Bericht zur 4. Teilrevision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes. Auswirkungen auf die Versicherten und auf die Finanzen der Arbeitslosenversicherung

Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung WBF Staatssekretariat für Wirtschaft SECO Arbeitsmarkt / Arbeitslosenversicherung B...
Author: Moritz Keller
2 downloads 3 Views 2MB Size
Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung WBF Staatssekretariat für Wirtschaft SECO Arbeitsmarkt / Arbeitslosenversicherung

Bericht zur 4. Teilrevision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (AVIG) Auswirkungen auf die Versicherten und auf die Finanzen der Arbeitslosenversicherung

Oktober 2013

Inhalt 1

Management Summary.............................................................................................. 5

2

Einleitung und Kontext .............................................................................................. 7

2.1 2.2 2.3

Notwendigkeit einer 4. Teilrevision des AVIG .............................................................. 7 Inkrafttreten der 4. Teilrevision des AVIG..................................................................... 7 Das Postulat Rennwald: Der Ausgangspunkt des vorliegenden Berichts ..................... 8

3

Die wichtigsten gesetzlichen Änderungen der Revision ...................................... 10

3.1 3.2

Mehreinnahmen ......................................................................................................... 10 Kontrolle der Ausgaben ............................................................................................. 10

4

Auswirkungen der 4. Teilrevision des AVIG auf die Finanzen der ALV ............... 13

4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

Einnahmen ................................................................................................................ 14 Ausgaben .................................................................................................................. 17 Ergebnis .................................................................................................................... 18 Verschuldung ............................................................................................................. 19 Zusammenfassung .................................................................................................... 19

5

Auswirkungen der 4. Teilrevision des AVIG auf die Versicherten ........................ 20

5.1 Aussteuerungen......................................................................................................... 20 5.1.1 Begriffsbestimmung............................................................................................... 20 5.1.2 Datenquelle ........................................................................................................... 20 5.1.3 Auswertungsverfahren .......................................................................................... 21 5.2 Auswirkungen der Revision auf die Zahl der Aussteuerungen ................................... 22 5.2.1 Ausgesteuerte insgesamt ...................................................................................... 22 5.2.2 Aussteuerungen nach Personengruppen und Regionen – Übersicht..................... 25 5.2.3 Aussteuerungen nach Altersklasse ....................................................................... 26 5.2.4 Aussteuerungen nach Nationalität ......................................................................... 31 5.2.5 Aussteuerungen nach Geschlecht ......................................................................... 34 5.2.6 Aussteuerungen nach Region ............................................................................... 36 5.3 Arbeitslosigkeit........................................................................................................... 40 5.3.1 Wartezeit ............................................................................................................... 43 5.3.2 Zwischenverdienst................................................................................................. 43 6

Arbeitsmarktliche Massnahmen (AMM) ................................................................. 46

6.1 6.2 6.3 6.4

Änderungen der gesetzlichen Bestimmungen ............................................................ 46 Nettoauswirkung auf die Finanzen der ALV ............................................................... 46 Auswirkungen auf die Kantone .................................................................................. 46 Beitragszeit und von der öffentlichen Hand finanzierte arbeitsmarktliche Massnahme47

Anhang 1: Wirkungsindikatoren der RAV ........................................................................ 48 Anhang 2: Regelung für Versicherte, die sich vor dem 1. April 2011 zur Arbeitslosigkeit angemeldet haben ........................................................................ 50 Anhang 3: Geschichte der Arbeitslosenversicherung .................................................... 51

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

2/54

Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen Abbildung 1: Ausgeglichenes Finanzierungssystem ...................................................... 13 Abbildung 2: Defizitäres Finanzierungssystem ............................................................... 14 Abbildung 3: Beitragssätze 2000 – 2012 .......................................................................... 15 Abbildung 4: Lohnsumme und Beiträge der Versicherten und der Arbeitgeber an die ALV ........................................................................................................................... 16 Abbildung 5: Gesamtaufwand der ALV und Arbeitslosenquote..................................... 17 Abbildung 6: Ergebnis der ALV ........................................................................................ 18 Abbildung 7: Kumulierte Schulden der ALV und Schuldenobergrenze ......................... 19 Abbildung 8: Ausgesteuerte insgesamt ........................................................................... 23 Abbildung 9: Aussteuerungen mit Bezug zur Revision in Prozent der Ausgesteuerten insgesamt ................................................................................................................. 24 Abbildung 10: Ausgesteuerte insgesamt in Prozent der Taggeldbeziehenden............. 24 Abbildung 11: Aussteuerungen März 2011 mit Bezug zur Revision: Anzahl nach Personengruppen .................................................................................................... 25 Abbildung 12: Aussteuerungen März 2011 mit Bezug zur Revision: Prozent-Anteil der gleichen Kategorie ................................................................................................... 26 Abbildung 13: Aussteuerungen nach Altersklasse in Prozent der Taggeldbeziehenden der gleichen Altersklasse ........................................................................................ 27 Abbildung 14: Aussteuerungen nach Altersklasse in Prozent der Ausgesteuerten insgesamt ................................................................................................................. 28 Abbildung 15: Ausgesteuerte Jugendliche ...................................................................... 29 Abbildung 16: Ausgesteuerte der Altersklasse der 25–49-Jährigen .............................. 30 Abbildung 17: Ausgesteuerte über 50 Jahre ................................................................... 31 Abbildung 18: Aussteuerungen nach Nationalität in Prozent der Taggeldbeziehenden der gleichen Nationalität ......................................................................................... 32 Abbildung 19: Aussteuerungen nach Nationalität in Prozent der Ausgesteuerten insgesamt ................................................................................................................. 33 Abbildung 20: Zahl der ausgesteuerten Schweizerinnen und Schweizer ...................... 33 Abbildung 21: Zahl der ausgesteuerten Ausländerinnen und Ausländer ...................... 34 Abbildung 22: Aussteuerungen nach Geschlecht in Prozent der Taggeldbezüger gleichen Geschlechts .............................................................................................. 35 Abbildung 23: Aussteuerungen nach Geschlecht in Prozent der Ausgesteuerten insgesamt ................................................................................................................. 35 Abbildung 24: Zahl der ausgesteuerten Frauen .............................................................. 36

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

3/54

Abbildung 25: Zahl der ausgesteuerten Männer ............................................................. 36 Abbildung 26: Aussteuerungen nach Region in Prozent der Taggeldbeziehenden der gleichen Region ....................................................................................................... 37 Abbildung 27: Aussteuerungen nach Region in Prozent der Ausgesteuerten insgesamt38 Abbildung 28: Zahl der ausgesteuerten Personen aus der Deutschschweiz ................ 39 Abbildung 29: Zahl der ausgesteuerten Personen aus der Westschweiz und aus dem Tessin ....................................................................................................................... 39 Abbildung 30: Registrierte Arbeitslose und Abmeldungen aus der Arbeitslosigkeit ... 40 Abbildung 31: Durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit ......................................... 42 Abbildung 32: Durchschnittliche Taggeldbezugsdauer von ausgesteuerten Personen42 Abbildung 33: Rechenbeispiel versicherter Verdienst bei Zwischenverdienst vor der Revision.................................................................................................................... 44 Abbildung 34: Rechenbeispiel versicherter Verdienst bei Zwischenverdienst nach der Revision.................................................................................................................... 45 Abbildung 35: Wirkungsindikator 1 – Rasche Wiedereingliederung.............................. 49 Abbildung 36: Wirkungsindikator 3 – Aussteuerungen vermeiden................................ 49 Tabelle 1: Wirkungsindikatoren der RAV ......................................................................... 48 Tabelle 2: Geschichte der Arbeitslosenversicherung 1884 – 2012 ................................ 51 Tabelle 3: Beitragssätze und Einkommensgrenzen 1977 – 2011.................................... 54

Abkürzungsverzeichnis ALV:

Arbeitslosenversicherung

AMM:

Arbeitsmarktliche Massnahme

AVIG:

Arbeitslosenversicherungsgesetz

BFS:

Bundesamt für Statistik

BSV:

Bundesamt für Sozialversicherung

IV:

Invalidenversicherung

RAV:

Regionales Arbeitsvermittlungszentrum

SECO:

Staatssekretariat für Wirtschaft

SEMO:

Motivationssemester

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

4/54

1

Management Summary

2003 wurde in der Arbeitslosenversicherung (ALV) eine Schuldenbremse eingeführt. Sie verpflichtet den Bundesrat, eine Gesetzesrevision vorzulegen, wenn der Schuldenstand des Ausgleichsfonds der ALV 2,5 Prozent der von der Beitragspflicht erfassten Lohnsumme erreicht. Ab 2004 wuchs der Schuldenberg der ALV an. 2006 überstiegen die Schulden die 4Milliarden-Grenze und näherten sich kontinuierlich der gesetzlich festgelegten Obergrenze. Der Bundesrat reagierte auf diese Entwicklung und gab die Ausarbeitung der 4. Teilrevision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (AVIG) in Auftrag. Der Schuldenanstieg kann im Wesentlichen auf zu optimistische Prognosen zurückgeführt werden. Ende der 1990er Jahre erwarteten die Konjunkturexperten des Bundes eine durchschnittliche Arbeitslosenquote von 2,5 Prozent. 2003 wurde auf dieser Grundlage der Beitragssatz im Rahmen der 3. Teilrevision des AVIG von 3 auf 2,5 Prozent und 2004 auf 2 Prozent gesenkt. Rückblickend stellen wir heute fest, dass die durchschnittliche Arbeitslosenquote in den letzten 20 Jahren bei 3,2 Prozent lag. Mit einem Beitragssatz von 2 Prozent konnten die Ausgaben der ALV nicht gedeckt werden. Damit entstand ein strukturelles Defizit, das die Schulden der ALV unabhängig von den konjunkturellen Schwankungen jedes Jahr um rund eine Milliarde Franken ansteigen liess. Der Schuldenstand durchbrach 2010 die Obergrenze und löste die Schuldenbremse aus. Im Januar 2011 erreichten die Schulden die Höchstmarke von 7,8 Milliarden Franken. Am 1. Januar 2011 erhöhte der Bundesrat den Beitragssatz von 2 auf 2,2 Prozent. Zusätzlich hat er für die nicht versicherten Lohnbestandteile zwischen 126 000 und 315 000 Franken ein sogenanntes Solidaritätsprozent eingeführt. Der Solidaritätsbeitrag wird für den Schuldenabbau verwendet und nur so lange erhoben, bis der Ausgleichsfonds der ALV wieder eine Reserve von 500 Millionen Franken gebildet hat. Die Erhöhung des Beitragssatzes und das Solidaritätsprozent wurden am 1. April 2011 im Rahmen der 4. Teilrevision des AVIG in Kraft gesetzt. Ein Jahr nach Inkrafttreten waren die finanziellen Auswirkungen der 4. Teilrevision des AVIG bereits deutlich erkennbar. Die beiden anvisierten Ziele wurden erreicht: Erstens: Die Einnahmen und Ausgaben der ALV konnten in ein Gleichgewicht gebracht werden. Das strukturelle Defizit wurde behoben. Bei einer durchschnittlichen Arbeitslosigkeit von 3,2 Prozent ist die Rechnung der ALV leicht positiv. Zweitens: Die Entschuldung der ALV wurde erfolgreich in die Wege geleitet. Im ersten Jahr nach Inkrafttreten der Teilrevision ist der Schuldenstand um mehr als 2 Milliarden Franken gesunken. Am 1. Januar 2013 betrugen die Darlehensschulden noch 5 Milliarden Franken. Im Rahmen der 4. Teilrevision des AVIG traten am 1. April 2011 verschiedene Sparmassnahmen in Kraft, die in erster Linie das Versicherungsprinzip stärken: •

Die Dauer des Taggeldbezugs ist seither enger an die Beitragszeit gebunden;



die Kompensationszahlungen bei einem Zwischenverdienst werden bei der Berechnung des versicherten Verdienstes in einer Folgerahmenfrist nicht mehr berücksichtigt;



für Personen, die ihre Ausbildung abgeschlossen haben, gibt es von der 120-tägigen Wartezeit keine Ausnahme mehr;



und Versicherte ohne Unterhaltspflichten erhalten zusätzliche Wartezeiten abgestuft nach der Höhe ihres versicherten Verdienstes.

Die verschiedenen Leistungskürzungen wirken sich auf unterschiedliche Versichertengruppen aus. Damit konnten die mit den Kürzungen verbundenen Einsparungen verteilt werden, ohne einzelne Personengruppen übermässig zu belasten. Ende März 2011 stieg die Zahl der Aussteuerungen einmalig auf 16 000 an. 13 000 davon standen in einem Bezug zu den Kür-

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

5/54

zungen der maximalen Bezugsdauer per 1. April 2011. Die Revision hat die Mehrheit der Aussteuerungen jedoch wohl nicht verursacht, sondern vorgezogen. Ab April 2011 hat sich die Zahl der Aussteuerungen auf einem leicht höheren Niveau als vor der Revision wieder stabilisiert. Die Änderungen bei den Leistungen der ALV betreffen Frauen und Männer sowie Versicherte mit und ohne Schweizer Staatsangehörigkeit in etwa gleich stark. Personen im Alter von 15 bis 24 Jahren sind zahlenmässig weniger, anteilsmässig jedoch stärker betroffen als ältere Versicherte. Das Wegfallen der Möglichkeit, bei hoher Arbeitslosigkeit die Bezugszeit zu verlängern, hat die Westschweiz und das Tessin stärker getroffen als die Deutschschweiz. Die 4. Teilrevision des AVIG hat die Dauer der Stellensuche etwas verkürzt und damit die Arbeitslosenquote um rund 0,1 Prozentpunkte gesenkt. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Wirkung der Revision auf die Höhe und die Dauer der Arbeitslosigkeit auch längerfristig eher moderat ausfallen wird. Im Vorfeld der Revision hat das SECO prognostiziert, dass bei ausgeglichenem Arbeitsmarkt knapp 100 Millionen Franken als Mehrbelastungen auf die Sozialhilfe verlagert werden könnten. Auf der heutigen Datengrundlage lassen sich diese Zahlen nicht verifizieren. Es wird hingegen festgestellt, dass die Revision weniger Aussteuerungen verursacht hat als befürchtet. Die effektive Mehrbelastung für die Sozialhilfe liegt folglich tiefer als angenommen. Dies ist in erster Linie der guten Arbeitsmarktlage zu verdanken, welche dazu beigetragen haben, dass Versicherte schneller wieder eine Stelle finden konnten. Das Bundesamt für Sozialversicherungen hat in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Statistik und dem SECO ein Monitoring aufgebaut, das die Wechselwirkungen zwischen der Sozialhilfe, der Invalidenversicherung und der ALV (SHIVALV) beobachtet. 1 Dieses Monitoring berücksichtigt sämtliche Leistungsbezüger der drei Leistungssysteme seit 2005 und wird jährlich aktualisiert. Auf dieser Grundlage sollte es möglich sein, in den nächsten Jahren die Auswirkungen von Gesetzesrevisionen auf das System der sozialen Sicherheit genauer zu beobachten und zu analysieren.

1

www.bsv.admin.ch > Dokumentation > Zahlen und Fakten > Statistiken > SHIVALV

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

6/54

2

Einleitung und Kontext

Die primäre Aufgabe der ALV ist, Stellensuchende finanziell zu unterstützen und ihre Chancen auf eine schnelle und nachhaltige Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt durch Bildungs- und Beschäftigungsmassnahmen zu verbessern. Der ALV kommt zudem im Konjunkturverlauf die Rolle eines automatischen Stabilisators zu. In guten Zeiten übersteigen die Einnahmen die Ausgaben und der Wirtschaft werden dadurch Mittel entzogen, was zu einer Dämpfung der Nachfrage führt. In schlechten Zeiten sichern die Taggelder die Einkommen der erwerbslosen Versicherten und stabilisieren damit die Konsumausgaben. Die ALV trägt somit dazu bei, ein stabiles Wirtschaftswachstum zu erhalten. Die zeitweise negativen und positiven Finanzergebnisse der ALV sind konjunkturabhängig, sollten sich jedoch über einen gesamten Konjunkturzyklus hinweg ausgleichen. Ab 2004 hat die ALV überdurchschnittlich hohe Defizite verzeichnet, so dass 2011 eine 4. Teilrevision des AVIG notwendig geworden ist, um das Gleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben der ALV wiederherzustellen und die aufgelaufenen Schulden wieder abzubauen. Dieser Bericht gibt einen Überblick über die Ausgangssituation, die Zielsetzung und die Umsetzung dieser 4. Teilrevision des AVIG. Der Schwerpunkt liegt auf den Auswirkungen auf die Versicherten ein Jahr nach ihrem Inkrafttreten und auf den finanziellen Auswirkungen für die Arbeitslosenversicherung.

2.1

Notwendigkeit einer 4. Teilrevision des AVIG

Im Jahr 2003 wurde eine 3. Teilrevision des AVIG in Kraft gesetzt. Damit wurden ein neues Finanzierungssystem sowie eine Schuldenbremse eingeführt, um das finanzielle Gleichgewicht bei einer Überschuldung gemäss Artikel 90c Absatz 1 und 2 AVIG wieder herzustellen: Art. 90c Konjunkturrisiko 1

Erreicht der Schuldenstand des Ausgleichsfonds Ende Jahr 2,5 Prozent der von der Beitragspflicht erfassten Lohnsumme, so muss der Bundesrat innert einem Jahr eine Gesetzesrevision für eine Neuregelung der Finanzierung vorlegen. […] Erreicht das Eigenkapital des Ausgleichsfonds […] Ende Jahr 2,5 Prozent der von der Beitragspflicht erfassten Lohnsumme, so muss der Bundesrat innert einem Jahr die Beitragssätze nach Artikel 3 Absätze 2 und 3 senken […] 2

Das neue Finanzierungssystem sollte die Einnahmen und Ausgaben der ALV strukturell und damit konjunkturunabhängig ausgleichen. Das System beruhte auf einer geschätzten durchschnittlichen Arbeitslosenquote von 2,5 Prozent. Im Rückblick musste festgestellt werden, dass die langfristig durchschnittliche Arbeitslosenquote effektiv 3,2 Prozent betrug. Aus diesem Grund genügte der im Rahmen der 3. Teilrevision auf 2 Prozent gesenkte Beitragssatz nicht, um die Ausgaben zu decken. Dies war die Ursache eines strukturellen Defizits von einer Milliarde Franken pro Jahr und führte zusammen mit dem konjunkturell bedingten Defizit zu einem ausserordentlich starken Anstieg der Verschuldung. Der Schuldenstand näherte sich der gesetzlich vorgegebenen Obergrenze, eine Überschreitung war absehbar und eine weitere Revision wurde notwendig. Die 4. Teilrevision des AVIG wurde vorbereitet.

2.2

Inkrafttreten der 4. Teilrevision des AVIG

Das Parlament hat die 4. Teilrevision des AVIG am 19. März 2010 verabschiedet. Damit sollten folgende Ziele erreicht werden: •

Wiederherstellung des finanziellen Gleichgewichts einerseits durch die Erhöhung des Beitragssatzes um 0,2 Prozentpunkte (von 2 auf 2,2 Prozent; zu gleichen Teilen getragen

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

7/54

• •

von Arbeitgebern und Arbeitnehmenden) und andererseits durch Kürzungen der Leistungen in der gleichen Grössenordnung wie die Einnahmenerhöhung; Abbau der Schulden durch die Einführung eines Solidaritätsbeitrags; Stärkung des Versicherungsprinzips und Steigerung der Effizienz der Wiedereingliederungsmassnahmen.

Das Parlament hat ein ausgewogenes Paket verabschiedet mit bei durchschnittlicher Arbeitslosigkeit von 3,2 Prozent geschätzten Mehreinnahmen von 646 Millionen und Minderausgaben von 622 Millionen. Folgende Grundleistungen blieben erhalten: •

Personen mit Kindern erhalten weiterhin 80 Prozent ihres versicherten Verdienstes, maximal 8400 Franken pro Monat. Personen ohne Unterhaltspflichten erhalten weiterhin 70 Prozent des versicherten Verdienstes. Wer innerhalb der zweijährigen Beitragsrahmenfrist vor der Arbeitslosigkeit mindestens 1,5 Jahre lang Beiträge an die ALV entrichtet hat, bleibt 1,5 Jahre lang versichert. Zu dieser Kategorie gehört die Mehrheit der Versicherten. Wer wegen Mutterschaft, Auslandaufenthalt, Ausbildung (Studium), längerer Krankheit usw. mehr als ein Jahr keine Beiträge an die ALV entrichten konnte, bleibt von der Beitragspflicht befreit. Die Wartezeit vor dem Bezug von Taggeldern bleibt für Personen mit Unterhaltspflichten sowie für Arbeitslose mit geringem Einkommen unverändert. Um die Rückkehr ins Erwerbsleben zu erleichtern, steht weiterhin eine breite Palette an Wiedereingliederungshilfen wie Berufspraktika und Motivationssemester, Weiterbildungskurse oder Einarbeitungszuschüsse zur Verfügung. Um Entlassungen zu verhindern, gewährt die ALV Firmen in konjunkturell schwierigen Zeiten weiterhin Kurzarbeitsentschädigung.

• • • • •

Obwohl die Grundleistungen erhalten blieben, wurde im Rahmen des politischen Prozesses die Befürchtung geäussert, die 4. Teilrevision könnte insbesondere Jugendliche und schwer vermittelbare Stellensuchende in die Sozialhilfe führen. Unterstützt von anderen Gewerkschaften und Parteien aus dem linken Spektrum hat die Unia deshalb erfolgreich das Referendum ergriffen. Die Revision des AVIG wurde am 26. September 2010 mit 53,4 Prozent der abgegebenen Stimmen an der Urne angenommen. Im Abstimmungsergebnis zeigte sich ein Graben entlang der Sprachgrenze: Alle Kantone der Westschweiz haben die Revision abgelehnt. Auf besonders starke Ablehnung stiess die Teilrevision in den Kantonen Jura, Neuenburg und Genf, die zu dieser Zeit am stärksten von Arbeitslosigkeit betroffen waren. Der Bundesrat hat die ALV-Beiträge per 1. Januar 2011 auf 2,2 Prozent erhöht und gleichzeitig das Solidaritätsprozent eingeführt. Er hat jedoch beschlossen, dass die Einsparungen bei den Leistungen erst per 1. April 2011 in Kraft treten sollten. Die spätere Einführung der Einsparungen hat den kantonalen Vollzugsorganen und den Arbeitslosenkassen mehr Zeit für die notwendigen Anpassungen gegeben. Es war absehbar, dass sich die Arbeitsmarktsituation im Frühjahr 2011 verbessern würde. Damit konnten die revisionsbedingten Aussteuerungen verringert und die sozialpolitischen Auswirkungen gedämpft werden.

2.3

Das Postulat Rennwald: Der Ausgangspunkt des vorliegenden Berichts

Am 11. April 2011 hat der damalige Nationalrat Jean-Claude Rennwald ein Postulat eingereicht (11.3321 Inkrafttreten des neuen Arbeitslosenversicherungsgesetzes. Auswirkungen) 2, in welchem er den Bundesrat auffordert «dem Parlament spätestens bis Ende 2011 einen 2

12.12.2011: Der Vorstoss wird abgeschrieben, da der Urheber aus dem Rat ausgeschieden ist.

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

8/54

Bericht über die Auswirkungen des Inkrafttretens des neuen Arbeitslosenversicherungsgesetzes (AVIG) vorzulegen. Der Bericht soll insbesondere die Entwicklung der Anzahl ausgesteuerter Personen, deren Verhältnis zur Gesellschaft und die Folgen des neuen AVIG für die sozialen Dienste, die Kantone und die Gemeinden aufzeigen.» In seiner Antwort teilte der Bundesrat das Interesse des Postulanten, die Auswirkungen der 4. Teilrevision des AVIG auf die betroffenen Personen und Sozialsysteme zu eruieren. Er kündigte an, dass das Eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement (heute Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung WBF) in einem ersten Schritt einen Bericht zu den Auswirkungen der 4. Teilrevision des AVIG ein Jahr nach deren Inkraftsetzung publizieren wird. Der vorliegende Bericht beantwortet in erster Linie die Frage der Entwicklung der Anzahl ausgesteuerter Personen ein Jahr vor und ein Jahr nach dem 1. April 2011. Wie vom Autor des Postulats gefordert, werden die Auswirkungen der Revision auf die ausgesteuerten Personen beschrieben (aufgeteilt nach Altersklasse, Geschlecht, Nationalität und Region). Darüber hinaus werden auch die Auswirkungen der Revision auf die Finanzen der ALV sowie auf weitere Aspekte der ALV untersucht. 3 Die Auswirkungen der Revision auf die Kantone und Gemeinden können heute noch nicht berechnet werden, denn die Sozialhilfedaten auf gesamtschweizerischer Ebene für das Jahr 2012 stehen erst ab 2014 zur Verfügung. Zur Beantwortung dieser Frage haben das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV), das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) und das Bundesamt für Statistik (BFS) ein gemeinsames Monitoring der Übergänge zwischen ALV, Invalidenversicherung (IV) und Sozialhilfe implementiert. Mit dem Datensatz des Monitoring soll in Zukunft ermöglicht werden, Analysen zu den Auswirkungen von Gesetzesänderungen auf das gesamte System der sozialen Sicherheit durchzuführen. Zu den Auswirkungen der Revision auf die Sozialhilfe in grösseren Städten verweisen wir auf den Bericht der Städteinitiative. 4 Die Erfahrung zeigt, dass Personen, die ihren Taggeld-Anspruch bei der ALV ausschöpfen, nicht zwangsläufig und systematisch in die Sozialhilfe übergehen. Daniel C. Aeppli hat im Auftrag des SECO diese Fragen analysiert (1998, 2000, 2006) 5 und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass nach einem Jahr rund 15 Prozent der ausgesteuerten Personen Sozialhilfe beantragen. Das SECO hat im Vorfeld der 4. Teilrevision des AVIG die möglichen Mehrbelastungen der Sozialhilfe durch die 4. Teilrevision des AVIG berechnet. Die Berechnungen prognostizierten eine temporäre Mehrbelastung der Sozialhilfe von bis zu 98,5 Millionen Franken, also fast 16 Prozent der Einsparungen von 622 Millionen. Diese Mehrbelastungen sollten sich in der Folge wieder reduzieren, denn die Kürzung der Bezugsdauer von Taggeldern dürfte zu einem höheren Druck und damit zu einer höheren Stellenantrittsquote führen. Gleichzeitig wird die ALV ihre Massnahmen zur arbeitsmarktlichen Integration, insbesondere zur Vermeidung von Langzeitarbeitslosigkeit und Aussteuerung fortsetzen. Mit der Revision wurden daher auch Verbesserungen zugunsten älterer Versicherter eingeführt, die nun länger an Bildungsund Beschäftigungsmassnahmen teilnehmen können.

3

Registrierte Arbeitslose, Arbeitslosenquote, Dauer der Arbeitslosigkeit, Wartezeit, Zwischenverdienste, arbeitsmarktliche Massnahmen und Wirkungsindikatoren der Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV). 4 Salzgeber, Renate. Städteinitiative Sozialpolitik. Kennzahlenvergleich zur Sozialhilfe in Schweizer Städten. Berichtsjahr 2011. 5 Aeppli, Daniel C. Die Situation der Ausgesteuerten in der Schweiz. Vierte Studie. Studie im Auftrag der Aufsichtskommission für den Ausgleichsfonds der Arbeitslosenversicherung. Bern: SECO Publikation Arbeitsmarktpolitik No 21 (10. 2006). Aeppli, Daniel C. Die Ausgesteuerten: Situationsbericht. Dritte Studie. Bern: Editions Paul Haupt, 2000. Der Artikel Die Situation der Ausgesteuerten in der Schweiz. Dritte Studie. enthält eine Zusammenfassung dieser Studie (siehe Die Volkswirtschaft. Das Magazin für Wirtschaftspolitik, Nr. 5/2000, S. 46ff). Aeppli, D., Hoffmann B. et Theiss F., Ausgesteuerte in der Schweiz – Ein Situationsbericht, Bern: Editions Paul Haupt, 1998. Der Artikel Die Situation der Ausgesteuerten in der Schweiz enthält eine Zusammenfassung dieser Studie (siehe Die Volkswirtschaft. Das Magazin für Wirtschaftspolitik, Nr. 1/98, S. 54ff).

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

9/54

3

Die wichtigsten gesetzlichen Änderungen der Revision

Zum besseren Verständnis stellen wir in diesem Kapitel die wichtigsten Änderungen in Bezug auf die Einnahmen und Ausgaben vor.

3.1

Mehreinnahmen

Der ALV-Beitragssatz wurde von 2 auf 2,2 Prozent des massgebenden Jahreslohns bis zu einer Obergrenze von 126 000 Franken angehoben. Als Beitrag zum Schuldenabbau wurde ein Solidaritätsbeitrag von einem Prozent für Lohnbestandteile zwischen dem maximal versicherten Verdienst (126 000 Franken) und dem zweieinhalbfachen davon (315 000 Franken) eingeführt. Der Solidaritätsbeitrag muss solange beibehalten werden, bis die Schulden des ALV-Fonds abgebaut sind und eine Reserve von 500 Millionen Franken gebildet wurde.

3.2

Kontrolle der Ausgaben

Bundesrat und Parlament haben auf einen Eingriff in die Grundleistungen der ALV verzichtet. Aus diesem Grunde wurden verschiedene Massnahmen bei den Leistungen vorgeschlagen, die das Versicherungsprinzip stärken und damit die Anreize zur Stellensuche verstärken. •

Kürzung der Bezugsdauer in Abhängigkeit von der Beitragszeit. Die Bezugsdauer von Taggeldern wurde enger an die Beitragszeit gekoppelt:  Ein Jahr Beitragszeit berechtigt zum Bezug von einem Jahr Taggeld (nicht mehr wie bisher eineinhalb Jahre); mindestens eineinhalb Jahre Beitragszeit berechtigen zum Bezug von eineinhalb Jahren Taggeld.  Über 55-Jährige und Versicherte ab einem Invaliditätsgrad von 40 Prozent erhalten mit 22 Monaten Beitragszeit einen Anspruch auf 2 Jahre Taggeldbezug.  Die Bezugsdauer von Versicherten, die von der Beitragszeit befreit sind, d. h. Personen, die keine Beiträge geleistet haben, aber aus bestimmten Gründen dennoch versichert sind, wird von zwölf auf vier Monate verkürzt.



Beschäftigungsprogramme generieren keine neuen Beitragszeiten mehr. Diese Änderung verhindert, dass die von der öffentlichen Hand finanzierten Beschäftigungsprogramme für den Erwerb neuer Beitragszeiten bei der ALV eingesetzt werden. Sie forciert eine Wiedereingliederung der Stellensuchenden in den ersten Arbeitsmarkt.



Wegfall der Berücksichtigung von Kompensationszahlungen bei der Berechnung des versicherten Verdienstes. Kompensationszahlungen 6 werden bei der Berechnung eines zukünftigen versicherten Verdienstes nicht mehr berücksichtigt. Dies wirkt sich auf die Höhe von Taggeldern in einer weiteren Rahmenfrist aus. Das Versicherungsprinzip wurde gestärkt, weil neu nur Einkommen versichert sind, auf die Beiträge erhoben werden. Trotz dieser Änderung bleibt der Zwischenverdienst nicht nur für die Verbesserung der Vermittelbarkeit, sondern auch aus finanzieller Sicht für Versicherte attraktiv, weil sie damit ein höheres Einkommen generieren, neue Beitragszeiten erwerben und den Anspruch auf Taggelder verlängern können.

6

Wenn eine arbeitslose Person eine Beschäftigung annimmt, deren Vergütung unter der Arbeitslosenentschädigung liegt, wird dieser Zwischenverdienst von der ALV durch Kompensationszahlungen ergänzt, die das Monatseinkommen auf ein Niveau über den Taggeldern anhebt.

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

10/54



Streichung der Ausnahmen von der Wartezeit für Personen, die ihre Ausbildung abgeschlossen haben. Für alle Personen, die ihre Schulpflicht erfüllt oder einen Schulabschluss erworben haben, gilt eine Wartezeit von 120 Tagen, dies entspricht etwa 6 Monaten. Die vor Inkrafttreten der Revision bestehenden Ausnahmen für Personen, welche die Ausbildung abgeschlossen haben, wurden gestrichen. Beibehalten wurde für sie jedoch die Möglichkeit, unter bestimmten Bedingungen an SEMO oder an einem Praktikum teilzunehmen.



Einführung einer zusätzlichen Wartezeit für Personen ohne Unterhaltspflichten. Für Personen ohne Unterhaltspflichten wurde eine zusätzliche Wartezeit eingeführt, die nach der Höhe des versicherten Verdienstes abgestuft ist. Familien mit unterhaltspflichtigen Kindern müssen keine Wartezeit bestehen. Für Personen ohne unterhaltspflichtige Kinder, die wenig verdienen, ist die Wartezeit kürzer als für Personen mit hohem Einkommen.



Begrenzung der Bezugsdauer auf 200 Taggelder für Jugendliche unter 25 Jahren ohne Unterhaltspflicht. Jugendliche können im Allgemeinen innert sechs Monaten wieder eingegliedert werden. Sie finden rascher eine Stelle als andere Altersklassen. Darum wurde die maximale Anzahl der Taggelder für Jugendliche unter 25 Jahren ohne Unterhaltspflicht auf 200 gekürzt.



Kürzung der Finanzierung von Eingliederungsmassnahmen für Nichtversicherte durch die ALV von 80 Prozent auf 50 Prozent. Der höhere Eigenfinanzierungsanteil verstärkt den Anreiz für die Sozialhilfe und für andere, in der Integration tätigen Institutionen, diejenige Massnahme auszuwählen, die für die Integration der Stellensuchenden am besten geeignet ist.



Senkung des Plafonds der Kantone für die arbeitsmarktlichen Massnahmen. Anstatt den bisherigen Plafond linear zu senken, der mit einem Fixbetrag von 3500 Franken pro stellensuchende Person berechnet wurde, hat das SECO in Zusammenarbeit mit den kantonalen Arbeitsmarktbehörden ein dynamisches und damit bedarfsgerechteres Berechnungsmodell erarbeitet. Neu steht den Kantonen bei tiefer Arbeitslosigkeit pro stellensuchende Person ein höherer Betrag und bei hoher Arbeitslosigkeit ein tieferer Betrag zur Verfügung. Um die Einarbeitungszuschüsse zu fördern wurden sie aus dem Ausgabenplafond der Kantone herausgenommen. Die entsprechende Departementsverordnung wurde in diesem Sinne geändert und ist bereits seit 2009 in Kraft.



Streichung der Möglichkeit der Verlängerung der Bezugsdauer in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit. Die Erfahrung hat gezeigt, dass sich die Verlängerung der Bezugsdauer kaum positiv auf die Wiedereingliederung der Stellensuchenden ausgewirkt hat. Zwar konnte sie Aussteuerungen verzögern, sie jedoch nur selten verhindern.

Nach eingehender Prüfung der neuen gesetzlichen Bestimmungen hat das SECO festgelegt, dass bereits vor dem 1. April 2011 angemeldete Versicherte nach dem Inkrafttreten keine zusätzliche Wartezeit bestehen mussten und ihr versicherter Verdienst auch nicht neu berechnet wurde. Alle Regelungen für den Übergang vom alten auf das neue Recht sind in Anhang 2 dargelegt.

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

11/54

In den nachfolgenden Kapiteln werden wir die Auswirkungen der 4. Teilrevision des AVIG auf die Einnahmen (Finanzen der ALV) und auf die Ausgaben analysieren. Hinsichtlich der Ausgaben werden wir uns auf die ausgesteuerten Personen und auf die Auswirkungen dieser Teilrevision auf die Arbeitslosenquote konzentrieren. Zu diesem Zweck legen wir den Schwerpunkt auf die folgenden Gesetzesänderungen: • • • • • • •

Kürzung der Bezugsdauer in Abhängigkeit von der Beitragszeit. Wegfall der Berücksichtigung von Kompensationszahlungen bei der Berechnung des versicherten Verdienstes. Streichung der Ausnahmen von der Wartezeit für Personen, die ihre Ausbildung abgeschlossen haben. Einführung einer zusätzlichen Wartezeit für Personen ohne Unterhaltspflichten. Begrenzung der Bezugsdauer auf 200 Taggelder für Jugendliche unter 25 Jahren ohne Unterhaltspflicht. Kürzung der Finanzierung von Eingliederungsmassnahmen für Nichtversicherte durch die ALV von 80 Prozent auf 50 Prozent. Senkung des Plafonds der Kantone für die Kosten der AMM.

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

12/54

4

Auswirkungen der 4. Teilrevision des AVIG auf die Finanzen der ALV

Mit der 3. Teilrevision des AVIG im Jahr 2003 wurden die Schuldenbremse und ein neues Finanzierungssystem der ALV eingeführt. Das Finanzierungssystem hatte zum Ziel, die Überschüsse und Defizite über einen Konjunkturzyklus hinweg auszugleichen. Seit 2004 stieg jedoch die Verschuldung stärker an, als aus konjunktureller Sicht zu erwarten gewesen wäre. Die im Rahmen der 3. Teilrevision geschätzte durchschnittliche Arbeitslosenquote von 2,5 Prozent lag rückblickend um einiges höher bei 3,2 Prozent. 7 Zur Veranschaulichung zeigen die beiden nachstehenden Abbildungen ein ausgeglichenes bzw. ein defizitäres Finanzierungssystem. Abbildung 1: Ausgeglichenes Finanzierungssystem

Quelle: SECO

7

Sheldon, George. Die Höhe der konjunkturneutralen Arbeitslosigkeit in der Schweiz 2008. Studie im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO), Basel, Februar 2009.

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

13/54

Abbildung 2: Defizitäres Finanzierungssystem

Quelle: SECO

Abbildung 2 stellt die unausgeglichene defizitäre Situation dar die entstanden ist, weil die durchschnittliche Arbeitslosenquote mit 3,2 Prozent höher ausfiel als die 2,5 Prozent, auf dessen Grundlage das Finanzierungssystem bei der 3. Teilrevision des AVIG aufgebaut wurde. Dieses strukturelle Defizit führte zu einem Schuldenanstieg, der auch in guten Zeiten nicht mehr aufgefangen werden konnte. Für den Fall eines Schuldenanstiegs aufgrund eines strukturellen Ungleichgewichts ist mit der 3. Teilrevision des AVIG eine Schuldenbremse eingeführt worden. Die prognostizierte Überschreitung der festgelegten Schuldenobergrenze war der Auslöser für die 4. Teilrevision, bei der aufgrund neuerer Erkenntnisse eine durchschnittliche Arbeitslosenquote von 3,2 Prozent zugrunde gelegt wurde, um die ALV wieder in ein finanzielles Gleichgewicht zu bringen. Nachfolgend untersuchen wir, inwiefern anhand der Rechnungen und des Finanzplans der ALV festgestellt werden kann, ob das Finanzierungssystem der ALV wieder ausgeglichen ist, und ob die Schulden getilgt werden können.

4.1

Einnahmen

Die Einnahmen der ALV setzen sich aus den folgenden Elementen zusammen: •

Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge In der nachstehenden Abbildung ist die Entwicklung des Gesamtbeitragssatzes von Arbeitgebern und Arbeitnehmern dargestellt:

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

14/54

Abbildung 3: Beitragssätze 2000 – 2012

Quelle: SECO

Anfang der 2000er-Jahre gab es keine objektiven Gründe mehr, die einen Beitragssatz von 3 Prozent und das zusätzliche Solidaritätsprozent rechtfertigten, da die Schulden der ALV aus den 1990er Jahren vollständig abgebaut worden waren. Ab 2004 wurde das Solidaritätsprozent daher gestrichen und der normale Beitragssatz auf 2 Prozent gesenkt. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass die Senkung des Beitragssatzes auf 2 Prozent zu optimistisch war. Die durchschnittliche Arbeitslosenquote verharrte auf einem höheren Niveau als prognostiziert. In der Folge stiegen die Schulden ab 2004 ausserordentlich stark an und durchbrachen 2010 die gesetzlich festgelegte Obergrenze. Aus diesem Grund musste eine 4. Teilrevision des AVIG in Kraft gesetzt werden, mit der die Beiträge basierend auf dem versicherten Verdienst auf 2,2 Prozent erhöht wurden. Zusätzlich wurde ein Solidaritätsbeitrag von 1 Prozent auf Lohnbestandteile zwischen dem maximal versicherten Verdienst und dem 2,5-fachen davon (zwischen 126 000 und 315 000 Franken) eingeführt. Dieser Beitrag ist «solidarisch», da er keinen Leistungsanspruch, d. h. keinen Anspruch auf eine Gegenleistung begründet. Er ist befristet und wird gestrichen, sobald die Schulden abgebaut sind und der ALV-Fonds einen Überschuss von 500 Millionen Franken erwirtschaftet hat. •

Bundesbeitrag Die Beteiligung des Bundes beläuft sich auf 0,159 Prozent der von der Beitragspflicht erfassten Lohnsumme (Art. 90a AVIG). Im Jahr 2011 belief sich der Bundesbeitrag auf 922,4 8 Millionen Franken (2012: 443,5 Millionen Franken).



Beitrag der Kantone Der Beitrag der Kantone beläuft sich auf 0,053 Prozent der von der Beitragspflicht erfassten Lohnsumme. Der Bundesrat legt den Beitragsanteil jedes Kantons anhand eines Verteilungsschlüssels fest und berücksichtigt dabei die jährliche Anzahl der Tage kontrollier-

8

Zusätzlich zu dem gesetzlich vorgegebenen Beitrag von 422,4 Millionen Franken hat das Parlament in der Herbstsession 2011 beschlossen, der ALV für Massnahmen zur Abfederung der Frankenstärke weitere einmalige 500 Millionen Franken zur Verfügung zu stellen.

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

15/54

ter Arbeitslosigkeit (Art. 92 Abs. 7bis AVIG). Im Jahr 2011 belief sich dieser Beitrag auf 140,8 Millionen Franken (2012: 147,8 Millionen Franken). Neben dem Beitragssatz, dem Bundesbeitrag und der Beteiligung der Kantone hat insbesondere die Lohnsumme Einfluss auf die Einnahmen der ALV. 9 Die Lohnsumme wiederum ist abhängig von der Entwicklung der Erwerbsbevölkerung und der Einkommen. In der nachstehenden Abbildung ist die Entwicklung der Lohnsumme und der Beiträge der Versicherten und der Arbeitgeber an die ALV von 2003 bis 2017 dargestellt: 10 Abbildung 4: Lohnsumme und Beiträge der Versicherten und der Arbeitgeber an die ALV m CHF Mia. 8

Mia. CHF 350

7

300

6

250

5 200 4 150 3 100

2

50

1

0

0 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017

Lohnsumme (linke Skala)

Beiträge Versicherte und Arbeitgeber (rechte Skala)

Quelle: SECO und BSV

Der Rückgang der Einnahmen zu Beginn des Betrachtungszeitraums ist im Wesentlichen auf die Senkung des Beitragssatzes zurückzuführen. Da die Beitragssätze in der zweiten Hälfte der 2000er-Jahre konstant geblieben sind, erklärt sich der Anstieg der Einnahmen bis 2009 11 durch die Zunahme der Erwerbsbevölkerung sowie das nominelle Lohnwachstum und damit der Lohnsumme. Der sprunghafte Anstieg 2011 erklärt sich vor allem durch die Erhöhung des Beitragssatzes von 2 Prozent auf 2,2 Prozent (per 1. Januar 2011), durch die Einführung des Solidaritätsprozents und durch den einmaligen Beitrag zur Finanzierung von Massnahmen zur Abfederung der Frankenstärke von 500 Millionen Franken.

9

Da es sich bei den Rechnungen der ALV um nominale Rechnungen handelt, beziehen wir uns hier auf die nominale Lohnsumme (AHV). 10 Die Lohnsummen der Jahre 2011 bis 2017 und die Beiträge der Jahre 2013 bis 2017 sind Schätzungen des SECO, die auf technischen Annahmen beruhen. 11 Von 2009 auf 2010 ist die Lohnsumme von 262 977 Millionen auf 260 156 Millionen Franken gesunken.

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

16/54

4.2

Ausgaben

Die grössten Ausgabenposten der ALV sind die Taggelder, die Kurzarbeitsentschädigungen und die arbeitsmarktlichen Massnahmen. Es sind zugleich die Ausgaben, die am stärksten den konjunkturellen Schwankungen unterliegen. Die nachstehende Abbildung zeigt die Entwicklung des Gesamtaufwands der ALV und der Arbeitslosenquote von 2003 bis 2017: Abbildung 5: Gesamtaufwand der ALV und Arbeitslosenquote %

Mia. CHF 8

4.5 4

7

3.5

6

3

5

2.5

4

2

3

1.5

2

1

1

0.5 0

0 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017

Arbeitslosenquote

Gesamtaufwand

Quelle: SECO (Bei den Jahren 2013 und 2014 handelt es sich um Prognosen vom Dezember 2012, bei den Jahren 2015 - 2017 um technische Annahmen des SECO).

Von 2009 auf 2010 beobachten wir einen Rückgang der Arbeitslosenquote und gleichzeitig einen Anstieg der Ausgaben. Der Rückgang der Arbeitslosenquote ist darauf zurückzuführen, dass die Berechnung der Quote ab 2010 auf die Volkszählung 2010 12 abgestellt wird. Dadurch hat sich trotz einer leicht höheren Anzahl Arbeitsloser (2009: 146 089; 2010: 151 986) die Arbeitslosenquote um 0,2 Prozentpunkte verringert. Der Ausgabenrückgang im Jahr 2011 ist zum einen auf den Rückgang der Arbeitslosenzahlen und der Ausgaben in Zusammenhang mit der Kurzarbeitsentschädigung (2009: 997 Millionen Franken; 2010: 540 Millionen Franken; 2011: 120 Millionen Franken) und zum anderen auf die Sparmassnahmen zurückzuführen, die am 1. April 2011 im Rahmen der 4. Teilrevision des AVIG in Kraft getreten sind.

12

Volkszählung 2000: 3 946 988 Erwerbstätige. Volkszählung 2010: 4 322 899 Erwerbstätige.

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

17/54

4.3

Ergebnis

Die nachstehende Abbildung zeichnet die Entwicklung der Ergebnisse der ALV von 2003 bis 2017 nach: 13 Abbildung 6: Ergebnis der ALV Mia. CHF 2 2 1 1 0 -1 -1 -2 -2 -3 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 Quelle: SECO

In dieser Abbildung ist die zyklische Komponente klar ersichtlich, welche die Rolle der ALV als automatischen Stabilisator widerspiegelt. Es ist festzustellen, dass die Defizite bis 2010 höher waren als die Überschüsse. Die Defizite wurden also über den Konjunkturzyklus hinweg nicht vollständig durch die Überschüsse ausgeglichen, wie es bei einem ausgeglichenen Finanzierungssystem hätte der Fall sein müssen. Das strukturelle Ungleichgewicht wurde mit der 4. Teilrevision des AVIG korrigiert. Dank dieser Teilrevision kann die ALV ihre Rolle als automatischen Stabilisator wieder voll erfüllen.

13

Bei den Jahren 2013 und 2014 handelt es sich um Prognosen vom Dezember 2012, bei den Jahren 2015 bis 2017 um technische Annahmen des SECO.

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

18/54

4.4

Verschuldung

Die nachstehende Abbildung zeigt die Entwicklung der Gesamtverschuldung der ALV und der Schuldenobergrenze nach Artikel 90c AVIG von 2003 bis 2017: 14 Abbildung 7: Kumulierte Schulden der ALV und Schuldenobergrenze Mia. CHF 8.0 7.0 6.0 5.0 4.0 3.0

2.8

3.5

4.1

4.7

4.9

5.0

6.0

7.4

5.6

4.1

4.8

4.8

3.8

2.0

1.0

0.0

2.0

0.0 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017

Kumulierte Schulden

Schuldenobergrenze

Quelle: SECO

Abgesehen von einer kurzen Unterbrechung 2007–2008 ist die Verschuldung der ALV zwischen 2003 und 2010 von Null auf über sieben Milliarden Franken angestiegen. Wie vorgängig dargelegt, ist der Schuldenanstieg auf zu optimistische Prognosen bei der 3. Teilrevision im Jahr 2003 zurückzuführen. Das Überschreiten der Schuldenobergrenze im Jahr 2010 löste eine 4. Teilrevision des AVIG aus. Seit Inkrafttreten der 4. Teilrevision des AVIG im Jahr 2011 sind die Schulden zurückgegangen. Für die Entwicklung der Jahre 2013 und 2014 wurde eine Arbeitslosenquote von 3,3 Prozent und ab 2015 von 3,2 Prozent unterlegt.

4.5

Zusammenfassung

Die 4. Teilrevision des AVIG hat sich spürbar auf die Finanzen der ALV ausgewirkt. Auf der einen Seite haben die Erhöhung des Beitragssatzes von 2 Prozent auf 2,2 Prozent und die Einführung des Solidaritätsprozents zu erheblichen Mehreinnahmen geführt, während auf der anderen Seite die Ausgaben durch die am 1. April 2011 in Kraft getretenen Sparmassnahmen reduziert werden konnten. Seit Inkrafttreten der 4. Teilrevision des AVIG gibt es kein strukturelles Defizit mehr. Darüber hinaus konnten die Schulden verringert werden. Da sich die Finanzen der ALV durch die Revision in Zukunft über einen Konjunkturzyklus ausgleichen sollten, ist die Gefahr mittel- und langfristig geringer geworden, dass die Schuldenobergrenze erneut überschritten und damit eine weitere Revision ausgelöst wird.

14

Bei den Jahren 2013 und 2014 handelt es sich um Prognosen vom Dezember 2012, bei den Jahren 2015 bis 2017 um technische Annahmen des SECO.

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

19/54

5

Auswirkungen der 4. Teilrevision des AVIG auf die Versicherten

Die 4. Teilrevision des AVIG beruht nicht auf einer Einzelmassnahme, mit der erhebliche Einsparungen erzielt werden, sondern aus einem Paket von mehreren, oft voneinander abhängigen Massnahmen, die zudem auf unterschiedliche Personengruppen wirken. Ein Anliegen bei der Ausgestaltung der Revision war, die Sparmassnahmen auf eine grössere Personenzahl auszudehnen, um so die Auswirkungen für einzelne Personengruppen möglichst gering zu halten. Die Analyse der Auswirkungen gestaltet sich wegen der grossen Zahl der Massnahmen komplex und muss unter verschiedenen Blickwinkeln sowohl quantitativ als auch qualitativ erfolgen. Untersucht haben wir namentlich die Auswirkungen der Revision •

auf die Aussteuerungen, (Auswirkungen auf ausgesteuerte Personen insgesamt und aufgeteilt nach Altersklasse, Nationalität, Geschlecht und Region) und



auf die Arbeitslosigkeit (Auswirkungen auf die Anzahl an registrierten Arbeitslosen, die Arbeitslosenquote, die Dauer der Arbeitslosigkeit, die Abmeldungen und den Zwischenverdienst).

In den nachfolgenden Abschnitten stellen wir zunächst die prognostizierten bzw. die befürchteten Auswirkungen der 4. Teilrevision des AVIG vor. Anschliessend werden die tatsächlichen Auswirkungen ein Jahr nach Inkrafttreten der Revision gemessen und analysiert. Abschliessend werden die Ergebnisse dieser Analyse noch einmal kurz zusammengefasst.

5.1

Aussteuerungen

Dieses Kapitel umfasst drei Teile. Zunächst wird der Begriff «ausgesteuerte Person» definiert, anschliessend wird die Datenquelle angegeben und die Methode zur Bewertung der Auswirkungen der 4. Teilrevision des AVIG beschrieben. Unter Punkt 5.2 sind die Ergebnisse dieser Bewertung zusammengefasst. 5.1.1

Begriffsbestimmung

Bei den Ausgesteuerten handelt es sich um Personen, die entweder ihren Höchstanspruch auf Taggelder ausgeschöpft haben, oder deren Anspruch auf Arbeitslosentaggelder nach Ablauf der zweijährigen Rahmenfrist erloschen ist, und die anschliessend keine neue Rahmenfrist eröffnen können. Die Aussteuerung erfolgt in dem Monat, in dem das letzte Taggeld bezogen worden ist. 15 Aus diesem Grund begannen die revisionsbedingten Aussteuerungen im März und nicht erst im April 2011 zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Revision. Ausgesteuerte Personen können auch nach ihrer Aussteuerung im Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) zur Stellenvermittlung angemeldet bleiben. 5.1.2

Datenquelle

Das Auszahlungssystem der Arbeitslosenkassen (ASAL) liefert Informationen über Personen, die Leistungen von der ALV bezogen haben.

15

Siehe Definitionen in der monatlichen Publikation des SECO Die Lage auf dem Arbeitsmarkt.

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

20/54

Die Arbeitslosenkassen benötigen durchschnittlich zwei Monate, um 95 Prozent der Zahlungen für einen Kontrollzeitraum (Monat) auszuführen und in der zentralen Datenbank zu erfassen. Darum werden die ersten provisorischen Zahlen zu ausgesteuerten Personen mit einer zeitlichen Verzögerung von drei Monaten veröffentlicht. 5.1.3

Auswertungsverfahren

Um die Auswirkungen der Gesetzesänderungen der 4. Teilrevision auf die Zahlungen zu erfassen, musste die Datenbank ASAL angepasst werden. Die Bezügerinnen und Bezüger, deren Taggeldhöchstanspruch durch die Revision gekürzt wurde, konnten dadurch identifiziert und über längere Zeit beobachtet werden. Diejenigen Personen, die am 31. März 2011 bereits die ihnen nach dem neuen Recht zustehende Anzahl an Taggeldern oder mehr bezogen hatten, wurden als im März aufgrund der Revision ausgesteuert betrachtet. Die späteren Aussteuerungen mit Bezug zur Revision betreffen Personen der vorgenannten Gruppe, die ihren Taggeldanspruch nach dem neuen Recht Ende März 2011 noch nicht ausgeschöpft hatten, ihren maximalen Anspruch aber in den darauffolgenden Monaten überschritten. Personen, die sich nach der Revision beim RAV angemeldet haben, werden in diesem Bericht nicht als von der Revision betroffen betrachtet. Es konnte auch diejenige Personengruppe bestimmt und über ein Jahr beobachtet werden, deren maximale Bezugsdauer sich mit der Revision nicht geändert hat. Ein Teil dieser Personengruppe wurde unabhängig von der neuen Gesetzgebung ausgesteuert. 16 Für die Auswertung wurden drei Perioden unterschieden: 1. Ein Jahr vor der Revision (12 monatliche Beobachtungen von März 2010 bis Februar 2011), 2. der Übergang im März 2011, 3. und ein Jahr nach der Revision (12 monatliche Beobachtungen von April 2011 bis März 2012). Mit der Betrachtung eines vollen Beobachtungsjahrs (vor und nach der Revision) sind die Durchschnittswerte saison- und weitgehend zufallsbereinigt. Sie sind jedoch weiterhin konjunkturabhängig. Für die Gesamtheit der Ausgesteuerten und für jede ihrer Unterkategorien (Altersklasse 17, Geschlecht, Nationalität und Sprachregion 18) wurden die drei folgenden Gruppen betrachtet: Ausgesteuerte Personen deren maximale Bezugsdauer mit der Revision gekürzt wurde (mit Bezug zur Revision) + Personen, deren maximale Bezugsdauer bei der Revision unverändert blieb (ohne Bezug zur Revision) = Gesamtheit der Ausgesteuerten

16

Die Aussteuerungen ohne Bezug zur Revision entsprechen der Differenz zwischen den Aussteuerungen insgesamt und den Aussteuerungen mit Bezug zur Revision. 17 15–24 Jahre, 25–49 Jahre, 50 Jahre und mehr. 18 Deutsche Schweiz, lateinische Schweiz (Westschweiz und Tessin).

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

21/54

5.2

Auswirkungen der Revision auf die Zahl der Aussteuerungen

Die Gegner der 4. Teilrevision des AVIG hatten befürchtet, die Revision könnte langfristig zu einem Anstieg der Zahl der Aussteuerungen führen und Arbeitslose würden in immer stärkerem Masse von der ALV «im Stich gelassen», bevor sie eine neue Stelle finden könnten. Um Aussagen zu diesen Befürchtungen machen zu können, unterscheiden wir in den folgenden Analysen zwischen dem unmittelbaren Effekt der Revision zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens und den Wirkungen auf die Anzahl der Aussteuerungen in den zwölf Monaten danach. Bei Inkrafttreten war unmittelbar mit einer stark erhöhten Zahl an Aussteuerungen zu rechnen, weil der revidierte Gesetzestext keine Übergangsbestimmungen vorsah, um beispielsweise Änderungen zeitlich gestaffelt einzuführen. Durch eine frühzeitige Information über die Kürzung der Bezugsdauer konnten sich die direkt Betroffenen auf die neue Situation einstellen und – wo möglich – ihre Stellensuche intensivieren oder diversifizieren, um ihre Aussteuerung zu verhindern. Das SECO erstellte hierzu Listen mit Personen, deren Taggeldhöchstanspruch per 1. April 2011 gekürzt wurde und leitete diese an die Arbeitslosenkassen weiter, welche die Betroffenen ab Mitte Januar 2011 entsprechend informierten. Somit hatten die Betroffenen die Gelegenheit, intensiver und breitflächiger eine Stelle oder einen Zwischenverdienst zu suchen, um so ihre Aussteuerung zu verhindern oder zumindest zu verzögern. Nachfolgend untersuchen wir die Auswirkungen der 4. Teilrevision auf die Ausgesteuerten insgesamt und aufgeteilt nach Altersklasse, Geschlecht, Nationalität und Region. 5.2.1

Ausgesteuerte insgesamt

Deutlich ist in Abbildung 8 die besonders hohe Zahl der Aussteuerungen im März 2011 zu erkennen. Zu den 2836 Personen, die ihre Ansprüche im März 2011 auch ohne die Revision ausgeschöpft hätten, kamen 13 014 Personen hinzu, die im gleichen Zeitraum revisionsbedingt ausgesteuert wurden. Ende 2010 berechnete das SECO, dass die neuen Gesetzesbestimmungen zwischen 15 000 und 19 000 Aussteuerungen auslösen könnten. In den zwölf Monaten vor Inkrafttreten der Revision wurden pro Monat durchschnittlich 2458 Personen ausgesteuert, in den zwölf Monaten danach waren es monatlich 2886, bzw. rund 17 Prozent mehr.

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

22/54

Abbildung 8: Ausgesteuerte insgesamt

Quelle: SECO

Von den im März 2011 ausgesteuerten Personen hatten 82 Prozent eine Kürzung der maximalen Bezugsdauer zu verzeichnen. Bei ihnen stand die Aussteuerung also in einem Bezug zur AVIG-Revision. Zwischen April 2011 und März 2012 verringerte sich der Anteil der Aussteuerungen mit Bezug zur Revision von knapp 60 Prozent auf 43 Prozent (siehe Abbildung 9).

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

23/54

Abbildung 9: Aussteuerungen mit Bezug zur Revision in Prozent der Ausgesteuerten insgesamt

Quelle: SECO

In der Abbildung 10 sind die ausgesteuerten Taggeldbeziehenden ein Jahr vor und ein Jahr nach der Revision als Prozentanteil aller Taggeldbeziehenden dargestellt. Abbildung 10: Ausgesteuerte insgesamt in Prozent der Taggeldbeziehenden 12.0% 10.0% 8.0% 6.0% 4.0% 2.0%

ohne Bezug zur Revision

Mrz 12

Feb 12

Jan 12

Dez 11

Nov 11

Okt 11

Sep 11

Aug 11

Jul 11

Jun 11

Mai 11

Apr 11

Mrz 11

Feb 11

Jan 11

Dez 10

Nov 10

Okt 10

Sep 10

Aug 10

Jul 10

Jun 10

Mai 10

Apr 10

Mrz 10

0.0%

mit Bezug zur Revision

Quelle: SECO

Bei Inkrafttreten der 4. Teilrevision des AVIG am 1. April 2011 schöpften 11,3 Prozent der Taggeldbeziehenden ihren Anspruch auf ALV-Leistungen aus und wurden ausgesteuert. Für 9,3 Prozent von ihnen stand die Aussteuerung in einem Bezug zur AVIG-Revision.

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

24/54

In den zwölf Monaten vor Inkrafttreten der Revision wurden pro Monat durchschnittlich 1,7 Prozent der Taggeldbeziehenden ausgesteuert. In den zwölf Monaten danach waren es pro Monat 2,5 Prozent. Die Zahl der Aussteuerungen war damit im ersten Jahr nach Inkrafttreten der Revision im Vergleich zu den zwölf Monaten vor der Revision leicht höher. Eine gewisse Erhöhung war zu erwarten, da davon auszugehen war, dass es nicht allen Stellensuchenden gelingen würde, die Dauer der Arbeitslosigkeit durch intensivere und breitere Stellensuche zu verkürzen. Die Erfahrung zeigt, dass sich die Wiedereingliederungschance mit zunehmender Stellensuchdauer verringert. Dies erklärt, warum die Zahl der Aussteuerungen nach der Revision vergleichsweise moderat anstieg. Aussteuerungen erfolgten zwar durchschnittlich früher, sie wurden aber in der Mehrzahl der Fälle nicht direkt durch die Revision verursacht. Es ist davon auszugehen, dass ein grosser Teil der Aussteuerungen einige Monate später auch ohne Revision erfolgt wäre. Dämpfend auf die Zahl der Aussteuerungen wirkte sich im ersten Jahr nach Inkrafttreten der Revision die relativ gute Wirtschaftslage aus, welche bis im Herbst 2011 für einen Rückgang der Arbeitslosigkeit sorgte. 5.2.2

Aussteuerungen nach Personengruppen und Regionen – Übersicht

Die stärksten Auswirkungen zeigten sich, wie bereits beschrieben, im März 2011. Abbildung 11 zeigt, wie sich diese Aussteuerungen auf die verschiedenen Personengruppen und Regionen verteilten. Abbildung 11: Aussteuerungen März 2011 mit Bezug zur Revision: Anzahl nach Personengruppen

Quelle: SECO

Setzt man die betroffenen Personengruppen ins Verhältnis zur Anzahl der Taggeldbeziehenden der gleichen Kategorie, so wird erkennbar, dass 15–24 Jährige sowie Personen aus der Westschweiz und dem Tessin anteilsmässig stärker von Aussteuerungen betroffen waren als die anderen Alterskategorien und Personen aus der Deutschschweiz. Hingegen sind nur geringe Unterschiede zwischen Frauen und Männern, sowie zwischen Personen schweizerischer und ausländischer Nationalität festzustellen.

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

25/54

Abbildung 12: Aussteuerungen März 2011 mit Bezug zur Revision: Prozent-Anteil der gleichen Kategorie

Quelle: SECO

In den folgenden Kapiteln werden die Auswirkungen auf die verschiedenen Personengruppen und Regionen detaillierter untersucht und dargestellt. 5.2.3

Aussteuerungen nach Altersklasse

Die verfügbaren Daten erlauben die Untersuchung der Auswirkungen der Revision auf Jugendliche (15–24 Jahre), auf Personen im Haupterwerbsalter (25–49) und auf ältere Arbeitnehmende (50 und mehr).

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

26/54

Vor und nach der 4. Teilrevision des AVIG verteilten sich die Aussteuerungen nach Altersklassen wie folgt: Abbildung 13: Aussteuerungen nach Altersklasse in Prozent der Taggeldbeziehenden der gleichen Altersklasse

Quelle: SECO

Zwischen April 2011 und März 2012 lässt sich ein zahlenmässiger Anstieg gegenüber dem Zeitraum vor der Revision beobachten. Dieser Anstieg unterscheidet sich jedoch nach Altersklasse. Am stärksten fiel der Anstieg der Aussteuerungen bei den Jugendlichen aus. Während die Jugendlichen vor der Revision deutlich seltener ausgesteuert wurden als ältere Stellensuchende, waren sie in den ersten zwölf Monaten nach der Revision fast gleich stark von Aussteuerungen betroffen. In dieser Zunahme der Aussteuerungswahrscheinlichkeit spiegelt sich die Tatsache, dass die maximale Bezugsdauer für Jugendliche ohne Unterhaltspflichten stärker reduziert wurde als für ältere Personen. Personen ab 50 Jahren verzeichneten ebenfalls einen überproportionalen Anstieg bei den Aussteuerungen. Allerdings war dieser nicht in erster Linie durch die AVIG-Revision bedingt, denn mit 1,2 Prozent standen weniger als die Hälfte der Aussteuerungen in einem Zusammenhang mit den Kürzungen der Leistungsbezugsdauer.

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

27/54

Abbildung 14 zeigt, wie sich die Zunahme der Aussteuerungen bei Jugendlichen und Älteren auf die Zusammensetzung der Aussteuerungen insgesamt ausgewirkt hat. Abbildung 14: Aussteuerungen nach Altersklasse in Prozent der Ausgesteuerten insgesamt

Quelle: SECO

Der Anteil der Jugendlichen und der Älteren an den Ausgesteuerten stieg im Jahr nach der Revision verhältnismässig stark an, während der Anteil der 25–49-Jährigen abnahm. Die Änderungen betreffen nicht alle Altersklassen im gleichen Mass, darum betrachten wir die einzelnen Altersklassen etwas näher. •

Jugendliche

Die Revision hat für jugendliche Arbeitslose einige Veränderungen mit sich gebracht. Insbesondere wurde die Bezugsdauer für verschiedene Kategorien verkürzt. 19 Die folgenden Beispiele veranschaulichen die Auswirkungen der verkürzten Bezugsdauer: Fr. Y, 22 Jahre alt und kinderlos, hat in den zwei Jahren vor ihrer Anmeldung beim RAV 20 Monate ALV-Beiträge geleistet (Rahmenfrist für die Beitragszeit) und dann ihre Arbeitsstelle verloren. Mit der Revision wurde ihr Anspruch von 400 auf 200 Taggelder gekürzt, da sie unter 25 Jahre alt ist. Weil sie zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Revision erst 60 Taggelder bezogen hatte, hatte die Revision keine unmittelbaren Auswirkungen, denn Frau Y blieb noch ein Anspruch von 140 Taggeldern. Dieses Beispiel zeigt auch, dass die Auswirkungen der Revision erst mehrere Monate nach ihrem Inkrafttreten spürbar sein können. Hr. X, 21 Jahre alt, ein Kind, hat in den zwei Jahren vor seiner Anmeldung beim RAV 12 Monate ALVBeiträge gezahlt (Rahmenfrist für die Beitragszeit) und dann seine Arbeitsstelle verloren. Bei Inkrafttreten der Revision hatte er bereits 320 Taggelder bezogen. Nach altem Recht hätte er noch Anspruch

19

Mit der Revision wurde die maximale Anzahl der Taggelder für unter 25-Jährige ohne Unterhaltspflicht unabhängig von der Beitragsdauer auf 200 gekürzt (vor der Revision 400). Alle beitragsbefreiten Personen, die ihre Schulpflicht erfüllt oder einen Schulabschluss erworben haben, können neu maximal 90 Taggelder beziehen (vor der Revision 260).

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

28/54

auf 80 Taggelder gehabt. Er wurde jedoch ausgesteuert, da die Höchstzahl von Taggeldern für Personen, die 12 Monate Beiträge geleistet haben, durch die Revision von 400 auf 260 gekürzt wurde. Der Umstand, dass Hr. X unter 25 Jahre ist, spielt hier keine Rolle, da er für den Unterhalt eines Kindes aufkommen muss. Hr. X gehört zu den Ausgesteuerten mit Bezug zur Revision.

Im März 2011 bezogen 16 608 Jugendliche (15–24 Jahre) Taggelder. Die Ansprüche von 13 286 dieser Taggeldbeziehenden (rund 80 Prozent) wurden durch die Revision gekürzt, und 2635 Jugendliche (15,9 Prozent) wurden aufgrund der Revision im März 2011 ausgesteuert. In den zwölf Monaten vor der Revision wurden monatlich durchschnittlich 213 Jugendliche ausgesteuert. Diese Zahl erhöhte sich im März 2011 vorübergehend auf das 12-fache. Im ersten Jahr nach der Revision wurden pro Monat 334 Jugendliche ausgesteuert, deutlich mehr also als vor der Revision (+57 Prozent). Abbildung 15: Ausgesteuerte Jugendliche

Quelle: SECO



Die Altersklasse der 25–49-Jährigen

Abgesehen von der Streichung der zusätzlichen 120 Taggelder für Krisenregionen waren 25–49-jährigen Leistungsbezüger nur bei Beitragszeiten unter 18 Monaten von Kürzungen der Bezugsdauer betroffen. Diese Altersklasse ist daher weniger von der Revision betroffen als die anderen Altersklassen. Das nachstehende Beispiel veranschaulicht einen Fall der schnelleren Aussteuerung aufgrund der Revision: Hr. Z, wohnhaft in Zürich und 48 Jahre alt, hat in den zwei Jahren vor seiner Anmeldung beim RAV 12 Monate Beiträge geleistet (Rahmenfrist für die Beitragszeit) und dann erneut seine Arbeitsstelle verloren. Bei Inkrafttreten der Revision hatte er bereits 310 Taggelder bezogen. Nach altem Recht hätte er noch Anspruch auf 90 Taggelder gehabt. Er wurde jedoch im März 2011 ausgesteuert, da die Höchstzahl von Taggeldern für Personen mit einer Beitragszeit von 12–17 Monaten durch die Revision von 400 auf 260 gekürzt wurde. Die zum Bezug von 400 Taggeldern notwendige Mindestbeitragszeit beträgt neu 18 Monate.

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

29/54

Im März 2011 bezogen 85 980 Personen zwischen 25 und 49 Jahren Taggelder. Die Ansprüche von 38 779 oder fast der Hälfte dieser Personen (45,1 Prozent) wurden durch die Revision gekürzt, und 7598 Personen (8,8 Prozent) wurden aufgrund der Revision im März 2011 ausgesteuert. Bei Inkrafttreten der Revision wurden 9356 Personen im Alter von 25–49 Jahren ausgesteuert. Die Aussteuerungen standen zum grossen Teil mit der Revision in Zusammenhang (7598 oder 81,2 Prozent). Ab April 2011 blieb die Zahl der ausgesteuerten Personen unter 2000 pro Monat, wobei etwa bei der Hälfte dieser Aussteuerungen ein Zusammenhang mit der Revision bestand. Im Durchschnitt lag die Gesamtzahl der Ausgesteuerten in den zwölf Monaten nach der Revision nur geringfügig über dem Durchschnittswert der zwölf Monate vor der Revision. Abbildung 16: Ausgesteuerte der Altersklasse der 25–49-Jährigen

Quelle: SECO



Über 50-jährige Arbeitnehmende

Die 4. Teilrevision des AVIG hat zu Kürzungen der Bezugszeit geführt, die nur einen kleinen Teil der Personen im Alter von 50 Jahren und mehr betreffen. Für über 55-Jährige wurde die Mindestbeitragsdauer für den Maximalanspruch von 520 Taggeldern vorerst von 18 auf 24 Monate erhöht. Aufgrund praktischer Umsetzungsschwierigkeiten und zur Vermeidung von Härtefällen senkte das Parlament diese Beitragszeit per 1. Januar 2012 auf 22 Monate. Der Anteil der von der Revision betroffenen Personen war bei den älteren Versicherten geringer als bei den Jugendlichen. Von den Aussteuerungen zwischen April und November 2011 wiesen weniger als die Hälfte (45 Prozent) einen Bezug zur Revision aus. Das nachstehende Beispiel beschreibt eine Situation, die zur Aussteuerung führen konnte: Frau Z., 57 Jahre alt, hat vor dem Verlust ihrer Arbeitsstelle 18 Monate ALV-Beiträge geleistet (Rahmenfrist für die Beitragszeit). Bei Inkrafttreten der Revision hatte sie bereits 410 Taggelder bezogen. Nach dem alten Recht hätte sie noch Anspruch auf 110 Taggelder gehabt. Sie wurde jedoch ausgesteuert, da der maximale Taggeldanspruch für über 55-jährige Personen mit einer Mindestbeitragszeit von 18 Monaten durch die Revision von 520 auf 400 gekürzt wurde. Die zum Bezug von 520 Taggeldern notwendige Mindestbeitragszeit beträgt für über 55-jährige Arbeitslose neu 22 Monate.

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

30/54

Im März 2011 bezogen 37 408 ältere Stellensuchende (über 50 Jahre) Taggelder. Die Ansprüche von 14 975 oder 40 Prozent dieser Taggeldbeziehenden wurden durch die Revision gekürzt, und 2781 Personen (7,4 Prozent) wurden bei Inkrafttreten der Revision tatsächlich ausgesteuert. Relativ zur Anzahl aller Taggeldbeziehenden waren ältere Personen somit am geringsten von Kürzungen bei der Bezugsdauer betroffen. Im März 2011 wurden 3737 über 50-Jährige ausgesteuert, wobei etwa drei Viertel dieser Aussteuerungen mit der Revision in Zusammenhang standen. In den zwölf Monaten nach der Revision wurden mit 880 pro Monat 29 Prozent mehr ältere Personen ausgesteuert als vor der Revision mit 681. Lediglich 43 Prozent der Aussteuerungen nach der Revision standen allerdings in einem Zusammenhang mit der Revision. Dieser Anteil lag bei jüngeren Stellensuchenden höher. Abbildung 17: Ausgesteuerte über 50 Jahre

Quelle: SECO

5.2.4

Aussteuerungen nach Nationalität

Die 4. Teilrevision des AVIG brachte keine Änderungen von gesetzlichen Bestimmungen mit sich, die ausländische Taggeldbeziehende direkt oder indirekt in besonderer Weise betreffen. Für diese Personenkategorie wurde daher keine besonders ausgeprägte Auswirkung der Revision erwartet. Im März 2011 bezogen 78 811 Schweizerinnen und Schweizer Taggelder. Durch die Revision wurden die Ansprüche von 35 932 (45,6 Prozent) dieser Personen gekürzt, und 7077 (9 Prozent) wurden aufgrund der Revision noch im selben Monat ausgesteuert. Im gleichen Zeitraum bezogen 61 185 Ausländerinnen und Ausländer Taggelder. Durch die Revision wurden die Ansprüche von 31 108 oder der Hälfte (50,1 Prozent) dieser Personen gekürzt, und 5937 (9,7 Prozent) wurden im März 2011 aufgrund der Revision tatsächlich ausgesteuert (siehe Abbildung 18). Ausländische Leistungsbeziehende bekamen die Auswirkungen der Revision damit geringfügig stärker zu spüren als einheimische, was mit der generell höheren durchschnittlichen Stellensuchdauer von Ausländerinnen und Ausländern im Zusammenhang stehen dürfte.

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

31/54

Abbildung 18: Aussteuerungen nach Nationalität in Prozent der Taggeldbeziehenden der gleichen Nationalität

Quelle: SECO

Vergleicht man das Jahr vor der Revision mit jenem danach, zeigt sich, dass der Anteil der Aussteuerungen bei Personen mit Schweizer Nationalität um 0,94 Prozent und damit etwas stärker gestiegen ist als bei Personen anderer Nationalitäten (0,79 Prozent). Entsprechend stieg der Anteil der Schweizerinnen und Schweizer am Total der Ausgesteuerten leicht an, obwohl sie auch nach der Revision seltener von einer Aussteuerung betroffen waren als ausländische Leistungsbezüger. Wie die nachstehende Abbildung zeigt, lagen die Verschiebungen in den Anteilen im tiefen Prozentbereich.

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

32/54

Abbildung 19: Aussteuerungen nach Nationalität in Prozent der Ausgesteuerten insgesamt

Quelle: SECO

Im März 2011 wurden 7077 einheimische Personen (82 Prozent der Gesamtzahl der ausgesteuerten Schweizerinnen und Schweizer) und 5937 ausländische Personen (82,2 Prozent der Gesamtzahl der ausgesteuerten Ausländerinnen und Ausländer) mit Bezug zur Revision ausgesteuert. In den Folgemonaten gingen die Aussteuerungen bei beiden Personengruppen deutlich zurück (siehe Abbildung 20). Abbildung 20: Zahl der ausgesteuerten Schweizerinnen und Schweizer

Quelle: SECO

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

33/54

Abbildung 21: Zahl der ausgesteuerten Ausländerinnen und Ausländer

Quelle: SECO

Die absolute Zahl der ausgesteuerten einheimischen Personen war sowohl vor als auch nach der Revision geringfügig höher als die der ausgesteuerten Ausländerinnen und Ausländer. Dies ist nicht verwunderlich, da Schweizerinnen und Schweizer mehr als die Hälfte der registrierten Arbeitslosen ausmachen. Im Durchschnitt der 12 Monate nach Inkrafttreten der Revision lag die Zahl der Aussteuerungen bei ihnen 22 Prozent über dem Niveau der 12 Monate vor der Revision. Bei den Ausländerinnen und Ausländern stieg die Zahl um lediglich 12 Prozent an. 5.2.5

Aussteuerungen nach Geschlecht

Die 4. Teilrevision des AVIG brachte grundsätzlich keine Änderungen mit sich, die zu einer Ungleichbehandlung der Geschlechter führen. Indirekte Benachteiligungen können jedoch nicht a priori ausgeschlossen werden. So könnten Frauen bspw. stärker von der Revision betroffen sein, weil sie Beitragszahlungen etwas häufiger unterbrechen als Männer. Frauen üben auch häufiger Betreuungsaufgaben aus und fallen dann in die Kategorie der Beitragsbefreiten, deren Ansprüche mit der 4. Teilrevision gekürzt wurden (von 260 auf 90 Taggelder). Im März 2011 bezogen 65 647 Frauen Taggelder. Die Ansprüche von 30 105 oder 45,9 Prozent dieser Bezügerinnen wurden durch die Revision gekürzt, und 6024 Frauen (9,2 Prozent) wurden aufgrund der Revision zum Zeitpunkt des Inkrafttretens ausgesteuert. Im gleichen Zeitraum bezogen 74 349 Männer Taggelder. Die Ansprüche von 36 935 oder der Hälfte (49,7 Prozent) dieser Bezüger wurden durch die Revision gekürzt, und 6990 (9,4 Prozent) wurden aufgrund der Revision tatsächlich ausgesteuert (siehe Abbildung 22).

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

34/54

Abbildung 22: Aussteuerungen nach Geschlecht in Prozent der Taggeldbezüger gleichen Geschlechts

Quelle: SECO

Vergleicht man den Zeitraum vor der Revision mit dem Zeitraum nach der Revision, zeigt sich, dass die Zahl der Aussteuerungen nach der Revision bei Frauen und Männern in ähnlichem Ausmass angestiegen ist. Der leicht stärkere relative Anstieg bei den Frauen führte dazu, dass sich ihr Anteil am Total der Aussteuerungen von 45,5 Prozent in den zwölf Monaten vor der Revision auf 48,7 Prozent nach der Revision erhöhte. Abbildung 23: Aussteuerungen nach Geschlecht in Prozent der Ausgesteuerten insgesamt

Quelle: SECO

Aus der Abbildung 23 geht hervor, dass die Anteile der ausgesteuerten Männer vor der Revision etwas höher waren als die der Frauen. Auch die Anteile im März sind bei den Männern höher ausgefallen. Im Jahr nach Inkrafttreten der Revision hat sich der Anteil der Aussteuerungen bei den Männern verringert und bei den Frauen erhöht. Die Anteile haben sich nach der Revision angenähert. 422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

35/54

Abbildung 24: Zahl der ausgesteuerten Frauen

Quelle: SECO

Abbildung 25: Zahl der ausgesteuerten Männer

Quelle: SECO

5.2.6

Aussteuerungen nach Region

Mit der 4. Teilrevision des AVIG wurden die bei hoher Arbeitslosigkeit gewährten 120 zusätzlichen Taggelder gestrichen. Vor der Revision beanspruchten die Kantone Genf, Neuenburg, Jura, Waadt und das Tessin diese Zusatzleistung. Die maximale Bezugsdauer konnte daher in diesen Kantonen länger sein als die üblichen Taggeldhöchstansprüche. Im Folgenden be-

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

36/54

trachten wir die beiden grossen Regionen, d. h. die deutsche Schweiz und die lateinische Schweiz (GE, FR, NE, JU, VD, VS, TI). Im März 2011 bezogen in der Deutschschweiz 86 111 Personen Taggelder. Die Ansprüche von 30 766 oder 35,7 Prozent dieser Taggeldbeziehenden wurden durch die Revision gekürzt, und 6364 Personen (7,4 Prozent) wurden aufgrund der Revision im März 2011 ausgesteuert. Im gleichen Zeitraum bezogen in der lateinischen Schweiz 53 885 Personen Taggelder. Die Ansprüche von 36 274 Personen oder zwei Dritteln (67,3 Prozent) wurden durch die Revision gekürzt, und 6650 Personen (12,3 Prozent) von ihnen wurden im März 2011 ausgesteuert. Der Anteil der ausgesteuerten Personen an allen Taggeldbeziehenden war damit in der lateinischen Schweiz fast doppelt so hoch wie in der Deutschschweiz. Abbildung 26: Aussteuerungen nach Region in Prozent der Taggeldbeziehenden der gleichen Region

Quelle: SECO

Vergleicht man den Zeitraum vor der Revision mit dem Zeitraum nach der Revision, zeigt sich, dass die Zahl der Aussteuerungen in der Westschweiz und im Tessin stärker angestiegen ist als in der Deutschschweiz.

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

37/54

Die nachstehende Abbildung veranschaulicht, in welchem Masse die lateinischen Kantone proportional stärker von der Revision betroffen waren als die Deutschschweizer Kantone: Abbildung 27: Aussteuerungen nach Region in Prozent der Ausgesteuerten insgesamt

Quelle: SECO

Der Anteil der lateinischen Kantone an der Gesamtzahl der Ausgesteuerten ist leicht gestiegen. Die Westschweizer und die Tessiner waren demzufolge gegenüber den Deutschschweizern überproportional von der Revision betroffen.

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

38/54

Abbildung 28: Zahl der ausgesteuerten Personen aus der Deutschschweiz

Quelle: SECO

Abbildung 29: Zahl der ausgesteuerten Personen aus der Westschweiz und aus dem Tessin

Quelle: SECO

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

39/54

In den zwölf Monaten vor Inkrafttreten der Revision wurden in der Deutschschweiz durchschnittlich 1545 Personen ausgesteuert. In den zwölf Monaten nach der Revision waren es 1735 bzw. 12 Prozent mehr. Stärker fiel der relative Anstieg dagegen in der Westschweiz und im Tessin aus. Hier stieg die Zahl der monatlichen Aussteuerungen um rund 26 Prozent von durchschnittlich 914 auf 1151. Ab April 2011 war die Zahl der Aussteuerungen ohne Bezug zur Revision in der deutschen Schweiz höher als die Zahl der Aussteuerungen mit Bezug, während dies in der lateinischen Schweiz umgekehrt war. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass in der Deutschschweiz aufgrund der Grössenverhältnisse zwar mehr Personen ausgesteuert wurden als in der lateinischen Schweiz, in relativer Hinsicht allerdings die lateinische Schweiz von der Revision deutlich stärker betroffen war.

5.3

Arbeitslosigkeit

Vor der Abstimmung über die Revision wurde zum Teil auch befürchtet, die Abstriche bei den Leistungen könnten zu einem Sozialabbau führen. Darüber hinaus würden diese Personen, obwohl noch arbeitslos, nicht mehr als solche von der Statistik erfasst. Es käme somit zu einem künstlichen Rückgang der Zahl der registrierten Arbeitslosen, der Arbeitslosenquote und der durchschnittlichen Dauer der Arbeitslosigkeit, ohne dass sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt verbessert hätte. Aus Abbildung 30 ist ersichtlich, dass sich diese Befürchtungen ein Jahr nach Inkrafttreten der Revision so nicht bewahrheitet haben. Die Abbildung zeichnet die Entwicklung der Zahl der bei den RAV registrierten Arbeitslosen (und damit die Entwicklung der Arbeitslosenquote) sowie die Entwicklung der durchschnittlichen Dauer der Stellensuche nach. •

Zahl der registrierten Arbeitslosen und Abmeldungen aus der Arbeitslosigkeit

Abbildung 30 zeigt einen Rückgang der Zahl der registrierten Arbeitslosen ab Januar 2011 und einen Anstieg ab August 2011. Dies ist im Wesentlichen bedingt durch saisonale Effekte. Der für diese Jahreszeit typische Rückgang wird im zweiten Quartal 2011 durch die höhere Zahl der Abmeldungen aufgrund der Revision verstärkt (Revision: dünner blauer Strich). Abbildung 30: Registrierte Arbeitslose und Abmeldungen aus der Arbeitslosigkeit 200'000

50'000

180'000

45'000

160'000

40'000

140'000

35'000

120'000

30'000

100'000

25'000

80'000

20'000

60'000

15'000

40'000

10'000

20'000

5'000

Abmeldungen aus der Arbeitslosigkeit (rechte Skala)

Jul 12

Apr 12

Jan 12

Okt 11

Jul 11

Apr 11

Jan 11

Okt 10

Jul 10

Apr 10

Jan 10

Okt 09

Jul 09

Apr 09

Jan 09

Okt 08

Jul 08

Apr 08

0

Jan 08

0

Arbeitslose (linke Skala)

Quelle: SECO

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

40/54

Die Zahl der Abmeldungen aus der ALV lag in den Monaten März, April und Mai 2011 höher als in den gleichen Monaten der Vorjahre. Auffallend ist insbesondere, wie hoch die Zahl der Aussteuerungen in diesem Zeitraum im Verhältnis zur vergleichsweise tiefen Arbeitslosenzahl zum selben Zeitpunkt war. Der dämpfende Effekt auf die Arbeitslosenzahl durch vermehrte Abmeldungen war jedoch auf wenige Monate begrenzt und im Umfang eher klein. Da Aussteuerungen mit Bezug zur AVIG-Revision oft nur zeitlich vorgezogen und nicht durch die Revision verursacht wurden, dürfte dieser Effekt längerfristig wieder aufgehoben werden. Gemäss einer vorsichtigen Schätzung dürfte sich die Arbeitslosenzahl ab April 2011 durch die AVIG-Revision um knapp 5000 und die Arbeitslosenquote um ca. 0,1 Prozent-Punkte vermindert haben. Die Zahl der Stellensuchenden dürfte als Folge der Revision um rund 8000 gesunken sein. Diese Schätzungen beziehen sich auf die Auswirkungen jener Sparmassnahmen, welche bei Inkrafttreten der Revision sofort wirksam wurden und rasche Abgänge provozierten. Sie stellen daher eher eine Untergrenze dar. 20 Nicht berücksichtigt sind Auswirkungen von Sparmassnahmen, welche den Zugang zu Leistungen der ALV erschweren und sich daher erst nach und nach auf die Arbeitslosenzahlen auswirken. Zur Messung ihres Einflusses ist ein längerer Beobachtungszeitraum nötig. •

Dauer der Arbeitslosigkeit und des Taggeldbezugs

Aus Abbildung 31 wird ersichtlich, dass die durchschnittliche effektive Dauer der Arbeitslosigkeit nach der 4. Teilrevision des AVIG nicht unter das Niveau der Vorjahre gesunken ist. Die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit wird einmalig (und nicht monatlich) nach der Abmeldung gemessen. In einer ersten Phase führte die AVIG-Revision zu einem Anstieg der durchschnittlichen effektiven Dauer der Arbeitslosigkeit, weil sie relativ konzentriert über wenige Monate Abgänge von Arbeitslosen mit relativ langen Taggeldbezugsdauern auslöste. Die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit lag in den 12 Monaten nach Inkrafttreten der Revision um 8 Prozent (Arbeitslose) respektive 4 Prozent (Stellensuchende) unter den 12 Monaten vor der Revision. Darin dürfte sich die verkürzte durchschnittliche Bezugsdauer bereits stärker spiegeln. Allerdings sind auch diese Zahlen zurückhaltend zu interpretieren, da in Phasen steigender Arbeitslosigkeit (zwischen September 2011 und Februar 2012 stieg die Arbeitslosenquote von 2,6 Prozent auf 3,1 Prozent) die durchschnittliche bisherige Dauer der Arbeitslosigkeit durch Neuzugänge nach unten bewegt wird. Bei der bisherigen Dauer sind im Gegensatz zur effektiven Dauer an- und abgemeldete Personen gezählt.

20

Die Auswirkungen der AVIG-Revision auf die Zahl der Arbeitslosen und Stellensuchenden wurde hier anhand des Saisonbereinigungsverfahrens «Tramo Seats» geschätzt. Damit wurde im April 2011 eine Senkung («level shift») von bis zu 3,5 Prozent bei den Arbeitslosen und bis zu 4 Prozent bei den Stellensuchenden ermittelt.

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

41/54

Abbildung 31: Durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit 300

AVIGRevison

250 200 150

Bisherige Dauer Effektive Dauer

100 50

Jul 12

Apr 12

Jan 12

Okt 11

Jul 11

Apr 11

Jan 11

Okt 10

Jul 10

Apr 10

Jan 10

Okt 09

Jul 09

Apr 09

Jan 09

Okt 08

Jul 08

Apr 08

Jan 08

0

Quelle: SECO

Betrachtet man statt der Dauer der Arbeitslosigkeit die durchschnittliche Taggeldbezugsdauer von ausgesteuerten Personen (siehe Abbildung 32), dann ist eine Änderung des Niveaus deutlich erkennbar. Diese Reduktion der durchschnittlichen Taggeldbezugsdauer bringt für die ALV Einsparungen mit sich. Abbildung 32: Durchschnittliche Taggeldbezugsdauer von ausgesteuerten Personen

Quelle: SECO

Erwartet wurde, dass die Leistungskürzungen der 4. Teilrevision des AVIG mittelfristig die Arbeitslosenzahlen senken und die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit verkürzen. Die Beobachtungen der ersten 12 Monate deuten auf relativ moderate Effekte hin, wenngleich die gesamte und längerfristige Wirkung der Revision noch nicht genau abzuschätzen ist. Die Effekte auf die Aussteuerungen und die Arbeitslosenzahlen sollten aber auch mittel-

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

42/54

fristig relativ moderat bleiben, weil die Kürzungen der Revision nicht die Kernleistungen der ALV tangieren und weil nicht alle Leistungskürzungen automatisch zu einer Zunahme von Aussteuerungen und einer Senkung der Arbeitslosenzahlen führen. 5.3.1

Wartezeit

Kritiker der 4. Teilrevision äusserten im Vorfeld auch die Befürchtung, die Revision werde bestimmte Personengruppen von den Versicherungsleistungen ausschliessen oder ihnen doch zumindest den Zugang erschweren. Sie gingen davon aus, dass dies vor allem Jugendliche mit einer besonderen Wartezeit von 120 Tagen betreffe. Mit der Revision wurden die Ausnahmen bei der Wartezeit für Personen gestrichen, die ihre Schulpflicht erfüllt oder einen Schulabschluss erworben haben (Art. 6 Abs. 1 Bst. a, b und c AVIV). Die Streichung betrifft vor allem Jugendliche, die jedoch die Möglichkeit haben, während der Wartezeit an einem Motivationssemester (SEMO 21) mit einem monatlichen Unterstützungsbeitrag von durchschnittlich 450 Franken netto oder, unter bestimmten Bedingungen, an einem Berufspraktikum teilzunehmen. Seit der Revision werden die SEMO-Tage nicht mehr von der maximalen Anzahl an Taggeldern abgezogen. So wurden z. B. einem Jugendlichen, der in der besonderen Wartezeit während 120 Tagen an einem SEMO teilgenommen hatte, vor der Revision die Taggelder um 120 Tage von 260 auf 140 Taggelder gekürzt. Seit Inkrafttreten der Revision haben Beitragsbefreite nach Ablauf der Wartezeit noch Anspruch auf 90 22 Taggelder. Der Jugendliche kann heute also 120 Tage an einem SEMO teilnehmen und anschliessend 90 Taggelder beziehen. Für Personen ohne Unterhaltspflichten wurde eine zusätzliche Wartezeit eingeführt, abgestuft nach der Höhe des versicherten Verdienstes. Familien mit unterhaltspflichtigen Kindern müssen keine Wartezeit bestehen. Für Personen ohne unterhaltspflichtige Kinder aber mit geringem Einkommen ist die Wartezeit kürzer als für Personen mit hohem Einkommen (ebenfalls ohne unterhaltspflichtige Kinder). Heute kann festgestellt werden, dass sich durch die Verlängerung der Wartezeiten vor allem jugendliche Hochschulabsolventen weniger oft bei der ALV anmelden als vor der Revision. Dies überrascht nicht, da diese Personengruppe am stärksten von der Streichung der Ausnahmen nach Art. 6 Abs. 1 Buchstabe a, b und c AVIV betroffen ist. Bei den anderen Personenkategorien konnten bisher keine Auswirkungen beim Anmeldeverhalten beobachtet werden. 5.3.2

Zwischenverdienst

Mit der Kürzung der Leistungen im Rahmen der 4. Teilrevision des AVIG sollte insbesondere das Versicherungsprinzip gestärkt werden. Im Fall des Zwischenverdienstes 23 bedeutet dies, dass die Kompensationszahlungen bei der Berechnung des neuen versicherten Verdienstes nicht mehr berücksichtigt werden. Neu bestimmen nur die vom Arbeitgeber bezahlten Löhne und nicht mehr die von der ALV ausbezahlten Kompensationszahlungen die Höhe des neuen versicherten Verdienstes.

21

Ziel eines SEMO ist, Jugendliche, die ihre Schulpflicht erfüllt haben oder die ihre Lehre, eine weiterführende Schule oder eine andere Ausbildung abgebrochen haben, für eine Berufsausbildung zu motivieren und sie auf der Suche nach einer Lehrstelle zu unterstützen. 22 Mit der Revision wurde der Taggeldhöchstanspruch von beitragsbefreiten Personen von 260 auf 90 Taggelder gekürzt. 23 Der Zwischenverdienst soll Arbeitslosen als Anreiz dienen, parallel zu ihrer Stellensuche und als vorübergehende Lösung eine berufliche Tätigkeit auszuüben, auch wenn das damit verbundene Einkommen unter der Arbeitslosenentschädigung liegt, das sie ohne Zwischenverdienst bekommen würden. Denn die ALV entrichtet zusätzlich zum Zwischenverdienst eine Kompensationszahlung, so dass das Einkommen aus dem Zwischenverdienst zusammen mit der Kompensationszahlung höher ist als die Arbeitslosenentschädigung. Leistet die versicherte Person mit Zwischenverdiensten ein Jahr lang Beiträge, erwirbt sie einen neuen Anspruch auf ALVTaggelder.

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

43/54

Die Berechnung des Zwischenverdienstes und des daraus abgeleiteten versicherten Verdienstes vor und nach der Revision wird anhand der Abbildungen 35 und 36 dargestellt. Vor der Revision begründete z. B. ein versicherter Verdienst von 5000 Franken 24 pro Monat einen Anspruch auf Taggelder in der Höhe von monatlich 4000 Franken (0,8 * 5000). Eine versicherte Person, die eine Tätigkeit mit einem durchschnittlichen Zwischenverdienst von 2000 Franken 25 aufnahm, hatte Anspruch auf Kompensationszahlungen in Höhe von 2400 Franken (0,8 * (5000 – 2000), so dass ihr Einkommen über dem Taggeld lag. Im Fall einer weiteren Rahmenfrist verringerte sich der versicherte Verdienst auf 4400 Franken (2000 + 2400) und das Taggeld betrug 3520 Franken. Abbildung 33: Rechenbeispiel versicherter Verdienst bei Zwischenverdienst vor der Revision

Quelle: SECO

Nach der Revision berechtigen der gleiche versicherte Verdienst und Zwischenverdienst für den Zeitraum vor der Revision (5000 bzw. 2000 Franken) während der ersten Rahmenfrist zu genau den gleichen Leistungen. Eröffnet diese Person jedoch eine weitere Rahmenfrist, verringert sich ihr versicherter Verdienst deutlich (da nur der Zwischenverdienst von 2000 Franken berücksichtigt wird). Der versicherte Verdienst bestimmt die Höhe der Taggelder.

24

Der in dem Beispiel betrachtete versicherte Verdienst von 5000 Franken kommt den tatsächlich verzeichneten Durchschnittsbeträgen sehr nahe. 25 Die Zwischenverdienste lagen sowohl ein Jahr vor als auch ein Jahr nach der Revision durchschnittlich bei ungefähr 2000 Franken.

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

44/54

Abbildung 34: Rechenbeispiel versicherter Verdienst bei Zwischenverdienst nach der Revision 26

Quelle: SECO

In dem dargestellten Fall führt die Revision zu einer Kürzung der Taggelder während einer weiteren Rahmenfrist um 1920 Franken (3520 – 1600) pro Monat. Im Vorfeld der Revision wurde die Befürchtung geäussert, dass die neue Bestimmung zum Zwischenverdienst den Anreiz dieses Instruments mindern und Arbeitslose davon abhalten könnte, Zwischenverdienste anzunehmen. Der Zwischenverdienst bietet jedoch weiterhin viele Vorteile: Er erhöht die Chancen auf dem Arbeitsmarkt, verbessert das Einkommen und verlängert die Bezugsdauer. Für versicherte Personen beeinträchtigt eine mögliche Kürzung eines weiteren, zukünftigen versicherten Verdienstes die Attraktivität des Zwischenverdienstes kaum. Abgesehen davon ist jede versicherte Person im Rahmen der Schadensminderungspflicht nach wie vor verpflichtet, jede zumutbare Erwerbsarbeit anzunehmen, auch wenn sie nur vorübergehend ist oder aus einem Teilzeitpensum besteht.

26

Ein versicherter Verdienst von 5000 Franken entspricht in etwa dem durchschnittlichen versicherten Verdienst von Personen im Zwischenverdienst.

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

45/54

6

Arbeitsmarktliche Massnahmen (AMM)

6.1

Änderungen der gesetzlichen Bestimmungen

Den Kantonen steht für die Organisation von AMM jährlich ein finanzieller Plafond zur Verfügung. Dieser Plafond wurde per Januar 2009 durch die Einführung einer neuen Berechnungsmethode gesenkt. Bis 2008 standen den Kantonen maximal 3500 Franken pro stellensuchende Person zur Verfügung. Ab 2009 wird der Plafond dynamisch mit Beträgen 27 zwischen 1700 und 3500 Franken je nach Höhe der Stellensuchendenquote 28 berechnet. Mit der Änderung der Plafond Berechnung wurden in der entsprechenden Verordnung gleichzeitig die Sondermassnahmen (Einarbeitungszuschüsse, Ausbildungszuschüsse, Förderung einer selbstständigen Erwerbstätigkeit, Pendlerkostenbeiträge) aus dem Plafond herausgenommen. Der Grund: Seit der Revision am 1. April 2011 haben ältere Arbeitslose Anspruch auf Einarbeitungszuschüsse bis zu 12 Monaten von neu durchschnittlich 50 Prozent (vor der Revision durchschnittlich 40 Prozent) des Lohnes. Diese Änderung wurde eingeführt, um die Vermittlung von älteren Arbeitslosen zu begünstigen, die in der Regel ein höheres Risiko haben, langzeitarbeitslos zu werden. Diese und die anderen Sondermassnahmen unterstehen heute nicht mehr dem Plafond und können dadurch bei Bedarf (arbeitsmarktliche Indikation) von den Kantonalen Amtsstellen uneingeschränkt eingesetzt werden.

6.2

Nettoauswirkung auf die Finanzen der ALV

Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, ob die durch die Senkung des Plafonds erzielten Einsparungen nicht durch die Mehrausgaben für Sondermassnahmen kompensiert wurden. Berechnet man die Kostenentwicklung der Massnahmen auf der Grundlage einer durchschnittlichen Arbeitslosenquote von 3,2 Prozent 29, dann belaufen sich die jährlichen Kosten im Zeitraum 2005–2008 auf 518 Millionen Franken und im Zeitraum 2009–2010 auf 454 Millionen Franken. Dies ergibt eine Abweichung von -63 Millionen Franken. Nach der Einführung des neuen Plafonds sind die Ausgaben für alle kantonal organisierten AMM damit um rund 12 Prozent zurückgegangen. Trotz eines deutlichen Anstiegs der Zahl älterer Einarbeitungszuschuss-Beziehenden konnte das mit der 4. Teilrevision des AVIG verfolgte Ziel, die Ausgaben für AMM um 10 Prozent zu reduzieren, erreicht werden.

6.3

Auswirkungen auf die Kantone

Das SECO befragt die Kantonalen Amtsstellen regelmässig über den Bedarf und die Nutzung von AMM. Im Jahr 2011 bezog sich die Umfrage des SECO unter anderem auch auf die Auswirkungen der 4. Teilrevision des AVIG auf die AMM. Die Kantone erstatteten Bericht über die Auswirkungen auf die Finanzen, auf die Massnahmen für junge Erwachsene und auf die Organisation der AMM.

27

Diese Staffelung beruht auf folgenden Feststellungen: 1. Der Bedarf an AMM entwickelt sich bei steigender Arbeitslosigkeit nicht linear sondern degressiv. 2. Bei hoher Arbeitslosigkeit sind die Fixkosten pro stellensuchende Person in den kollektiven Massnahmen wegen der Skaleneffekte geringer. 28 Siehe Verordnung des WBF vom 26. August 2008 über die Vergütung von arbeitsmarktlichen Massnahmen (RS 837.022.531) 29 Für eine durchschnittliche Arbeitslosenquote von 3,2 Prozent wurden bei dieser Berechnung rund 200 000 Stellensuchende (Volkszählung 2010) zugrunde gelegt.

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

46/54

• Finanzielle Auswirkungen Ein Grossteil der Kantone hat einen Rückgang der Teilnehmerzahlen in AMM festgestellt. Dieser Rückgang sei einerseits auf die Konjunktur zurückzuführen, andererseits auf die Verkürzung der Bezugsdauer für bestimmte Gruppen von Stellensuchenden. Einige Kantone gaben an, dass die rückläufigen Teilnehmerzahlen zu einem kleineren Angebot an bestimmten Massnahmen geführt haben. Einige Kantone äusserten die Befürchtung, dass eine Kürzung der Bezugsdauer in Verbindung mit dem Rückgang der registrierten Stellensuchenden die verfügbaren Mittel für AMM schmälern könnten. Eine Mehrheit der Kantone konstatiert eine Lastenverschiebung vom Bund zu den Kantonen, namentlich durch die Änderung der Finanzierung von AMM für beitragsbefreite Personen (Artikel 59d AVIG), wonach die Kantone neu 50 Prozent (vorher 20 Prozent) der Teilnahmekosten tragen. Diese Lastenverschiebung betreffe insbesondere die SEMO. • Massnahmen für junge Erwachsene Nach den Angaben der Kantone wirkt sich die Kürzung der Bezugsdauer direkt auf die Massnahmen für junge Erwachsene (Studienabgänger, Jugendliche, die keinen Ausbildungsplatz gefunden haben, und Personen, die nach langer Unterbrechung wieder eine Erwerbstätigkeit aufnehmen) aus. Der Erfolg von Massnahmen wie die SEMO, Berufspraktika oder von Programmen zur vorübergehenden Beschäftigung hängt unter anderem von deren Dauer ab. Für die SEMO bedeute die Kürzung der Bezugsdauer, dass Jugendliche Gefahr laufen, nicht mehr über die notwendige Zeit zu verfügen. Um hier Abhilfe zu schaffen, übernehmen einige Kantone einen Teil der Kosten selbst. Beitragsbefreite Jugendliche haben zudem die Möglichkeit, bereits während der Wartezeit von 120 Tagen an einem SEMO teilzunehmen. • Organisation der AMM Die Kantone gaben an, dass ihre finanzielle Lage, die Kürzung der Bezugsdauer und die rückgängige Teilnehmerzahlen die Entwicklung der AMM erschwert haben. Sie befürchten, der Kostendruck könne sich negativ auf die Qualität der AMM auswirken. Die Hälfte der Kantone stellt fest, dass die interinstitutionelle Zusammenarbeit verstärkt werden sollte, um den besonderen Bedürfnissen von ausgesteuerten Versicherten gerecht werden zu können.

6.4

Beitragszeit und von der öffentlichen Hand finanzierte arbeitsmarktliche Massnahme

Gemäss dem neuem Art. 23 Abs. 3bis AVIG ist ein Verdienst nicht mehr versichert, den eine Person durch die Teilnahme an einer von der öffentlichen Hand finanzierten AMM 30 erzielt. Durch die Teilnahme an einer von der öffentlichen Hand (mit)finanzierten AMM können keine neuen Taggeldansprüche mehr erworben werden. Diese Änderung wurde damit begründet, dass Integrationsmassnahmen auf eine möglichst schnelle und nachhaltige Wiedereingliederung der Stellensuchenden in den ersten Arbeitsmarkt abzielen und arbeitsmarktpolitisch mit einer Generierung von Taggeldansprüchen die falschen Signale gesetzt wurden. Bei Inkrafttreten der Revision wurden bereits bestehende Ansprüche jedoch nicht aberkannt, um Härtefälle zu vermeiden (Anhang 2).

30

Die Situation ist bei den Einarbeitungszuschüssen (Art. 65) und den Ausbildungszuschüssen (Art. 66a) eine andere, da diese im ersten Arbeitsmarkt stattfinden: Die Löhne und die damit verbundenen Beitragszeiten können deshalb einen Anspruch auf Leistungen der ALV begründen.

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

47/54

Anhang 1: Wirkungsindikatoren der RAV Es wurden vier Wirkungsindikatoren entwickelt, die bei der Führung der RAV und insbesondere zur Bewertung der Umsetzung des Ziels einer raschen und nachhaltigen Wiedereingliederung der Stellensuchenden angewendet werden. Darüber hinaus wird aus den vier gewichteten Wirkungsindikatoren ein Gesamtindikator berechnet. Tabelle 1: Wirkungsindikatoren Wirkung

Indikator Wie viele Taggelder beziehen die Taggeldbezüger durchschnittlich?

Gewichtung 50 %

1.

Rasche Wiedereingliederung

2.

Langzeitarbeitslosigkeit Wie viele der Taggeldbezüger werden langzeitarbeitslos? vermeiden

20 %

3.

Aussteuerungen vermeiden

Wie viele der Taggeldbezüger erreichen das Ende ihrer Rahmenfrist?

20 %

4.

Wiederanmeldungen vermeiden

Wie viele der Leistungsbezüger werden nicht nachhaltig eingegliedert?

10 %

Gesamtindikator

100 %

Rasche und nachhaltige Wiedereingliederung

Quelle: «Massnahmen zur Umsetzung der Vereinbarung RAV/LAM/KAST. Bericht über die Wirkungsmessung 2010», SECO, Mai 2011.

Die Leistungen der RAV bei der Wiedereingliederung lassen sich anhand der vorgenannten (Brutto-)Wirkungsindikatoren nur schwer vergleichen. Es müssen exogene Faktoren berücksichtigt werden, auf die die RAV keinen Einfluss haben. So ist der Wert der ersten drei Indikatoren in touristischen Regionen wegen des saisonalen Charakters der Arbeitslosigkeit und der höheren Zahl der Wiederanmeldungen typischerweise niedriger. Die korrigierten Daten erlauben einen Vergleich der von den RAV und den Kantonen erzielten Wirkungen. Sie sagen jedoch nichts über die Art und Weise aus, wie diese Wirkungen erzielt wurden. Aus diesem Grund müssen auch andere Instrumente betrachtet werden, wie die Lageberichte, die operativen Kennzahlen oder der Erfahrungsaustausch. Das zentrale Anliegen ist die rasche Wiedereingliederung. Die Revision sollte verschiedene Personengruppen durch Kürzung ihrer Bezugsdauer de facto zu einer schnelleren Lösungssuche bewegen. Die Revision des AVIG hat die Entwicklung der Wirkungsindikatoren, namentlich der Inkatoren 1 und 3, beeinflusst. Wirkungsindikator 1 misst die durchschnittliche Anzahl der Taggelder, die abgemeldete oder ausgesteuerte Versicherte während einer Rahmenfrist bezogen haben. Dieser Wert wird nicht monatlich erhoben sondern erst nach der Abmeldung gemessen. Mit dem Inkrafttreten der Revision stieg dieser Durchschnitt im März 2011 erwartungsgemäss stark an, weil das neue Gesetz für verschiedene Personengruppen die maximale Anzahl der Taggelder kürzte und für diese Fälle keine Übergangsbestimmungen vorgesehen waren. Der Durchschnitt sank im April 2011 dann wieder auf einen mit dem Februar 2011 vergleichbaren Wert.

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

48/54

Abbildung 35: Wirkungsindikator 1 – Rasche Wiedereingliederung

Quelle: SECO

Wirkungsindikator 3 misst die Vermeidung von Aussteuerungen anhand des Anteils der Aussteuerungen in einem gegebenen Monat bezogen auf die mögliche Anzahl der Aussteuerungen. Auch hier war ein aussergewöhnlich starker Anstieg im März 2011 zu erwarten, weil die Inkraftsetzung der Revision kurzfristig zu einem überproportionalen Anstieg der Aussteuerungen von Personen mit überdurchschnittlich langer Bezugsdauer geführt hat. Im April 2011 ist dieser Indikator wieder stark gesunken. Abbildung 36: Wirkungsindikator 3 – Aussteuerungen vermeiden

Quelle: SECO

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

49/54

Anhang 2: Regelung für Versicherte, die sich vor dem 1. April 2011 zur Arbeitslosigkeit angemeldet haben Das neue Gesetz beinhaltet keine Übergangsregelung, die einen Besitzstand für eine bestimmte Anzahl an Taggeldern garantiert hätte. Nach eingehender Prüfung hat das SECO den Handlungsspielraum für Personen, die sich bereits vor der Inkraftsetzung zur Arbeitslosigkeit angemeldet und eine Rahmenfrist eröffnet haben, wie folgt ausgeschöpft: • Wartezeit Alle Versicherten, die ihre Rahmenfrist vor dem 1. April 2011 eröffnet haben, müssen keine zusätzlichen Wartetage bestehen, auch dann nicht, wenn sie sich in einer Situation befinden, in der das neue AVIG dies vorsieht. • Versicherter Verdienst bei der Anrechnung von Kompensationszahlungen Versicherte, die ihre Rahmenfrist vor dem 1. April 2011 eröffnet haben und deren versicherter Verdienst aufgrund der Anrechnung von Kompensationszahlungen ermittelt worden ist, behalten den zu Beginn der Rahmenfrist ermittelten versicherten Verdienst bei. Es erfolgt keine Neuberechnung des versicherten Verdienstes. • Wegfall der Anrechnung von Beitragszeiten in von der öffentlichen Hand finanzierten AMM Versicherte, deren Rahmenfrist vor dem 1. April 2011 unter Anrechnung einer Beitragszeit eröffnet worden ist, die in einer von der öffentlichen Hand finanzierten AMM erbracht wurde (Art. 23 Abs. 3bis), behalten ihren Anspruch auf Leistungen der ALV. Es erfolgt keine Neubeurteilung dieses Anspruchs.

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

50/54

Anhang 3: Geschichte der Arbeitslosenversicherung Tabelle 2: Geschichte der Arbeitslosenversicherung 1884 - 2012 Jahr

Neuerungen

1884 1893

Typographenbund errichtet die erste Arbeitslosen-Unterstützungskasse (erste private einseitige Kasse). Erste öffentliche Kasse der Gemeinde Bern (Prinzip der Freiwilligkeit).

1894

Öffentliche Kasse der Stadt St. Gallen (Prinzip des Obligatoriums).

1924

Bundesgesetz über die Subventionierung der Arbeitslosenkasse (reines Subventionsgesetz). Die Ausrichtung der Bundesbeiträge wird von wenigen Voraussetzungen abhängig gemacht. Die Kassen bleiben autonom und müssen lediglich gewisse Vorschriften erfüllen. Aufgrund dieses Gesetzes erklärt die Mehrheit der Kantone die Arbeitslosenversicherung innerhalb bestimmter Einkommen (Ausschluss von tiefen Einkommen) für obligatorisch. Subventionierungsgesetz wird neu geregelt, die Kantone werden zu gleich hohen Subventionsbeiträgen an die Arbeitslosenkasse verpflichtet. Am 22. Juni 1951 tritt das Arbeitslosenversicherungsgesetz in Kraft. Auf ein gesamtschweizerisches Versicherungsobligatorium wird jedoch noch verzichtet. Das Gesetz ermöglicht den Kantonen, die Arbeitslosenversicherung in ihrem Gebiet obligatorisch zu erklären. Träger der Arbeitslosenversicherung sind die kantonalen und kommunalen, gewerkschaftlichen oder paritätischen Kassen. Jede Kasse führt ihren eigenen Finanzhaushalt. Die Prämien variieren deshalb von Kasse zu Kasse die Leistungen werden durch Bundesrecht geregelt. Eine einheitliche und für die ganze Schweiz obligatorische Versicherung wurde erst nach dem Beschäftigungseinbruch von 1975 (Ölkrise 1974) umgesetzt. Mit Beginn der Rezession (Ölkrise) setzt der Bundesrat eine Expertenkommission zur Prüfung der Frage einer Neukonzeption der Arbeitslosenversicherung ein. Gestützt auf den Bericht dieser Kommission wird eine Verfassungsänderung eingeleitet (als BV 34novies). Dies ist der eigentliche Beginn der obligatorischen Arbeitslosenversicherung. Bundesgesetz und Verordnung über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung (Insolvenz = Zahlungsunfähigkeit) treten per 1. Januar in Kraft. Die damals verankerten Grundpfeiler der Arbeitslosenversicherung sind heute noch gültig: - Finanzierung - Rahmenfristen von 2 Jahren - Neue Aufgaben für die kantonalen Amtsstellen - Staffelung der Leistungsdauer - Unterscheidung der Taggelder nach Leistungsarten - Kurzarbeit- und Schlechtwetterentschädigung Als 1992 erneut eine Rezession über die Schweiz hereinbrach, reagierte der Gesetzgeber, indem er die Leistungen massiv ausbaute («passiver Bezug») und einen Wechsel der Prioritäten bzw. des Zwecks vornahm. Erste Teilrevision mit Erhöhung des Beitragssatzes von 0,4 Prozent auf 2,0 Prozent, Erhöhung des maximalen Taggeldanspruches auf 300 Tage sowie der Einführung der wöchentlichen Stempelpflicht (bisher zweimalig). Dringlicher Bundesbeschluss: Taggelder von 300 auf 400 Tage erhöht und Anspruch für einzelne Personenkreise von bisher 80 Prozent auf 70 Prozent gekürzt. Die zweite Teilrevision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes bringt mit den «aktiven Massnahmen» statt dem «passiven Bezug» eine grundlegende Neuausrichtung. Sie tritt in zwei Etappen per 1. Januar 1996 und per 1.

1942 1951

1974

1975

1984

1992

1993

1996

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

51/54

Januar 1997 in Kraft (zu dieser Zeit ca. 206 000 Arbeitslose). Mit der Revision von 1997 wird insbesondere die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt mehr gewichtet und ein aktives Verhalten der Versicherten gefordert und gefördert. -

1999

Erhöhung des Beitragssatzes von 2 Prozent auf 3 Prozent Notmassnahme: Solidaritätsbeitrag von 2 Lohnprozenten auf höheren Einkommen - Allgemeine Wartezeit - Einführung der Nichtberufsunfallversicherung - Einführung der RAV - Neue Taggeldregelungen - Einführung eines Obligatoriums im Rahmen der beruflichen Vorsorge gegen die Risiken Invalidität und Tod. Stabilisierungsprogramm mit Massnahmen zur Kosteneindämmung. Die Umsetzung erfolgt in drei Schritten: 1.7.99: Reduktion der Maximalansätze bei arbeitsmarktlichen Massnahmen. 1.9.99: Herabsetzung der Dauer der Insolvenzentschädigung von sechs auf vier Monate, Neuregelung der Entschädigungshöchstgrenze bei unfreiwillig vorzeitig Pensionierten und Reduktion der maximalen Bezugsdauer bei allen Personen, die von der Erfüllung der Beitragszeit befreit sind von 520 auf 260 Tage.

2000

1.1.00: Wechsel vom Lohn- zum Taggeldkonzept bei den Programmen zur vorübergehenden Beschäftigung, Erhöhung des höchstversicherten Verdienstes in der ALV (durch die Koppelung an das UVG) von 97 200 Franken auf 106 800 Franken, Beibehaltung des dritten Lohnprozents sowie Erhöhung des Solidaritätsprozents von einem auf zwei Prozente. Inkrafttreten der ersten wirkungsorientierten Vereinbarung zwischen dem Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartement und den Kantonsregierungen.

2001

Einführung einer Rechtsgrundlage für den Abschluss von Leistungsvereinbarungen mit den Kassenträgern und den Kantonen. Aufhebung des durch die Kantone bereitzustellenden Mindestangebotes an arbeitsmarktlichen Massnahmen. Neuregelung der finanziellen Beteiligung der Kantone an der Bereitstellung der arbeitsmarktlichen Massnahmen. Verschärfung der Haftung der Kantone und der Kassenträger. Regelung der Finanzierung des Personals der Ausgleichsstelle der Arbeitslosenversicherung. Aufgrund des Bundesgesetzes über den Datenschutz (DSG) notwendige Schaffung von Rechtsgrundlagen, welche sowohl die Bearbeitung sämtlicher für das Führen der Versicherung erforderlichen Personendaten als auch deren Bekanntgabe und das Abrufverfahren auf Gesetzesstufe regeln.

2002

1.6.2002: Anpassung von Regelungen im Zusammenhang mit dem Inkrafttreten der bilateralen Verträge Schweiz-EU (insbesondere der Regelungen bezüglich des freien Personenverkehrs) und der EFTA-Konvention. 1.1.2002: Der Beitragssatz für die obligatorische berufliche Vorsorge beträgt für Versicherte 2,2 Prozent des koordinierten Taglohnes (Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteil).

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

52/54

2003

1.7.2003: Inkrafttreten der 3. Teilrevision des AVIG mit folgenden Massnahmen: -

2004

Mindestbeitragszeit zur Begründung eines Anspruchs beträgt neu 12 Monate (vorher 6). - Reduktion des Taggeldhöchstanspruchs auf 400 Taggelder (vorher 520). Ausnahme für über 55-jährige und IV/UV-Rentner/-innen. - Reduktion des ALV-Beitragssatzes auf 2 Prozent bis zum Höchstbetrag des versicherten Verdienstes von 106 800 Franken (Einführung erst auf 1.1.2004); Möglichkeit der Deplafonierung (1 Prozent auf Lohnanteilen von 106 800 Franken bis 267 000 Franken) für den Bundesrat ab Schuldenstand von 5 Mia. Franken. Senkung des Beitragssatzes für 2003 auf 2,5 Prozent, sowie Halbierung des Beitragssatzes für Lohnanteile von 106 800 Franken bis 267 000 Franken auf 1 Prozent (vorgezogen eingeführt auf den 1.1.2003). - Übernahme eines Drittels der NBUV-Prämie für arbeitslose Personen. - Möglichkeit der regionalen Erhöhung der Bezugsdauer bei erheblicher Arbeitslosigkeit (5 Prozent und mehr). - Neuregelung der Bestimmungen rund um die Erziehungsperiode. - Regelungen der Behandlung von Abgangsentschädigungen. - Kompetenzdelegation der Entscheide i.S. arbeitsmarktliche Massnahmen an die Kantone. - Erhöhung der Taggelder zur Planungsphase einer selbstständigen Erwerbstätigkeit von 60 auf neu 90 Tage. - Abschaffung der Unterscheidung zwischen «normalen» und «besonderen» (bei Teilnahme an einer arbeitsmarktlichen Massnahme) Taggeldern. - Erreicht der Schuldenstand des Ausgleichsfonds Ende Jahr 2,5 Prozent der von der Beitragspflicht erfassten Lohnsumme, so muss der Bundesrat innert einem Jahr eine Gesetzesrevision für eine Neuregelung der Finanzierung vorlegen. - 1.1.2003: Durch die Inkraftsetzung des ATSG werden gewisse Bestimmungen im Sozialversicherungsrecht harmonisiert. Die einschlägigen Anpassungen gelten selbstverständlich auch für das AVIG. Reduktion des Beitragssatzes auf 2 Prozent bis zum Höchstbetrag (106 800 Franken) des versicherten Verdienstes. Keine Beiträge mehr für diesen Betrag übersteigende Lohnanteile.

2005

1.7.2005: Präzisierung der Entscheid Kriterien zur Erhöhung der maximalen Anzahl Taggelder in von Arbeitslosigkeit stark betroffenen Regionen (Art. 41c AVIV).

2006

1.3.2006: Der Beitragssatz für die obligatorische berufliche Vorsorge beträgt 1,1 Prozent des koordinierten Taglohnes (Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteil). 1.1.2006: Einführung eines neuen Finanzierungssystems für die arbeitsmarktlichen Massnahmen (AMM) nach dem Prinzip des Plafonds. Jeder Kanton erhält zur Finanzierung der AMM jährlich maximal 3500 Franken pro registrierten Stellensuchenden.

2008

Erhöhung des maximal versicherten Verdienstes 126 000 Franken jährlich (gemäss Unfallversicherungsverordnung). Der Beitragssatz für die obligatorische berufliche Vorsorge beträgt 0,8 Prozentpunkte des koordinierten Taglohnes (Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteil).

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

53/54

2010

26.9.2010: Die 4. Teilrevision des AVIG wird in einer Volksabstimmung angenommen. 1.6.2010: Der Beitragssatz für die obligatorische berufliche Vorsorge wird von 0,8 Prozentpunkten auf 2,5 Prozent erhöht.

2011

1.1.2011: Beitragserhöhung. Die Beiträge betragen neu 2,2 Prozent des versicherten Verdienstes bis zu einem maximalen Jahresbruttolohn von 126 000 Franken jährlich. Auf Einkommensanteilen zwischen 126 000 Franken und 315 000 Franken wird zudem ein Solidaritätsbeitrag von 1 Prozent erhoben. 1.4.2011: Die 4. Teilrevision des AVIG tritt in Kraft. Die wichtigsten Änderungen: Die Beitragszeit wird stärker an die Bezugsdauer gekoppelt und die Wartezeit vor dem Bezug des Taggelds wird teilweise verlängert.

2012

Anpassung der Beitragszeit bei über 55 jährigen Arbeitslosen von 24 auf 22 Monate für einen Höchstanspruch von 520 Taggeldern.

Quellen: Schweizerische Sozialversicherungsstatistik 2011 und 2012, BSV; Referat «Geschichte der Arbeitslo31 senversicherung» Mario Aeby, Dominic Knubel, Patricia Sandrieser, 2002

Tabelle 3: Beitragssätze und Einkommensgrenzen 1977 - 2011 Jahr

ALV-Beitrag in Prozent

Einkommensgrenze pro Jahr in Franken

1.1.1977

0.8

46‘800

1.1.1980

0.5

46‘800

1.1.1982

0.3

46‘800

1.1.1983

0.3

69‘900

1.1.1984

0.6

69‘900

1.1.1987

0.6

81‘600

1.1.1990

0.4

81‘600

1.1.1991

0.4

97‘200

1.1.1993

2.0

97‘200

1.1.1995

3.0

97‘200

1.1.1996

3.0

97‘200

1.1.2000

3.0

106‘800

1.1.2003

2.5

106‘800

1.1.2004

2.0

106‘800

1.1.2008

2.0

126‘000

1.1.2011

2.2

126‘000

Quelle: AVIG-Praxis Arbeitslosenentschädigung ALE A17a, gültig ab 2013

31 32

32

www.amstat.ch/seco/Literatur/200212_Geschichte_der_ALV.pdf http://www.treffpunkt-arbeit.ch/publikationen/kreisschreiben/

422.0/2010/00230 \ COO.2101.104.5.3935368

54/54

Suggest Documents