Bericht: Armut und Menschenrechte - Das Recht auf Gesundheit, 16. Juni 2008, Berlin

Bericht: „Armut und Menschenrechte - Das Recht auf Gesundheit“, 16. Juni 2008, Berlin Mehr Anstrengungen gegen soziale Ungleichheit gefordert Sozialme...
Author: Til Bayer
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Bericht: „Armut und Menschenrechte - Das Recht auf Gesundheit“, 16. Juni 2008, Berlin Mehr Anstrengungen gegen soziale Ungleichheit gefordert Sozialmediziner und Menschenrechtsexperten fordern von der Politik, mehr gegen die soziale Ungleichheit in Deutschland zu tun. Das Bemühen um geringere soziale Unterschiede ist nicht nur eine Gerechtigkeitsfrage, sondern kann auch dazu beitragen, die gesundheitliche Situation der gesamten Bevölkerung zu verbessern. Dieses war die Kernthese einer Veranstaltung von Diakonie und dem Deutschen Institut für Menschenrechte, die am 16. Juni 2008 in Berlin stattfand. Das Forum trug den Titel „Armut und Menschenrechte - Das Recht auf Gesundheit“ und war der zweite Teil einer Veranstaltungsreihe, die den Menschenrechtsansatz näher vorstellen und seine Potenziale für politisches Handeln aufzeigen will. Bevölkerungen, in denen die sozialen Unterschiede geringer als anderswo seien, seien auch insgesamt gesünder und hätten eine durchschnittlich höhere Lebenserwartung, sagte Rolf Rosenbrock, Mitglied im Sachverständigenrat Gesundheitswesen, auf der Veranstaltung. Valentin Aichele vom Institut für Menschenrechte kritisierte auf dem Podium das international festgeschriebene Recht auf Gesundheit werde in Deutschland „nicht hinreichend umgesetzt“. Gerhard Trabert, Vorsitzender des Vereins „Armut und Gesundheit in Deutschland“, warf der Politik vor, keine ausreichende Gesundheitsversorgung für alle Bürger sicherzustellen. Die Grünen-Politikerin Birgitt Bender sprach sich dafür aus, die „gesundheitliche Ungleichheit“ in Deutschland verstärkt im Bundestag zu thematisieren. „Gesundheit und Lebenserwartung in jeder Bevölkerung reagieren manchmal mit einer langen Verzögerung, aber immer verlässlich auf die gesellschaftliche Verteilung von Bildung, Teilhabechancen und Einkommen“, betonte Rosenbrock. Derzeit nehme die durchschnittliche Lebenserwartung pro Dekade um ein bis zwei Jahre zu, altersbedingte Krankheiten setzten immer später ein. Diese „kontinuierlich anfallenden Gesundheitsgewinne“ seien jedoch höchst ungleich verteilt, berichtete Rosenbrock, der am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) arbeitet. So hätten Menschen aus dem untersten Fünftel der deutschen Gesellschaft ein doppelt so hohes Risiko, schwer zu erkranken, wie Menschen aus dem obersten Fünftel. Die Lebenserwartung sei in den sozial benachteiligten Schichten deutlich geringer als in den begüterten. So würden beispielsweise Männer aus dem obersten Fünftel rund zehn Jahre älter als die aus dem

untersten Segment. Bei Frauen sei der Unterschied etwas geringer. Die Zunahme bei Lebenserwartung und -qualität seien nur zu maximal einem Drittel auf Fortschritte in der Medizin und der Krankenversorgung zurückzuführen, erläuterte der Gesundheitswissenschaftler. Verantwortlich für die Verlängerung des Lebens und der Vermeidung oder Verschiebung von chronischen Erkrankungen seien zu zwei Drittel Faktoren, die mit Medizin gar nichts zu tun hätten. „Mehr gesunde Jahre in einem längeren Leben für die gesamte Bevölkerung heißt nicht nur nachhaltige Finanzierung und mehr Effizienz in der Krankenversorgung sowie mehr Prävention, sondern fordert auch Engagement gegen wachsende Ungleichheit, vor allem auf den Feldern Bildung, Arbeit und Einkommen“, sagte Rosenbrock: „Wer von Bildungspolitik, Arbeitsmarktchancen und Einkommensverteilung nicht reden will, soll von gesundheitlicher Chancengerechtigkeit schweigen.“ Derzeit bestimme in kaum einem anderen Land die soziale Lage der Eltern die Bildungschancen der Kinder so sehr wie in Deutschland, kritisierte der Sozialmediziner. „Schlechte Gesundheitschancen werden damit erblich gemacht – ganz ohne die Beteiligung von Genen“, sagte das Mitglied des Sachverständigenrats. In Deutschland gebe es „immer mehr Einkommen, Vermögen und Bildungschancen in den oberen Etagen“, in den unteren hingegen „immer weniger davon, dafür aber immer größere Unsicherheit“. Die negativen Gesundheitsfolgen von unsteten Beschäftigungsformen und dem Niedriglohnsektor begännen sich erst abzuzeichnen. Um innerhalb des Gesundheitssystems mehr Verbesserungen für sozial benachteiligte Gruppen zu erreichen, seien vor allem präventive Projekte in Betrieben, Bildungsstätten, Freizeiteinrichtungen und Wohnquartieren sinnvoll, hob der Wissenschaftler hervor. Bei solchen Projekten zeige sich immer wieder, dass durch Partizipation und Transparenz die gegenseitige Unterstützung und das Selbstbewusstsein der Beteiligten gefördert werde. Dies seien „zentrale Ressourcen“, die zu mehr Gesundheit für alle führten. Rosenbrock mahnte auf der Veranstaltung weitere Verbesserungen im Gesundheitssystem an. Das Recht auf Krankenversicherung stehe nach wie vor nur auf dem Papier, Praxisgebühren und Zuzahlungen wirkten sozial ungleich. „Der Zugang zu einer qualitätsvollen und vollständigen Krankenversorgung für jeden Menschen ohne Ansehen seiner sozialen Stellung und seiner Zahlungskraft ist ein hohes zivilisatorisches Gut, dass es zu verteidigen und für besonders vulnerable Gruppen erst noch zu erreichen

gilt“, sagte er. Wann man von einer „besonderen Verletztlichkeit“ einer gesellschaftlichen Gruppe sprechen kann und soll, erläuterte Valentin Aichele vom Institut für Menschenrechte. Verletzlichkeit sei keine „persönliche Eigenschaft“, die Menschen oder Gruppen anhafte, sagte Aichele. Vulnerabel sei nicht die Gruppe, sondern deren Lebenslage. Dieser Unterschied sei wichtig, weil ansonsten die Gefahr der Stigmatisierung bestehe. Eine Verletzlichkeit liege dann vor, wenn eine Gruppe erfahrungsgemäß weniger die Möglichkeit habe, ihre Rechte in Anspruch zu nehmen als andere gesellschaftliche Gruppen, so Aichele. Armut sei eine Lebenslage, die sich durch eine „besonders hohe“ Verletzlichkeit auszeichne, betonte er. Der Mangel an Einkommen und Entwicklungschancen bei gleichzeitiger sozialer Ausgrenzung kennzeichne Armut, wie sie auch in Deutschland teilweise mit der Problembeschreibung „gesundheitlicher Ungleichheit“ erfat wird. Bei dem international festgeschriebenen Recht auf Gesundheit gehe es grundsätzlich um das „erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit“, sagte der Menschenrechtsexperte. Hier seien alle Menschen um der Menschenwürde willen gleich. Deutschland habe sich schon vor Jahrzehnten zu dem Recht auf Gesundheit bekannt. Deswegen seien die entsprechenden UN-Abkommen auch für die Bundesrepublik verbindlich und verlangten weitere konkrete Schritte, um dieses Ziel „so bald wie möglich“ zu erreichen. Dazu gehöre zum Beispiel eine nationale Strategie für die Gewährleistung des Rechts auf Gesundheit für alle, sagte Aichele. So eine Strategie gebe es in Deutschland aber nicht, kritisierte er. In den Fachausschüssen der Vereinten Nationen herrsche Einigkeit, dass es eine „völkerrechtliche Verpflichtung“ der Staaten gebe, gerade gesellschaftliche Gruppen „in verletzlichen Lebenslagen“ besonders zu unterstützen, um deren Recht auf Gesundheit zu sichern, sagte Aichele. Der Staat müsse also im Rahmen seiner Möglichkeiten alles tun, um den Gruppen bei der Überwindung der Verletzlichkeit zu helfen. Der Leiter des Instituts für Menschenrechte, Heiner Bielefeldt, sagte, beim Recht auf Gesundheit gehe es „um einen Anspruch an die Gesellschaft, als Rechtssubjekt akzeptiert zu werden, also diskriminierungsfreien Zugang zum Gesundheitswesen zu erhalten“. Dieser Zugang zum System müsse jedem nicht nur „de jure, sondern auch de facto“

ermöglicht werden. Das sei ein „elementarer Gerechtigkeitsanspruch“, der in den Menschenrechten wurzele, sagte Bielefeldt. Der Staat habe die Verpflichtung, jeden Bürger darin zu unterstützen, das Recht auf Gesundheit zur Geltung zu bringen. Der Menschenrechtsansatz könne das Instrumentarium bereitstellen, um die schwierige Situation von gesellschaftlichen Gruppen mit „besonderer Verletzlichkeit“ zu überwinden, betonte Bielefeldt. Der Ansatz sei eine notwendige Bedingung für alle Strategien zur Armutsbekämpfung. Es gehe nicht darum, die Armut zu skandalisieren und „mehr Feuer zu machen“, sondern um Orientierung. So könnten die Menschenrechte „einen Beitrag zum Verständnis von Armut leisten“ und zur politischen Prioritätensetzung beitragen. Zentral für den Menschenrechtsansatz sei auch die Ermöglichung von Selbstbestimmung für jeden Bürger (Empowerment). Hier könne der Ansatz helfen, Ansprüche zu formulieren. „Hartz IV drängt die Menschen an den Rand und schließt sie von der Gesundheitsversorgung aus“, sagte Gerhard Trabert, Vorsitzender des Vereins „Armut und Gesundheit in Deutschland“, auf der Veranstaltung. Das Arbeitslosengeld II reiche nicht einmal aus, um sich ausgewogen zu ernähren, kritisierte er. „Da werden die Menschenrechte fahrlässig zur Seite gestellt.“ Viele arme Menschen gingen wegen der Praxisgebühr nicht mehr zu Arzt. Auch die Zuzahlungen zu Medikamenten bewertete Trabert kritisch. Besonders schlimm ergehe es Menschen, die chronisch krank seien. „Krankheit führt zu Armut, Armut führt zu Krankheit“, sagte Trabert. Birgitt Bender, Gesundheitsexpertin der Grünen, sprach sich in diesem Zusammenhang dafür aus, den Regelsatz bei Hartz IV neu festzulegen. „Wir brauchen ein ordentliches Bedarfermessungsverfahren“, sagte sie. Grundsätzlich seien die 420 Euro, die die Wohlfahrtsverbände errechnet hätten, „ein guter Ausgangspunkt“. Auch ein eigener Regelsatz für Kinder sei notwendig, sagte Bender. Zudem schlug die Grünen-Politikerin vor, Gesundheitsförderung als eigenständigen Schwerpunkt im Regierungsprogramm „Soziale Stadt“ zu verankern. Die „gesundheitliche Ungleichheit“ in Deutschland müsse vermehrt im Bundestag thematisiert werden, sagte sie. Umstritten war auf der Veranstaltung der derzeitige praktisch-politische Nutzen der Menschenrechte. Rolf Rosenbrock sagte, die entsprechenden Abkommen der Vereinten Nationen seien im politischen Alltag von „geringerer Relevanz als andere Faktoren“. Birgitt Bender betonte, die Menschenrechte seien wichtig als „Hintergrundgemälde“. Dies gelte für den internationalen Kontext genauso wie für Deutschland. „Wie ich ein

gesundheitliches Präventionsprojekt in einem benachteiligten Stadtteil organisiere, dazu sagt mir der Ansatz jedoch nichts“, so Bender. Dem widersprach Valentin Aichele vom Institut für Menschenrechte. Der Menschenrechtsansatz könne helfen, gesellschaftliche Probleme zu identifizieren, politische Ziele genauer zu definieren und Strategien festzulegen, betonte er. Normative Vorgaben wie zum Beispiel der Diskriminierungsschutz könnten zur Gestaltung von Politik genutzt werden und verschafften dieser damit eine größere Legitimationsbasis. „Dass die menschenrechtlichen Verpflichtungen nicht operationalisiert werden, ist ein Qualitätsdefizit der deutschen Politik“, sagte Aichele. Der nächste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung müsse sich den Menschenrechtsansatz zu eigen machen und dann entsprechende Konsequenzen formulieren, sagte der Wissenschaftler. Das dritte und letzte Forum der Diskussionsreihe zum Thema „Armut und Menschenrechte“ findet am 14. Juli im Haus der EKD, Charlottenstraße 53/54, 10117 Berlin, statt. Schwerpunkt ist dann „Das Recht auf angemessenen Wohnraum“. Beginn ist um 18 Uhr. Die Diskussionsreihe geht der Frage nach, wie der Menschenrechtsansatz für die Armutsbekämpfung in Deutschland nutzbar gemacht und stärker in der Politik verankert werden kann. Asmus Hess