Begegnungen zwischen Wissenschaft, Politik und Medien von Ulrike Felt

279 Zukunftsszenarien als wissenschaftliche Ressource: Begegnungen zwischen Wissenschaft, Politik und Medien von Ulrike Felt «Science under attack»...
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Zukunftsszenarien als wissenschaftliche Ressource:

Begegnungen zwischen Wissenschaft, Politik und Medien von

Ulrike Felt «Science under attack» klagt die Headline eines vor kurzem erschienen «Nature»-Editorials und verweist auf den Versuch der US-amerikanischen Politik weit reichenden Einfluss auf Wissenschaft und die ihr zugestandenen Freiheiten zu nehmen.«Auf dem heutigen wissenschaftlichen Arbeitsmarkt reicht es nicht mehr aus nur gute Wissenschaft zu machen.» war im Untertitel eines «Science»-Editorials zu lesen, in dem der grundlegende Wandel der Anforderungen an den wissenschaftlichen Nachwuchs und die damit verbundenen tiefgreifenden Konsequenzen zur Sprache gebracht wurden.  «Science» und «Nature», die wohl einflussreichsten Publikationsorgane und Sprachrohre der naturwissenschaftlichen Gemeinschaft, schlagen also gewissermassen Alarm in Bezug auf bedenkliche Entwicklungen im Wissenschaftssystem. «Nature Medicine» – um das Bild abzurunden – publizierte im Mai 2006 ein ganzes Dossier zum Thema wissenschaftlicher Betrug, in dem versucht wird Auslöser für die scheinbar häufiger werdenden Fälle aufzuzeigen und Kontrollmöglichkeiten zu diskutieren. Will man die eben genannten Beispiele nicht als einmalige Aufschreie abtun, so ist man rasch mit der Frage konfrontiert, woran denn dieser Wandel des Wissenschaftssystems festzumachen wäre. Bei einer näheren Analyse lassen sich eine ganze Reihe von Veränderungen ausmachen, die etwa Gibbons, Nowotny und Koautoren im Bild der Koevolution von Wissenschaft und Gesellschaft auf den Punkt gebracht haben. Dabei beschreiben sie eine Produktion wissenschaftlicher Erkenntnis, welche in einem sehr frühen Stadium bereits den Kontext der Anwendung mitdenken muss, in der eine Orientierung an Nutzen und an potentiellem Klientel von Wissen an Bedeutung gewinnt  «Science under Attack», Editorial, in: Nature 439 (February 23, 2006), S. 891  «Not Your Father’s Postdoc», Editorial Feature, in: Science 308, (April 29, 2005), S. 717.  «Focus on Fraud», in: Nature Medicine 12 (May, 2006), S. 490.  Der Beitrag ist aus einem Vortrag entstanden, den die Autorin am 8. April 2003 anlässlich ihres Aufenthalts als wissenschaftlicher Gast am Collegium Helveticum gehalten hat.  Michael Gibbons et al., The New Production of Knowledge: The Dynamics of Science and Research in Contemporary Societies, London 1994; Helga Nowotny, Peter Scott und Michael Gibbons, Re-Thinking Science: Knowledge and the Public in an Age of Uncertainty, Cambridge 2001.

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und in der immer öfter die Antizipation der Konsequenzen der Wissenserzeugung gefordert wird. Gleichzeitig findet eine Diversifizierung der Orte der Wissensproduktion statt, was das klassische Gefüge und die Rollenverteilung zwischen wissenschaftlichen Institutionen wenn nicht völlig verschiebt, so doch zumindest in Frage stellt. Transdisziplinäres Arbeiten gehört ebenso dazu wie temporäre Kooperationsmuster und flachere und flexiblere Strukturen. Und schliesslich beginnen in den Einschätzungen von Qualität und Relevanz externe Kriterien ebenfalls eine wesentliche Rolle zu spielen. Insgesamt lässt sich ein Anwachsen des Wettbewerbs und eine immer dichter werdende Selbstbeobachtung und -vermessung der Wissenschaft durch Indikatoren feststellen. Es scheint nun interessant den Blick wegzulenken von konkreten Anforderungen, Rahmenbedingungen und Organisationsformen der Wissenschaft und auf ein sehr spezifisches Element dieser Veränderung zu fokussieren, nämlich auf die sich wandelnden Mythen und Erzählungen über Wissenschaft. Solche Mythen sind von zentraler Bedeutung, da sie sinnstiftend auf kollektiver Ebene wirken. Sie stellen Ordnungen her, machen etwas zu einem Thema oder nicht, erlauben spezifischen Erwartungen einen zentraleren Stellenwert einzunehmen als anderen, geben bestimmten Akteuren mehr Bedeutung als anderen. Mythen wirken implizit, sie sind nicht unbedingt gerichtet, haben auch nicht einen Autor, sie entstehen aus einem Zusammenwirken ganz unterschiedlicher Kräfte. Dabei entfalten sie eine subtile Form der Kraft, indem sie die Dynamik der Wissenschaft auf einer kollektiven Ebene definieren, welche allerdings kaum bemerkbar und dadurch auch unhinterfragt bleibt. In diesem Essay soll es insbesondere um die Imaginationen und Verheissung einer ungeahnten und viel versprechenden Zukunft im Rahmen wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion gehen, und um die Rolle und Bedeutung dieser Zukunftsszenarien in die Wissenschaft selbst – also um die Zukunftsmythen der Wissenschaft. Wissenschaftliche Projekte basierten zwar immer schon auf einer hoch ritualisierten Form des Versprechens von Erkenntnis, da ja das Noch-nicht­Bekannte oder das Unerwartete das Ziel wissenschaftlicher Forschung ist. Dennoch erleben wir, so die These, einen vielschichtigen qualitativen Wandel in der Formulierung und Bedeutung dieser Versprechen, welcher deutlichen Einfluss auf die weiteren Entwicklungen in

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der Wissenschaft zeigen könnte. Während diese Veränderungen die meiste Zeit implizit und unsichtbar bleiben, sind gerade die grossen Betrugsfälle der letzten Jahre zum Schauplatz geworden, an denen sichtbar wird, wie unterschiedlichste Akteure mit Zukunftsszenarien «handeln» und welche Bedeutung letztere erlangt haben. Ich möchte einen solchen Betrugsfall als roten Faden meiner Geschichte verwenden um aufzuzeigen wann, wo, wie und mit wem hier die Wissenschaft von heute und damit die Gesellschaft von morgen verhandelt wird. Es geht somit nicht um den Betrugsfall selbst, sondern vielmehr soll er uns als Brille dienen, welche die dahinter liegenden Strukturen der Wissenschaft sichtbar macht. Die Geschichte: Eine wie viele andere? Ein junger Mann, Materialwissenschaftler, etwa 27 Jahre alt beendet seine Doktorarbeit an der Universität Konstanz, und sein klares Ziel ist es, in seinem Forschungsfeld Karriere zu machen. Dem üblichen Ritual folgend sucht er also eine Postdoc-Stelle in den USA, wo er – finanziert von Deutschland – in einem führenden US-amerikanischen Forschungslabor, welches auch eine ganze Reihe von Nobelpreisträgern aufzuweisen hat, unterkommt. Mit einer festen Anstellung im Dezember 2000 beginnt dann ein für alle Beteiligten und Zuseher märchenhaft wirkender Aufstieg. Im Zeitraum 1998 bis 2001 reüssiert der junge Forscher mit einer unglaublichen Reihe an Durchbrüchen im Bereich der so genannten Nanotechnologien, die zu diesem Zeitpunkt gerade dabei sind sich als das Zukunftsfeld zu etablieren. Die Entdeckungen des jungen Forschers gelingen wie am Fliessband. Vieles, worauf die wissenschaftliche Gemeinschaft jahrelange gehofft hatte, findet scheinbar innerhalb weniger Monate seine Verwirklichung. Alle haben das Gefühl, mit dieser geballten Einfallskraft und Produktivität nicht mithalten zu können. Die Medien beschreiben ihn als Genie und Zauberer. Er publiziert gemeinsam mit zwanzig zum Teil sehr renommierten Koautoren in den besten naturwissenschaftlichen Zeitschriften (etwa «Science» und «Nature»): über 90 Publikationen in nur drei Jahren. Seine Papiere durchlaufen das in exzellenten Zeitschriften übliche Gutachterverfahren und bestehen diesen Test. Die Frequenz der Publikationen erreicht kurz vor dem abrupten Ende der Karriere des mittlerweile 32 Jahre alten Forschers die aussergewöhnliche Zahl von einer Publikation alle 8 Tage. Jedoch  Es handelt sich bei dem beschriebenen Fall um den deutschen Materialwissenschaftler Jan Hendrik Schön. Da der Fall hier aber eigentlich dazu dient, strukturelle Argumente zu machen, werden der Name und institutionelle Details im Text nicht angeführt. Siehe auch Ulrike Felt, «Nichts als die Wahrheit? Betrug und Fälschungen in der Wissenschaft», in: Konrad Paul Liessmann, Der Wille zum Schein – Über Wahrheit und Lüge. Wien 2005, S. 172–197.  Der Begriff Nanotechnologie umfasst Forschung und technologische Entwicklung auf atomarer Ebene (Größenordnung von einem bis einhundert Nanometern). Ziel ist es Erkenntnisse und Anwendungen zu schaffen, welche auf Grund ihrer sehr geringen Größe neue Eigenschaften besitzen und neue Funktionen ausüben können (z.B. Medikamente gezielt an einen bestimmten Teil des Körpers zu transportieren).

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kann keiner der Kollegen diese herausragenden Ergebnisse reproduzieren. Der junge Forscher erhält 2001 den deutschen Otto-KlungWeberbank Preis, der aussergewöhnliche Nach­wuchs­wissen­­schaftler in den Bereichen Physik und Chemie auszeichnen soll und in vielen Lebensläufen späterer Nobelpreisträger aufscheint. Das Stuttgarter Max-Planck-Institut für Festkörperforschung verhandelt mit ihm – er ist gerade einmal 32-jährig – über die Stelle des Direktors. Und man geht davon aus, dass er «auf dem besten Wege [ist], eines Tages Nobelpreisträger zu werden». Symbolisch gesprochen setzen drei Messkurven in drei seiner «Nature»- und «Science»-Publikationen diesem modernen Wissenschaftsmärchen ein abruptes Ende. Ein und dieselbe Kurve, allerdings mit unterschiedlichen Beschriftungen, stellt in mehreren Publikationen die Ergebnisse unterschiedlicher Experimente dar. Vorsichtige Zweifel werden laut, man beginnt durch «Insidertipps» angeregt, systematisch die Arbeiten des jungen Forschers zu durchleuchten und tatsächlich werden «überraschende Übereinstimmungen» gefunden. «Nature» fordert Aufklärung vom Autor, der alles als bedauerlichen Irrtum darstellt und eine leicht veränderte Graphik übermittelt, welche wiederum in der Zeitschrift als Erratum erscheint. Die Risse in der bis dahin makellosen Fassade sind aber kaum mehr zu kaschieren. Im Mai 2002 setzte der Arbeitgeber eine Untersuchungskommission aus fünf anerkannten Forschern ein. 24 «unter Verdacht» geratene Publikationen werden untersucht, Forscher und Koautoren befragt. Dies liefert ein eher befremdliches Bild: Keinerlei Rohdaten für seine Publikationen liegen vor (vom Autor angegebener Grund: die schlechte Speicherkapazität seines Computers), es gibt keine durchgängigen Laboraufzeichnungen, und keiner der Koautoren hat je Experimente gesehen. Was der Fall mit einigen anderen Betrugsfällen jüngeren Datums gemeinsam hat, ist allerdings die erstaunliche Tatsache, dass der Autor beschwört, jedes einzelne der beschriebenen Phänomene auch wirklich gesehen zu haben.10 Sicher, er hätte die Messkurven etwas beschönigt, dies wäre allerdings nur geschehen um eine «überzeugendere Repräsentation des Materialverhaltens zu erzielen», und er stellt dies als durchaus übliche Praxis dar.11 Der im September 2002 erschienene Abschlussbericht stellt fest, dass in 16 der Publikationen wissenschaftliches Fehlverhalten vorliegt.

Die Koautoren werden interessanter Weise aus recht unterschiedlichen Gründen der Verantwortung enthoben. Der Forscher selbst wird am Tag der Publikation entlassen und «verschwindet». Fünfzehn seiner Publikationen aus den Jahren 2000 und 2001 werden alleine von den renommierten Zeitschriften «Science» und «Nature» zurückgezogen. Forschungsarbeiten in hunderten Labors auf der ganzen Welt sind betroffen, besonders gravierend der Nachwuchs, der auf diesen phantastisch innovativen Zug aufgesprungen ist und nun feststellen muss, dass es sich um einen Phantomzug handelte, der zumindest vorläufig ins Nichts zu fahren scheint. Bedeutende Summen an Forschungsgeldern sind in diesen Bereich geflossen und die Liste der direkten und indirekten Konsequenzen dieses Falles könnte noch um einiges verlängert werden. Die Universität Konstanz, von der der junge Forscher aufgebrochen war und wo er seine Doktorarbeit durchgeführt hatte, setzt ebenfalls eine Kommission ein, um die akademische Abschlussarbeit und die daraus resultierenden Publikationen einer genaueren Untersuchung zu unterziehen. Hier ist allerdings kein Betrug nachzuweisen, obwohl die Kommission auf seine «Nachlässigkeit, ja Unbekümmertheit im Umgang mit dem publizierten Datenmaterial» verweist und hervorhebt, dass «in der offenbar übergrossen Eile der Veröffentlichungstätigkeit die erforderliche Sorgfalt, mit der die Richtigkeit der Publikation jeweils hätte überprüft werden müssen, nicht beachtet wurde».12 Mit einiger Zeitverzögerung beschäftigt sich dann auch der Promotionsausschuss der Universität mit dem Fall, die dem Forscher schliesslich im Frühling 2004 seinen Doktortitel aberkennt, da er die «Glaubwürdigkeit der Wissenschaft in der Öffentlichkeit stark beschädigt» habe.13 Dies ist das vorläufige Ende der Geschichte, denn der Beschuldigte schweigt. Wollen wir nun die Geschichte einmal nicht als einen ethisch inakzeptablen Verstoss gegen die Regeln des Wissenschaftssystems, nicht als Vertrauensbruch gegenüber den Kollegen, aber auch nicht als verrückte Tat eines fehlgeleiteten Einzelnen lesen. Vielmehr möchte ich die Frage stellen, was uns diese Geschichte über das Funktionieren des heutigen Wissenschaftssystems und insbesondere über die engen Beziehungen zwischen Wissenschaft, Politik und Medien erzählt. Lenken wir doch unseren Blick auf die grossen Erzählungen, Mythen und Versprechungen, die diese Geschichte erst möglich gemacht haben.

 http://www.innovations-report.de/html/berichte/preise_foerderungen/bericht-61413.html (15.7.2006)  http://web.fu-berlin.de/fun/2002/01-02/leute/leute4.html (9.7.2006) 10 Siehe auch «Focus on Fraud», in: Nature Medicine 12 (May, 2006), S. 490. 11 Report of the investigation committee on the possibility of scientific misconduct in the work work of Hendrik Schön and coauthors, September 2002, http://www.lucent.com/news_events/ pdf/researchreview.pdf (Zugriff 09.07.2006)

12 Siehe http://www.uni-konstanz.de/struktur/schoen.html (11.11.2004) 13 http://www.uni-konstanz.de/struktur/service/presse/mittshow.php?nr=85&jj=2004

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Denn ohne die Mitwirkung von Financiers, wissenschaftlichen Institutionen, Kollegen, aber auch Medien (inklusive der wissenschaftlichen Medien wie «Science» und «Nature»), hätte sich diese Geschichte wohl nicht ereignen können. Es ist also eine kollektive Geschichte, in der es vor allem auch um die Bedeutung von Zukunftsszenarien, um die Wissenschaft von morgen und um die Gesellschaft, die miterfunden wird und miterfindet. Durchbruchserzählungen, Abenteuergeschichten: Geschichten in und über Wissenschaft Das «wissenschaftliche Leben» unseres jungen Materialforschers erfüllt in beinahe perfekter Weise alle Anforderungen an eine gute Geschichte, eine, die wir gerne erzählen und auch glauben möchten. Denn sie ist zugleich Durchbruchserzählung und Abenteuergeschichte. Als Durchbruchserzählung funktioniert sie auf zwei Ebenen: Zum einen geht es um eine grundlegende Revolution im Bereich der Materialwissenschaften, welche ganz neue Denk- und Anwendungszusammenhänge zu erschliessen verspricht. Es geht im Grunde um eine neue Form der Herstellung von Materialien, welche bis auf die atomaren Ebenen eingreift und auf diese Weise quasi die Idee der massgeschneiderten mit bestimmten Eigenschaften versehenen Materialien realisiert, also um das Arbeiten mit «dressierten Atomen» – wie es eine deutsche Zeitung nannte. 14 Absolute Naturbeherrschung, wie sie seit Francis Bacon zu den grundlegenden Mythen der Naturwissenschaften gehört, wird hier eindrucksvoll vorgeführt. Im diskutierten Fall geht es insbesondere um organische supraleitende Materialien/Halbleiter auf die man seit den späten 1980er Jahren viele Hoffnungen setzte. Bereits 1987 hatte der US-amerikanische Präsident Bill Clinton mit seiner «Superconductivity Initiative» den Weg zu der, wie es immer bezeichnet wurde, «next industrial revolution» zu legen versprochen. 15 Dies bedeutet, dass sich die Arbeiten unseres Materialforschers und seine Ergebnisse im Kern dieser Zukunfts-Versprechungen befinden. Seinen Entdeckungen und Erkenntnissen schreibt man «das Potenzial zu erheblich einfacheren und billigeren Herstellungsverfahren als die bisher üblichen anorganischen Halbleiter» zu. Teure Silizium-Chips würden dann ersetzt werden durch billigere und besser verarbeitbare Chips, die in den unterschiedlichsten Bereichen eingesetzt werden könnten – von 14 http://www.wams.de/data/2001/11/11/532993.html 15 Nowotny & Felt (1997)

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elektronischen Etiketten im Supermarkt, durch die «der Gang durch die Kasse des Supermarktes nur noch eine Angelegenheit von Sekunden sein» würde, bis hin zu den superschnellen Computern und anderen high-tech Anwendungen. 16 Zum anderen ist die Geschichte von mehr oder «weniger kleinen Revolutionen» durchzogen, wodurch es gelingt, die Spannung über einen längeren Zeitraum aufrecht zu halten. Im Grunde «entdeckt» der junge Materialforscher vieles, um das sich andere Forscher weltweit schon vergeblich bemüht hatten. Damit wird Erwartetes und Erhofftes mit dem Innovativen verknüpft, was dem Ganzen Glaubwürdigkeit verleiht. Es werden nicht Phänomene beschrieben, an die noch nie jemand gedacht hatte, nichts radikal Neues, sondern die hier angebotenen Innovationen gehen einen Pfad, der ebenso phantastisch wie plausibel ist. Dies verweist auf ein Phänomen, welches immer wieder von Wissenschaftsforschern beschrieben wurde, nämlich die Tatsache, dass Wissenschaft in bestimmten Denkkollektiven organisiert ist, welche einen Denkstil teilen, also eine Weise Dinge zu sehen und zu denken. Innerhalb dieser können wir dann bestimmte Dinge erkennen und erklären, während wir andere nicht wahrnehmen (können).17 Es geht also nicht um radikale Innovation sondern vielmehr um wohl spektakuläre aber graduelle Veränderung. Es wird dem Zuschauer eine Zukunft angeboten, die zwar radikalen Wandel bringt, jedoch gleichzeitig eine gewisse Anschlussfähigkeit sicherstellt. In der Tat war diese Feld, und hier insbesondere das der Supraleiter, bereits seit den späten 1980er Jahren von einem starken Diskurs des Durchbruchs, der spektakulären Veränderung geprägt.18 Besagte Geschichte reiht sich somit in einen etablierten Diskurs ein. Mit diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen waren Bilder neuer Hochgeschwindigkeitszüge, Stromspeicherung und Verteilung mit extrem geringen Verlusten, superschnellen Computern und Verbesserungen im Bereich der bildgebenden Verfahren in der Medizin (MRI) auf das Engste verknüpft. Die zweite Welle der Erwartungen kam dann in den späten 1990er Jahren und läuft bis heute unter dem Titel «Nanotechnologien». Eine schier unendliche Fülle von Hoffnungen und Erwartungen geistern durch dieses Feld, die von neuen Formen der Nutzung von Solarenergie («Solar Cells printed like wallpaper», Nature, News 11/ 2001) bis hin zu Transistoren, die nicht aus Silizium, sondern aus einzelnen organischen Molekühlen bestehen und damit so unvor16 http://www.innovations-report.de/html/berichte/preise_foerderungen/bericht-61413.html 17 Siehe Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache: Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt 1980 [Erstausgabe Basel 1935]. 18 Helga Nowotny and Ulrike Felt, After the Breakthrough – The Emergence of High-temperature Superconductivity as a Research Field, Cambridge 1997.

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stellbar klein sein würden, dass sie uns ungeahnte Möglichkeitsfelder eröffnen – um nur zwei solche Beispiele zu nennen. Und es handelt sich gleichzeitig auch um eine Abenteuergeschichte. Der junge Mann bricht nach Abschluss der Dissertation von seiner Heimatuniversität auf und beginnt nahtlos eine steile Karriere. Er scheint die Regeln des Wissenschaftsbetriebs besser zu beherrschen als seine Mitstreiter, er verkörpert das, was Bruno Latour sehr treffend als einen «wilden Kapitalisten» bezeichnete.19 Er versteht es, sich in einem ökonomisch funktionierenden Werte- und Tauschsystem nahezu perfekt zu bewegen. Publikationen, Entdeckungen, Netzwerke und vieles mehr kommen zum Einsatz. Nicht nur, dass er weiss, dass ein USA-Aufenthalt als Post-Doc für seine Karriere ein Muss ist, er lebt auch in einem besonderen Mass den viel zitierten Leitspruch «Publish or perish», was zu den fast 100 Publikationen in nur etwa 3 Jahren führt und das in internationalen Journalen, welche auf der Liste der Impact-Faktoren führend sind («Science» und «Nature»). Auch kann er Alliierte gewinnen, also Personen, die ihm für eine Weile – eine (oder mehrere) Publikation(en) lange – ihren Namen, ihr Ansehen, ihre Glaubwürdigkeit «schenken», indem sie sich auf seine Publikationen als Koautoren setzen lassen. Und das obwohl sie ja – wie dies der Untersuchungsausschuss so deutlich hervorhob – an keinem der Experimente mitgewirkt und auch kein Datenmaterial zu Gesicht bekommen hatten. Wissenschaftliche Preise, die die herausragenden Leistungen des jungen Forschers quasi formal bestätigen, Verhandlungen über Leitungsfunktionen in angesehenen Institutionen dieses wissenschaftlichen Feldes, die ein Indikator für das Vertrauen in seine Kreativität und Führungsqualitäten sind und immer wieder das Gerücht, dass der Nobelpreis vielleicht schon um die Ecke stehen würde – all dies sind die Elemente einer Karriere «wie aus dem Bilderbuch». Dass in einem so wettbewerbsorientierten, harten Wissenschaftsgeschäft sich noch so eine märchenhafte Geschichte ereignen kann, scheint die Wissenschaftlergemeinschaft zu faszinieren. Aber unser Kandidat erfüllt ja nicht nur einfach die Kriterien einer phantastischen Karriere. Endlich ist mit diesem jungen Wissenschaftler wieder ein Genie am Horizont der Wissenschaft aufgetaucht, ein wirklich aussergewöhnlicher Forscher, jemand der aus der Normalität des Wissenschaftssystems völlig auszubrechen scheint. Kein Durchschnitt,

sondern herausragende Leistungen werden von ihm vollbracht und dies mit hoher Frequenz. Er ist ein Virtuose, der jedes Material dazu bringt ungeahnte Eigenschaften zu entwickeln. Für ein Wissenschaftssystem welches oft das Gefühl hat im Mittelmass zu versinken, welches versucht Exzellenz durch geeignete Strukturmassnahmen «zu erzeugen», welches durch ein unglaubliches Wachstum und durch die Öffnung der Bildungsinstitutionen in den 1970er Jahren von Massenphänomenen «geplagt» ist, ist eine solch erstaunliche Erscheinung mehr als willkommen. Wie oft kommt es schon vor, dass ein Forscher eine herausragende Entdeckung nach der anderen macht, Innovationen quasi auf dem Fliessband liefert, scheinbar über eine unbremsbare intellektuelle Energie und eine Menge an Intuition verfügt? Er erfüllt einfach alle Formalkriterien dieser exzellenten Wissenschaft und trotzdem scheint er unendlich innovativ. Also scheint all die Angst, dass die neuen Anforderungsstrukturen der Wissenschaft den Einfallsreichtum zerstören würden, durch unseren jungen Mann widerlegt. Die Zukunft der Wissenschaft erscheint für einen Augenblick in gutem Licht, Aufbruchsstimmung macht sich breit: «He became a modern alchemist, apparently conducting electricity where it had never gone before.»20

19 Bruno Latour, «Der Biologe als wilder Kapitalist», in: ders., Der Berliner Schlüssel, Berlin, 1993, S. 113–144.

20 http://dir.salon.com/story/tech/feature/2002/09/16/physics/index.html (24.09.2006)

Geschichten und ihre Erzähler: eine Spurensuche nach den Ko-Konstrukteuren der Zukunft Jetzt müsste man sich auch die Frage stellen, wer denn die Produzenten, Erzähler und Zuhörer dieser Geschichten sind. Wo sind die Orte, an denen sie erzählt werden (können)? Und welche Bedeutung haben sie, wenn doch gleichzeitig den Beteiligten mehr oder weniger klar ist, dass es sich um Geschichten handelt. Bevor man die unterschiedlichen Akteure identifizieren und ihre Position einer Reflexion unterziehen kann, ist es nötig, sich den Gesamtkontext nochmals vor Augen zu halten. Wie bereits eingangs erwähnt spielt hier die Veränderung des gesellschaftlichen Kontexts für die Wissenschaft eine bedeutende Rolle. Wir leben in einer Wissensgesellschaft, oder besser gesagt in einer wissensbasierten Ökonomie, wie es etwa in der Lissabon-Strategie der Europäischen Union zum Ausdruck kommt. Der Wettbewerb auf ökonomischer Ebene und damit eine globale Vormachtstellung soll über wissenschaftliche Innovationskraft und ihre Umsetzungen sichergestellt werden.

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Michael Gibbons, Helga Nowotny und Koautoren haben in ihren Werken argumentiert, dass unsere eingeübten Formen der Erkenntnisproduktion derzeit einen Wandlungsprozess durchlaufen.21 Zum einen sind die Orte, an denen wissenschaftliches Wissen produziert wird und ihre gesellschaftliche Bedeutung nicht mehr so eindeutig definiert, was Wissenschaftlern und wissenschaftlichen Institutionen neue Positionierungsstrategien abverlangt. Parallel dazu sind die als relevant identifizierten Fragen nicht mehr entlang klassischer disziplinärer Strukturen formuliert, sondern neue Formen von Zusammenarbeit in der Erkenntnisproduktion sind gefragt. Konsequenter Weise nimmt dann auch das Wissen, welches produziert wird, andere Formen an, und vor allem – und dies ist für unsere Geschichte von Relevanz – durchläuft es andere gesellschaftliche Verteilungsprozesse. Die Autorität wissen­schaftlichen Wissens wird zwar nicht aufgehoben, sie muss aber in unterschiedlichen Zusammenhängen immer wieder neu legitimiert werden. Neue Spieler betreten also das Terrain der Erkenntnisproduktion – nicht nur in der Rolle von Financiers, sondern auch als Mitgestalter. Wissenschaftliches Wissen ist daher bereits in seiner Entstehungsphase auf das Engste in vielfältige Anwendungs­zusammenhänge, aber auch in Phantasien und Wunschvorstellungen über die zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten, eingebunden. Dieser Wandlungsprozess nimmt nun Einfluss darauf, wie wissenschaftliches Arbeiten in der Praxis vor sich geht sowie darauf, wer Normen, Werte und Qualitätsstandards setzt, nach denen das System idealtypischer Weise funktionieren soll. Es ist also nicht mehr möglich von der Existenz einer «reinen Wissenschaft» auszugehen – auch wenn es diese ja eigentlich nie gegeben hat –, die dann durch Ausseneinfluss korrumpiert wird. Längst bewegen wir uns in einem immer deutlicher sichtbar werdenden Hybridsystem, in dem sich Werte, Rollen und bisweilen auch Rituale unterschiedlicher Systeme durchmischen. Während das System wissenschaftlicher Institutionen im 19. Jahrhundert vor allem auf Differenzierungen der Rollen, Werte und Rituale Wert gelegt hatte, sind wir derzeit mit unklaren Grenzen zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Institutionen und ihren Aufgabenfeldern konfrontiert. Das Aufgabenspektrum, welches etwa die «neuen» Universitäten übernehmen sollen, die Bereiche, in denen plötzlich Akteure mit industriellem Hintergrund auftreten oder die Diskussion über die Grenzziehungen zwischen Universitäten und an21 Gibbons et al. (1994); Nowotny/Scott/Gibbons (2001).

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deren Forschungs- und Ausbildungsinstitutionen seien hier als Beispiele genannt. Da finanzielle Ressourcen für die Forschung nicht nur innerhalb der jeweiligen Organisationstypen zirkulieren, sondern zunehmend von aussen eingeworben werden müssen, nimmt die Frage der Grenzen und Rollen ganz neue Formen an. Dies wirft aber auch die Frage auf, wo sich im heutigen Wissenschaftssystem dieser «genuin wissenschaftliche» aussergesellschaftliche Fluchtpunkt festmachen lässt, von dem aus der oft herbeizitierte «Sittenverfall» der Wissenschaft überhaupt konstatiert werden kann. Ich möchte hier drei Gruppen von Akteuren identifizieren, welche eine bedeutende Funktion einnehmen. Zum ersten geht es um wissenschaftspolitische Akteure, welche auf Grund erhöhten Legitimierungsdruckes immer stärker fordern, dass Wissenschaftler in ihren Ansuchen um öffentliche Finanzierung auch das Zukunftspotential ihrer Forschung darlegen. Während dies in manchen Bereichen der anwendungsnahen Forschung auf der Hand zu liegen scheint, muss in anderen ein unglaublicher Spagat vollzogen werden. Es muss eine Zukunft des Wissens erfunden werden, die Innovation muss schon lang bevor Hand an sie gelegt wird, vorgedacht, versprochen worden sein. Gleichzeitig wird über die unterschiedlichsten Finanzierungsmodelle signalisiert, dass diese Kooperation mit verschiedenen Akteuren aus der Wirtschaft als ein Königsweg gesehen wird und als besonders förderungswürdig. Dass man unserem jungen Materialwissenschaftler mit 32 Jahren die Führung eines Max-Planck-Instituts anvertrauen möchte, könnte man durchaus als ein Zeichen sehen, mit dem Platz für diese neue Generation der ‹businesstype researcher› geschaffen wird. Zukunft soll hier immer schon in der Gegenwart präsent werden. Ökonomische Hoffnungen und Visionen scheinen nicht mehr nur Legitimationskraft, sondern immer auch schon Triebkraft zu sein. Sie sollen massgeblich mitbestimmen, was wissenschaftliche Wirklichkeit werden soll und kann. Dies liesse sich dann auch an nationalen und supranationalen Schwerpunkten in diesem Bereich ebenso ablesen wie aus den Erklärungen von Fördereinrichtungen. Es gibt heute kaum mehr eine industrialisierte Nation, welche nicht einen Schwerpunkt im Bereich der Nanotechnologien gesetzt hat. Hier liegt ein Versprechen auf eine fundamental neue Zukunft. Wissenschaft wird nicht mehr einfach gemacht, Wissen nicht nur produziert, sondern Wissenschaft soll gemanagt werden, damit für

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die Zukunft in der Gegenwart Platz gemacht wird. In diesem Sinne findet eine immer engere Verschränkung zwischen Wissenschaft und Wirtschaft statt, welche nicht mehr nur an Geldflüssen und Kooperationszusammenhängen festgemacht werden kann, welche auch nicht nur über Fragen der Patentierung und ihrer Probleme gefasst werden kann, sondern eben über diese Konstruktion der Zukunft verhandelt wird. Dabei ist es interessant zu beobachten, wie die regelmässig gemachten und auch immer wieder revidierten Vorstellungen über den ökonomischen Impact dieser Forschung zu einem integralen Bestandteil desselben geworden sind. Damit werden also Zukunftsszenarien zu einem neuen grenzüberschreitenden Terrain der Verknüpfung zwischen Politik und Wissenschaft. Wissenschaft dringt weit in den Bereich politischen Handelns vor, indem hier eine gesellschaftliche Zukunft miterfunden wird, während gleichzeitig Politik einen Logenplatz Platz im wissenschaftlichen Feld erhält ohne dafür explizit die Verantwortung zu übernehmen. Fragen der nachhaltigen Produktion eines breiten Wissensfundus auf dem eventuell die Innovationen von morgen entstehen können, werden kaum gestellt, sondern es wird davon ausgegangen, dass es möglich ist die Sieger von Morgen schon heute, hier und jetzt auszusuchen – «Picking the winners» wird diese Strategie so treffend bezeichnet. Hier geht es also dann um die Wissenschaftler selbst, die zunehmend das Schaffen und den Handel mit Zukunftsszenarien in ihre Arbeit integrieren, es zu einem Teil des öffentlichen Sprechens über ihre Erkenntnisproduktion gemacht haben. Wenn man sich ins wissenschaftliche Feld selbst begibt und die Akteure nach diesen Zukunftsgeschichten befragt, so wird immer wieder hervorgehoben, dass es sich hier nicht um Zukunftsvisionen im engeren Sinne handelt, sondern um Sinngeschichten für einen Förderungsgeber. Sie selbst nehmen bisweilen auch eine scharfe Trennung vor zwischen dem, was sie eigentlich machen werden und dem, was sie als «Verpackung» sehen, wobei gleichzeitig diese Grenzen in ihrem Handeln ständig zu verschwimmen scheinen. Interessant ist zu sehen, dass selbst in rein wissenschaftlichen Veröffentlichungen für die Bedeutung des Ergebnisses mit dessen Anwendbarkeit argumentiert wird. Um nur ein Beispiel herauszugreifen: «The fabrication of monolayer transistors and inverters might represent an important step towards molecular-scale electronics.»22 Auch wenn hier der Konjunktiv Anwendung findet, ist 22 Nature 413 (18.10.2001), S 713.

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doch klar, dass mit dem Verweis auf molekulare Elektronik ein ganzer Wirtschaftsraum aufgespannt wird, über dessen Ausmass gar kein Wort mehr verloren werden muss. Diese weiter reichende Kontextualisierung findet an anderer Stelle statt und muss nicht im wissenschaftlichen Artikel selbst geleistet werden. Treffend findet sich dann NanoWissenschaft auch als «Breakthrough of the year» in Fachzeitschriften wie «Science» wieder, in der ja auch die «Hoffnung auf eine neue Welt der Nanoelektronik» mit Nachdruck hervorgehoben wird.23 In der Tat kann man eine gewisse Ambivalenz ausmachen, zwischen dem Ideal der von Neugierde getriebenen Forschung und dem eher zielgerichteten Forschen, allerdings findet hier noch etwas ganz anderes statt: In diesen interessensgetriebenen Modus dringt die Geschichte über die Zukunft so tief ein, dass sie kaum mehr herausschreibbar ist. Und schliesslich betritt mit den Medien auch noch ein dritter Akteur die Bühne. Ausgewiesen im Erzählen von Geschichten über die Zukunft, haben sich die Medien in den letzten Jahren zu einem wesentlichen Akteur im wissenschaftlichen Feld entwickeln können. Dabei ist es wichtig, zu verstehen, dass die Rolle der Medien nicht erst «nach der wissenschaftlichen Produktion» beginnt, sondern davor, währenddessen und danach. Sie haben begonnen ganz unterschiedliche Rollen einzunehmen, sie sind Ressource, Sprachrohr und Kommentator; gleichzeitig Akteur und Bühne. Medien werden also zu einer neuen Kraft, sie erhalten eine spezielle Rolle nicht nur im Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik, sondern vor allem auch zwischen Wissenschaft und Mitgliedern der Gesellschaft. Medien machen Themen, geben ihnen immer neue Gestalt und wirken dabei als Vermittler zwischen Welten. Sie haben Bedeutung als Legitimation, sie sind Ressource im Wettkampf, sie schaffen bewusst oder indirekt Erwartungen und Hoffnung auf das, was Wissenschaft erfüllen könnte und wird. Gelingt es eine Konvergenz zwischen verschiedenen Erwartungen zu schaffen, so entstehen völlig neue, ungeahnte Möglichkeiten für Wissenschaft, ebenso wie sich dies auch einschränkend auswirken könnte. Man erinnere sich nur an das Lamento der Pflanzengenetiker über die Einschränkungen für ihre Forschung, die über öffentliche Diskussionen entstanden sind. Da es aber in der Medienlandschaft eigentlich vor allem um Aufmerksamkeit geht, ist es nur allzu verständlich, dass es zu einem Phänomen stetigen Übertrumpfens kommt, was die Aussergewöhnlichkeit der Geschichte angeht. 23 Science 21 December 2001: Vol. 294. no. 5551, pp. 2442 – 2443 (Breakthrough of the year)

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Medien sind aber vor allem auch Orte der Konstruktion von Erzählungen über Wissenschaft und ihre gesellschaftliche Bedeutung – sie sind gewissermassen eine zentrale Fabrik, in der Zukunftsszenarien entworfen werden. Und diese bleiben dann nicht ausserhalb der Wissenschaft stehen. Nein, ganz im Gegenteil, zahlreiche Studien der letzten Jahre haben gezeigt, wie präsent Medien in der Wissenschaft selbst geworden sind. Spricht Dorothy Nelkin 1987 noch von «Selling Science», also vom Phänomen einer ex-post Positionierung von Wissenschaft in den Medien, finden wir heute auch Phänomene wie «Science by Press conference»,24 Man erkennt die Rolle der Medien in der Fabrikation wissenschaftlicher Stars ebenso wie die Rolle der Medien als Themenmacher oder zumindest als Multiplikator.25 Sie werden zum Ort der Positionierung und zur Ressource. Sie haben damit eine gewaltige Rückwirkung auf die Wissenschaft selbst, auf ihre Möglichkeiten und auf die gesellschaftliche Wertschätzung. Interessant am hier diskutierten Fall ist aber die Hybridposition von Zeitschriften wie «Nature» und «Science»: wissenschaftliche Publikationsorgane, aber auch Akteure in der Wissenschaftspolitik. Diese Verschränkung der Rollen – als epistemische Kontrollpunkte einerseits und als wissenschaftspolitische Akteure andererseits – wird bei Schlüsselzeitschriften der Naturwissenschaften immer deutlicher. Gerade in die letzten grossen Betrugsfälle in den Naturwissenschaften waren diese beiden Zeitschriften stark involviert, wobei sie sich des öfter geäusserten Vorwurfs der Beteiligung an der Gestaltung wissenschaftlicher Modetrends nicht ganz entziehen konnten. Wie tragen diese Akteure, welche auch im öffentlichen Raum als Gradmesser für die Relevanz und Innovationskraft bestimmter wissenschaftlicher Entwicklungen angesehen werden, zu eben diesen beobachteten Abweichungen eingespielter Verhaltensformen bei? Massgeblich, könnte man sagen, und in einer Weise, die es eigentlich unzulässig macht, sich hinter den klassischen Strukturen der wissenschaftlichen Wahrheitsfindung – nämlich dem Gutachtersystem – zu verschanzen und so zu tun, als ob man die Erkenntnisse der Wissenschaft für sich sprechen liesse. Entwicklungen in der Wissenschaft sprechen genauso wenig für sich, wie «die Natur» oder «die Daten»: Akteure – seien sie Wissenschaftler, Herausgeber von Fachzeitschriften, Medienvertreter oder Wissenschaftspolitiker – sprechen für sie und tragen somit auch Mitverantwortung. Mit Berichten über «breakthroughs and runner-ups», 24 Dorothy Nelkin, Selling Science: How the Press Covers Science and Technology, New York 1987; Bruce V. Lewenstein, «Do Public Electronic Bulletin Boards Help Create Scientific Knowledge? The Cold Fusion Case», Science, Technology and Human Values 20 (1995), S. 123–149. 25 Ulrike Felt, «Fabricating scientific success stories», in: Public Understanding of Science 2, 1993, 375–390; Peter Weingart und Petra Pansegrau, «Reputation in Science and Prominence in the Media –The Goldhagen Debate», in: Public Understanding of Science 8 (1999), S. 1–16.

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mit «forecasts for next years hottest topics» und ähnlichen Rubriken wird eine ganze Maschinerie an Versprechungen und möglichen Zukünften vor den Lesern ausgebreitet. Natürlich wird sie in einer Art von Selbstironie mit «in die Kristallkugel schauen» und «Kaffeesatzlesen» verglichen, dies dient aber wohl eher dazu, sich rhetorisch der Verantwortung zu entziehen, als dass diese Trends als solche in Frage gestellt würden. Die obgenannten Akteursgruppen sind alle kollektive Konstrukteure des Nano-Hypes, dieser Durchbruchs- und Abendteuererzählungen, in denen sich unser junge Forscher bewegen und sich einen Platz schaffen konnte. Sie sind kollektiv Ingenieure der Zukunftserzählungen, welche in gewisser Weise bisweilen mächtiger als die Innovationen selbst sind. Über den Handel mit Zukunftsszenarien: Handelsabkommen, Parallelmärkte Welche Schlussfolgerungen kann man aus dem eben Analysierten für die Bedeutung von Zukunftsszenarien in der Wissenschaft ziehen? Könnte man behaupten, dass sich parallel zu unseren technowissenschaftlichen Produkten, zu den Patenten und Publikationen, die auf dem Marktplatz der Wissenschaft und auf dem Markt im herkömmlichen Sinn angeboten werden, eine parallele Form der symbolischen Ökonomie etabliert hat? – Eine symbolische Ökonomie, in der mit Zukunftsszenarien der verschiedensten Art gehandelt wird, in der es darum geht, Zukunft immer wieder neu zu entwerfen und Versprechen herzustellen und zu verkaufen, die für uns erkennbar und anschlussfähig sind, gleichzeitig aber das ungeahnte phantastisch Neue heraufbeschwören? Nun würden viele Wissenschaftler, aber auch Wissenschaftspolitiker oder Medienmacher eingestehen, dass durchaus ein Bewusstsein dafür existiert, dass es sich bei vielen Zukunftsszenarien um Fiktionen, Projektionen, Träume und im besten Fall Hoffnungen handelt. Dennoch geben wir ihnen eine nicht unbedeutende Rolle in der Entscheidung, wohin unsere grossen wissenschaftlichen Forschungswege weitergehen können. Damit kann der Marktwert bestimmter Zukunftsszenarien dazu beitragen, dass einerseits Dinge getan werden können, in riskante Zukünfte investiert werden kann, wobei andererseits andere mögliche Wege der Entwicklung im Wettbewerb um enge

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Mittel verschlossen bleiben. Hier könnte man Aldous Huxleys Redewendung «Der Glaube an eine grössere und bessere Zukunft ist einer der mächtigsten Feinde gegenwärtiger Freiheit» hernehmen und für die Wissenschaft umdeuten. Denn der Handel mit Zukunftsszenarien ist eine mächtige Form, die eigene wissenschaftliche Gegenwart zu gestalten, ebenso wie sie auch andere wissenschaftliche Gegenwarten einschränkt und verschliesst. Und wenn wir zurückgehen zu unserem Einleitungsstatement «Science under Attack» – geht es hier nicht auch um eine Kontrolle gerade jener Zukunftsszenarien, welche von Wissenschaft produziert werden? Wenn in eben diesem «Nature»-Editorial gefordert wird, dass Wissenschaftler «should also be free to discuss how their research makes an argument for changes in policy», dann wird dies in einer besonderen Weise deutlich. Wer darf also sagen, um welche Zukunft es gehen soll, und welche Szenarien welchen Wert besitzen und daher auch indirekt welche Wissenschaft wie viel Raum erhält sich zu entwickeln. Wenn wir aber davon ausgehen, dass diese Versprechen der Wissenschaft für eine Zukunft Macht und Einfluss besitzen, und nicht nur eine Spielform des innerwissenschaftlichen Wettbewerbs sind, dann wäre es vielleicht auch angebracht, Handelsabkommen über die Qualität der gehandelten Zukunftsszenarien abzuschliessen und vielleicht auch die Frage der Verantwortung für diese «Produkte» auf dem Markt der Wissenschaft zu diskutieren. Ulrike Felt ist Professorin für Wissenschaftsforschung an der Universität Wien, wo sie dem Institut für Wissenschaftsforschung vorsteht. Zahlreiche Publikationen, insbesondere zu den Themenschwerpunkten Wissenschaft und Öffentlichkeit, sowie Wissenschafts- und Universitätspolitik.

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Fr o m Fi c t i o n t o S c i e n c e

Radikale Food Trends im Spiegel von Visionen der Vergangenheit und als Fluchtpunkte einer möglichen Zukunft von

Stephan Sigrist Eine der wenigen Zukunftsformeln, die seit bald 40 Jahren Gültigkeit hat, ist das Mooresche Gesetz. Insgesamt nimmt die Zuverlässigkeit von Prognosen jedoch ab, je mehr die Entwicklung eines Systems von Komplexität und Dynamik bestimmt wird. Die Vernetzung von Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft verdichtet sich zunehmend und lässt sich daher durch eindimensionale Ursache – Wirkung-Beziehungen kaum mehr interpretieren. Gewiss ist nur, dass die Ungewissheit zunimmt und damit der Bedarf an Zukunftsdeutung. Zunächst ist die Zukunft das Land der Fantasie. Sie erweitert unseren Denkhorizont, indem sie neue gedankliche Möglichkeitsfelder in Wirtschaft und Gesellschaft ermöglicht. Die Welt von morgen erscheint uns nicht in jedem Fall abstrakt und ungreifbar. Wir haben – etwa was Mobilität, Wohnformen oder Möglichkeiten der Medizin anbelangt – oft Bilder der Zukunft im Kopf. Nicht selten beginnen grosse technische oder ökonomische Entwicklungen mit Visionen, die nur langsam ins Alltagsbewustsein gelangen und real werden. Fiktion steht so in einer ständigen Wechselwirkung mit der Wissenschaft (Science), die den Filter der Realität über die Visionen legt. Was in «Metropolis» von Fritz Lang (1926) als radikale Zukunftsvision galt – z. B. Energiequellen, die eine ganze Stadt versorgen, oder die Robotik – steht heute trotz grosser Fortschritte noch immer weit oben auf der Prioritätenliste der Forschung. Viele der Zukunftstechnologien aus George Orwells Dystopie «1984», veröffentlicht im Jahre 1949, sind heute längst Realität: biometrische Pässe, intelligente Überwachungskameras oder die totale Kommunikations-Kontrolle.  Als Mooresches Gesetz wird die Beobachtung bezeichnet, dass sich durch den technischen Fortschritt die Komplexität von integrierten Schaltkreisen etwa alle 24 Monate verdoppelt. Dieser Sachverhalt bildet eine wesentliche Grundlage der «digitalen Revolution». Gordon E. Moore, «Cramming more components onto integrated circuits», in: Electronics 38 (1965), S. 114–117.

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