F

c

D

w/ a B

Auch dieser Beweis verifiziert den Satz, bindet ihn jedoch in den Kontext der Kongruenzsätze ein; zudem tritt die Eigenschaft der Winkelhalbierenden als solcher stärker hervor. Der Beweis kann ferner die Entdeckung neuer Sachverhalte anregen, etwa über die Exploration der Frage, welche Vierecke einen Inkreis besitzen, und er kann von heuristischem Wert bei der Formulierung des zugehörigen Beweises sein.

1.3 Beweis und Beweisfindung Auch wenn mathematische Publikationen üblicherweise in der Form „Definition – Satz – Beweis“ und in einer sehr knappen Sprache abgefasst sind, spiegelt eine solche deduktive Darstellung nicht den oftmals langwierigen und mühsamen Arbeitsprozess von Mathematikerinnen und Mathematikern wider. Deshalb ist es – auch im Hinblick auf den Mathematikunterricht – hilfreich, zu unterscheiden ! zwischen der Beweisfindung, einem kreativen und problemlösenden Prozess, bei dem über weite Phasen inhaltlich-anschauliche Überlegungen eine wichtige Rolle spielen, der nicht selten unregelmäßig und sprunghaft verläuft, mit Rückschlägen einerseits und plötzlichen Erfolgen andererseits,

40

II Beweisen und Argumentieren

! und dem fertigen Beweis als dem Produkt dieses Prozesses, der formalen Kriterien genügen muss. Auch wenn im Geometrieunterricht nicht die Arbeitsweise professioneller Mathematikerinnen und Mathematiker nachvollzogen werden kann, darf das Beweisen nicht auf die Darstellung eines fertigen und möglichst formalen Beweises reduziert werden. Vielmehr muss es als ein Element eines explorativen und entdeckenden Unterrichts eingebettet sein in eine Vielzahl von Aktivitäten (Beispiel 2). Das Formulieren einzelner Argumentationsschritte, aus denen dann ein vollständiger Beweis erwächst, kann zunächst auch in der Umgangssprache erfolgen, wobei Fachterminologie sukzessive integriert und eine formale Darstellung angestrebt wird. Entscheidend ist hierbei, dass formale Darstellungen nur dann Gewinn bringend für das Denken der Schülerinnen und Schüler sind, wenn sie mit inhaltlichen Vorstellungen verbunden bleiben. Beispiel 2: Der Satz von Thales und sein Kehrsatz Eine mögliche Formulierung des Satzes von Thales lautet: Wenn man einen Punkt C einer Kreislinie mit den Endpunkten eines Durchmessers [AB] verbindet, dann ist der Winkel 9ACB ein rechter Winkel. Der zugehörige Kehrsatz lautet: Wenn man einen rechten Winkel so legt, dass seine Schenkel die Endpunkte einer vorgegebenen Strecke [AB] enthalten, dann liegt der Scheitel des Winkels auf einem Kreis mit den Durchmesser [AB]. Die Annäherung an den Satz und seinen Kehrsatz kann in einem ersten Schritt durch Experimente mit konkreten Materialien erfolgen. Für den Satz von Thales werden einzelne Punkte des Kreises mit den Endpunkten des Durchmessers verbunden und die Winkel gemessen. Die Beobachtungen werden verbalisiert und eventuell schriftlich ausformuliert. Dies kann zunächst umgangssprachlich erfolgen, zum Beispiel in der Form: „Immer wenn ich einen Punkt auf dem Kreis mit den Endpunkten eines Durchmessers verbinde, bekomme ich einen rechten Winkel heraus.“ Im nächsten Schritt muss die Wenn-dann-Struktur des Satzes, also der Zusammenhang von Voraussetzung und Behauptung, erkannt werden. Hierbei hilft das Experiment, da die zeitliche Reihenfolge der Teilhandlungen (zuerst Verbinden der Punkte, anschließend Messen des Winkels) die Wenn-dannStruktur widerspiegelt.

1 Be eweisen in derr Geometrie

41

In analoger a Weiise wird für den d Kehrsatz ein gegebeneer rechter Wiinkel (etw wa eine Ecke eines festen DIN-A4-Karrtons oder einner CD-Hüllee) so anggelegt, dass seine s Schenkeel zwei vorgeegebene Punkkte (Stecknaddeln) enth halten. Alle eingezeichnete e en Scheitelpun nkte scheinenn auf einem K Kreis zu liegen. Eine mögliche ersste Verbalisieerung dieser Vermutung kkann w ich einenn rechten Win nkel so lege, dass seine Schenlautten: „Immer wenn kel an zwei festeen Punkten annstoßen, liegt der Scheitel auf a einem Kreis“. h iten. Wieederum gilt ess, die Wenn-daann-Struktur herauszuarbei

42

II Beweisen und Argumentieren

Die enaktiven Experimente lassen sich auf die ikonische Ebene übertragen, wofür sich ein DGS gut eignet.

90 °

C

A

C

M

B

A

90 °

B

M

Variationen der Situation (mit Papier und Bleistift oder einem DGS) können das Verständnis unterstützen: ! Wie groß ist der betrachtete Winkel, wenn C nicht auf der Kreislinie liegt, sondern innerhalb oder außerhalb des Kreises? Die Beantwortung dieser Frage kann bereits eine Beweisidee für den Kehrsatz liefern. ! Was gilt, wenn [AB] kein Durchmesser, sondern eine beliebige Kreissehne ist? Hier wird eine Verallgemeinerung des Satzes von Thales zum Umfangswinkelsatz angeregt. C C'

79 ° C C'

A

M

B

A

M

109 °

B

Der Beweis des Satzes beruht letztlich auf dem Einzeichnen der Hilfslinie [MC] und dem Erkennen der Gleichschenkligkeit der Dreiecke AMC und BMC. Hierbei sind heuristische Strategien hilfreich (Suche nach Eigenschaften der gegebenen Punkte A, B und C; Erkennen des Kreises als Menge aller Punkte, die von einem gegebenen Punkt dieselbe Entfernung besitzt).

1.4 Beweistypen Geometrische Beweise lassen sich zunächst im Hinblick auf die verwendeten Beweismittel charakterisieren. Von Bedeutung für die Sekundarstufe I sind hierbei folgende Kategorien:

1 Beweisen in der Geometrie

43

! Bei einem Berechnungsbeweis folgt die Behauptung durch algebraische Umformungen von Gleichungen (etwa zur Flächeninhalts- oder Volumenberechnung). ! Ein Kongruenzbeweis stützt sich auf die Kongruenzsätze für Dreiecke: Man sucht in der Figur Paare von Teildreiecken und zeigt deren Kongruenz. Hieraus kann man auf gleich große Winkel oder gleich lange Strecken schließen (vgl. Beispiel 1). ! Ein Ähnlichkeitsbeweis zieht die Ähnlichkeitssätze für Dreiecke heran: Man sucht in der Figur Paare von Teildreiecken und zeigt deren Ähnlichkeit. Hieraus kann man auf gleiche Verhältnisse von Streckenlängen oder gleich große Winkel schließen (vgl. Kapitel IX). ! Bei einem Abbildungsbeweis wendet man eine Kongruenz- oder Ähnlichkeitsabbildung auf eine Figur oder eine Teilfigur an und begründet die Behauptung aufgrund der Eigenschaften dieser Abbildung. Im Geometrieunterricht der Sekundarstufe I treten viele Berechnungsbeweise auf. Daneben finden sich auch Kongruenzbeweise. Die vor einiger Zeit geführte Diskussion, ob Abbildungs- oder Kongruenzbeweise geeigneter sind, um Schülerinnen und Schülern im Beweisen zu unterrichten (vgl. Beckmann 1996; Beckmann und Bettscheider 1993; Holland 2007, S. 128 ff.), wird heute nicht mehr verfolgt, da die aktuellen Bildungspläne die Abbildungsgeometrie weitgehend zurückdrängen. In der Analytischen Geometrie der Sekundarstufe II spielen darüber hinaus auch Koordinatenbeweise als spezielle Berechnungsbeweise und vektorgeometrische Beweise eine Rolle. Ferner sind verschiedene Wege der Beweisführung möglich. Zwei davon spielen auch in der Sekundarstufe I eine wichtige Rolle: ! Bei einem direkten Beweis wird eine unmittelbare und direkte Argumentationskette von den Voraussetzungen zur Behauptung aufgebaut, unter Einbeziehung bekannter Axiome und Sätze. ! Ein Widerspruchsbeweis wird geführt, indem man – zusätzlich zu den Voraussetzungen – die Verneinung der Behauptung annimmt und zeigt, dass diese Annahme letztlich in einen Widerspruch zu den Voraussetzungen mündet. Beweise lassen sich ferner nach der Struktur der Behauptung unterscheiden: ! Bei einem Existenzbeweis ist zu zeigen, dass unter den gegebenen Voraussetzungen ein Objekt mit bestimmten Eigenschaften existiert. ! Bei einem Eindeutigkeitsbeweis ist zu zeigen, dass unter den gegebenen Voraussetzungen höchstens ein Objekt mit bestimmten Eigenschaften exis-

44

II Beweisen und Argumentieren

tiert (der Nachweis der Existenz dieses Objekts ist dann nicht Bestandteil des Beweises). Eindeutigkeitsbeweise werden häufig als Widerspruchsbeweise geführt: Man nimmt an, dass zwei verschiedene Objekte mit den geforderten Eigenschaften existieren und führt diese Annahme zu einem Widerspruch. ! Ein Existenz- und Eindeutigkeitsbeweis ist die Kombination beider: Es ist zu zeigen, dass unter den gegebenen Voraussetzungen genau ein Objekt mit bestimmten Eigenschaften existiert.

2 Beweisen und Argumentieren im Unterricht Aus dem Vorangehenden wird deutlich, dass Schülerinnen und Schüler nicht automatisch das Beweisen lernen, wenn sie Beweise lernen. Ausgehend von empirischen Befunden und Beobachtungen zur Unterrichtspraxis werden im Folgen Ansätze diskutiert, wie Schülerinnen und Schüler das Beweisen und Argumentieren lernen können. Der Schwerpunkt liegt auf dem Argumentieren.

2.1 Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern Bei der Erfassung der geometrischen Beweiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern erweisen sich zwei Fragen als leitend: ! Können Schülerinnen und Schüler das Führen von Beweisen erlernen? ! Erfassen Schülerinnen und Schüler die Bedeutung des Beweisens? In Bezug auf diese beiden Fragen ergibt sich ein ambivalentes Bild. Einerseits belegen Studien, dass schon Schülerinnen und Schüler in Klasse 8 im Rahmen gezielter Unterrichtssequenzen das selbstständige Führen einfacher Beweise durchaus erfolgreich erlernen können; dies betrifft sowohl Kongruenz- als auch Abbildungsbeweise (vgl. Beckmann 1996; Beckmann und Bettscheider 1992; 1993). Allerdings wird auch deutlich, dass Schülerinnen und Schüler die Euklidische Methode „eher schematisch anwenden und dabei vermutlich wenig über die Beweistätigkeit, insbesondere über die Anwendung eines Kongruenzsatzes als beweistragenden Teil, reflektieren“ (Beckmann 1996, S. 21). Andererseits ist bekannt, dass Schülerinnen und Schüler Schwierigkeiten haben, Beweise selbst zu finden und durchzuführen, Beweise auf ihre Richtigkeit zu überprüfen und in Beweisbeispielen enthaltene Fehler zu erkennen (vgl. Andelfinger 1988; Becker 1985; Healy und Hoyles 1998; Heinze 2004; Kuntze

2 Beweisen und Argumentieren im Unterricht

45

2004; Ufer u. a. 2009). Häufig werden Beweise ziellos geführt und mit an Beweisen angelehnten sprachlichen Versatzstücken angereichert. Dies zeigt sich typischerweise darin, dass Schülerinnen und Schüler ! die Größen in der Beweisfigur nachmessen, anstatt zu beweisen; ! einen Beweis als eine Rechnung verstehen, in deren Rahmen aus den bekannten Größen einer Figur die unbekannten zu ermitteln sind; ! von einer (zu speziellen) Beweisfigur ausgehen, die zu beweisende Eigenschaften (wie rechtwinklig, gleichschenklig, symmetrisch) bereits vorwegnimmt; ! unpassende Hilfsmittel verwenden oder mit einer Hilfslinie zu viele Eigenschaften verbinden (wenn sie etwa die Winkelhalbierende eines Dreiecks zugleich als Mittelsenkrechte der gegenüberliegenden Seite betrachten); ! nicht zwischen Satz und Kehrsatz sowie zwischen notwendigen und hinreichenden Bedingungen unterscheiden; ! schon von der Behauptung ausgehen und so lange Folgerungen ziehen, bis eine offensichtlich wahre Aussage auf dem Papier steht. Um Beweise korrekt führen zu können, müssen Schülerinnen und Schüler nicht nur über das nötige Faktenwissen (wie Kongruenzsätze, Eigenschaften der besonderen Linien im Dreieck) verfügen, sondern auch über ein MetaWissen in Bezug auf die Funktion, die Charakteristika und das korrekte Führen mathematischer Beweise (vgl. Healy und Hoyles 1998; Ufer u. a. 2009). Dass dieses Meta-Wissen häufig defizitär ist, zeigen zahlreiche Studien (vgl. Andelfinger 1988; Bauer 1989; Heinze 2004). Insbesondere empfinden Schülerinnen und Schüler in der Sekundarstufe I oft kein Beweisbedürfnis (vgl. Winter 1993). Sie akzeptieren das Nachmessen oder das Überprüfen anhand einer Zeichnung als Beleg für die Allgemeingültigkeit einer Aussage und sehen nicht die Notwendigkeit eines Beweises der Aussage. Dies kann als typisch für ein vorwissenschaftliches Denken gelten, das noch nicht zwischen einer Theorie und empirischen Beobachtungen zu unterscheiden vermag (vgl. Reiss und Thomas 2000). So wird bei einem Widerspruch zwischen Beobachtungen oder Messungen und der Theorie nicht die Theorie verworfen, sondern vielmehr die Empirie so uminterpretiert, dass sie wieder im Einklang mit der Theorie steht. Vermutlich wird ein solches Konzept auch durch weitgehend empirisch orientierte Erarbeitungen im alltäglichen Mathematikunterricht geprägt. Insofern verwundert es auch nicht, wenn nach Andelfinger (1988) das Beweisen für Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I ein weitgehend separates Teilgebiet innerhalb der Geometrie ist:

46

II Beweisen und Argumentieren

Sie fassen die Geometrie als „ein unendlich weites Feld von Figuren auf, das sehr wohl und sogar sehr gut ohne systematische Beweislasten existieren kann“ (ebd. 173). Eng damit verbunden ist eine ablehnende Haltung gegenüber den als unnötig empfundenen Beweisen im Geometrieunterricht (vgl. Andelfinger 1988; Bauer 1989). In Konsequenz hieraus wird denn auch das Wecken des Beweisbedürfnisses als zentrale Aufgabe des Geometrieunterrichts in der Sekundarstufe I gesehen. Immer wieder diskutiert wird die Frage, welche Rolle diesbezüglich der Einsatz von DGS spielt: Einerseits besteht die Gefahr, dass das Beweisbedürfnis weiter sinkt, weil eine dynamische Darstellung an sich schon eindrucksvoll erscheint und zu überzeugen vermag, so dass sie nicht mehr hinterfragt wird (vgl. Kapitel V, Beispiel 10). Andererseits belegen empirische Studien, dass der Einsatz von DGS in Lernumgebungen zur Geometrie vielfältige Anlässe und Impulse zum Argumentieren liefern kann (vgl. Elschenbroich u. a. 2001; Laborde u. a. 2006). Über die derzeitige Unterrichtspraxis zum Beweisen gibt es kaum Befunde. Eine Videostudie (Heinze und Reiss 2004; Kuntze u. a. 2004) zeigt, dass geometrische Beweise in der 8. Jahrgangsstufe des Gymnasiums überwiegend in einem fragend-entwickelnden Unterricht erarbeitet werden. Im Anschluss an vorbereitende Aktivitäten (wie das Messen von Winkeln oder Streckenlängen) dominiert eine starke Steuerung durch die Lehrkraft, die den Beweis in einzelne Sequenzen zerlegt. Infolge der Kleinschrittigkeit der Fragen und Impulse bleibt offen, ob die Schülerinnen und Schüler wirklich einen Überblick über den Beweisprozess und Einsicht in die zentralen Ideen gewinnen. Ferner treten nur selten Phasen auf, in denen die Schülerinnen und Schüler die Gelegenheit zu einer Exploration der Situation (und damit zu einer eventuell möglichen selbstständigen Beweisfindung) erhalten.

2.2 Mathematisch argumentieren Ein Blick in Schulbücher zeigt im Hinblick auf das Beweisen und Argumentieren deutliche Veränderungen und spiegelt letztlich auch die didaktische Diskussion der vergangenen 30 Jahre wider. Heute kaum noch üblich ist ein globales Ordnen der ebenen Geometrie, d. h. eine vollständige deduktive Darstellung der ebenen Geometrie ausgehend von einem Axiomensystem, entsprechend den in der Fachwissenschaft üblichen Ansätzen bei Euklid (um 325 v. Chr.) und Hilbert (1899). Eine zumindest ansatzweise Verwirklichung des globalen Ordnens findet man beispielsweise noch in der Schulbuchreihe von Kratz (1993), die „Definitionen“, „Fundamen-

2 Beweisen und Argumentieren im Unterricht

47

talsätze“ (unbewiesene Grundannahmen, vergleichbar mit Axiomen), „Sätze“, die bewiesen werden, sowie „Grundaufgaben“ unterscheidet. Die dahinter stehende didaktische Intention beschreibt Kratz (1993, Vorwort) so: „Es versteht sich von selbst, dass im Geometrieunterricht der Mittelstufe ein lückenloser Aufbau oder gar eine gewisse Axiomatik auch nur ansatzweise in Betracht kommt. Dem Schüler muss jedoch von Anfang an bewusst gemacht werden, dass zwischen Sätzen, die auf unmittelbarer Erfahrung und Überzeugung beruhen, und solchen, die aus ‚Erfahrungs- und Überzeugungssätzen‘ gefolgert werden können, klar zu unterscheiden ist.“ Da sich das globale Ordnen der ebenen Geometrie in der Sekundarstufe I in mehrfacher Hinsicht als undurchführbar und wenig gewinnbringend für die Schülerinnen und Schüler erwiesen hatte, wurde das lokale Ordnen eines Teilbereichs der ebenen Geometrie propagiert. Es verfolgt die Zielsetzung, dass die Schülerinnen und Schüler nicht Axiomensysteme und Beweise lernen sollen, sondern das Axiomatisieren und das Beweisen (vgl. Freudenthal 1973, S. 142.). Zentrale Aktivitäten sind dabei die Beweisanalyse, der Nachweis der Äquivalenz zweier Definitionen oder die Reduktion eines Satzsystems (vgl. Holland 2007, S. 140 ff.). Sie sollen in eine deduktive Darstellung eines Teilbereichs der ebenen Geometrie münden. Die in den letzten Jahren erschienenen Schulbücher (auch für das Gymnasium) fordern kaum noch formale Beweise. Stattdessen gewinnt ein anschaulichinhaltliches Argumentieren, das von konkreten geometrischen Problemen ausgeht, an Bedeutung (vgl. Beispiel 3, nach Affolter u. a. 2003, S. 21). Beispiel 3: Ein Dreieck mit möglichst großem Flächeninhalt in einem Rechteck Zeichne in ein Rechteck der Seitenlängen 5 cm und 12 cm ein Dreieck mit möglichst großem Flächeninhalt. Überprüfe folgende Behauptungen: ! Ein größtmögliches Dreieck im Rechteck hat mindestens eine Seite mit dem Rechteck gemeinsam. ! Ein größtmögliches Dreieck im Rechteck hat genau eine Seite mit dem Rechteck gemeinsam. ! Es gibt im Rechteck genau ein größtmögliches Dreieck. ! Ein größtmögliches Dreieck im Rechteck kann rechtwinklig sein. ! Ein größtmögliches Dreieck im Rechteck kann spitzwinklig sein. ! Ein größtmögliches Dreieck im Rechteck kann stumpfwinklig sein.

48

II Beweisen und Argumentieren

In die gleiche Richtung gehen auch die Bildungsstandards für den mittleren Schulabschluss, die – wie schon eingangs erwähnt – „mathematisch argumentieren“ (KMK 2004, S. 7) als eine allgemeine mathematische Kompetenz anführen und nicht auf die Geometrie beschränken, sondern für alle Teilgebiete des Mathematikunterrichts fordern. Die explizit dieser Kompetenz zugeordneten geometrischen Beispielaufgaben fordern inhaltlich-anschauliche oder rechnerische Argumentationen, jedoch keine formalen Beweise (vgl. Beispiel 4; KMK 2004, S. 19). Charakteristisch hierfür ist auch das Stellen von Aufgaben in Gestalt von fortschreitenden Sequenzen: An einfache Berechnungen schließen sich weiterführende Impulse zum mathematischen Argumentieren an. Beispiel 4: Vom Stern zur Pyramide

F

Der abgebildete symmetrische Stern hat folgende Eigenschaften: Alle Seiten sowie die Strecken [AC] und [CE] haben die gleiche Länge a, und [AC] steht senkrecht auf [CE]. a) Wie viele Symmetrieachsen hat der Stern? b) Beschreibe eine Konstruktion des Sterns.

G

E

H

D A

C B

c) Die Dreiecksflächen sollen so geklappt werden, dass eine Pyramide entsteht. Bestimme das Volumen der Pyramide für a = 5,0 cm. d) Der Stern wird so verändert, dass die Strecken AC und AB nicht mehr gleich lang sind. Die Symmetrie des Sterns bleibt jedoch erhalten. Unter welchen Bedingungen kann durch Klappen der Dreiecksflächen eine Pyramide entstehen? Mathematisches Argumentieren kann nicht isoliert gelernt werden, sondern nur in geeigneten Lernumgebungen und im Verbund mit anderen Kompetenzen. Offensichtlich gilt dies insbesondere in Bezug auf die Kompetenzen „Probleme mathematisch lösen“, „kommunizieren“ und „mathematische Darstellungen verwenden“ (KMK 2004, S. 7): Argumentationen fallen leichter, wenn ! ein echtes Interesse an der Lösung eines für die Schülerinnen und Schüler offenen Problems besteht (vgl. Kapitel V), ! eine natürliche Kommunikationssituation besteht, etwa der Austausch über verschiedene Lösungswege,

2 Beweisen und Argumentieren im Unterricht

49

! sie sich auf geeignete Darstellungen stützen können und nicht rein verbal geführt werden müssen. Wesentlich dafür, ob Argumentationen wirklich angeregt werden, sind deshalb auch Unterrichtsmethodik und Unterrichtskultur. Zwar liefern die in diesem Kapitel abgedruckten Aufgabenstellungen vielfältige Argumentationsanlässe aus der Sache heraus, sie müssen jedoch auch methodisch adäquat umgesetzt werden. Die Argumentationsanlässe selbst können dabei sehr unterschiedlich sein; typische Impulse lauten: ! „Begründe, dass …!“ oder „Zeige, dass … nicht gilt!“ ! „Überprüfe, ob …!“ oder „Kann es sein, dass …?“ ! „Warum ist … immer so?“ oder „Gilt immer, dass …?“ ! „Sind dies alle möglichen Fälle, oder gibt es weitere?“ Argumentationen können damit ein Element des alltäglichen Geometrieunterrichts sein. Besonders geeignet für den Einstieg sind Aufgabensequenzen: An Teilaufgaben, die eher Routinetätigkeiten (beispielsweise Berechnungen) fordern, schließen sich solche an, die auf eine Argumentation zielen. Beispiel 5 (nach Leiß und Blum 2006, S. 38) erfordert zunächst in der ersten Teilaufgabe die Übertragung des Satzes von Pythagoras in einen speziellen, für die Schülerinnen und Schüler neuen Kontext. Verschiedene bekannte Aussagen müssen zu einer Argumentationskette zusammengefügt werden. In der zweiten Teilaufgabe wird eine Verallgemeinerung angeregt, für die die Schülerinnen und Schüler eine mehrschrittige Argumentationsstruktur selbst entwickeln müssen. Beispiel 5: Gleichseitige Dreiecke am rechtwinkligen Dreieck Die Abbildung zeigt ein rechtwinkliges Dreieck, dessen Katheten und Hypotenuse die Seiten von drei gleichseitigen Dreiecken bilden. ! Begründe mit Hilfe des Satzes von Pythagoras, warum folgende Behauptung gilt: Der Flächeninhalt der beiden Kathetendreiecke ist zusammen genauso groß wie der Flächeninhalt des Hypotenusendreiecks. ! Begründe, warum dies auch gilt, wenn man gleichseitige n-Ecke statt der Dreiecke nimmt.

50

II Beweisen und Argumentieren

Im Beispiel 6 (nach Leuders 2006, S. 83) müssen Schülerinnen und Schüler einerseits Routineargumentationen wiedergeben (Nachweise rechtwinkliger Dreiecke u. a. mittels des Satzes von Thales und der Winkelsumme im Dreieck), andererseits diese in einer unbekannten, komplexeren Figur erkennen. Mathematisch argumentieren zu können ist neben dem nötigen Faktenwissen eine wichtige Voraussetzung für das Lösen mathematischer Probleme. Beispiel 6: Dreiecke in einer Figur Die Punkte A, B, C und D liegen auf einem Kreis mit dem Mittelpunkt M und dem Durchmesser [AC]. Die Punkte A, B, C und D bilden ein Drachenviereck.

D

A

Die Figur enthält mehrere rechtwinklige Dreiecke. Finde alle rechtwinkligen Dreiecke. Begründe jeweils, warum das Dreieck rechtwinklig ist.

M

S

C

B

2.3 Inhaltlich-anschauliche Beweise Als Gegenbewegung zur Neuen Mathematik der 1960er und 1970er Jahre mit ihrer Überbetonung des Formalen entstanden schon relativ früh verschiedene Vorschläge, beim Beweisen wieder stärker inhaltliche Aspekte hervorzuheben und formale Aspekte in den Hintergrund zu stellen. Charakteristisch für derartige Ansätze sind Bezeichnungen wie „handlungsbezogene Beweise“ (Blum und Kirsch 1989), „paradigmatische Beweise“ (Fischer und Malle 1985), „prämathematische Beweise“ (Kirsch 1979), „Beweise ohne Worte“ (Nelson 1993), „inhaltlich-anschauliche Beweise“ (Wittmann und Müller 1988) oder „‚Siehe‘-Beweise“ (Winter 1991). Ein wesentlicher Ansatz ist hierbei, dass mathematisches Wissen in verschiedenen Darstellungsmodi repräsentiert werden kann: nicht nur symbolisch, sondern auch enaktiv (in Form von Handlungen mit konkretem Material) und ikonisch (unter Rückgriff auf Zeichnungen oder Modelle). Im Folgenden wird – das Gemeinsame dieser Vorschläge aufgreifend – die Bezeichnung inhaltlich-anschauliche Beweise verwendet für Argumentationen, bei denen enaktiven oder ikonischen Darstellungen eine entscheidende Rolle zukommt. Jede Handlung und jeder relevante Aspekt der Zeichnung

2 Beweisen und Argumentieren im Unterricht

51

entsprechen hierbei einem korrekten mathematischen Argument. Die Argumentationskette erfolgt meist in direkter Weise, ausgehend von den Voraussetzungen hin zur Behauptung. Inhaltlich-anschauliche Beweise geben den „mathematischen Kern“ des Sachverhalts korrekt wieder und lassen sich deshalb stets formalisieren und zu einem exakten Beweis weiterentwickeln (Beispiel 7). Beispiel 7: Zerlegungsbeweis zum Satz von Pythagoras Das Prinzip der Flächenergänzung ist die Grundlage eines inhaltlich-anschaulichen Beweises. Das rechtwinklige Dreieck mit den Katheten der Länge a und b sowie der Hypotenuse der Länge c wird viermal aus Pappe ausgeschnitten, zudem je ein Quadrat der Seitenlänge a, b und c.

a2 a

c b

b2

c2

Ein passendes Zusammenlegen der Figuren zu einem Quadrat mit der Seitenlänge a & b zeigt: Die beiden Quadrate mit den Seitenlängen a und b sind zusammen ergänzungsgleich zum Quadrat mit der Seitenlänge c, also folgt a 2 & b 2 0 c 2 . Diese Überlegungen sind für jedes rechtwinklige Dreieck gültig und lassen sich in einen formalen Beweis überführen. So kann unter Rückgriff auf Winkel- und Längeneigenschaften gezeigt werden, dass die beim Zusammenfügen entstehenden Figuren jeweils wirklich ein Quadrat der Seitenlänge a + b bilden. Auch wenn in einem inhaltlich-anschaulichen Beweis mit einem Beispiel gearbeitet wird, so lässt dieses Beispiel bereits die Übertragbarkeit auf jeden anderen Fall und damit seine Verallgemeinerbarkeit erkennen: Es handelt sich um ein paradigmatisches Beispiel, das bereits den allgemeinen Fall repräsentiert (vgl. Fischer und Malle 1985, S. 183 ff.). Diesbezüglich unterscheiden sich inhaltlich-anschauliche Beweise von einem bloßen Ausprobieren oder Nachmessen (Beispiel 8).

52

II Beweisen und Argumentieren

Beispiel 8: Beispielbezogene Argumentation zum Satz von Pythagoras Das Auslegen der Quadrate über den Dreiecksseiten mit quadratischen Plättchen ist kein inhaltlich-anschaulicher Beweis für den Satz von Pythagoras, sondern nur die Veranschaulichung eines Spezialfalles. Da die Gleichung 32 & 4 2 0 52 nur für rechtwinklige Dreiecke mit den Seitenlängen 3, 4 und 5 gilt, ist eine Verallgemeinerung für beliebige rechtwinklige Dreiecke nicht möglich. Die Bezeichnung inhaltlich-anschaulicher Beweise als „Beweise ohne Worte“ (Nelson 1993) ist allerdings missverständlich: Ihr Potenzial für den Mathematikunterricht liegt gerade darin, dass sie das Verbalisieren anregen und fördern – auch und insbesondere für Schülerinnen und Schüler mit sprachlichen Defiziten (Beispiel 9; nach Leuders und Wittmann 2006, S. 5). Beispiel 9: Flächeninhalt eines Dreiecks Die Gleichung A 0 12 gh für den Flächeninhalt eines Dreiecks mit Grundseite g und Höhe h lässt sich in unterschiedlicher Weise aus der Gleichung A 0 gh für ein Parallelogramm mit Grundseite g und Höhe h herleiten. Die Kernidee des Beweises kann jeweils ikonisch dargestellt werden.

Allerdings führt ein bloßes Ansehen der Abbildungen noch nicht zur Gleichung. Vielmehr muss damit gearbeitet werden. Mögliche Impulse lauten: ! Zeichne gleich große Winkel mit derselben Farbe ein.

2 Beweisen und Argumentieren im Unterricht

53

! Warum ergibt die neue Figur ein Parallelogramm (ein ...)? ! Durch welche Punkte muss die eingezeichnete Hilfslinie verlaufen? Hierbei kann Schritt für Schritt aus einem noch in der Anschauung verhafteten Argumentieren („die roten Winkel“, „die blauen Strecken“) ein formaler Beweis erwachsen. Im Sinne einer inneren Differenzierung müssen hierbei nicht alle Schülerinnen und Schüler gleich weit kommen. Neue Möglichkeiten in Bezug auf inhaltlich-anschauliches Beweisen eröffnet der Einsatz von DGS. Handlungen, die traditionell entweder an realen Objekten durchgeführt werden oder nur in der Vorstellung ablaufen, können mit einem DGS interaktiv am Bildschirm vorgenommen werden (Beispiel 10, nach Elschenbroich 2005, S. 78 f.). Die dynamische Darstellung der Konfiguration ist dabei für viele Schülerinnen und Schüler eine Hilfe, beispielsweise Invarianten zu erkennen, während mathematisch versierte Personen auch in ein Einzelbild oder eine Bildfolge die Dynamik hineinsehen und die Besonderheiten der speziellen Darstellung vom Einzelfall unterscheiden können. Elschenbroich (2005, S. 77) bezeichnet solche Beweise als „visuell-dynamische Beweise“. Beispiel 10: Inkreis eines Dreiecks Zu jedem Punkt einer Winkelhalbierenden eines Dreiecks kann aus Symmetriegründen ein Kreis so konstruiert werden, dass er die Dreiecksseiten bzw. deren Verlängerung berührt. Wird im Zugmodus der Kreismittelpunkt auf der Winkelhalbierenden variiert, so wandert der Kreis aus dem Inneren des Dreiecks heraus und hat dabei genau eine Position, in der er auch die dritte Seite berührt, also Inkreis ist.

Auf diese Weise erhält man einen visuell-dynamischen Existenzbeweis für den Inkreis eines Dreiecks. Wird die Konstruktion mit den anderen Winkelhalbierenden wiederholt, liefert das auch eine Idee dafür, wie der Mittelpunkt des Inkreises konstruiert werden kann – er muss auf allen drei Winkelhalbierenden liegen, es handelt sich also um deren Schnittpunkt.

http://www.springer.com/978-3-8274-1715-2

Suggest Documents