Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Aussagen zu traumatischen

Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Aussagen zu traumatischen Ereignissen In der Aussagepsychologie wird anhand empirisch fundierter Methodik untersu...
Author: Hannah Grosse
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Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Aussagen zu traumatischen Ereignissen In der Aussagepsychologie wird anhand empirisch fundierter Methodik untersucht, ob ein Bericht auf einem zugrunde liegenden Erlebnis basiert. Die Prüfung erfolgt mittels des klassischlogischen Vorgehens des Beweises durch Widerspruch: Die so genannte Nullhypothese behauptet, es bestehe kein Zusammenhang zwischen dem zu untersuchenden Bericht und einem realen Ereignis. Bei der Generierung weiterer Hypothesen wird unterschieden zwischen solchen zu absichtlichen Falschaussagen, zu Fremdbeeinflussungen und Autosuggestionen sowie zu deren jeweiligen Unterformen (37). Findet sich nicht mit hinreichender Sicherheit Stützung dafür, wird die Hypothese „Aussage mit Erlebnisbezug“ akzeptiert. Neben der Betrachtungsweise, die systematische Beurteilung allein schon der Aussagetüchtigkeit von Zeugen beinhalte bereits den vollständigen Begutachtungsablauf (23), wird in aktuellen Handbüchern von zwei weiteren expliziten Konstruktebenen gesprochen: Der Glaubhaftigkeit der Aussage, also deren Inhaltsanalyse, sowie der Aussagevalidität (etwa 11, 12, 21, 25). Seit Sommer 1999 ist in der forensischen Glaubhaftigkeitsbegutachtung – folgt man der Urteilsbegründung des BGH (3, 4) – eine Festelegung auf die aussagepsychologische Methodologie zu beobachten (20). Bei fehlendem Außenkriterium, wie beispielsweise Ergebnissen von DNS-Analysen oder Drittzeugen / Augenzeugen, werden die Bekundungen der (Opfer-) Zeugen sowie die Anknüpfungstatsachen im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren der Analyse auf den drei genannten Konstruktebenen unterzogen. Wesentlich dabei ist, dass es sich um eine rein qualitativ erstellte Diagnose (im aussagepsychologischen, nicht im klinischen Sinn) handelt: Weder können Prozentangaben zu deren Sicherheit (im Sinn von „zu x % glaubhaft“), noch wie auch immer geartete Rechenvorschriften zu deren Feststellung geliefert werden. Der Irrtum, es handele sich um einen objektiv quantifizierbaren, additiven Prozess, tritt im Laienverständnis wohl meist deshalb auf, weil im Rahmen der Inhaltsanalyse neunzehn empirisch fundierte Kategorien so genannter Realkennzeichen geprüft werden. Neben einigen wenigen, die mindestens und grundlegend in einer Aussage vorhanden sein sollten, um eine Schilderung überhaupt als glaubhaft diagnostizieren zu können, ist das Vorhandensein aller weiteren nicht zwingend. In spezifischen Konstellationen ist vorstellbar, dass nur sehr wenige Realkennzeichen höherer Ordnung wie beispielsweise Komplikationen im behaupteten Handlungsverlauf, besonders ausgefallene und einzigartige Details oder auch plastische Gefühlsschilderungen in einer Aussage gefunden werden können. Diese können von derart hoher Belegkraft sein, dass die Diagnose „glaubhaft“ vom Sachverständigen mit hinreichender Sicherheit gestellt werden kann. Auch der umgekehrte Fall ist denkbar. In der jüngeren Entwicklung mehren sich die Publikationen und Diskussionen zur Tauglichkeit und Übertragbarkeit der aussagepsychologischen Methodologie (a) auf andere juristische Anwendungsgebiete als dem Strafrecht, in dem die Fragestellung und entsprechende Methode ursprünglich entwickelt wurde, und (b) auf Zeugen mit Traumasymptomen. Im Folgenden wird auf ausländerrechtliche und aufenthaltsrechtliche Fragestellungen und deren Besonderheiten in Abgrenzung zur strafrechtlichen Anwendung der Methode näher eingegangen. Neben einer veränderten juristischen Beweisführung stellt sich auch die Frage nach der Übertragbarkeit der Methode auf andere Kulturen und Sprachen als denjenigen, für die bisher eine empirische Absicherung existiert.

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Kommunikation ist nicht nur im Hinblick auf die gesprochene Sprache sehr von der Kultur des Sprechenden geprägt. Verschiedene Inhalte unterliegen kulturabhängigen Tabus und dürfen nicht ausgesprochen werden, um sich selbst und/oder den Zuhörer nicht zu beschämen, zu beleidigen oder zu entwerten (z.B. sexualisierte Verletzungen, Unangenehmes, „überflüssige“ Details). Menschen aus kollektiven Kulturen können oft schwer über individuelle und innerpsychische Sachverhalte berichten, stattdessen erleben sie das eigene Schicksal untrennbar verwoben mit dem der Großfamilie, des Dorfes etc. und sprechen in der Wir-Form. In vielen Ländern werden Fragen indirekt gestellt und beantwortet und Aussagen sollen die Ehre und das Ansehen des Gegenübers steigern oder zumindest nicht beschädigen – dieser soziale Aspekt der Kommunikation ist in vielen Kulturen wichtiger als ein tatsachengetreuer Bericht über ein Ereignis. Verschiedene Kulturen unterscheiden sich darin, wie detailliert über Ereignisse berichtet wird – manche erzählen eher weitschweifig und langatmig, andere einsilbig und wortkarg. In vielen Ländern gilt es als beleidigend, etwas auszusprechen, von dem der Sprecher annimmt, dass dies dem Zuhörer bereits bekannt oder aber unangenehm ist (daher wird oft auf viele Details verzichtet; vgl. 5). Diese kulturspezifischen Sprechgewohnheiten können in der bisherigen forensisch-psychologischen Methodologie nicht berücksichtig werden, es fehlen empirische Ergebnisse zu Aussagegewohnheiten in anderen Kulturen. Bei der Erweiterung des Anwendungsgebietes auf beispielsweise auch sozialrechtliche Fragestellungen sei zumindest skizziert, dass bei einem erheblichen, verfälschenden Eigeninteresse der zu begutachtenden Person die Methode nicht mehr zuverlässig anwendbar ist (so genannte Fehlerquellenanalyse, 16). Hängt für die Aussagenden ihr Verbleib in Deutschland oder die Entscheidung über eine Berentung oder die Höhe des Schmerzensgeldes davon ab, könnte eine möglicherweise ähnlich massive Motivationslage wie die des Angeklagten im Strafprozess, dem eine Haftstrafe droht, entstehen. Letztere stellen gerade aus diesem Grund kein Klientel aussagepsychologischer Untersuchung dar. Demgegenüber müssen (Opfer-) Zeugen im Strafprozess mit empfindlichen Strafen bei Meineid rechnen. Hier gilt daher bekanntermaßen, dass differenzierte, gewissenhafte Zeugen gute Zeugen sind. Dies wurde und wird der vielfachen empirischen Prüfung zugeführt und findet Eingang in die bereits erwähnten Realkennzeichen: So genannte „motivationsbezogene Inhalte“ stellen eine eigene Untergruppe dar. „Motivation“ im Sinn des Validitätskriteriums bzw. als Rahmenvariable liefert demgegenüber in der klassischen Aussagepsychologie eher eine ergänzende Information. Bestehen beispielsweise in (begrenztem) Maß Zweifel, wird der Sachverständige eine höhere Inhaltsqualität des Aussage selbst fordern, um die Diagnose „glaubhaft“ aufrechterhalten zu können. Der Zusammenhang zwischen Trauma und Gedächtnisbeeinträchtigung gilt derzeit nicht im strafrechtlich schlüssigen Sinn als wissenschaftlich belegt (etwa 43). Auch setzt die Erhebung der Diagnose „Posttraumatische Belastungsstörung“ (PTBS) u.a. die Kenntnis des zugrunde liegenden, traumatisierenden Ereignisses voraus. Für den Sachverständigen im Strafrecht würde eine solche Diagnosestellung – beispielsweise im Kontext der Beurteilung der Aussagetüchtigkeit oder der Aussagevalidität – die unzulässige Vorwegnahme des richterlichen Urteilsspruchs implizieren, mithin auch eine zirkuläre Argumentation darstellen: Das schädigende Ereignis wird mit der Diagnosestellung vorausgesetzt, andererseits wird dessen Behauptung durch den (Opfer-) Zeugen aber erst durch das laufende Strafverfahren zu prüfen sein. Die Schwierigkeit ist hier in der PTBS-Diagnose nach ICD-10 und DSM-IV begründet, die zur Diagnosestellung das Vorliegen eines traumatischen Ereignisses als A-Kriterium verlangt. In der klinischen Praxis wird über das Vorliegen des A-Kriteriums in der Regel anhand der klinischen Traumaanamnese entschieden, da das Fehlen von Beweisen oft ein Charakteristikum von traumatischer Gewalt ist (sexualisierte Übergriffe in der Kindheit und Folter geschehen in der Regel heimlich und ohne den möglichen Nachweis eines Außenkriteriums). Die Diagnosestellung kann schon allein aufgrund der unterschiedlichen und nicht zu vereinbaren methodologischen Herangehensweise keine Glaubhaftigkeitsprüfung beinhalten. 2

Spätestens seit der zitierten Urteilsbegründung des BGH wird beobachtbares Verhalten nicht mehr als Kriterium zur Glaubhaftigkeitsbeurteilung herangezogen. Der Zusammenhang mit möglicherweise zugrunde liegenden Auslösern und Ursachen gilt empirisch derzeit als nicht eindeutig belegt und ist somit für die strafrechtliche Beweisführung nicht hinreichend spezifisch. Es kann weder sicher von einem beobachtbaren Verhalten präzise auf einen Auslöser / eine Ursache geschlossen werden, noch folgen bestimmten Ereignissen zwingend bestimmte Verhaltensweisen. (Hier würde sich aus aussagepsychologischer Sicht auch ein Diskussionspunkt eröffnen über Sinn und Zweck von Videovernehmungen: Die Aussagepsychologie verwendet konsequenterweise wörtliche Audio-Transkripte bei der Inhaltsanalyse der Realkennzeichen.) Eine vergleichbare Argumentation wie die zur Belegkraft von beobachtbarem Verhalten ergibt sich auch für die von Traumasymptomen. Auch sie stehen nach heutigem Forschungsstand nicht in hinreichend eindeutiger Beziehung zum schädigenden Ereignis und können derzeit zumindest strafrechtlich nicht als Beleg für ein Ereignis herangezogen werden. Auch dazu wird weiter unten auszuführen sein. Daneben bleibt zu beachten, dass in der aussagepsychologischen Begutachtung bereits vor Beginn der aktuellen Kontroverse über das mögliche Erfordernis einer Neuformulierung der Realkennzeichen für Zeugen mit Traumasymptomen (etwa 36, 44) mit unterschiedlich stark ausgeprägten Gedächtnisfehlern bei zu begutachtenden Zeugen umgegangen und keinesfalls zwingend die Diagnose „nicht glaubhaft“ getroffen wurde. Inwiefern traumaspezifische Prozesse wirksam werden können im hier diskutierten Kontext, kondensiert besonders bei der Beurteilung der Aussagetüchtigkeit (Ist dieser Zeuge dazu in der Lage, einen Vorgang korrekt wahrzunehmen, zu encodieren und nach einem bestimmten Zeitraum abzurufen und in einen weitgehend freien Vortrag zu fassen?) sowie der Aussagevalidität hinsichtlich der Besonderheiten im Erleben und Verhalten. Klinische Symptome, wie sie als Folgen von traumatischen Erlebnissen auftreten können, beeinträchtigen mitunter die Fähigkeit des Erkrankten, zu (fraglichen) traumatischen Ereignissen auszusagen. Auch die somatischen Folgen der (fraglichen) erlebten Gewalt müssen berücksichtigt werden, so können z.B. zentralnervöse Schädigungen durch Schädelhirntraumen, Sauerstoffmangel, Mangel- und Unterernährung und andere Schädigungen als Folgen von Folterungen wie Schlägen auf den Kopf, Erstickungsmethoden, Verabreichung neurotoxischer Substanzen etc. vorliegen (9). Viele Foltermethoden beabsichtigen, ihre Opfer systematisch zu desorientieren (z.B. durch verbundene Augen, Isolationshaft mit sensorischer Deprivation). Bei Opfern von Isolationshaft wurden vermehrt andauernde kognitive Einschränkungen und Konzentrationsstörungen beobachtet (14, S.53). Eine übliche Foltermethode ist Schlafentzug. Auch verschiedene psychische Ausnahmezustände und Erkrankungen (z.B. Depressionen, PTBS) sind mit Schlafmangel verbunden. Für die Konsolidierung von Informationen im Langzeitgedächtnis spielt der Schlaf eine wichtige Rolle, unzureichender Schlaf kann zu Störungen bis hin zu Gedächtnislücken führen (30). Zentralnervöse Schädigungen im mikroskopischen Bereich können nachträglich oft nicht mehr eindeutig diagnostiziert werden, weil Art und Dauer der Gewalt, Dauer der Bewusstlosigkeit, Zustand nach dem Aufwachen etc. nur teilweise bekannt sind. Dennoch können sie mit Vergesslichkeit und Konzentrationsstörungen verbunden sein und die Gedächtnisfunktionen, Erinnerungs- und Aussageleistungen beeinträchtigen. Starke Stresszustände hemmen Wahrnehmung, Abspeichern und Abruf von Gedächtnisinformationen. Der emotionale Ausnahmezustand während der traumatischen Situation führt zu einer Einengung der Aufmerksamkeit und des Bewusstseins, die Person kann nur eine begrenzte Anzahl von Reizen registrieren und nimmt diese verzerrt wahr. Viele Menschen berichten über veränderte Sinneswahrnehmungen (inklusive verändertem Schmerzempfinden) während der traumatischen Situation. Diese peritraumatischen Dissoziationen sind häufig mit einem veränderten Empfinden für Raum und Zeit, für die Umgebung sowie für die eigene Person verbunden. Das kognitive Abspeichern von Informationen wird durch diese Prozesse 3

beeinflusst. Auch der Abruf von Informationen kann durch starken Stress (als Symptom einer psychischen Erkrankung oder durch situative Belastungen, z.B. Anhörung, Gerichtsverfahren) gehemmt werden, bis hin zu einer völligen Blockade von Erinnerungen (30). Angsterkrankungen führen zu einer selektiven Aufmerksamkeit für Ereignisse, die als bedrohlich erlebt werden. Depressive nehmen negative Informationen verstärkt wahr und vernachlässigen positive, sie können sich insgesamt schlechter an autobiographische Ereignisse als Gesunde erinnern (9). Diese Störungen können durch zustandsabhängige Erinnerungseffekte erklärt werden. Störungen der Gedächtnisfunktionen gehören zu den Kardinalsymptomen der PTBS. Traumatische Erinnerungen enthalten zunächst keine symbolische (z.B. verbale) Komponente, deshalb kann das traumatische Geschehen anfänglich schwer in Worte gefasst werden. Stattdessen werden traumatische Erlebnisse in Form von sensorischen Fragmenten und intensiven Affekten im Gedächtnis gespeichert und dabei vorerst als raum- und zeitlos sowie ich-fremd empfunden. Traumatisierte können daher erst allmählich eine verbale Erzählung aus ihren sensorisch-affektiven Erinnerungen konstruieren. Ereignisse, die mit übermäßiger psychophysiologischer Erregung verbunden sind, können schlechter erinnert werden als neutrale oder subjektiv bedeutsame, jedoch nicht-traumatische Ereignisse. Empirische Untersuchungen zeigen, dass eine vermehrte und länger dauernde Ausschüttung von Stresshormonen die neuronale Kommunikation stören, den Abruf von Gedächtnisinformation wesentlich beeinträchtigen und im Extremfall sogar neurotoxische Wirkung haben kann (30; 9). Posttraumatische Störungen betreffen nicht nur Erinnerungen an traumatische Ereignisse, sondern auch allgemeine autobiographische Inhalte können schlechter erinnert werden (19). Dies kann sowohl das anterograde als auch das retrograde autobiographische Gedächtnis betreffen, während Faktenwissen oft noch unbehindert reproduziert werden kann (30). Patienten können an Störungen des Abrufs von alter Gedächtnisinformation leiden, ohne dass nachweisbare organische Befunde vorliegen (mnestische Blockaden oder psychogene Amnesien, 30). Amnesien für traumatische Ereignisse und Wiedererinnerungen zu einem späteren Zeitpunkt wurden für verschiedene Traumata berichtet (Naturkatastrophen, sexualisierte Gewalt, Kriegsereignisse, Folter u.a.; 41; 8). In jüngster Zeit wurde die Möglichkeit des Vergessens durch dissoziative Vorgänge auch bestritten (29). Eine empirische Studie in Großbritannien befragte anerkannte Flüchtlinge, die keinen Nutzen von einer etwaigen Vortäuschung von traumatischen Erlebnissen gehabt hätten, zu zwei verschiedenen Messzeitpunkten zu autobiographischen Erinnerungen (an traumatische und nicht-traumatische Ereignisse; 18). Je stärker die posttraumatische Symptomatik ausgeprägt war und je mehr Zeit zwischen den Untersuchungszeitpunkten lag, desto abweichender waren die Erinnerungen. Da Flüchtlinge mit einer posttraumatischen Symptomatik häufiger inkonsistent erinnern als Gesunde, werden sie im Asylverfahren mit höherer Wahrscheinlichkeit abgelehnt, weil ihre Aussagen von Anhörern oder Verwaltungsrichtern als nicht glaubhaft beurteilt werden. Im Zusammenhang mit der Debatte um psychogene Amnesien (und nachfolgendes Erinnern) wird eine heftige Kontroverse um „falsche Erinnerungen“ geführt. „False memories“ bezeichnen Erinnerungen an traumatische Ereignisse, vor allem sexualisierte Übergriffe in der Kindheit, die nicht tatsächlich stattgefunden haben, obwohl die aussagende Person davon überzeugt ist. Extremen Pole der Argumentation sind einerseits, falsche Erinnerungen an Traumatisierungen seien sehr weit verbreitet und könnten leicht suggeriert werden (vertreten von Loftus und Mitarbeitern, 26, 27, 28) und andererseits, es gebe keine falschen Erinnerungen an Traumatisierungen (33). Einen Überblick zum Stand der Kontroverse gibt Pope (34). Aus der Forschung zu Zeugenaussagen ist bekannt, dass es unter (oft nicht beabsichtigten) suggestiven Einflüssen dazu kommen kann, dass Menschen vom Erleben bestimmter Ereignisse überzeugt sind, obwohl diese sich nicht tatsächlich so zugetragen haben. Beim Abruf von Gedächtnisinformationen tritt die gespeicherte Information mit aktuellen situativen Bedingungen in 4

Wechselwirkung. Dadurch können Gedankenassoziationen zwischen der abgerufenen Alt-Information und der aktuellen Situation entstehen. Jeder Abruf zieht eine Neueinspeicherung nach sich, dadurch wird alte Information gefestigt, aber gleichzeitig mit aktuellen Assoziationen (z.B. suggestive Einflüsse) verbunden. Deshalb kann die wiederholte Auseinandersetzung mit alter Information diese manchmal so verzerren, dass sie nicht mehr den ursprünglichen, bei der ersten Abspeicherung vorhandenen Gegebenheiten entspricht. Es kann dazu kommen, dass man fälschlicherweise annimmt, sich an bestimmte Erlebnisse zu erinnern, obwohl man diese in der Form nicht erlebt hat (30). Es liegen empirische Befunde dafür vor, dass Amnesien nach traumatischen Erlebnissen vorkommen können und wiederkehrende Erinnerungen nicht weniger zuverlässig sind als andere (47; 8), diese Befunde wurden in jüngster Zeit auf der Grundlage von widersprüchlichen Ergebnissen heftig kritisiert (29). In der aussagepsychologischen Untersuchung der Glaubhaftigkeit wird in solchen Fällen die Entstehungsgeschichte einer bestimmten Aussage minutiös rekonstruiert, um die Frage der suggestiven Beeinflussung der Aussage zu klären. Aus der Suggestionsforschung (etwa 37, 43) ist bekannt, dass sich die Inhaltsqualität suggerierter Aussagen nicht von der solcher Aussagen unterscheidet, die auf eigenen Erlebnissen basieren. Bei entsprechender Aussagevorgeschichte kann die Suggestionshypothese also mittels Kriterienanalyse nicht entkräftet werden. Zu verschiedenen neuropsychologischen Verfahren zur Diagnostik von Gedächtnisstörungen und Abgrenzung von Simulation vgl. Birck (7). Zusätzlich zu traumabedingten Gedächtnisstörungen erschwert oft eine krankheitsbedingte Vermeidung die Traumaanamnese. Für Traumatisierte ist es in der Regel sehr schwer, über traumatische Erlebnisse zu sprechen, selbst wenn diese erinnert werden, da das Darüber-Sprechen schmerzhafte Intrusionen auslösen kann. Aussagen zu traumatischen Ereignissen werden daher vermieden oder bleiben, wenn sie unausweichlich sind, oft detailarm und oberflächlich. Die Vermeidung ist bei tabuisierten Verletzungen noch verstärkt. Sie führt vermutlich in der Praxis zu mindestens ebenso gravierenden Aussagebeeinträchtigungen wie die beschriebenen Gedächtnisstörungen. Unter kulturspezifischen Effekten sei exemplarisch angemerkt, dass Befragungen, die bei mitlaufendem Tonband erfolgen, für Menschen aus totalitären Staaten erfahrungsgemäß ein sehr starkes Hindernis darstellen; sie haben gelernt, unter solchen Bedingungen möglichst wenig zu offenbaren. Zur Diskussion über Gedächtnisbeeinträchtigungen und der Konstanz von Aussagen gilt bereits unter normalpsychologischen Aspekten das Phänomen qualifizierender Inkonstanz als gesichert (etwa 11, 16). Übereinstimmende Angaben werden erwartet bei der Schilderung des zentralen Kerngeschehens, der eigenen Aktivität, der unmittelbar beteiligten Personen, des Tatorts, der unmittelbar handlungsrelevanten Gegenstände, der Lichtverhältnisse und allenfalls globaler Körperpositionen, da diese Aspekte relativ gut erinnert werden. In anderen Aspekten einer Aussage wird demgegenüber von „psychologisch erwartbaren Inkonstanzen“ gesprochen. Sie werden im Zusammenhang mit „normalem“ Vergessen gesehen, unterliegen mnestischen Prozessen und sind daher nicht vom Aussagenden „außerhalb eigenen Erlebens gezielt konstruierbar“ (zitiert nach 16, S.132). Eine solche „differenzierte Inkonstanz“ (ebenda) qualifiziert eine Aussage daher in besonderer Weise. Sie kann sich beispielsweise auf die Schilderung des peripheren Geschehens und der Nebenhandlungen beziehen, auf die Reihenfolge von mehreren Situationen oder mehrerer Handlungssequenzen, auf Mengen- und Zeitangaben einschließlich Häufigkeitsangaben, auf Körperpositionen und Seitenwechsel, den Wort- und selbst den Sinngehalt von Gesprächen sowie solchen zu unangenehmen Körperempfindungen – also auch Schmerz, da diese Aspekte von Ereignissen erfahrungsgemäß rasch vergessen werden. Das Wissen um die in diesem Beitrag aufgeführten aus verschiedenster Ursache rührenden Inkonstanzen weckt daher die Forderung nach fachkundiger Befragung. Zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Aussagen ist ein fundiertes Wissen über Gedächtnisprozesse und 5

kulturspezifisches Aussageverhalten notwendig. Gerade in der Beurteilung von Aussagen psychisch Kranker sowie in anderen Zweifelsfällen wird die eigene Sachkompetenz von Richtern und Verwaltungsangestellten nicht ausreichen und das Hinzuziehen aussagepsychologisch und traumapsychologisch erfahrener Sachverständiger unumgänglich sein. Literatur 1. Arntzen, F. (1993, 3. Auflage). Psychologie der Zeugenaussage – System der Glaubwürdigkeitsmerkmale. C.H. Beck. 2. Arntzen, F. (1989, 2. Auflage). Vernehmungspsychologie – Psychologie der Zeugenvernehmung. C.H. Beck. 3. BGH 1. Strafsenat, Urteil vom 30.07.1999, Az:1 StR 618/98 – vorgehend LG Ansbach. 4. BGH 1. Strafsenat, Beschluss vom 30.05.2000, 1 StR 582/99 – vorgehend LG Mannheim. 5. Birck, A. (2002). Traumatisierte Flüchtlinge – Wie glaubhaft sind ihre Aussagen? Asanger. 6. Birck, A. (2002). Asylentscheidungen – zum Glaubhaftigkeitsverständnis von deutschen Behörden. Zeitschrift für Politische Psychologie, 10 (3+4), 243-262. 7. Birck, A.: Erinnern, Vergessen und posttraumatische Störungen. In: Haenel, F., Wenk-Ansohn, M: Begutachtung psychisch reaktiver Traumafolgen in aufenthaltsrechtlichen Verfahren, Beltz. 8. Bremner, J. D. & Marmar, C. R. (Hrsg.) (1998). Trauma, memory and dissociation. American Psychiatric Press: Washington. 9. Cohen, J. (2001). Errors of recall and credibility: Can omissions and discrepancies in successive statemets reasonably be said to undermine credibility of testimony? Medico-Legal Journal, 69 (1), 25–34. 10. Crombag, H.F.M. & Merckelbach, H.L.G. (1997). Missbrauch vergisst man nicht: Erinnern und Verdrängen – Fehldiagnosen und Fehlurteile. Verlag Gesundheit. 11. Erdfelder, E. (2003). Das Gedächtnis des Augenzeugen – Aktuelle Hypothesen und Befunde zur Genese fehlerhafter Aussagen. Report Psychologie, 7/8, 434-445. 12. Fegert, J.M. Hrsg. (2001). Begutachtung sexuell missbrauchter Kinder – Fachliche Standards im juristischen Verfahren. Luchterhand. 13. Fiedler, P. (2002). Fortschritte der Psychotherapie, Band 17: Dissoziative Störungen. Hogrefe. 14. Graessner, S. & Wenk-Ansohn, M. (2000). Die Spuren von Folter. Eine Handreichung. Berlin: Behandlungszentrum für Folteropfer Berlin. 15. Greuel, L., Fabian, T. & Stadler, M. Hrsg. (1997). Psychologie der Zeugenaussage – Ergebnisse der rechtspsychologischen Forschung. Beltz / PVU. 16. Greuel, L. et al. (1998). Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage – Theorie und Praxis der forensisch-psychologischen Begutachtung. Beltz / PVU. 17. Greuel, L. (2001). Wirklichkeit – Erinnerung – Aussage. Beltz / PVU. 18. Herlihy, J.; Scragg, P. & Turner, S. (2002). Discrepancies in autobiographical memories – implications for the assessment of asylum seekers: repeated interviews study. British Medical Journal, 321, 324–327. 19. Herman, J. L. (1995). Crime and memory. Bulletin of the American Academy of Psychiatry & Law, 23 (1), 5–16. 20. Huber, M. (2003). Trauma und Traumabehandlung. Teil 1 & 2. Jungfermann. 21. Jacobs, W.; Laurance, H.; Thomas, K.; Luzcak, S. & Nadel, L. (1996). On the veracity and variability of traumatic memory. Traumatology, 2 (2), On line, www.fsu.edu/˜trauma/art3v2i2.html, 28.3.2001. 22. Köhnken, G. (1988). Glaubwürdigkeit: Integrative Forschungsperspektiven zu einem vernachlässigten psychologischen Konstrukt. In: Schönpflug, W.: Bericht über den 36. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Berlin, 260-275. Hogrefe. 23. Köhnken, G. (1990). Glaubwürdigkeit. PVU.

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