1 Adolf Muschg

Aus schwarzer Schrift strahlt meine Liebe klar Eröffnungsvortrag Festspiele Zürich, 13. Juni 2015, Schauspielhaus Pfauen

Shakespeare, Sonnet LXV (65) (vom Schauspieler zu sprechen)

Since brass, nor stone, nor earth, nor boundless sea, But sad mortality o'er-sways their power, How with this rage shall beauty hold a plea, Whose action is no stronger than a flower? O, how shall summer's honey breath hold out Against the wreckful siege of battering days, When rocks impregnable are not so stout, Nor gates of steel so strong, but Time decays? O fearful meditation! where, alack, Shall Time's best jewel from Time's chest lie hid? Or what strong hand can hold his swift foot back? Or who his spoil of beauty can forbid? O, none, unless this miracle have might, That in black ink my love may still shine bright.

Die Zeit, Father Time, auch als Kinderfresser oder rasender Kutscher vorgestellt, ist immer der Hauptspielverderber der Kunst gewesen, dem sie nur mit dem leisen Trotz ihrer Schönheit begegnen kann. Aber „auch das Schöne muß sterben“, klagt Schiller, es enthält ja die Essenz der Sterblichkeit – dauerhafte Existenz ist nicht inbegriffen. Wie kann die Kunst, mit der List der Liebe, time`s

jewel, nicht stärker als eine Blume, über die Zeit retten: That in black ink my love may still shine bright? Shakespeares Schrift wird zur schwarzen Sonne, die nur als paradoxe Metapher existiert; sie tanzt auf dem zum Reißen gespannten Seil, das ein aufgebrochenes Universum eben noch zusammenhält. Das Balance-Kunststück der Poesie hat einen technischen Namen: Conceit, abgeleitet vom italienischen Concetto, und sein Versuch, Widersprüche spielen zu lehren, mit dem Herzen zu denken und

2 mit dem Hirn zu fühlen, ist das Kenn- und Gütezeichen großer englischer Dichtung um 1600. Hamlet, der eine aus den Fugen geratene Welt wieder einrenken soll, hat nicht umsonst in Wittenberg studiert. Da las er bei Luther Sätze wie: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Die zwei Reiche der Reformation berühren einander nur noch im Glauben von unten, in der Gnade von oben – wo auf beides kein Verlaß mehr ist, muß es der Sprach-Witz tun, ein Geniestreich graziöser Erfindung, der die drohende Leere einen Augenblick überstrahlt. Wir reden vom Bruch und Aufbruch der Moderne; und daß der Mensch endlich ist, zeigt sich nun erst als Skandal, da die gemessene Zeit zugleich zum Maß aller Dinge wird. Die große Spielverderberin ist es nun, die das Spiel bestimmt, und sie wird die nächsten Jahrhunderte nicht ruhen, bis sie die Einheit der Welt – Stichwort: Globalisierung – jedenfalls monetär wieder hergestellt hat. Wie der neue Zeit-Geist in seiner Werkstatt hämmert, bekommt man bei Shakespeare noch ohne Schalldämpfer zu hören: in der Stimme des verzweifelten Königs und Königsmörders Macbeth. (Vom Schauspieler zu lesen)

To-morrow, and to-morrow, and to-morrow, Creeps in this petty pace from day to day, To the last syllable of recorded time; And all our yesterdays have lighted fools The way to dusty death. Out, out, brief candle! Life's but a walking shadow, a poor player, That struts and frets his hour upon the stage, And then is heard no more. It is a tale Told by an idiot, full of sound and fury, Signifying nothing. In diesem Stakkato kommt mehr zur Sprache als eine Situation und ein Charakter – es ist die Condition humaine selbst. Nicht die ganze – und doch: in

diesem Augenblick die ganze, denn sie läßt – im dunkelsten Sinn des Wortes – nichts mehr zu wünschen übrig. Ganz in dieser Welt, die eine des Rechnens ist, lebt

3 Shakespeare noch nicht; ganz in jener Welt, die eine des Glaubens war, nicht mehr. Aber seine Zwischenstellung hat nichts von einem Kompromiß, im Gegenteil: sie verstärkt den Widerspruch zum Zusammenstoß. Sie lebt von der ungeheuren Energie, die er freisetzt, so daß wir glauben, die Sprache des Menschen noch nie in solcher Freiheit gehört zu haben. Aber das kommt daher, daß sie bei zwei Welten im Wort ist: einer, in der es noch heilig war, und einer, für die es immer mehr verhandelt werden muß. Bevor sich Macbeth auf seine Tage diesen hoffnungslosen Abzählreim machen kann, muß eine neue Zeitmessung in die Welt gekommen sein. Sie ist vom Glockenschlag der Kirche ins private Interieur eingewandert, etwa als kunstvolle Standuhr; Snobs wie Malvolio – derjenige mit den gelben Strümpfen – leisten sich sogar schon eine Taschenuhr. Diese Zeit aber beginnt ihren Usern davonzulaufen. Um zu fühlen, was das bedeutet, ist kein Verbrechen nötig, aber dasjenige von Macbeth bringt es an den Tag und macht uns zu seinen Komplizen. Und das Licht, das davon auf die Bühne fällt, kann vernichtend sein. Recorded Time hat auch eine Neue Sprache – die Litanei des Unsinns, dessen last syllables heißen könnten – dada - blabla – gaga. Hier liegt das wahre demographische Problem der Neuzeit: nicht im Altern von Menschen, sondern im Verschwinden ihres Gewichts im Umgang mit ihrer Zeit. Der Vorstellung von Zeitgewinn und Zeitverlust liegt ein statistischökonomisches Maß zugrunde, das, um verrechenbar zu sein, für alle gelten soll. Aber im Einzelfall, der nicht zu messen, nur zu wägen ist, gilt es für keinen. Kein Mensch lebt, liebt und stirbt nach der Statistik, die Verbindlichkeit, die sie beansprucht, ist ein Phantom. „Was ist das Allgemeinste: der einzelne Fall“, sagte der alte Goethe; und in der Kunst sehen wir immer nur den Einzelfall am Werk. Je größer sie ist, desto weniger ist er verallgemeinerbar – und um so genauer erkennen wir uns, als Einzelne, in ihm wieder, in Schrecken und Mitleid. Bei Shakespeare kommt es vor, daß ein Mensch – hier ist es der gefangene Richard II – sich selbst als Uhr-Werk figuriert: er wird zum Bild eines ganz neuen, eben zeit-gemäßen Martyriums: (vom Schauspieler zu lesen)

I wasted time, and now doth time waste me, For now has time made me his numbering clock

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My thoughts are minutes, and with sighs they jar Their watches on unto my eyes, the outward watch, Whereto my finger, like a dial`s point Is pointing still, in cleansing them from tears. Der Mensch als weinende Uhr: wir müssen bis zum Surrealismus warten, bevor uns Conceits dieser Güte wieder vor die Augen treten. Aber nicht nur Shakespeares Chrono-Logie, auch seine Topographie ist, nach geographischen Standards, ver-messen oder daneben – fabelhaft in jedem Sinn des Wortes. So wenig wie Böhmen am Meer, darf man sein Rom oder Athen auf einer Karte suchen, sie sind so gut wie erfunden oder auch wahrer als wirklich – wie sein Venedig, das New York der Renaissance. Denn da ist alles möglich: daß ein Mohr zum Feldherrn avanciert, oder daß man einem Juden als Financier nicht nur auf die Finger, sondern ins Herz sehen kann. Dabei wird kein Stereotyp verschmäht, aber mit jedem wird gespielt, und das Spiel hat eine atemberaubende Humanität (was ein für allemal kein Kompliment sein soll). Aber: This thing of

darkness I acknowledge mine. Diese Anerkennung des Monsters Caliban ist für alle Figuren Shakespeares gültig – aber der Vorbehalt ihres Autors ist es nicht weniger. Wie gern würden wir – in Ermangelung einer soliden Biographie dieses Dichters – diese Eloge auf ihn selbst gemünzt sehen:

Sanft war sein Leben, und so mischten sich Die Element' in ihm, daß die Natur Aufstehen durfte und der Welt verkünden: Dies war ein Mann! Nur redet hier ein Jäger seine Beute schön, und die Zuschauer haben selbst gesehen, daß es bei der Ermordung Cäsars alles andere als gentle zugegangen ist. Und doch hat sich Brutus als „ehrenwerter Mann“ eingeprägt, obwohl Antonius in seiner früheren ironischen Rede natürlich das Gegenteil unterstellt, auch wieder mit Recht. Denn Kunst erkennt man unter anderem daran – wie Niels Bohr die Gesetze der Teilchenphysik –, daß das Gegenteil wahrer Sätze genau so wahr ist. Wenn Shakespeare den Juden Shylock nach der Bibel reden läßt, macht er ihn weder

5 fromm noch korrekt, aber sein Gewinn, unrecht oder nicht, ist jedenfalls einer für die Kunst. Kein Stück Fleisch der Weltliteratur ist so vergiftet wie dasjenige, das dieser Gläubiger dem Schuldner aus der Brust schneiden will: das ist Shakespeares Art, keinen schuldlos zu machen, aber auch keinen nichts weiter als schuldig. Ließe sich der Holocaust- Diskurs auf diesem Niveau führen, er verlöre nichts von seiner Pein, aber könnte uns Peinlichkeiten ersparen, vom Schuldstolz bis zur Instrumentalisierung von Schuld. Shakespeares Sprache tritt dem, was Menschen sich und andern antun können, so nahe, daß man in der Tat meinen könnte, er sei bei der Schöpfung der Welt dabeigewesen. Dazu Goethe:

Shakespeare gesellt sich zum Weltgeist, er durchdringt die Welt wie jener, beiden ist nichts verborgen, aber wenn des Weltgeists Geschäft ist, Geheimnisse, vor, ja oft nach der Tat zu bewahren, so ist der Sinn des Dichters, das Geheimnis zu verschwätzen und uns vor, oder doch gewiß nach der Tat zu Vertrauten zu machen. (...) Genug, das Geheimnis muß heraus, und sollten es die Steine verkünden. Was Goethe hier in schöner Kollegen-Mißgunst „Verschwätzen“ nennt, hat jedenfalls mit Sprache zu tun. Nicht der Charakter, schon gar nicht die Fabel, keinerlei content: Shakespeares Sprache ist es, was ihren Empfänger trifft und das Tiefste über ihn ebenso ausbringt wie das Schauderhafteste, oft im gleichen Atemzug. Im Alter ging Goethe so weit, auch das Theater für entbehrlich zu halten.

Es gibt keinen höheren Genuß, und keinen reinern, als sich mit geschlossenen Augen durch eine natürlich richtige Stimme ein Shakespearsches Stück nicht declamieren, sondern recitieren zu hören. Schon ein Hörspiel täte da des Guten zu viel, und Goethe bestreitet geradezu, daß die Bühne ein würdiger Raum für sein

Genie gewesen . Das sagt derselbe Goethe, der einen jungen Dichter namens Kleist mit den Exzessen seiner Phantasie unnachsichtig an die reale Bühne verwiesen hatte: Auf

jedem Jahrmarkt getraue ich mir, auf Bohlen über Fässer geschichtet, mit Calderons Stücken, mutatis mutandis, der gebildeten und ungebildeten Masse das höchste Vergnügen zu machen. Die Maske ist durchsichtig auf einen Andern, der

6 auch die von Goethe selbst so genannte „Unvollkommenheit der englischen Bretterbühne“ vollkommen zu nützen wußte. Um so mehr mag Goethe in Kleist jenes Shakespeare-Potential gewittert haben, das Wieland bescheinigt hat – um sich davon ebenso abzuwenden wie von seinem eigenen Werther, den er sich nicht wiederzulesen traute: Es sind lauter Brandraketen.. Das grenzüberschreitende Genie droht jede andere Kraftleistung zum schwachen Plagiat zu machen. Nochmals Goethe: : Ein dramatisches Talent, wenn es bedeutend war, konnte nicht umhin, von Shakespeare Notiz zu nehmen, ja es konnte nicht umhin, ihn zu studieren. Studierte es ihn aber, so mußte ihm bewußt werden, daß Shakespeare die ganze Menschennatur nach allen Richtungen hin und in allen Tiefen und Höhen bereits erschöpft habe, und daß im Grunde für ihn, den Nachkömmling, nichts mehr zu tun übrig bleibe. Und woher hätte einer den Mut nehmen sollen, nur die Feder anzusetzen, wenn er sich solcher bereits vorhandener unergründlicher und unerreichbarer Vortrefflichkeiten in ernster anerkennender Seele bewußt war!“ Da spricht sie offen, die eifersüchtige Selbstzensur eines Dichters, der seine Schuld gegen Shakespeare mit dem „Götz“ bezahlt zu haben glaubte – und ihm bis zum Faust II produktiv verfallen blieb. Wenn wir von Selbstzensur reden: das Wort ist auch für Shakespeare angebracht, obwohl wir in seinen Stücken nur das Gegenteil zu bemerken glauben, beispielsweise in seinem im Umgang mit Religion – das heißt: ihrer erstaunlichen Nichtbeachtung. Sein England war konfessionell – und das hieß auch: dynastisch – ein heißes Pflaster. Der Fußweg des Dichters von der City zu seinem GlobeTheater führte an den auf der London Bridge regelmäßig an aufgespießten Köpfen vorbei. Daß das Theater zimperlich war, erwartete sein Publikum nicht – aber politisch durfte es nichts falsch machen, sonst wurde es geschlossen. Der Hochverrat mußte sich auf die menschliche Natur beschränken und frei bleiben von jeder Assoziation mit realen Verhältnissen. In einer Periode lebensgefährlicher Glaubenskriege kann man Shakespeares Motive opportunistisch finden, - und muß seinen Relativismus in ihrer Behandlung zugleich halsbrecherisch nennen, seine weltanschauliche Gleich-Gültigkeit radikal. Er war der Geniefall eines Neutralisten – seine fulminante Welt-Klugheit läßt sich keiner Schule, keinem Glauben, keiner Partei zuschlagen. Er kann stoisch, epikuräisch, platonisch, auch einmal christlich – zum Christen macht es ihn fast so wenig, wie Gott nötig hätte, getauft zu werden.

7 Daß der Mensch gebunden, angebunden ist, wie das Wort „Religion“ besagt, ist so wahr wie das Gegenteil: seiner Entfesselung sind keine Grenzen gesetzt, und sein Schöpfer selbst bindet sich an kein Credo. Das ihn leitende Interesse war viel eher von der Art Musils: einen Bösewicht so zeichnen, daß neben ihm auch ein sogenannter Gerechter getroffen ist. Und wenn er überhaupt „Britannien“, also die schon damals kritische Vereinigung des Königreichs, in den Mund nimmt, dann als mythisch-keltische Fiktion, wie in „Cymbeline“, und auch da sind Seitenwechsel ins feindliche Lager kein Tabu: There are livers out of Britain. Kein Feind kann nur ein Schuft sein, wenn er in jedem Menschen selbst sitzt. Sein Reich, durchaus von dieser Welt, ist zugleich im Niemandsland zwischen und über „den Grenzen der Menschheit“ angesiedelt, wo sich Jedermann als Bürger erkennen muß, auch wenn sich damit kein Staat machen läßt. Und wo Shakespeare Farbe bekennen müßte, weicht er gern in eine phantastische Antike aus, wo Götter zwanglos Geister und Hexen sein dürfen – Figuren der Einbildungskraft, und eben darum alles andere als harm- und einflußlos. Shakespeare nimmt unsere Grenzen ernst, indem er sie zugleich dem Lachen ausliefert; es muß nicht auch noch fröhlich sein. Seine Kunst zieht aus der Weltgeschichte die Konsequenz, daß man, was nicht gutzumachen ist, immer noch gut machen kann. Die Form, von Goethe „ein Geheimnis den meisten“ genannt, ersetzt den Ausfall von Perspektive durch den Zauber vollkommener Präsenz. Vor der Ewigkeit ist die schwache Blume nichts; im Augenblick sprachlicher Vergegenwärtigung scheint sie alles, und Schein und Sein fließen zusammen in jenem Hier und Jetzt, mit dem das Kunstgebilde die Zeit hintergeht. Shakespeare inszeniert eine neue Welt aus Sprache, aber ihr Ursprung ist modern, denn er gründet nicht mehr, wie im Mittelalter, auf dem ZeichenCharakter der Welt, sondern geht von der Willkür aus, mit der jedes ihrer Zeichen zugleich ausgezeichnet und geschlagen ist. Die Freiheit in seinem Gebrauch ist vom Mißgriff nicht zu trennen, denn kein Zeichen ist eindeutig, um so weniger, je stärker die Einbildungskraft wirkt, die es ergreift. Shakespeares Sprache steigert Wirklichkeit zur Möglichkeitsform, und ihre Gerechtigkeit behandelt die schlimmste Möglichkeit gleich wie die beste. Alles fällt dahin, aber nicht alles ist eins: – darum besteht die schwache Blume, kraft ihrer Wiedergeburt in der poetischen Umschrift.

8 Die scheinbare Ewigkeit dieses Augenblicks hat mit einer frohen Botschaft, einem göttlichen Logos nichts zu schaffen, außer der Hauptsache: Liebe. Alle Sonette Shakespeares sind Liebesgedichte – aber keins ist ein Holy Sonnet, wie bei seinem Zeitgenossen John Donne; um den einzigen Meister des Conceits zu nennen, der ihm das Wasser reichen kann. Aber bei Donne hat es den Hautgoût des Taufwassers, bei Shakespeare scheint es immer noch aus den vier Elemente der alten Welt geschöpft: aufbereitet für den Durst einer neuen Zeit, die man Renaissance nennt. Auch für ihn galt: the show must go on. Aber seine Sprache wurde nicht part of the show. Und eben ihr Eigen-Sinn hat sie zitierbar gemacht wie keine andere, vom Sprichwort bis zum Buchtitel. Sein oder Nichtsein ist immer wieder die Frage – dabei kann man, wie ich von Englischprofessor Leisi gehört habe, selbst diese schlagende Wendung banaler lesen, nämlich als Schwanken Hamlets vor seinem eigenen Theater-Projekt. Mit oder ohne Vatergespenst beschwört diese Sprache alle Geister der westlichen Zivilisation. Als Welt-Sprache hat sie ihren Teil daran, daß auch der Computer-Wizzard heute englisch tickt, auch wenn sein Englisch von dem Shakespeare so weit entfernt ist wie er von einer eigenen Sprache. Aber es bleibt auch eine Sprache des Widerstands. Das einzige Buch, das Nelson Mandela ins Gefängnis begleitete, waren Shakespeares Werke. . Das eigentliche Wunder seiner schwachen Blume ist ihre Unverwüstlichkeit. Das Medium, in dem sie gedeiht, übersteht jedes Regietheater, denn sie hat das Zeug, das Kostbarste herzustellen, was dem Menschen in der Kunst blühen kann: Gegenwart. Für eine Präsenz, die weder zeit-los noch dated, sondern ein wiederholbares Schöpfungswunder ist, war seinen Kollegen immer nur das höchste Lob gut genug. Matthias Claudius über Shakespeare und Voltaire: Der eine / Ist, was

der andre scheint./ Meister Arouet sagt: ich weine / Und Shakespeare weint.“ Die Vergleichung ist natürlich unfair gegen beide, und wäre auch falsch, wenn man Shakespeare als „authentischer“ ansehen sollte als Voltaire. Das Gegenteil ist wahr, seine Dialoge sind mit allen Wassern der Rhetorik gewaschen, und Goethe kommt der Sache näher: Der lasterhaft Mächtige, der wohldenkende Beschränkte, der

leidenschaftlich Hingerissene, der ruhig Betrachtende, alle tragen ihr Herz in der Hand, oft gegen jede Wahrscheinlichkeit, jedermann ist redsam und redselig.“ Nein, Shakespeare „scheint“ kein bißchen weniger als Voltaire, und doch glauben wir zu verstehen, was Claudius gemeint hat. Ja, Shakespeare weint, denn

9 seine Produktion von Schein verfügt über die rätselhafte Nebenwirkung, uns fühlen zu lassen, was mit uns los ist – los im vollen Wortsinn, denn der Mensch ist das Tier ohne Programm, the naked ape, und es muß ein Genie der Verkleidung und Verstellung her, um ihn auch da nackt zu zeigen, wo er sich bedeckt glaubt. Büchners Frage: was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt? kann auch das Genie nicht beantworten, aber es kann darin noch größere Fragen aufdecken: was heißt: Leben? Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Shakespeare kann nicht nur ausdrücken, wie wir sind, er läßt uns auch fühlen, daß wir sind. Der junge Goethe hat dieses Ereignis „zum Shäkespears Tag“ als Damaskus beschrieben:

Die erste Seite, die ich in ihm las, machte mich zeitlebens ihm zu eigen, und wie ich mit dem ersten Stücke fertig war, stund ich wie ein Blindgeborner, dem eine Wunderhand das Gesicht in einem Augenblicke schenkt. Ich erkannte, ich fühlte aufs lebhafteste meine Existenz um eine Unendlichkeit erweitert, alles war mir neu, unbekannt, und das ungewohnte Licht machte mir Augenschmerzen. Nach und nach lernt ich sehen, und dank sei meinem erkenntlichen Genius, ich fühle noch immer lebhaft, was ich gewonnen habe. Shakespeares Welt ist keine wirkliche, sondern eine wahre; es gelingt ihm buchstäblich spielend, auch eine, die wir noch nie gesehen zu haben, „zur Kenntlichkeit zu entstellen.“ Dabei ist er kein Realist, er arbeitet wie ein Anthropologe; vor seinem Blick auf die Konstruktion unserer Existenz sind – in der Tat – Jahrhunderte wie ein Tag, Ort und Zeit gleichgültig, und modern nur eine Phrase. Wo für Biedermänner, aber auch für Schulmeister und Moralisten eine Grenze überschritten ist, springt das Interesse der Kunst erst recht an: Hic sunt

leones, und da gilt Karl Kraus: ich sehe nicht schwarz, ich sehe nur. This thing of darkness I acknowledge mine. Der „Verschwätzer“ scheint alle Geheimnisse des Menschen zu kennen. Und was ist das seine? Ich möchte mit der Betrachtung eines Stücks schließen, in dem das Kunstmachen selbst zum Gegenstand der Kunst wird. Der „Sturm“ ist auch eine Art Gegenstück zur Genesis. Da ist ein beinahe allmächtiger Schöpfer, ein junges Menschenpaar, auch an Schlangen ist kein Mangel, und vor lauter Urwald ist der eine Baum der Erkenntnis kaum auszumachen. Welche Früchte sind verboten? welche erlaubt? Hier kann man dem Zweiten Schöpfer nicht nur ins Laboratorium, sondern auch auf die Finger sehen. Hier baut er sich ein Paradies – nicht freiwillig; der

10 Ansiedlung ist ein doppelter Schiffbruch vorausgegangen. Den ersten hat Prospero als Herzog von Mailand erlitten; den zweiten veranstaltet er jetzt für die Räuber seines Throns. Das ist Versuchsanlage des „Sturm“, und hinsichtlich des Testmaterials - nennen wir es vorläufig: Humanität – könnte sie nicht spannender sein. Was macht der schiffbrüchige Schöpfer aus sich selbst? Wie behandelt er seinesgleichen – sind sie seinesgleichen? Wie sieht der neue Anfang aus? Und was wird – beim zweiten Anlauf – aus Adam und Eva? Am Anfang ist das Buch. Zu viel Beschäftigung mit Büchern hat Prospero die Herrschaft gekostet; ein Buch soll sie ihm wieder verschaffen. In die Verbannung, die ihm Bruder Kain beschert hat, ist neben der kleinen Tochter auch ein Teil seiner Bibliothek mitgekommen; daraus muß er nun das Buch der Bücher machen, unbiblisch: ein Zauberbuch. Denn es dient ihm keineswegs dazu, der Herrschaft abzusagen, sondern sie zu befestigen, zwar nur über eine Insel, hier aber unbeschränkt. Ihre Geister macht er sich dienstbar, die guten wie die bösen. Aber noch ist Eva allein mit ihrem Vatergott – von einer Mutter ist nie die Rede – , und er braucht einen Adam für sie. Zu seinem Glück hat sie noch keinen Mann gesehen; da darf derjenige, den er mit einem trickreichen Sturm organisiert, auch schon der Richtige sein. Vater denkt und lenkt dynastisch; Miranda fühlt und liebt als Erstgeborene einer neuen Welt: How beauteous mankind is! Erlauben Sie mir an dieser Stelle, die potenteste Verkleidung des elisabethanischen Theaters zu streifen: die des Geschlechts. Das Publikum des Globe wußte natürlich – auch wenn der Schein es hoffentlich täuschte – : diese Unschuld wurde von einem jungen Mann gespielt, artig genug, daß er als Mädchen durchgehen konnte. Auch Julia oder Ophelia waren „in Wirklichkeit“ Jünglinge. Honni

soit qui mal y pense! Die moralische Rücksicht, dem sogenannten schwachen Geschlecht die Theatergesellschaft zu ersparen, führt geradewegs in den Verdacht viel größerer Unmoral, von der Homosexualität bis zur Päderastie. Und um ihn nicht geradezu zu nähren, gab es nur ein Mittel: mit ihm zu spielen. Da es den Menschen nicht gibt – nur Frau und Mann – muß ihn die Kunst in beiden Geschlechtern zeigen können. Und dabei ist sie wahrlich weder Waisenknabe noch Kostverächter. Ein Stück wie „Was ihr wollt“ ist ein einziges Quid pro quo um den durch Verkleidung noch komplizierten, durch sie aber auch erst aufgedeckten Konflikt zwischen biologischem und sozialem Geschlecht: who is who und who is what – auszutragen nicht nur

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zwischen Menschen, sondern auch in jedem Menschen. Wenn Viola seufzt, ihrem Glück stehe nichts mehr im Wege als „meine angenommene Männertracht“, so wird auch im Publikum dieser oder jener Mann mitseufzen, dem seine Männertracht darum, weil er ein Mann ist, nicht weniger beschwerlich wird - während Shakespeare gerne daran erinnert, daß nur die Männertracht einer Frau die Bewegungsfreiheit erlaubt, dem Ziel ihrer Wünsche näherzukommen. Sie riskiert ihr Leben dabei – immer wieder das einzige Mittel, ihr Leben zu retten. Neben Shakespeare können unsere Gender-Diskurse einfältig aussehen. Wir bewegen uns in einem vitalen Bereich, in dem ohne Bereitschaft zu Mehrdeutigkeit ebenso wenig auszukommen ist wie in der Kunst: da ist auch die populäre Zweideutigkeit nicht gut genug. Liebe verlangt List, und gerade sie, die wir als unteilbar deklarieren, muß teilen lernen – und es ist dann Glückssache, ob wir beim heiligen Abendmahl ankommen oder beim ordinären Ehebruch. Shakespeare lesen heißt: das eine so wenig für den Weg zum Heil halten, wie das andere für den Inbegriff der Sünde. Beides ist möglich, denn der Mensch, den es als solchen nicht gibt, ist, zu seinem Glück und Unglück, nie zu Ende buchstabiert. Damit sind wir wieder bei Miranda – deren Sprache glücklicherweise auf der Höhe der Menschheit ist: How beauteous mankind is! aber schon ihr nächstes Wort verliert die Unschuld, jedenfalls für unsere Ohren: O brave new world, / That

has such people in`t! Wenn Ihnen dazu Huxley einfällt, wäre es zwar unfein, ihn gegen das glückliche Staunen Mirandas – ihr Name bedeutet: die zu Bestaunende – auszuspielen. Aber die Wirklichkeit entkräftet Huxleys negative Utopie leider nicht, und auch die Bühnenwahrheit nur für die Dauer des Spiels. Als Königin von Neapel wird Miranda im selben Mix von Gut und Böse, Gaunern und Narren zu bestehen haben, den sich ihr Vater an Land gezogen hat. Auch er selbst wir nach dieser Insel nicht wiederzuerkennen sein – oder auch: nur zu gut. Immerhin versenkt er seine Bücher im tiefsten Meer – man muß ihm wünschen, daß in Mailand ein tüchtiger Machiavelli zur Hand ist, der sie ihm ersetzt. Zwar ist sein dritter Gedanke, wie er beteuert, das Grab; den ersten kennen wir schon: die Macht, und der „Sturm“ läßt immerhin hoffen, wenigstens der zweite Gedanke gehe darüber hinaus – um so viel, wie seine Insel von Mailand entfernt war.

12 Aber der „Sturm“ ist ein Märchen, und von ihm erwartet man keine Zukunft, zumal der Satz: „wenn sie nicht gestorben sind, leben sie heute noch“ vollkommen zutrifft. Shakespeares Stücke leben wie am ersten Tag, das heißt: sie stellen unter allen Umständen das Wunder ihrer Gegenwart wieder her. Sie machen uns Lust, Prosperos Fortüne zu feiern, auch wenn die zweite Schöpfung den Hauptknoten der ersten unterschlägt; den Sündenfall gewiß nicht, aber wo bleibt der freie Wille, die Freiheit überhaupt, die zwar aus Menschen Sünder macht, aber auch aus Sündern Menschen? Da ist weit und breit nur einer, der diese Freiheit für sich verlangt: Ariel. Der gute Geist des Spiels will nicht nur zum Dienen geschaffen sein. Then to the

elements / Be free, and fare thou well! Ein bewegender Selbstkommentar des Stücks. Die Kunst muß frei sein, um nicht nur jeden Zweck zu erfüllen, sondern

keinen; alles andere ist keine Kunst. So überholt sich der „Sturm“ am Ende selbst und läßt mit Ariel auch den Zweifel, den es in seinem Kern genährt hat, wieder in die Welt ausfliegen. Die Pandora-Büchse leert sich – was zurückbleibt, ist die Hoffnung – nicht mehr, nicht weniger. Mit den Worten Please you, draw near, verläßt Prospero die Bühne – und die allerletzten werden im Epilog ans Publikum gerichtet, „von Prospero gesprochen“. Für wen spricht er da? Die Versuchung ist groß, „für den Autor“ zu sagen – und zu vergessen, daß es auch dann Rollenprosa wäre. Denn was diese Stimme aufsagt, ist ein Gebet – sogar die Bitte an die Zuschauer, für ihn zu beten:

Zum Zaubern fehlt mir jetzt die Kunst, Kein Geist, der mein Gebot erkennt, Verzweiflung ist mein Lebensend (...) Wo ihr begnadigt wünscht zu sein, Laßt eure Nachsicht mich befrein. „Draw near“ – heftiger, ja desperater ist nie ein Publikum für das project to

please in Anspruch genommen worden – eine Fürbitte, die es nur erfüllen wird, wenn sie bereits erfüllt ist. Daß die Stimme Prosperos daran zweifeln kann, hat etwas un-heimlich Modernes. Deutlicher kann diese Stimme nicht sagen: das

13 Jüngste Gericht über meine Kunst ist der Markt. Damit ist sie auch hier, sozusagen in unserer Mitte, angekommen. Aber sie kommt auch ganz anders an – immer neu, und wie zu ersten Mal. Hören sie darum zum Schluß die Verse, mit denen Prospero seinen Zauber in aller Form zurücknimmt – und bestätigt, in ganz großer Form. (vom Schauspieler zu sprechen)

Ye elves of hills, brooks, standing lakes and groves, And ye that on the sands with printless foot Do chase the ebbing Neptune and do fly him When he comes back; you demi-puppets that By moonshine do the green sour ringlets make, Whereof the ewe not bites, and you whose pastime Is to make midnight mushrooms, that rejoice To hear the solemn curfew; by whose aid, Weak masters though ye be, I have bedimm'd The noontide sun, call'd forth the mutinous winds, And 'twixt the green sea and the azured vault Set roaring war: to the dread rattling thunder Have I given fire and rifted Jove's stout oak With his own bolt; the strong-based promontory Have I made shake and by the spurs pluck'd up The pine and cedar: graves at my command Have waked their sleepers, oped, and let 'em forth By my so potent art. But this rough magic I here abjure, and, when I have required Some heavenly music, which even now I do, To work mine end upon their senses that This airy charm is for, I'll break my staff, Bury it certain fathoms in the earth, And deeper than did ever plummet sound

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I'll drown my book.

Solemn music