BERLIN-FRIEDRICH- STRASSE UHR 14+

BERLIN-FRIEDRICH­ S T R A S S E 2 0 . 5 3 U H R 1 4 + in einer Fassung von Marcus Lobbes BEGLEITMATERIAL ZUM STÜCK BERLIN-FRIEDRICHSTRASSE 20.53 U...
Author: Ulrike Lange
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BERLIN-FRIEDRICH­ S T R A S S E 2 0 . 5 3 U H R 1 4 + in einer Fassung von Marcus Lobbes

BEGLEITMATERIAL ZUM STÜCK

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Es spielen: Birgit Berthold Konstantin Bez Jakob Kraze Johannes Hendrik Langer Hagen Löwe Denis Pöpping Franziska Ritter Marcus Lobbes Mona Ulrich Michael Deeg Katrin Hentschel Irina-Simona Barca / Frank Röpke Eddi Damer Marc Lautner Rainer Pagel Jörg Wartenberg / Sebastian Köster Chiara Galesi Anne-Sophie Attinost Jutta Rutz Ilonka Schrön Jens Blau Ute Seyer / Sabine Hannemann

Regie + Bühne Kostüme Video Dramaturgie Theaterpädagogik Technischer Direktor Bühnenmeister Licht Ton Regieassistenz Inspizienz Soufflage Maske Requisite Ankleiderei

Herstellung der Dekoration unter der Leitung von Jörg Heinemann in den Werkstätten der Stiftung Oper in Berlin – Bühnenservice, Herstellung der Kostüme durch die Firma Gewänder / Maren Fink-Wegner Premiere: 4. November 2014 Bühne 1 ca. 55 Minuten

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Inhalt Einleitung 4 Die Geschichte 5 Zur Inszenierung 6 Die Berliner Mauer in Zahlen 7 Wie kam es zum Mauerbau?  8

Zeittafel  8 Historischer Abriss  11 Der Mauerbau 12 Fluchtaktionen 14 Das Regie-Team 15

Marcus Lobbes – Regie und Bühne  15 Mona Ulrich – Kostümbild  15 Michael Deeg – Video  16 Katrin Hentschel – Dramaturgie  16 Auszug aus der Textfassung 16 Kritiken zur Inszenierung 18 Zur Vor- und Nachbereitung des Aufführungsbesuches 20

Alessa Brochhagen: Generation ohne ­Vision?  20 Jugend   23 FRAGEN, NICHTS ALS FRAGEN   24 Anregungen für Ihren Unterricht  24 Hinweise für den Theaterbesuch 26 Impressum 27

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Einleitung Sehr geehrte Damen und Herren, ich möchte Sie zu einem Theaterereignis der besonderen Art begrüßen. Mit dem Projekt „Berlin-Friedrichstraße 20.53 Uhr“ macht das THEATER AN DER PARKAUE ein Angebot zum 25. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer. Es ist uns ein Anliegen, Ihnen mit diesem Projekt einen Anstoß zu geben, über dieses Thema, seine Folgen und Ursachen mit Schülern und Lehrern laut nachzudenken. Es ist kein Beitrag darüber, wie es zum Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 kam und auch keine Inszenierung über die DDR. Wir möchten einen Kosmos eröffnen, über Themen wie das Leben in der DDR oder die Frage „Wie fälle ich Entscheidungen im Leben“ nachzudenken. Die Geschichte, die in unserer Inszenierung erzählt wird, ist von 1962, also aus den früheren Zeiten der DDR, aus einer Zeit kurz nach dem Mauerbau 1961. Die Jugendlichen in unserer Geschichte haben ein Leben ohne Mauer erlebt.

Es geht in unserer Theaterarbeit weder um Vollständigkeit noch um genaue historische Aufarbeitung. Unsere Geschichte handelt von persönlichen, individuellen Sichtweisen und Handlungen. Auch wenn Namen genannt werden und Karl-Heinz Richter sicher noch heute der bekannteste der Schüler ist, geht es weder um eine Darstellung des Lebens von diesen Schülern noch um eine Positionierung. 25 Jahre nach dem Fall der Mauer spürt die Inszenierung den Fakten deutscher Geschichte ebenso nach wie den authentischen Geschichten dieser jungen Menschen und vollzieht dabei weder Opferarbeit noch Täteranalyse. Dieser Theaterabend lädt zum Gespräch ein. Für Einführungen, Workshops und Gespräche kontaktieren Sie bitte unsere Theaterpädagogen IrinaSimona Barca und Frank Röpke unter tp@parkaue. de oder telefonisch unter 030 – 55 77 52 -60. Katrin Hentschel, Dramaturgin dieser Inszenierung und Oberspielleiterin

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Die Geschichte Weißt du nicht ein Loch in der Mauer? Berlin-Friedrichstraße, 20.53 Uhr heißt die Verabredung im Jahr 1962. Neun Schüler der MaxPlanck-Oberschule in Ost-Berlin schaffen mit einem Schwung über das Brückengeländer am S-Bahnhof Friedrichstraße den Sprung in den Paris-Moskau-Express und somit nach West-Berlin. Einer nach dem anderen fehlen sie am nächsten Tag in der Klasse im

Ostteil der Stadt. Unruhe bricht unter Schülern wie Lehrern aus: Konnten sie flüchten? Wie? Wo war ihr Schlupfloch? Der Zehnte stürzt von der Brücke und landet für zehn Jahre im Gefängnis. Von nun an ist dieser Fluchtweg aus dem Osten in den Westen verbrannt. Positionen der Beteiligten werden ausgetauscht, Meinungen dazu gehört, die Geschichte wird wie ein Krimi zugespitzt.

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Zur Inszenierung Der Regisseur Marcus Lobbes wirft mit „BerlinFriedrichstraße 20.53 Uhr“ einen außergewöhnlichen Blick auf diese Fluchtgeschichte. Die jungen Männer waren keine Opfer des DDR-Systems, sondern lebenshungrige Abenteurer auf dem Weg in eine neue, ungewisse Welt. Mit 16 Jahren haben sie alles riskiert, angetrieben von der Sehnsucht nach Veränderung ihres Lebens. Er erzählt uns die Geschichte mit sieben Schauspielern aus dem Ensemble des THEATER AN DER PARKAUE, Männer wie Frauen, Junge wie Alte. Es geht nicht um Identifikation oder Nachspielen der Situation. Sie sprechen spannungsvolle Texte im Chor oder haben die Texte verteilt. In einzelnen Momente ergibt sich eine direkte Begeg-

nung zu zweit oder zu dritt. Sie hören sich zu und werden immer wieder zum Chor. Dabei stehen oder sitzen sie vor einer Mauer, die vier mal zehn Meter groß ist und aus 192 weißen Steinen aus Pappmaché besteht. Sie erinnert an die historische Mauer. Auf dieser Mauer sind Videoprojektionen zu sehen. Der Videokünster Michael Deeg hat Videobilder erfunden, die die Geschichte begleiten und veranschaulichen (Computerspiele, wie „world in conflict“, „papers, please“ werden zitiert) . Diese Bilder sind Animationen, die mit der historischen Zeit spielen. Die Kostümbildnerin Mona Ulrich steckt die Schauspieler in moderne Jumpsuits, die an den klassischen Trainingsanzug der DDR erinnern. Regisseur Marcus Lobbes über die Probenarbeit: „Das Besondere an dieser Theaterarbeit war, dass wir in der ehemals geteilten Stadt, wir haben hier ja Westen und Osten, tatsächlich ein Material untersuchen über die geteilte Stadt, mit den geteilten Biografien auf der Bühne und vielleicht auch im Saal. Und das macht natürlich auch gleichzeitig das Besondere des Probenprozesses aus. Ich habe selten so viel Biografisches erfahren von meinen Mitarbeitern, was konkret mit der Geschichte zu tun hat. Ich habe auch selten so viel gelernt vor Ort an Sichtweisen, an verschiedenen Positionen. Was bedeutet eine Darstellungshoheit bei einem solchen sensiblen Thema, was zwar historisch, aber trotzdem in Elementen emotional verankert ist? Viele hier kennen die Situation und haben sie erlebt. Und wie man dann wieder eine gemeinsame Transformation schaffen kann, wie man da die Mauern und Grenzen im Kopf gemeinsam beseitigt für einen Theaterabend, der bestimmt nicht kongruent ist, sondern der trotzdem geteilt ist, also mehre Meinungen hervorruft, das war schon eine große und zentrale Frage.“

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Szenenfoto mit Denis Pöppig, Johannes Hendrik Langer und Konstatin Bez

Die Berliner Mauer in Zahlen Länge der Demarkationslinie zwischen Ost- und West-Berlin: 43,1 km Länge der Demarkationslinie zwischen West-Berlin und der DDR: 111,9 km Länge der Betonplattenwand: 107,0 km Länge des Metallgitterzauns: 61,3 km Länge des elektrischen Kontakt- und Signalzauns: 127,5 km Länge des asphaltierten Kontrollgangs entlang der Mauer: 124,0 km Zahl der Beobachtungstürme an der Mauer: 296 Aufwand für den Bau der Mauer (1961) (= Jahresproduktion der gesamten DDR-Wohnungsbauwirtschaft): ca. 100 Mio. DM Zahl der erfolgreichen Flüchtlinge nach dem Bau der Mauer: 180 000 Zahl der legalen Ausreisen aus der DDR nach Westdeutschland (1961 – 1989): 727 000

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160 km Grenze 46 km Mauer zwischen dem Ost- und dem Westteil der Stadt 45 000 Einzelteile (3,60 x 1,20), 2,75 Tonnen schwer 116 Wachtürme 450 000 m² Todesstreifen 10 000 Grenzsoldaten und Offiziere knapp 5 000 Fluchtversuche 239 Tote

Wie kam es zum Mauerbau? Zeittafel (Auswahl) 12. September 1944 Londoner Protokoll (Abkommen zwischen Großbritannien, der UdSSR und den USA über den Berliner VierMächte-Status, ab 14. November 1944 mit Einbeziehung Frankreichs) 2. August 1945 Potsdamer Abkommen; endgültige Festlegung des Vier-Mächte-Status für Berlin 19. Juni 1948 – 4. Mai 1949 Berlin-Blockade 27. November 1958 Berlin-Ultimatum der UdSSR: Forderung, West-Berlin zu einer „entmilitarisierten Freien Stadt“ und einer „selbständigen politischen Einheit“ zu machen 16. – 18. Dezember 1958 Ablehnung des Berlin-Ultimatums durch den Nato-Rat Ende Juni 1961 Formulierung der drei „Essentials“ der amerikanischen Regierung: freier Zugang nach West-Berlin, Präsenz von Truppen der Westmächte in West-Berlin, Freiheit und Sicherheit der West-Berliner Bevölkerung 13. August 1961 Beginn des Mauerbaus in Berlin 17. August 1961 Proteste der Westmächte gegen die Sperrmaßnahmen 19. August 1961 Berlin-Besuch des amerikanischen Vizepräsidenten Lyndon B. Johnson 1. Mai 1962 Massendemonstration der West-Berliner am Reichstag für die Freiheit der Menschen im anderen Teil der Stadt mit über 700 000 Teilnehmern

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22. – 28. Oktober 1962 Nach dem gescheiterten Versuch der Sowjetunion, Kuba zu einem Raketenstützpunkt gegen die USA auszubauen, beginnt eine Phase der Entspannung zwischen Washington und Moskau. 5. August 1963 Die USA, Großbritannien und die Sowjetunion schließen ein Abkommen über den Stopp von Atomtests. 26. Juni 1963 Besuch des US-Präsidenten John F. Kennedy in West-Berlin („Ich bin ein Berliner“) 18. Dezember 1963 – 5. Januar 1964 Erstes Passierscheinabkommen für West-Berliner zum Verwandtenbesuch im Ostteil der Stadt (weitere Abkommen: 1964, 1965 und 1966) 11. Juli 1968 Die USA, Großbritannien und die Sowjetunion unterzeichnen den Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (Atomsperrvertrag) 1. November 1969 Zwischen den USA und der UdSSR beginnen Gespräche über die Begrenzung strategischer Rüstungen 3. September 1971 Vier-Mächte-Abkommen über Berlin: Bestätigung der Rechte der Westmächte in West-Berlin, Garantie der Verbindungswege zwischen der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin 3. Juni 1972 Einigung zwischen der DDR-Regierung und dem Senat von Berlin über die Besuche von West-Berlinern im Ostteil der Stadt, Transitabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR: ungehinderter Zugang zum Westteil der Stadt 21. Dezember 1972 Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR mit dem Beschluss der Einrichtung von Ständigen Vertretungen beider Länder in Berlin und Bonn, was einer diplomatischen Anerkennung gleichkam. Für die Bundesrepublik galt die DDR zwar als eigener Staat, aber nicht als Ausland. Darüber hinaus akzeptierte sie eine besondere DDR-Staatsbürgerschaft nur begrenzt. 1974 Änderung der Verfassung der DDR, u.a. des Artikels 8, der das Gebot der Wiedervereinigung enthalten hatte („Die Deutsche Demokratische Republik und ihre Bürger erstreben […] die schrittweise Annäherung der beiden deutschen Staaten bis zu ihrer Vereinigung auf der Grundlage der Demokratie und des Sozialismus“), nun sieht die DDR zwei souveräne Staaten, die jeweils für den anderen Ausland sind. 2. Juni 1987 Berlin-Besuch des US-Präsidenten Ronald Reagan: „Herr Gorbatschow, reißen Sie die Mauer nieder!“ 7. Oktober 1989 Anlässlich des 40. Jahrestages des DDR kommt es zu massiven Protesten unter den DDR-Bürgern und zahlreichen Verhaftungen 30. Oktober 1989 Kundgebung vor dem Roten Rathaus in Ost-Berlin (etwa 200 000 Teilnehmer): Forderung nach Beseitigung der Mauer

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4. November 1989 Die größte, nicht staatlich gelenkte Demonstration in der Geschichte der DDR gilt als Meilenstein in der friedlichen Revolution von 1989. Sie wurde live im DDR-Fernsehen übertragen. 9. November 1989 Öffnung der Mauer 1. Juli 1990 Die Bewachung der Mauer und sämtliche Grenzkontrollen wurden endgültig eingestellt.

Szenenfoto mit Denis Pöpping, Franziska Ritter und Konstantin Bez

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Historischer Abriss Walter Ulbricht, DDR-Staatsratsvorsitzende, am 15. Juni 1961 auf einer Pressekonferenz in Ost-Berlin: „Ich verstehe Ihre Frage so: Dass es Menschen in Westdeutschland gibt, die wünschen, dass wir die Bauarbeiter der Hauptstadt der DDR mobilisieren, um eine Mauer aufzurichten, ja? Eh, mir ist nicht bekannt, dass eine solche Absicht besteht, da sich die Bauarbeiter in der Hauptstadt hauptsächlich mit Wohnungsbau beschäftigen und ihre Arbeitskraft voll eingesetzt wird. Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ Am 13. August 1961 begannen die Arbeiten am Mauerbau. In der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961 gab Walter Ulbricht den Befehl zur Abriegelung der Sektorengrenze zwischen Ost- und West-Berlin im Einverständnis mit der Sowjetunion und mit der Rückendeckung der sowjetischen Truppen in der DDR. Die Mauer sollte für die nächsten 28 Jahre die politische Spaltung Deutschlands und Europas zementieren. Sie wurde weltweit zum Symbol für den Kalten Krieg, der die Welt politisch in eine östliche und eine westliche Hemisphäre spaltete und zum Symbol für eine Diktatur, die ihre Existenz nur dadurch zu sichern vermochte, dass sie ihre Bevölkerung einsperrte. Über eine ganze Generation wurden die Deutschen in Ost und West von einer Betonmauer, Stacheldraht und Selbstschussanlagen auseinander dividiert. Niemand konnte sich vorstellen, dass 28 Jahre vergehen würden, bevor mit dem Fall der Mauer die Überwindung der Teilung in Deutschland wieder möglich wurde. Niemand konnte sich vorstellen, dass es am 9. November 1989 buchstäblich von einer Minute auf die andere geschehen würde. Auf der einen Seite hieß die Mauer „Friedensgrenze“ und „Antifaschistischer Schutzwall“, auf der anderen „kommunistische Schandmauer“. Ihr Fall

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markiert auch das Ende des Kalten Krieges. Mehr als ein Vierteljahrhundert nach ihrer Erbauung fiel die Mauer am 9. November 1989. Dieser 9. November hat sich in den Köpfen der Menschen als Tag der deutschen Einheit verknüpft, weit mehr als der eigentliche Staatsakt ein Jahr später. Er erinnert uns auch an erfolgreichen Widerstand und Bürgermut. Auf Beschluss der Konferenz von Jalta wurde Deutschland nach Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Berlin mit seinem Sonderstatus in der sowjetischen Besatzungszone wurde ebenso in vier Sektoren geteilt. Schon 1948 kam es zur ersten Berlin-Blockade durch die Sowjetunion. Alle Land- und Wasserwege zur Versorgung von West-Berlin wurden geschlossen. Die Westalliierten USA, Frankreich und Großbritannien reagierten mit der Einrichtung einer Luftbrücke, über die West-Berlin versorgt wurde. 1949 wurden die zwei deutschen Staaten gegründet: zunächst am 23. Mai 1949 die Bundesrepublik Deutschland. Am 7. Oktober 1949 zog die Deutsche Demokratische Republik (DDR) nach. Seit 1952 wurde die innerdeutsche Grenze durch die DDR mittels Zäunen, Bewachung und Alarmvorrichtungen gesichert. Nur noch die Grenze zwischen West- und Ost-Berlin war offen. Im Frühjahr 1961 verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage der DDR rapide, die Versorgungsprobleme nahmen zu und die Zahl der Flüchtlinge wuchs von Tag zu Tag. Zehntausende flüchteten jeden Monat aus der DDR – das Land blutete aus, das Ende der DDR schien nahe. Rund 2,7 Millionen Menschen hatten zwischen 1949 und 1961 die DDR und Ost-Berlin in Richtung Westen verlassen. Darunter waren vor allem gut ausgebildete junge Arbeiter und Akademiker. Allein im Juli 1961 verließen 30 000 Menschen die DDR. Der einzige noch offene Fluchtweg führte nach West-Berlin. Zu dem Arbeitskräftemangel kam auch der Abfluss von Waren aller Art und der illegale Geldumtausch, der die Währung der DDR-Mark schwächte. Täglich passierten rund eine halbe Million Menschen in beide Richtungen die Sektorengrenzen in Berlin.

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Der Mauerbau Am 12. August 1961 gab der Ministerrat der DDR bekannt: „Zur Unterbindung der feindlichen Tätigkeit der revanchistischen und militaristischen Kräfte Westdeutschlands und West-Berlins wird eine solche Kontrolle an der Grenze der Deutschen Demokratischen Republik einschließlich der Grenze zu den Westsektoren von Groß-Berlin eingeführt, wie sie an den Grenzen jedes souveränen Staates üblich ist.“ Der Mauerbau war unter völliger Geheimhaltung durch den damaligen für Sicherheitsfragen zuständigen Sekretär des Zentralkomitees der SED, Erich Honecker, vorbereitet worden. Am frühen Morgen des 13. August begannen bewaffnete Grenzpolizisten mitten in Berlin das Straßenpflaster aufzureißen. Asphaltstücke und Pflastersteine wurden zu Barrikaden aufgeschichtet, Betonpfähle eingerammt und Stacheldrahtverhaue gezogen. Die Absperrung lief entlang der sowjetischen Sektorengrenze mitten durch Berlin. Geschütze und Panzer fuhren auf, der Berufsverkehr musste für sämtliche Bewohner der Randgebiete Berlins neu organisiert werden. Der Minister für Verkehrswesen der DDR, Erwin Kramer, befahl bereits um Mitternacht, den S-Bahn-Verkehr zwischen den Westsektoren Berlins und der DDR zu unterbrechen. In der Nacht vom 17. zum 18. August wurde der Stacheldraht durch eine Mauer aus Hohlblocksteinen ersetzt. Als der Morgen graut, ist die Grenze dicht. Erschütternde Szenen spielten sich in den Tagen des Mauerbaus entlang der Sektorengrenze ab: Von einem Tag auf den anderen wurden die Menschen in West- und Ost-Berlin voneinander getrennt, Straßen, Plätze und Häuser wurden geteilt, die BahnVerbindungen unterbrochen. Die Sperranlage schnitt über 50 000 Ost-Berliner von ihren Arbeitsplätzen im Westen ab. Die DDR-Regierung verringerte die Zahl der Grenzübergangsstellen zwischen beiden Stadthälften auf sieben. Fassungslos stehen sich die West-Berliner auf der einen, die Ost-Berliner auf

der anderen Seite an der Sektorengrenze gegenüber. Auf der Ostseite halten Kampfgruppen und Volkspolizei die Umstehenden mit Maschinengewehren in Schach, in West-Berlin schirmt die Polizei die Grenzanlagen vor den aufgebrachten Bürgern ab. Am späten Nachmittag des 13. August gibt Bundeskanzler Konrad Adenauer eine erste Erklärung ab: „Im Verein mit unseren Alliierten werden die erforderlichen Gegenmaßnahmen getroffen. Die Bundesregierung bittet alle Deutschen, auf diese Maßnahmen zu vertrauen. Es ist das Gebot der Stunde, in Festigkeit, aber auch in Ruhe der Herausforderung des Ostens zu begegnen und nichts zu unternehmen, was die Lage nur erschweren, aber nicht verbessern kann.“ Am Abend des 13. August sagt der Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, vor dem Abgeordnetenhaus: „Der Senat von Berlin erhebt vor aller Welt Anklage gegen die widerrechtlichen und unmenschlichen Maßnahmen der Spalter Deutschlands, der Bedrücker Ost-Berlins und der Bedroher West-Berlins.“ Die Stimmungslage in der West-Berliner Bevölkerung wurde kritisch. Viele fühlten sich von den westlichen Schutzmächten im Stich gelassen und nicht wenige sahen in der Abriegelung nur den ersten Schritt zu weitergehenden Maßnahmen gegen den Status von West-Berlin. Viele Betroffene in der DDR nahmen den Mauerbau auch nicht klaglos hin: Laut einem Buch der StasiBehörde wurden offenbar etwa 4 000 Menschen festgenommen. Der Widerstand war damit wohl größer, als bisher angenommen. Allein am Tag des Mauerbaus habe die Stasi rund 20 Menschenansammlungen mit Protestcharakter registriert, die zwischen 20 und 600 Beteiligte aufwiesen.

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Erst drei Tage später gingen diplomatische Proteste der Westalliierten in Moskau ein. US-Präsident John F. Kennedy entschloss sich am 17. August doch noch Flagge zu zeigen. Er entschied, die Berliner US-Garnison durch eine 1 500 Mann starke Kampfgruppe zu verstärken und sie demonstrativ über die Transitautobahn nach Berlin fahren zu lassen. Die Fahrt des Militärkonvois über den Kurfürstendamm geriet zum Triumphzug. Am 28. September 1962 erklärte der US-amerikanische Verteidigungsminister McNamara in Washington, dass der freie Zugang nach Berlin mit allen Mitteln gesichert werde. Die Sowjetunion gab ihre im Chruschtschow-Ultimatum noch 1958 formulierte Forderung nach einer entmilitarisierten, „freien Stadt West-Berlin“ auf. Die Mauer zementierte also den Status Quo.

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Im Juni 1963 besuchte Kennedy anlässlich des 15. Jahrestags der Berliner Luftbrücke Berlin. Vor dem Rathaus Schöneberg hielt er eine Rede über die Mauer, in der er die historischen Worte sprach: „Vor zweitausend Jahren war der stolzeste Satz ‚Ich bin ein Bürger Roms‘. Heute, in der Welt der Freiheit, ist der stolzeste Satz ‚Ich bin ein Berliner‘.“ Mit dem Bau der Berliner Mauer schloss die SEDFührung den letzten offenen Übergang zwischen Ost- und Westdeutschland. Für die Bevölkerung in der DDR bedeutete die Mauer das endgültige Ende ihrer Freizügigkeit und der Möglichkeit, sich der SED-Politik durch Abwanderung zu entziehen. Deutschland war endgültig geteilt. Die Mauer war das abschreckendste Symbol des Ost-West-Konfliktes.

Szenenfoto mit Johannes Hendrik Langer

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Fluchtaktionen In den ersten Wochen nach Sperrung der Grenzen hatten viele Menschen noch den Weg zur Flucht genommen. Die Sperranlagen um West-Berlin bestanden zu einem Großteil nur aus Stacheldrahtverhauen und Zäunen, die an vielen Stellen ohne allzu große Anstrengungen, aber stets unter Lebensgefahr zu überwinden waren. Es erforderte immer mehr Wagemut und Phantasie, den Stacheldraht zu überwinden. Und aus jedem Fluchtversuch zogen die Grenztruppen ihre Konsequenzen und verstärkten die Sperranlagen. Es wurde gezielt geschossen. Dennoch wagten immer wieder Menschen den lebensgefährlichen Schritt. Zweitausend Mark pro Flüchtling 1962/63 war die hohe Zeit der Tunnelbauer. Es gab ausgesprochene Tunnel-Spezialisten. Wolfgang Fuchs war einer von ihnen. „Tunnel-Fuchs“ nannte ihn die Presse, die um seine Aktionen einen gewaltigen Rummel verbreitete. In dieser frühen Phase erhielten die Tunnelbauer recht großzügige finanzielle und materielle Unterstützung. Die wichtigsten Geldgeber waren Pressehäuser wie der Springer-Verlag oder die Zeitschrift „Stern“, die sich Exklusivrechte für groß aufgemachte Fotoreportagen sicherten. Doch bald gab es Rückschläge. Mehrere Projekte wurden von den DDR-Grenztruppen vorzeitig entdeckt. Etwa ab 1963 braucht man zur Flucht in zunehmendem Maße Geld. Pro Flüchtling mussten bis zu 2 000 DM bezahlt werden. Fluchthilfe wurde zu einem einträglichen Geschäft. In West-Berliner Zeitungen erschienen undurchsichtige Kleinanzeigen, in denen beispielsweise „Hilfe bei familiären Schwierigkeiten“ angeboten wurde – weitere Informationen unter Chiffre. Flucht mit ausländischen Pässen Die professionellen Fluchthelfer entwickelten immer raffiniertere Methoden, um Menschen aus der DDR zu schleusen. Die gängigsten waren präparierte Fahrzeuge und ausländische Pässe. So wurden etwa in den Niederlanden junge Leute angeheuert, die ge-

gen „Gewinnbeteiligung“ nach Ost-Berlin einreisten und dort ihren Pass als verloren meldeten. Mit dem Ausweis war inzwischen ein Flüchtling durch die Kontrollen gegangen. (…) Schleusungen in Autos und in Zügen Häufig waren auch Fluchtversuche in präparierten Fahrzeugen. Fluchtwillige und ihre Helfer bewiesen große Findigkeit dabei, erwachsene Personen in kleinsten Verstecken unterzubringen. Sogar in einer BMW-Isetta gelang 1964 nacheinander 9 Personen die Flucht. Eine sehr pfiffige Idee hatte ein junger Österreicher, um seiner Ost-Berliner Braut und deren Mutter zur Flucht zu verhelfen. Er lieh sich in WestBerlin einen besonders niedrigen Sportwagen, mit dem er und die beiden zusammengekauerten Frauen unter dem Schlagbaum hindurch in den Westen preschten. Eine besonders spektakuläre Flucht gelang Reichsbahn-Lockführer Harry Deterling. „In Oranienburg stieg meine Familie in unseren Zug ein. Pünktlich rollten wir um 19.33 Uhr aus dem Bahnhof. Nach dem letzten Halt im Osten befanden sich insgesamt 32 Personen im Zug, von denen 24 eingeweiht waren. Nun lagen die letzten drei Kilometer Fahrt vor uns. Ich beschleunigte den Zug auf etwa 60 kmh. Zu unser eigenen Sicherheit kletterten wir nach der Durchfahrt durch den Bahnhof Albrechtshof in den Kohletender, denn wir mussten mit Beschuss rechnen.“ Nach 2 500 Metern „Blindfahrt“ war es geschafft. Um 20.45 Uhr kam der Personenzug hinter der Grenze Seegfelder Weg zum Stehen. (…)“ Durchbrüche mit Planierraupen und Ausflugsdampfern 1966 walzten zwei Ost-Berliner mit einer Planierraupe ein Stück Mauer nieder. Am Grenzübergang Sandkrugbrücke war im Mai 1963 der Versuch gescheitert, mit einem Bus Betonbarrieren und einen Schlagbaum zu durchbrechen. Der 17-jährige Bodo Kunkel entschied sich für das größte Vehikel, das je zur Mauerflucht benutzt wurde: den Ausflugdampfer

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„Friedrich Wolf“. Der Kapitän und sein Maschinist lagen sturzbetrunken in der Kajüte, am Abend zuvor mit reichlich Alkohol außer Gefecht gesetzt, Kunkel riss das Ruder nach backbord, die „Friedrich Wolf“ fuhr in den Landwehrkanal Richtung West-Berlin ein. DDR-Grenzposten nahmen das Schiff sogleich unter Beschuss; West-Berliner Polizisten gaben mit mehreren Schüssen Feuerschutz. Obwohl das Schiff getroffen wurde, blieben die Personen an Bord unverletzt. Flucht mit einer „Seilbahn“ Ein anderer wählte den Weg durch die Luft. Am späten Nachmittag des 28. Juli 1965 schloss sich der Leipziger Diplom-Ökonom Heinz Holzapfel mit seiner Ehefrau und dem 9-jährigen Sohn im OstBerliner Haus der Ministerien in der Wilhelmstraße auf einer Toilette ein. Nach Einbruch der Dunkelheit schleuderte Holzapfel vom Dach des Gebäudes einen umwickelten Hammer über die Mauer, der an einem dünnen Perlonfaden hing. Auf der Westseite wartende Verwandte befestigten an dem Faden ein Stahlseil, das er vorsichtig zu sich nach oben zog. Als erster glitt der Sohn an der improvisierten Seilbahn über die Mauer. Es folgten Ehefrau Jutta und schließlich Holzapfel.

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Desertierende Grenzsoldaten Immer wieder kam es zu Desertionen von Angehörigen der Grenztruppen. Demnach hatte es im dritten Quartal 1965 insgesamt 143 Fälle von Fahnenflucht über die innerdeutsche Grenze (einschließlich Berlin) gegeben, ein starker Anstieg gegenüber dem entsprechenden Zeitraum 1964, in dem 107 Fälle verzeichnet worden waren. Mit deutlichen Worten machte Honecker den versammelten GrenztruppenKommandeuren klar, dass diese Tendenz insbesondere wegen ihrer verheerenden politischen Wirkungen gestoppt werden müsse, und verpflichtete sie zu energischen Gegenmaßnahmen. Die Schraube von Repressionen, Indoktrinationen, Verstärkung der Sperranalgen wurde wieder ein Stück stärker angezogen. Aus: Flemming, Thomas/Koch, Hagen: Die Berliner Mauer. Geschichte eines politischen Bauwerks, Berlin-Brandenburg, 2001, S. 48-53

Das Regie-Team Marcus Lobbes – Regie und Bühne

Mona Ulrich – Kostümbild

Marcus Lobbes, 1966 in Köln geboren, arbeitet seit 1995 als Regisseur und Ausstatter im Musik- und Sprechtheater. Am THEATER AN DER PARKAUE inszenierte er zum ersten Mal. Seine in Freiburg entstandene Uraufführung von Felicia Zellers „Kaspar Häuser Meer“ erhielt 2008 den Publikumspreis des Mülheimer Dramatikerpreises. Im Juni 2014 erhielt er für die Inszenierung „JR“ am Theater Wuppertal den NRW-Theaterpreis.

Mona Ulrich wurde in Bern geboren und absolvierte von 1997 – 2000 eine Ausbildung zur Damenschneiderin sowie 2004 – 2005 zur Theaterschneiderin. 2003 – 2004 hospitierte sie in Design bei Javier Reyes. 2006 – 2008 arbeitete sie als Kostümassistentin am Luzerner Theater mit verschiedenen eigenen Arbeiten. Von 2008 – 2010 war sie Kostümassistentin am Theater Oberhausen. Seit 2010 arbeitet sie freiberuflich an verschiedenen deutschsprachigen Theatern.

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Michael Deeg – Video

Katrin Hentschel – Dramaturgie

Michael Deeg studierte Philosophie und Kunstgeschichte in Erfurt, Mainz und Heidelberg. Danach arbeitete er als freier Designer, Videokünstler und Musiker u.a. am Schauspielhaus Düsseldorf, Nationaltheater Mannheim, Theater Bonn und bei Werbeagenturen in ganz Deutschland.

Katrin Hentschel und Marcus Lobbes haben über sechs Jahre parallel am Theater Freiburg gearbeitet. Dort war Frau Hentschel mehrfach als Dramaturgin tätig. Seit 1.9.2014 ist Katrin Hentschel Oberspielleiterin am THEATER AN DER PARKAUE und hatte am 4.10.2014 Premiere mit der Inszenierung „Der kleine Ritter Trenk“ für Kinder ab 5 Jahren.

http://www.michaeldeeg.de

Auszug aus der Textfassung 3. Kapitel JH

Jürgen Klembt war die Flucht gelungen, nur wie, das wusste zunächst keiner. VIDEO: [Christel John] + TON: [Tippen] K „Wie hat er es denn geschafft?“ JH Klaus konnte Christel nicht viel sagen. Aber ihre Offenheit machte ihn verlegen. Wollte sie auch fliehen? Eigentlich hatte sie gar keinen Grund, ihm zu vertrauen. B Wie Klembt es geschafft hatte, brachte ein Prozess an den Tag. Ein Siebzehnjähriger aus der Bundesrepublik, der beschuldigt wurde, Klembt seinen Pass und seine Devisenbescheinigung gegeben zu haben, musste für acht Monate ins Gefängnis. Der junge Mann versicherte, ihm seien die Papiere gestohlen worden, doch die von ihm benannten Zeugen wurden nicht vorgeladen. Ohne sein Allerweltsgesicht wäre er doch niemals bestohlen worden, so der Junge, man könne ihn doch nicht wegen seines Aussehens bestrafen. VIDEO: [Die Staatsanwaltschaft] + TON: [Tippen] JK „Das imperialistische Lager hat die Teilung Deutschlands verursacht. Deshalb ist auch jeder, der den Boden des kapitalistischen Lagers verlässt und den Boden der DDR betritt, für seine Papiere im Besonderem ver-

antwortlich. Das Urteil muss abschreckende Wirkung erzielen. Das Urteil ist sogar noch mild, gemessen an anderen Urteilen in Fällen von Beihilfe zur Republikflucht.“ JH Die gelungene Flucht Jürgen Klembts hatte zur Folge, dass ab jetzt jeder Besuch aus dem Westen oder Ausland unter einem neuen Aspekt gesehen wurde ... Ob er es wollte oder nicht, sagte Peter Riese, er müsse das Gesicht eines jeden Besuchers daraufhin mustern, ob er oder sie jemandem ähnlich sieht, den er kennt. Welcher Reichtum war doch der richtige Pass! Es gab eine Notiz von Bert Brecht, die einigen Schülern besser vertraut war als seine Gedichte in ihren Schulbüchern. VIDEO: [„Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen. Ein Mensch kann überall zustande kommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund. Aber ein Pass niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.“] D Offenbar gab es sichere Methoden herauszukommen – das hatte die Flucht von Klembt dem siebzehnjährigen Klaus Herrmann gezeigt. In den Gesprächen über die Flucht, mehr noch in Unterhaltungen über Möglichkeiten des Widerstands hatten die Schüler einander kennengelernt. Es waren meist kei-

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ne umwälzenden Ereignisse, von denen man hörte. Und doch wirkten sie wie Lichter in der Nacht. Dass es überhaupt Widerstand gab, wenn auch nur im kleinen und meist nur durch Einzelne richtete auf – man wollte sich gegenseitig etwas Erfreuliches mitteilen. K Der beste Beweis erfolgte dann durch den Erfolg des eigenen Widerstands! An einem Abend, als die Klasse in einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft statt Unterricht in der Schule den ganzen Tag gearbeitet hatte, sollte sie noch bei Regen den bereits geschnittenen und völlig nassen Klee einholen. Die Klasse weigerte sich. ALLE Der Klee ist sowieso schon nass. Wir haben genug gearbeitet. JH Der ansässige Funktionär tobte, holte den Klassenlehrer und später sagte der stellvertretende Direktor Uhlig, das sei Sabotage an der Produktion. Schnell sprach sich in der ganzen Schule herum, dass die Klasse so zu-

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sammengehalten hatte und andere Klassen äußerten unverhohlen ihre Anerkennung. H Es waren vor allem drei, von denen jeder der Diskretion des anderen und seiner Geistesgegenwart gewiss war und dass der andere nicht die Nerven verlor: Klaus Herrmann Holger Klein Peter Riese ALLE Sie wollten nicht Widerstand leisten, Sie wollten gemeinsam fliehen. Die Toneinspielung am Ende der Inszenierung entstammt folgendem Video: https://www.youtube.com/watch?v=-Vmz7Jz_nzY U.a. Willy Brandt, Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher singen zum Abschluss der Kundgebung am 10. November 1989 vor dem Rathaus Schöneberg die deutsche Nationalhymne.

Szenenfoto mit Denis Pöpping, Jakob Kraze, Birgit Berthold, Hagen Löwe, Konstantin Bez, Johannes Hendrik Langer und Franziska Ritter

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Kritiken zur Inszenierung Als Trittbrettfahrer über die Grenze „Berlin-Friedrichstraße“ im THEATER AN DER PARKAUE

von Patrick Wildermann, Tagesspiegel Regisseur Marcus Lobbes erzählt in seinem Stück „Berlin-Friedrichstraße“ im Theater an der Parkaue eine abenteuerliche Fluchtgeschichte – und leistet damit einen guten Beitrag zum Mauerfall-Jubiläum. Walter Ulbricht lässt keinen Zweifel. „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“, säuselt der Staatschef aus dem Off. Die Realität sieht bekanntlich anders aus. Auch auf der Bühne der Parkaue. Da stehen die Spieler vor einem antifaschistischen Schutzwall und mit dem Rücken zur Wand. Alle in Jogginganzügen und Turnschuhen, wie ein Sportlerteam, das sich für die gefährlichste Disziplin der DDR aufwärmt: Republikflucht. Wer wie der Protagonist Klaus Hermann die 100 Meter in 12,8 Sekunden schafft, hat da Vorteile. Wenn es zum Beispiel gilt, auf den anfahrenden Paris–Moskau-Express aufzuspringen und so dem Arbeiter- und Bauernstaat zu entkommen. „Berlin-Friedrichstraße 20.53“ heißt das Stück, mit dem Regisseur Marcus Lobbes eine abenteuerliche Fluchtgeschichte erzählt. Basierend auf wahren Begebenheiten. Anno 1962 nutzt eine Gruppe von Jugendlichen, die alle die Max-Planck-Oberschule in Mitte besuchen, die Lücke im System. Nach waghalsigem Kletterakt an der Bahnbrücke Friedrichstraße entlang, glückt ihnen der Sprung auf die Gleise. Selbst nachdem einer von ihnen abgestürzt und der Stasi in die Hände gefallen ist, schaffen es noch zwei als Trittbrettfahrer über die Grenze. Guter Beitrag zum Mauerfall-Jubiläum Lobbes inszeniert das Stück als Jugend-Thriller mit Polit-Kolorit. Die schlaglichtartigen Szenen lassen die Enge der Diktatur aufblitzen, das von Misstrauen geprägte Leben unter „Hausbuchführern“ und „Abschnittsbevollmächtigten“, geraten aber nie zur DDR-Nachhilfestunde. Stattdessen stoßen die sieben

Spieler in einer atemlosen Stunde eher en passant Fragen zu Geschichte und Gegenwart an. Guter Beitrag zum Mauerfall-Jubiläum. An der Parkaue wird noch einmal eine Mauerflucht nachgestellt von Georg Kasch, Berliner Morgenpost Natürlich hatte niemand die Absicht, eine Mauer zu errichten. Aber jetzt steht sie doch auf der Bühne des Theaters an der Parkaue: als Wand aus massiven Styroporquadern. Sie fräst sich auch noch einmal als Videoprojektion in die Berliner Landschaft, ein Mauerfall im Rückwärtszeitraffer. Beeindruckend sind diese Filme von Michael Deeg, die mal wie ein bewegtes Bilderbuch, mal wie ein Computerspiel wirken. Sie docken direkt beim jugendlichen Zielpublikum an – und sind doch stets eigener Kommentar zur wahnwitzigen, aber wahren Geschichte: 1962 fliehen neun Schüler der Max-Planck-Oberschule nach West-Berlin, indem sie auf den Paris-Moskau-Express aufspringen – am Bahnhof „Berlin-Friedrichstraße 20.53 Uhr“. So heißt das Buch, das bald danach ihre Flucht schildert, so heißt auch der Abend, den Marcus Lobbes an der Parkaue daraus gemacht hat, 25 Jahre nach dem Fall der Mauer. Jenseits der Videos, die zu seinen Markenzeichen gehören – etwa in seiner Uraufführungs-Inszenierung von „Kaspar Häuser Meer“ aus Freiburg, die einige Zeit am Maxim Gorki Theater lief – setzt er auf ein beinahe altmodisches, höchst konzentriertes Erzähltheater. Aus dem Graben und von der Bühne fügen sich chorische Passagen, Dialoge und Einzelstimmen zu einer Art Sprechkonzert zusammen. Wenn die Jungs auf einem grenznahen Friedhof eine Fluchtmöglichkeit ausloten und erwischt werden oder wenn der Direktor einige von ihnen von der Schule schmeißt, packt das, weil die Erzählung wohl dosiert wird, Timing und die Gruppendynamik stimmen. Aufmerksam hören die sieben Schauspieler einander

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zu, beobachten genau, was die anderen treiben. So entsteht eine Stimmung des Lauerns, des Abwartens, eine Haltung, die ja nicht nur die Stasi verkörperte, sondern die gesamte Gesellschaft durchzog: Wem kann ich trauen, wem nicht? Alle stecken sie in altmodischen Trainingsanzügen – einer von ihnen will eigentlich Leichtathlet werden. Sie sind zugleich Overalls – schließlich stecken sie mit einem Bein schon im Knast. Derart durchdacht ist der gesamte, nur eine Stunde kurze Abend, der Geschichte so lebendig werden lässt wie selten und zugleich ein Fest des genau abwägenden Tons ist. Birgit Berthold, Konstantin Bez, Jakob Kraze, Johannes Hendrik Langer, Hagen Löwe, Denis Pöpping und Franziska Ritter spielen derart präzise, dass „Berlin-Friedrichstraße“ so an jedem Haus der Stadt durchgehen würde. Einmal rutscht beiläufig ein Stein aus der Wand, andere folgen, als einer der Jungs auf die zündende Flucht-Idee kommt. Schnell stopft er das Loch provisorisch zu – soll ja keiner mitbekommen. Am Ende fällt die Mauer, stürzt die Styropor-Wand um. Kein Anlass für einhelligen Jubel: Während Männerstimmen vom Band die Nationalhymne grölen, schauen die Schauspieler lange noch in die Ferne, wehmütig, melancholisch. „Berlin-Friedrichstraße 20.53 Uhr“ rbb Inforadio Bahnhof Berlin-Friedrichstraße 1962, jeden Abend um 20.53 Uhr rollt der Moskau-Paris-Express schwer bewacht in Richtung Westen. Auf den fahrenden Zug springt ein 17-Jähriger auf, Klaus Herrmann von der Max-Planck-Oberschule flüchtet in den Westen. Eine wahre Geschichte, die jetzt im THEATER AN DER PARKAUE auf die Bühne kommt. Anne Kolik aus der Inforadio Kulturredaktion über das Stück „Berlin-Friedrichstraße 20.53 Uhr“.

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1962 ist Klaus Herrmann 17 Jahre alt und bester Leichtathlet der Max-Planck-Oberschule in Ostberlin. Er träumt vom Studieren und von Olympia. Doch diese Träume platzen, als sein Vater nach Westberlin rüber macht. Klaus ist jetzt der Sohn eines Republikflüchtlings und hat es an der Schule damit schwer. „Das verstehe ich nicht, dass dein Vater, der Parteimitglied ist, unsere Republik verlassen hat.“ sagt die Lehrerin. Für Klaus steht fest, er will zu seinem Vater in den Westen, aber wie? „Weißt du nicht ein Loch in der Mauer? Weißt du nicht ein Loch in der Mauer?“ Die Geschichte von Klaus und von acht seiner Mitschüler, die in den Westen flüchten, erzählt Marcus Lobbes auf ungewöhnliche Weise. Die Schauspieler wechseln sich ab in verschiedenen Rollen. Dieselbe Person ist mal der Erzähler, mal ein Freund von Klaus, mal ein Stasimann. Das klingt erstmal verwirrend, funktioniert auf der Bühne aber wunderbar, denn die vielen Rollen- und Situationswechsel werden über eine Videoprojektion deutlich gemacht. Namen und Orte erscheinen mal als Bewegt-Bild, mal als Text auf der Styropormauer, die den Bühnenraum bedrückend einengt. Ein Gefühl des Eingesperrtseins, das sich auch auf das Publikum überträgt. Bei Klaus‘ Versuch, daraus auszubrechen, fiebern wir mit. Den Fluchtweg haben schon einige Mitschüler vor ihm erfolgreich getestet. Aufspringen auf den MoskauParis-Express am Bahnhof Friedrichstraße. „BerlinFriedrichstraße 20.53 Uhr“ ist eine packende Inszenierung des THEATER AN DER PARKAUE. Durch die Identifikationsfigur Klaus gelingt es, die Bedeutung der Mauer für Jugendliche von heute greifbar zu machen. Damit hilft das Stück auch, das Jubiläum zu verstehen, das Berlin an diesem Wochenende feiert, den Mauerfall und den gibt es am Ende auch auf der Bühne. Am Ende des Stücks „Berlin-Friedrichstraße 20.53 Uhr“.

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Szenenfoto mit Johannes Hendrik Langer

Zur Vor- und Nachbereitung des Aufführungsbesuches Alessa Brochhagen: Generation ohne ­Vision? Was ist mit der Jugend los? Sitzt sie, vom prekären Dasein entmutigt, vor dem Fernseher, wie Jens Jessen (Zeit, 36/2008) und Tanja Dückers (Zeit, 51/2008) uns glauben machen wollen, oder ist sie voll von aktionistischem, aber selbstbezogenem Tatendrang, wie die Jungredakteure Manuel J. Hartung und Cosima Schmitt gegenhalten (Zeit, 37/2008)? Unsere Autorin meint: Weder noch: Es gibt nicht nur die eine Jugend. Angepasste, peppige Lebensläufe mit Auslandsaufenthalten, Praktika und sozialem Engagement gibt es viele. Sonst, heißt es, könne man die Karriere sowieso vergessen. Eine ungesicherte Zukunft erzeugt bei vielen jungen Menschen einen hohen Leistungs- und

Anpassungsdruck. Hat der Zeit-Feuilleton-Chef Jens Jessen in seinem Artikel „Die traurigen Streber“ also Recht, dass die Jugend unsere Gesellschaft zerfallen sieht und daher nur noch ihr eigenes Überleben sichern will? Im Stile eines Generationspsychologen diagnostiziert er eine ausgewachsene Depression. Die Jugend habe vor der gesellschaftlichen Debatte um Globalisierung, verschärfte Konkurrenz und Wettbewerbsfähigkeit kapituliert und sich ins gemachte Nest, das Geld und Sicherheit heißt, zurückgezogen. Derart kulturpessimistisch lässt sich vom hohen Thron des Chefsessels aus leicht fragen: Wo bleibt der Protest? Jessen vergisst allerdings, dass die beobachteten Symptome auf einen größeren Zusammenhang verweisen: Prekarisierung betrifft nicht die Jugend allein. Auflösung arbeitsrechtlicher Bestimmungen, befristete Verträge und Abbau von

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sozialen und politischen Rechten lassen sich in allen Gesellschaftsbereichen beobachten. So wäre es Aufgabe aller, sich zu solidarisieren und zum Sturmlauf gegen Flexibilisierung, Leiharbeit und Outsourcing anzusetzen. Dies schließt die Meinungsmacher ein. Denn wenn der Ressortleiter ganz im postmodernen Tonfall anprangert, dass den jungen Menschen Utopien fehlten, fragt man sich: Wer, wenn nicht die Meinungsführer, könnten solche setzen? Sicherlich muss man Jessen zustimmen, dass Protest heute nicht mehr kollektiv stattfindet. Wenn ihm bei der Klage über die ideenlose Jugend als Vergleichsmenge die 68er vor Augen standen, dann vergisst er allerdings, dass Hochschullehrer und Intellektuelle damals zu den Wortführern gehörten, die den jugendlichen Drang nach Veränderung institutionell und ideologisch stützten. Auch war Protest nie Sache aller Jugendlichen. Genauso wenig ist Protest eine Hau-Ruck-Aktion Einzelner. Die Antikriegs- und die internationale Studentenbewegung, die Auseinandersetzung mit der deutschen nationalsozialistischen Geschichte und der Kalte Krieg waren ausschlaggebend für die Protestwelle der späten 60er. Die Ereignisse haben viele junge Menschen dieser Generation für das parteipolitische Engagement mobilisiert. Die Mitarbeit in formalen Organisationen (Gewerkschaften, Bürgerinitiativen) ist aber seit den 70er Jahren stark gesunken. […] Dies setzt die Antwortpolemik „Die effizienten Idealisten“ von Hartung / Schmitt dem Zeit-Feuilletonisten mit Recht entgegen. Jessen aber fordert immer noch kollektives politisches Engagement und beklagt sich, dass die jüngere Generation die Geißel der Konkurrenz längst verinnerlicht hätte und es nicht schaffte, sich von der „Tyrannis der eigenen Selbstdisziplinierung“ zu befreien. So sucht er den Sündenbock auf der falschen Weide. Kann man behaupten, die Jugend habe vor dem neoliberalen Gesellschaftsmodell kapituliert und sie gleichzeitig an diesem messen, wenn man unter Ausblendung sozialstruktureller Zusammenhänge fordert, sie solle sich eigenverantwortlich zum Protest aufschwingen? Individualismus setzen und dann kollektiven Ungehorsam fordern? Wer in immer kürzeren Abständen Generationenpor-

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träts herbeischreibt (Generation Praktikum, Doof, Podcast etc.), braucht sich nicht zu wundern, wenn sich keine „gemeinsame Jugend“ erhebt. Politik in der Lebenswelt Hartung / Schmitt versuchen, ein weniger pessimistisches Bild zu zeichnen und Jessens Argument von der Charakterlosigkeit der Jugend zu widerlegen. Es gäbe sehr wohl Protest und Drang zu Veränderung. Die Jugend sei engagiert und widerständig. Tatsächlich lässt sich feststellen, dass die Bereitschaft, in informellen Gruppen temporär mitzuarbeiten und an direkten politischen Aktionen (Demonstrationen, Hausbesetzungen etc.) teilzunehmen, in den letzten 30 Jahren gestiegen ist. Die Autoren vertreten jedoch die Meinung, das Politische muss nicht laut sein: Sie halten auch ein Freiwilliges Soziales Jahr, bewussten Konsum, den neuen Feminismus oder als Mann ein Babyjahr zu nehmen, für politisch, weil dies Gesellschaft verändere. Solche Positionen sind wichtig, aber zementieren sie nicht soziale Verhältnisse? Versteckt sich nicht beispielsweise hinter dem „Neuen Feminismus“ (Thea Dorn u.a.), eine Mogelpackung, die jungen Frauen das neoliberale Credo der beruflichen Selbstverwirklichung aufdrückt, ohne sie von den Pflichten der traditionellen Frauenrolle als Mutter zu befreien? Entpuppt sich der Wunsch, diesem neuen Frauenbild zu entsprechen, nicht als Büchse der Pandora, wenn die Frau nun als Familien- und Karrieremanagerin doppelt belastet ist? Außerdem, so argumentieren die Jungredakteure weiter, suchten junge Menschen ihre Verwirklichung nicht mehr am Arbeitsplatz. Freizeitaktivitäten ergänzten heute als zentrale sinnstiftende Einheit die Arbeit. Doch die zunehmende Orientierung auf Freizeitaktivitäten ist wohl eher dem postfordistischen Wandel zu befristeten Arbeitsverträgen und häufigeren Job- und Ortswechseln geschuldet und damit Ausdruck von Unsicherheit, nicht von sozialem Engagement. Wo also hat sie sich dann im Protest von den prekären Strukturen distanziert? Nein, Hartung / Schmitts Jugend erstarrt nicht vor „Heuschrecken und Haifischen“, sie wirft sich mit Juchhe in den Rachen der Marktlogik. Damit entpuppt sie sich aber als genauso charakterlos wie Jessens. Was

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die Autoren nicht ohne ökonomischen Einschlag „effizienten Idealismus“ nennen, passt letztendlich auch gut in den Lebenslauf. So schreiben sie die neoliberale Fabel von der Suche nach dem individuellen Glück fort. Warum verweisen die Zeit-Autoren nicht auf solche Jugendlichen, die sich an kreativen Protestformen beteiligen, um politisch Stellung zu beziehen? Diese Jugend ist politisch und idealistisch. Sie nutzt traditionellerweise den öffentlichen Raum als Plattform des Protests, will aber mit spontanen und ungefragten Aktionen beispielsweise auf Textilproduktion oder die Gefahren der Privatisierung urbaner Räume aufmerksam machen. Mit Flashmobs weisen sie auf die Situation von Arbeiterinnen in Fabriken von Puma oder Nike hin. Mit Tango im Supermarkt demonstrieren sie gegen Ausbeutung in Discountern. Reclaim the Streets-Aktionen wollen städtischen Raum kurzzeitig für die Öffentlichkeit zurückgewinnen. Guerilla Gardening geht ähnliche Wege, indem brachliegendes Gelände in innerstädtische Gärten verwandelt wird. Die Aktionen sind kreativ und suchen stets nach neuen Protestformen, um Einverleibungstendenzen von Werbung und Popkultur zu unterlaufen. Denn das Rebellische ist längst als Marke entdeckt worden, die sich prima verkaufen lässt. Man denke an T-Shirts mit Ché Guevara-Konterfei oder mit Motiven des Streetart-Künstlers Banksy sowie an „Guerilla“-Werbeaktionen, die Ausdrucksmittel von Jugendkulturen imitieren. So warben Sportartikelhersteller im Streetart-Stil mit Schablonengraffitis. Die Zeit-Feuilletonistin Evelyn Finger fragt in ihrem Beitrag „Die Bombe tickt“ (Zeit, 38/2008) berechtigterweise, wie man heute noch rebellisch sein kann, wenn Rebellion Pop ist. In der Fangemeinde des Hip-Hops meint sie, solche jungen Menschen zu entdecken. Angeleitet von den Protagonisten der Szene, begehren sie gegen ihre Stigmatisierung als soziale Verlierer auf. Doch entspricht Fingers problematisches Bild einer rachelüsternen Generation von Ausgeschlossenen wirklich der ganzen Wahrheit? Nach ihr formiert sich die Wut dieser Jugendlichen als Schwellbrand

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unter der gesellschaftlichen Oberfläche und könne jeden Moment ausbrechen. Doch eine „Massenkultur der Niederlage“ zu diagnostizieren, ist gefährlich. Sie erkennt nicht, dass die Positionen, die vom Mehrheitsdiskurs als außerhalb liegende konstruiert werden, genau deshalb mit diesem verbunden sind. Einen nicht verstehbaren Anderen zu kreieren, manifestiert Hierarchien und reproduziert Ausgeschlossene immer wieder als Ausgeschlossene. Zurückschlagende Gewalt kann dann zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden. Subkultur und Wandel Warum in keinem der Texte auf Subkulturen verwiesen wird (oder nur so negativ wie in Evelyn Fingers Fall), kann im Rahmen einer Debatte über Jugend nur verwundern. Denn Subkulturen wie beispielsweise Graffiti lassen sich auch als Ausdruck von Protest lesen. Graffiti ist als kreativ-künstlerische Ausdrucksform der Unzufriedenheit mit dem Bestehenden eine Form von symbolischem Protest. Dass junge Menschen Vorstellungen von Recht und Sicherheit bewusst missachten, indem sie ihre Schriftzeichen im urbanen Raum hinterlassen, wirkt vor dem Hintergrund verstärkter Überwachungsdebatten provozierender denn je. Wenn Kommunen Millionenbeträge für die Beseitigung von Graffiti ausgeben und Writer mit Hubschraubern und Infrarotkameras jagen, dann wird deutlich, wie politisierend symbolischer Protest wirkt. Da sich Herrschaft symbolisch legitimiert, wird Graffiti meist nur über den Kriminalitätsdiskurs sichtbar oder findet – wie in den Artikeln der Zeit – gar keine Erwähnung. Dies zeigt, dass Protest ein bisschen angepasst sein muss, um Diskursparameter verschieben und damit Veränderungen bewirken zu können. Doch er sollte weder mit Oh weh in der Depression noch mit Olé im effizienten Idealismus enden. Deswegen muss immer wieder das Ausgeschlossene in öffentliche Debatten eingeschlossen werden. Darauf aufmerksam zu machen, kann der politische Beitrag (auch) der Jugend sein. In: Junges Leben, 2009

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Jugend Die heutige Jugend ist von Grund auf verdorben, sie ist böse, gottlos und faul, sie wird niemals so sein, wie die Jugend vorher, und es wird ihr niemals gelingen, unsere Kultur zu erhalten. Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer. Sokrates 449 – 399 v. Chr.

Szenenfoto mit Birgit Berthold, Jakob Kraze, Denis Pöpping, Hagen Löwe, Konstatin Bez, Johannes Hendrik Langer und Franziska Ritter

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FRAGEN, NICHTS ALS FRAGEN, die Sie im Zusammenhang mit Ihren Schülern nach Besuch der Inszenierung besprechen können: Warum hat man eine Mauer gebaut? Warum konnte das nicht verhindert werden? Warum beschäftigen wir uns 25 Jahre nach dem Fall der Mauer mit dem Bau der Mauer? Was erzählt uns diese Abenteuergeschichte? Durch welche Mauer willst du? Welche Mauern siehst du in deinem Leben? Was hat das geteilte Deutschland mit unserer heutigen Zeit zu tun? Wann nimmt man sein Leben in die Hand? Wann ist es soweit, alles Bisherige zu verändern? Was veränderte sich für Kalle und was für die anderen nach der Flucht? Warum wollten viele weg? Warum sind viele geblieben? Was ist Sozialismus? Kann man an den Sozialismus glauben? Was bedeutet dein Pass für dich? Wann braucht man einen Pass? Für wen ist der deutsche Pass nötig? Wo gab es andere Mauern? Welche Mauern stehen noch? Was sind Mauern im Kopf? Was können uns Mauern bedeuten? Warum sind Grenzen nötig? Was gab es zu beschützen? Was bedeutete es 1962 aus der DDR zu fliehen? Was bedeutet uns heute unsere Gesellschaft? Was bedeutet es heute, Deutschland zu verlassen? Was bedeutet heute überhaupt irgendwas? Kann man sein Leben ändern? Wie kann man sich selbst ändern? Würden wir über die Mauer nachdenken, wenn wir nicht in Berlin leben würden? Warum interessiere ich mich für etwas? Warum stößt mich das ganze Historisieren ab? Was ist ein historisches Ereignis? Kann ich mich einem historischen Ereignis nähern, auch wenn ich damals nicht gelebt habe? Wie? Anregungen für Ihren Unterricht Politisches Denken entfachen ausgehend von den Lebenswelten der Schüler Besprechen Sie mit Ihren Schülern, was sie in ihrer Freizeit gerne machen (Fußball spielen, Klavier spielen, Musik hören, ins Kino gehen, etc.). Diskutieren Sie, was man für diese Freizeitaktivität benötigt (Materialien, finanzielle, räumliche und personelle Ressourcen, etc.).

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Teilen Sie Ihre Schüler je nach Freizeitinteresse in Arbeitsgruppen ein. Angenommenes Szenario ist: Die Freizeitaktivität kann nicht mehr ausgeübt werden, da die finanziellen, räumlichen und personellen Ressourcen fehlen (z.B.: es gibt keine Fußbälle mehr, die Musikschule muss geschlossen werden, etc.). Arbeitsauftrag ist, sich eine politische Aktion zu überlegen, die auf den Missstand aufmerksam macht. Anregungen finden Sie unter http://www. anleitungen-buergerproteste.de/das-buch/. Jede Gruppe stellt ihre Aktion der gesamten Klasse vor. Erörtern Sie im Anschluss gemeinsam, warum die Schüler der Max-Planck-Oberschule in OstBerlin, von denen in „Berlin-Friedrichstraße 20.53“ berichtet wird, fliehen wollten. Politisches Engagement zeigen und einen kleinen Akt des zivilen Ungehorsams initiieren Diskutieren Sie mit Ihrer Klasse ausgehend von Alessas Brochhagens Artikel darüber, wie es um das politische Engagement junger Menschen steht. Was halten Ihre Schüler von Jens Jenssens Artikel „Die traurigen Streber“ und von der Aussage, dass junge Menschen sich überhaupt nicht mehr politisch interessieren? Ist Sokrates Vorwurf heutzutage aktuell? Oder sind bereits die Musik, die man hört, oder die Kleidung, die man trägt, ein politisches Statement? Fragen Sie Ihre Schüler, welche Zustände oder Ereignisse sie weltweit als ungerecht empfinden. Gibt es ein Thema, das alle interessiert oder auf das sich alle einigen können? Dann lassen Sie im nächsten Arbeitsschritt freche oder rätselhafte Statements und Slogans zum Thema entwickeln. Beispielsweise könnten diese kleine Fehler enthalten, um zum Nachdenken anzuregen, wie „Blastik tötet“ anstatt „Plastik tötet“. Weitere Anregungen finden Sie ab Seite 104 unter http://www. anleitungen-buergerproteste.de/das-buch/. Die Schüler lassen einen oder mehrere Slogans in einem Copy-Shop auf T-Shirts drucken. Besprechen Sie dazu alle gestalterischen Elemente (Farbe des TShirts, Schriftgröße, -art, -farbe, Positionierung des Slogans, etc.).

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Hinweis: Die Finanzierung der Aktion könnte zu einer weiteren Aktion führen: Ein Crowdfunding organisieren (unter www.startnext.de) oder eine Spendenbox in der Schule einrichten. Planen Sie gemeinsam eine Aktion mit den T-Shirts im öffentlichen Raum. Beispielsweise ziehen sich alle Schüler das T-Shirt an und gehen in der großen Pause einmal als Gruppe durch die Schulaula. Wenn sie mutiger sein möchten, gehen sie durch die gesamte Schule oder machen eine Sitzaktion in der Aula. Sammeln und entwickeln Sie mit der Klasse weitere Ideen: Beispielsweise einen Spaziergang durch die Straßen, einen Flashmob an einem belebten Platz oder …?

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Im letzten Schritt kontaktieren Sie uns bitte telefonisch unter 030 – 55 77 52 -60 oder per E-Mail an [email protected]. Wir haben Lust, mit Ihnen und Ihrer Klasse in einem vierstündigen Theaterworkshop alle gesammelten Eindrücke und Erfahrungen während der Aktionen im öffentlichen Raum zu sammeln und für eine kurze, aber prägnante szenische Präsentation aufzubereiten.

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Hinweise für den Theaterbesuch Liebe Lehrerin, lieber Lehrer, viele Kinder und Jugendliche besuchen zum ersten Mal ein Theater oder haben wenig Erfahrung damit. Wir bitten Sie, im Vorfeld eines Besuches sich mit Ihrer Klasse die besondere Situation zu vergegenwärtigen und die nachfolgenden Regeln zu besprechen. Damit eine Vorstellung gelingt, müssen sich Darsteller und Zuschauer konzentrieren können. Dafür braucht es Aufmerksamkeit. Alle Beteiligten müssen dafür Sorge tragen. Wer die Regeln nicht einhält, beraubt sich selbst dessen, wofür er Eintritt gezahlt hat – und natürlich auch alle anderen Besucher. Folgende Regeln tragen zum Gelingen eines Theaterbesuchs bei: 1. Wir bitten, rechtzeitig im Theater einzutreffen, so dass jeder in Ruhe den Mantel und seine Tasche an der Garderobe abgeben und ohne Eile seinen Platz aufsuchen kann. Unsere Garderobe wird beaufsichtigt und ist im Eintrittspreis enthalten. 2. Während der Vorstellung auf die Toilette zu gehen, stört sowohl die Darsteller als auch die übrigen Zuschauer. Wir bitten darum, sich entsprechend zu organisieren. In unseren Programmzetteln lässt sich auch nachlesen, ob es eine Pause in der Vorstellung gibt.

3. Es ist nicht gestattet, während der Vorstellung zu essen und zu trinken, Musik zu hören und Gespräche zu führen. Mobilfunktelefone und mp3-Player müssen vollständig ausgeschaltet sein. Während der Vorstellung darf weder telefoniert noch gesimst oder fotografiert werden. 4. Der Applaus am Ende einer Vorstellung bezeugt den Respekt vor der Arbeit der Schauspieler und des gesamten Teams unabhängig vom Urteil über die Inszenierung. Wem es gut gefallen hat, der gibt mehr Beifall – wem nicht, entsprechend weniger. Wichtig ist, erst nach dem Ende des Applauses den Saal zu verlassen. Unser Einlasspersonal die ARTIS GmbH steht den Zuschauern als organisatorischer Ansprechpartner am Tag der Vorstellung zur Verfügung. Wir sind an den Erfahrungen des Publikums mit den Inszenierungen interessiert. Für Gespräche stehen wir zur Verfügung. Bitte wenden Sie sich direkt an die stückbetreuende Dramaturgin / Theaterpädagogin, an den stückbetreuenden Dramaturgen / Theaterpädagogen. Wir freuen uns auf Ihren Besuch. Ihr THEATER AN DER PARKAUE



IMPRESSUM Spielzeit 2014/2015 THEATER AN DER PARKAUE Junges Staatstheater Berlin Parkaue 29 10367 Berlin Tel. 030 – 55 77 52 -0 www.parkaue.de Intendant: Kay Wuschek

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Redaktion: Katrin Hentschel, Irina-Simona Barca, Frank Röpke Gestaltung: pp030 – Produktionsbüro Heike Praetor Fotos: David Baltzer Titelfoto mit Jakob Kraze, Denis Pöpping, Hagen Löwe und Konstantin Bez Abschlussfoto mit Ensemble Kontakt Theaterpädagogik: Irina-Simona Barca und Fank Röpke 030 – 55 77 52 -60 [email protected]