Aus dem Schatten ins Licht? Der Kampf der politischen Rechten um die Russlanddeutschen

Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Dossier Aus dem Schatten ins Licht? Der Kampf der politischen Rechten um die Russlanddeutschen Autor: Katharin...
Author: Inken Lang
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Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Dossier Aus dem Schatten ins Licht? Der Kampf der politischen Rechten um die Russlanddeutschen Autor: Katharina Heinrich Redaktion und Regie: Birgit Morgenrath Produktion: DLF 2016 Erstsendung: Freitag, 04.11.2016, 19.15 Uhr

Autorin: Claudia Mischke Sprecher 1: Florian Seigerschmidt Sprecher 2: Joachim Aich

Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ©

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Musik Nordseewellen und O-Ton Tagesschau 1988: „Im Juni wurden die höchsten Aussiedlerzahlen seit 30 Jahren registriert …“

Autorin: Die Tagesschau vor 28 Jahren.

O-Ton Tagesschau: „… Im Lager lassen sich familiengerecht 800 Menschen unterbringen, zur Not auch 1.200. Zurzeit aber sind es 1.600.“

Autorin: Überfüllte Turnhallen. Improvisierte Zeltlager. Die Bilder wirken bekannt. Aber es geht nicht um Kriegsflüchtlinge.

O-Ton Tagesschau: „Mindestens 10.000 mussten in diesem Jahr sogar ganz abgewiesen werden.“

Autorin: Allein in jenem Jahr,1988, kommen 150.000 russlanddeutsche Spätaussiedler aus der Sowjetunion nach Deutschland.

O-Ton Tagesschau: „Mit Notquartieren, vor allem in Turnhallen, will man erreichen, dass sich die Zahl der aufzunehmenden Aussiedler auf über 500 pro Tag steigern lässt. Solche Zeltlager, wie sie in den letzten Tagen auf Eigeninitiative entstanden sind, will man aber auf keinen Fall.“

Autorin: Meine Familie, die 1979 aus der Sowjetunion nach Deutschland gekommen ist, freut sich darauf, unsere Verwandten aus Kasachstan wiederzusehen.

Die Sowjetunion ist 1988 im Begriff sich aufzulösen. Der Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche in Deutschland beschwört eine Willkommenskultur. „Gemeinsam schaffen wir die Integration von Übersiedlern“, sagt er.

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Ein paar Jahre später sind die Russlanddeutschen kein großes Thema mehr. Bis im Sommer 2015 die sogenannte Flüchtlingswelle nach Europa schwappt.

Sprecher 1: Aus dem Schatten ins Licht? Der Kampf der politischen Rechten um die Russlanddeutschen

Dossier von Katharina Heinrich.

Atmo: Demonstration in Berlin „Wie lange noch sollen Eltern morgens ihre Kinder mit Angst aus dem Haus schicken ohne zu wissen, ob sie abends wieder gesund nach Hause kommen…“

Autorin: Januar 2016: Russischsprachige Migranten demonstrieren wochenlang in vielen deutschen Städten. Gegen Flüchtlinge. Immer wieder skandieren die Demonstranten: „Lügenpresse!“ und „Merkel muss weg!“ Die deutsche Öffentlichkeit wundert sich. Meine deutschen Freunde und Bekannten fragen mich: Wie kann es sein, dass eine Migrantengruppe gegen eine andere zu Felde zieht? Warum sind die Russlanddeutschen so nationalistisch? Zum gefühlt einhunderttausendsten Mal in den letzten 30 Jahren muss ich mir anhören, die Aussiedler seien keine „richtigen“ Deutschen. Sie seien nur hier, weil sie deutsche Vorfahren haben, und das sei kein einleuchtender Grund.

Ich wurde in einem Staat geboren, der so nicht mehr existiert. Ein Staat in dem 150 Bevölkerungsgruppen lebten. Wir alle waren sowjetische Bürger - aber Bürger russischer, griechischer, türkischer, koreanischer oder eben deutscher Abstammung. So stand auch in meiner Geburtsurkunde: deutsch. Der sowjetische Staat hat diese ethnischen Unterschiede aufrechterhalten. Mit Kulturförderung oder mit Repressionen, um unter anderem zu betonen, dass sich viele Völker der kommunistischen Idee zugehörig fühlen.

3 In unserer wolgadeutschen Familie kam zu Weihnachten der „Pelznickel“. Im heutigen Franken kennt man ihn noch heute. Er trägt einen Fellmantel und ist eine Mischung aus Nikolaus und Knecht Ruprecht. Unsere Ostereier brachte uns nicht der Osterhase, sondern ein Vogel. Damit er in die Wohnung flattern und die Eier dort verstecken konnte, musste in der Osternacht immer ein Fenster offen stehen. Ich dachte, das wäre typisch Deutsch, denn meine russischen Freunde mussten nicht die Wohnung nach Ostereiern absuchen. In der Muttersprache meiner Eltern und Großeltern konnte ich zwar nur ein einziges Lied singen: „Oh Tannenbaum“. Trotzdem fühlte ich mich deutsch. Und für meine Umgebung war ich allemal „die Deutsche“. Nach der Übersiedlung meiner Familie nach Deutschland habe ich mich deshalb nicht als Migrantin gefühlt. So wie die allermeisten Russlanddeutschen.

Musik: In der Heimat

Autorin: Als ich noch ein Kind war und in der Sowjetunion lebte, besaß mein Großvater ein Tonbandgerät. Sonntags baute er es auf und hörte Lieder.

Manche in seiner wolgadeutschen Mundart, die bei gemeinsamen Abenden mit anderen Deutschen aufgenommen und vervielfältigt wurden. Manche waren Volkslieder, die ich später in Deutschland hörte und wiedererkannte. Auf jeden Fall konnte ich als Kind die Texte nicht verstehen.

Musik: Nordseewellen

Autorin: Als Jugendliche, ab 1979 in Deutschland, habe ich nie gewagt zuzugeben, dass mir ausgerechnet bei diesem Lied, das ich von meinen Großeltern kenne, jedes Mal das Herz aufging.

Welche Ironie. Die Nordseewellen - nichts schien damals weiter entfernt.

Meine Eltern und Großeltern waren Opfer nationalsozialistischer Expansionspolitik: die Sowjets deportierten sie zu Beginn des Zweiten Weltkrieges nach Sibirien. Dort

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mussten alle Russlanddeutschen ab dem 15. Lebensjahr in Arbeitslagern schuften. Nur meine Großmutter mütterlicherseits konnte zu Hause bleiben, weil das jüngste ihrer sechs Kinder erst wenige Monate alt war. Meine Mutter erzählte uns später immer wieder, wie Oma Katharina es geschafft hatte, ohne Mann mit ihren Kindern zu überleben.

O-Ton Maria Heinrich: „Es gab auch manche Tage, wo wir nichts zu essen hatten. Oder die Nachbarn, die Russen haben was geschlachtet oder so und haben dann Blut gebracht. Oder hat die Mutter auch mal den Kadaver ausbuddeln müssen, weil der Weitverwandte ihr gesagt hat: ‚Ein Lämmchen ist eingegangen und da und da liegt das, ich habe es nur bedeckt, zugedeckt oder begraben, ganz wenig Erde drauf. Kannst dir holen und hast dann für die Kinder ein bisschen was Fleisch.“

Sprecher 1: Als die Deutschen den Westen der Sowjetunion überfallen hatten, deportierten sie auch die dortigen Russlanddeutschen - nach Polen. Dort wurden sie als so genannte „Volksdeutsche“ mit Misstrauen betrachtet. Nazi-Ärzte führten rassische Selektionen durch. Erst nach einer Umerziehung sollten sie „eingedeutscht“ werden können. Nach Kriegsende aber holte die siegreiche Rote Armee die Russlanddeutschen aus Polen und verfrachtete sie auf direktem Wege nach Sibirien. Aber als ihre Verbannung in den 1960er-Jahren offiziell beendet war, blieb ihnen die Rückkehr in ihre früheren Wohngebiete verwehrt. Selbst im europäischen Teil der Sowjetunion durften sie sich nicht ansiedeln.

Autorin: Deshalb bin ich zum Beispiel im mittelasiatischen Kirgistan geboren, wohin meine Eltern von Sibirien aus gezogen waren.

Musik: Wo die Nordseewellen

Autorin: Die Russlanddeutschen fühlen sich bis heute als Bürger, die von verschiedenen Machthabern im Zweiten Weltkrieg vertrieben und deportiert wurden, eben weil sie

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Deutsche waren. Und gleichzeitig misstrauisch beäugt, als könne man ihrem Deutschsein nicht trauen. Das hat diese Volksgruppe geprägt.

Sprecher 1: Immerhin nahm die Bundesrepublik sie ab 1960 auf, als eine Art Wiedergutmachung für das erlittene Unrecht. Doch die Sowjetunion ließ sie nicht gehen. Bis zu ihrem Zusammenbruch kamen nur einige 100 Aussiedler jährlich in die Bundesrepublik Dann schnellte ihre Zahl in die Höhe. Inzwischen leben 2,5 Millionen Russlanddeutsche in Deutschland.

Autorin: Für ihr historisch begründetes Selbstverständnis aber hat die aufnehmende Gesellschaft wenig Verständnis, sogar kein Interesse, sagt Viktor Krieger vom Osteuropa-Institut an der Universität Heidelberg. Wenn zum Beispiel deutsche Mitbürger ihnen vorhalten

O-Ton Krieger: „Ja gut, vergessen Sie das Ganze, Sie sind nur hier jetzt und dann zählt nur das. Was Sie da früher dort gehabt haben, überhaupt interessiert niemanden. Oder Erlebnisse im Stalinismus. Wenn wir sehen, dass in der Schule mit kein einziges Wort, ihr Leben überhaupt erwähnt wird, obwohl vielerorts in den Schulen ist die Zahl der russlanddeutschen Kinder im zweistelligen Bereich. Kaum jemand spricht darüber, über ihre Geschichte, die Geschichte ihrer Großeltern. Das heißt die Leute haben das Gefühl, dass sie einfach ignoriert werden.“

Sprecher 1: 2008 wollte man dies in Nordrhein-Westfalen ändern. Der Schöningh Verlag nahm in das Geschichtsbuch für die achte Klasse der Realschulen die Geschichte der Russlanddeutschen auf. Aber wie? Der Text erweckte den Eindruck, die Russlanddeutschen hätten im Zweiten Weltkrieg mit der SS paktiert und von der Besetzung durch die Wehrmacht profitiert. Erst nach einem Gutachten des Historikers Alfred Eisfeld zogen Schulministerium und Schulbuchverlag dieses Geschichtsbuch wieder aus dem Verkehr. Bereits diesen Fall nutzten rechtsextreme

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russlanddeutsche Aktivisten für sich aus. Sie organisierten Proteste und versuchten ihre Landsleute in Stellung zu bringen

Musik: Nordseewellen

Autorin: Albert Funk ist einer meiner Cousins. Er hat es geschafft: Aufnahmelager Sozialwohnung - Eigentumswohnung - Reihenhaus. Alles gebaut oder renoviert mit Hilfe der Großfamilie und seiner russlanddeutschen Freunde. Die Nachbarn zur Rechten sind polnische Aussiedler, zur Linken einheimische Deutsche. In Alberts Wohnzimmer sitzen wir auf einer ausladenden weißen Ledercouch. Seine Familie hatte 1988 als letzte unserer Sippe die damalige Sowjetunion verlassen. Dabei hatten seine Eltern 30 Jahre zuvor als erste von uns einen Ausreiseantrag nach Deutschland gestellt, schon vor Alberts Geburt. Bei seiner Ankunft war er 27 Jahre alt und bereits zweifacher Vater. Das Einleben fiel ihm nicht schwer, trotz der Steine, die ihm die Gesellschaft in den Weg legte.

O-Ton Funk: „Ich wurde selber als Elektriker nicht anerkannt, ich habe nach zwei Wochen genauso gearbeitet wie die. Allgemein hat man versucht, auszubeuten in dem Sinne, dass man sagt: Okay, du hast […] viel höhere Ausbildung, aber man hat weniger gegeben. Ja klar, kann man auch verbittert sein, aber das ist nicht mein Thema.“

Autorin: Alberts Vater war Ukraine-Deutscher. Als die Wehrmacht die Ukraine besetzte, wurden er und sein Bruder von den Deutschen eingezogen. Der Bruder fiel bei Berlin, Alberts Vater kam in russische Gefangenschaft, wo er zehn Jahre im Arbeitslager verbringen musste. Nach seiner Entlassung stellte er seinen ersten Ausreiseantrag. Erst in Sibirien, dann in Tadschikistan, dann in Kasachstan. Jedes Jahr einen. 30 Jahre lang. Albert erzählt, er habe sein ganzes Leben lang auf gepackten Koffern gesessen. Das habe ihn flexibel gemacht und seinen sozialen Aufstieg begünstigt, meint er.

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O-Ton Funk: „Wenn man unter Druck ist, dann soll man Kopf einschalten. Und wenn du gut bist, dann kriegt man dich nicht unter.“

Autorin: Also hat mein Vetter seinen Kopf eingeschaltet, Deutsch gelernt, ein zweites Mal eine Lehre als Elektriker gemacht und sich durchgebissen.

Die ersten 15 Jahre hat Alberts Familie sehr bescheiden gelebt. Aber beide Töchter haben Ausbildungen absolviert und studiert. Beide haben Kinder mit Ehemännern, deren Familien aus Deutschland stammen. Albert schaut nur deutsches Fernsehen und geht regelmäßig zur Wahl:

O-Ton Funk: „Meine Bekannten und Freunde meistens gehen schon wählen, aber ist auch schon dabei die Politikverdrossenen. Kann ich sehr, sehr gut verstehen. Ich sage immer: Wenn du meckerst, dann geh‘ mindestens Kreuzchen machen. Ansonsten, wenn du nur meckerst und zu faul, Kreuzchen zu machen, dann brauchst du nicht zu meckern, dann nimm das, was du kriegst.“

Autorin: Albert ist abgesehen von meiner Mutter der einzige meiner Verwandten, der mir ein Interview geben wollte, aber nur unter falschem Namen. Die anderen Verwandten wollten entweder nicht auffallen oder sie hatten kein Vertrauen zur Presse. Albert hat auch dafür Verständnis:

O-Ton Funk: „Zur jetzigen Zeit Berichte über AfD, über Russland, über alles, was ein bisschen nationalistisch, ein bisschen stolz, deutsch zu sein oder in die Richtung. Alles wird […] ziemlich brutal direkt in die rechte Ecke gestellt und […] dabei ist die Methode, nur einen Satz rauszuholen: Der und der hat das und das gesagt, fertig. Wird nicht kompletter Satz oder wird nicht komplette Rede, sondern nur ein Satz raus geschnitten: Aha, passt, wunderbar, guck mal, alle rechts, alle links oder was weiß ich da, und dann drauf gehauen und so weiter.“

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Autorin: Wissenschaftliche Untersuchungen über die politischen Vorlieben der Russlanddeutschen gibt es nicht. Nach meinen Recherchen zeigt sich folgendes Bild: Die Älteren sind konservativ und wählen entsprechend. Deutsch-russische Familien, die noch enge familiäre Bindungen nach Russland pflegen, wählen seit der UkraineKrise eher die Linken. Die Jüngeren, in Deutschland Sozialisierten wählen häufig die Grünen, die SPD und die FDP. Meine Eltern machen ihr Kreuzchen seit 1980 bei der SPD.

Mein in der Sowjetunion aufgewachsener Cousin Albert gab immer der CDU die Stimme. Bis 2016. Da wählte er bei den Landtagswahlen in Rheinland Pfalz die AfD. Ursache dafür, so Albert, seien Angela Merkels offene Flüchtlingspolitik und die Ereignisse in der Silvesternacht in Köln gewesen.

Atmo: Restauranträume im Hotel

Autorin: Einen russlanddeutschen Aktivisten der AfD treffe ich in einem Hotel bei Köln. Eugen Schmidt ist Informatiker.

O-Ton Schmidt: „Wie viele andere Russlanddeutsche war ich nie politisch aktiv. Es ist nur, die Situation mit Merkel-Regierung hat uns bewegt, hat uns politisch aktiv gemacht und wir haben dann praktisch umgeschaut und gesehen, dass die anderen Parteien alle nach links gerutscht sind und wir sind irgendwo in der Mitte geblieben und haben dann natürlich auf eine Alternative, auf neue Partei gesucht.“

Autorin: Eugen Schmidt lebt seit 16 Jahren in Deutschland. Zunächst wählte er die AfD, weil er mit der Eurorettung in Griechenland nicht einverstanden war. Inzwischen gehört er zum Arbeitskreis „Russlanddeutsche in der AfD“ und postet für die Partei in deutschen und russischen sozialen Netzwerken. Auch er macht sich seit der Kölner Silvesternacht Sorgen um die Sicherheit seiner drei Kinder. Auch wenn er zugeben muss, dass er bis jetzt in Hürth, einer Kleinstadt bei Köln, persönlich keine Übergriffe

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von Flüchtlingen erlebt hat. Auch seine Freunde nicht. Dennoch machten Gerüchte über Übergriffe der Migranten immer wieder die Runde, erzählt Eugen Schmidt. Möglicherweise sind Russlanddeutsche von Ängsten aus der Zeit der Perestroika geplagt, als das ganze geordnete System Sowjetunion plötzlich verschwand.

12. O-Ton Schmidt: „Ich habe den ganzen Chaos erlebt, was mit dem UdSSR-Zusammenbruch bei uns in meiner Heimatstadt passiert hat, dass plötzlich von einem Tag auf anderen gar kein Staat mehr existierte, die politischen Funktionäre sind ganz plötzlich Oligarchen geworden. Es gab keinen Rechtsstaat mehr, die Banditen haben überall was zu sagen, und wenn du irgendwo Probleme hattest, solltest du einfach mal mit Banditen kommunizieren.“

Musik: Nordseewellen

Autorin: Auf der Suche nach weiteren Erklärungsversuchen für die flüchtlingsfeindliche Einstellung vieler meiner Landsleute rufe ich Jannis Panagiotidis an, Professor für russlanddeutsche Migration und Integration an der Universität Osnabrück. Auch er erinnert an den Zusammenbruch der UdSSR und die negativen Erfahrungen der Aussiedler mit den Verteilungskämpfen zwischen unterschiedlichen Ethnien in Kasachstan und anderen mittelasiatischen Republiken:

O-Ton Panagiotidis: „Ich meine, man muss es natürlich zum einen im Hinterkopf haben, dass die Sowjetunion ja kein multikulturelles Paradies in diesem Sinne war, sondern dass insbesondere in der Spätphase der Sowjetunion und nach der Unabhängigkeit der mittelasiatischen Staaten es dort ganz massive Ressourcenkämpfe im Endeffekt gab, die unter ethnischen Vorzeichen ausgetragen wurden, und das sind natürlich Erfahrungen, die zumindest einen Teil dieser Gruppe auch prägen, für die sich im Grunde gezeigt hat, […] dass nationale Zugehörigkeit Lebenschancen ganz massiv prägen kann.“

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Autorin: Bei manchen Russlanddeutschen wecken die Flüchtlinge aus Syrien und anderen muslimisch geprägten Ländern alte Verdrängungsängste. Viele erinnern sich zudem an ihre Diskriminierung in Deutschland in den 1990er-Jahren. Alfred Eisfeld, Russlanddeutscher und Historiker am Nordost-Institut in Hamburg spricht aus, was viele Aussiedler nur untereinander zu sagen wagen. Die Bundesregierung habe, so Eisfeld…

O-Ton Eisfeld: „… einerseits ein Gesetz über die Kriegsfolgenbereinigung in Kraft gesetzt […] man wollte ja einen Strich ziehen unter diese Opfergeschichte, andererseits war der Staat aber nicht willens, nicht bereit, dafür die erforderlichen Ressourcen zur Verfügung zu stellen [...] Aussiedler haben ja in den ‘90er-Jahren selbst erlebt, wie man sie nach Kassenlage behandelt hat, das klingt hart, aber so war es.“

Autorin: Damals versuchte die Bundesregierung den Strom der Aussiedler zu regulieren und führte - ohne große gesellschaftliche Diskussion - Obergrenzen für die Zahl der Einreisenden ein, wies ihnen den Wohnort zu und erschwerte den Familiennachzug. Viele Aussiedler siedelte man in den neuen Bundesländern an, wo die Ostdeutschen gerade Richtung Westen abgewandert waren.

Sprecher 1: Die Bundesregierung führte einen Sprachtest ein, obwohl allgemein bekannt war, dass die Russlanddeutschen gerade durch die Verfolgung im und nach dem Krieg ihre Muttersprache verloren hatten. Andererseits wurde vielen Einreisewilligen, die Hochdeutsch sprachen, die Anerkennung als Aussiedler verwehrt. Man unterstellte ihnen, die Sprache nicht im familiären Umfeld gelernt zu haben. Akademische Abschlüsse der Russlanddeutschen wurden nicht ohne Weiteres anerkannt. Aussiedler, die älter als 50 Jahre waren, und deren nicht-deutsche Familienangehörige bekamen weder Sprachförderung noch Arbeitsmarktförderung, erzählt Alfred Eisfeld:

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O-Ton Eisfeld: „Diese Einschränkungen haben Aussiedler ja selber erlebt und ihnen war klar, dass Kosten, die für die Integration von Flüchtlingen aufzubringen sein werden, an anderer Stelle fehlen werden. Das sind Erklärungsversuche, die ich selber auch aus vielen, vielen Gesprächen so aufgenommen habe.

Autorin: Viele ältere Aussiedler haben heute so geringe Renten, dass sie auf staatliche Sozialhilfe angewiesen sind. So können sie den Eindruck bekommen, ans Ende der Schlange geschoben zu werden. Mehr noch, nicht gewollt gewesen zu sein. So wie dieser Russlanddeutsche aus dem Berliner Stadtteil Marzahn-Hellersdorf in einem Tagesschaubericht:

O-Ton Tagesschau: „Wir sind gekommen, wir waren nicht willkommen. Wirklich, überall, überall, wo ich bei Beamten rein, musste ich mich erst durchkämpfen.“ „Und Sie glauben, dass die Flüchtlinge, die jetzt kommen, dass die nicht so viel kämpfen müssen, wie Sie damals?“ „Ich glaube, die wollen auch nicht kämpfen.“ Autorin: Möglicherweise treiben auch solche Ungerechtigkeiten die Menschen in die Arme der Rechten. Zumal sie aus der eigenen Mitte kommen. So wie Heinrich Groth, Vorsitzender des „Internationalen Konvents der Russlanddeutschen“, der die erste Berliner Anti-Flüchtlings-Demonstration Ende Januar 2016 angemeldet hatte. Ein Protest gegen die angebliche Vergewaltigung eines Mädchens, die sich später als unwahr herausstellte. Aber die Geschichte fiel auf fruchtbaren Boden. Sie passte zu gut ins Opfer-Schema: Flüchtlinge, die angeblich ein russlanddeutsches Mädchen missbrauchten, deutsche Behörden, die das angeblich vertuschten, Medien, die es angeblich herunterspielten.

O-Ton Berliner Demo: „Uns alle hat hier zusammengebracht der brutale Fall mit der Berliner Schülerin Lisa, 13jähriges Kind, die hier vergewaltigt war vor kurzer Zeit. Aber nicht nur dieser Einzelfall. Sonst die ganze Lage, die ganze Lage, die wir die letzte Zeit hier in

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Deutschland beobachten müssen. Besonders, besonders seit der Silvesternacht in Köln [...].“

Autorin: Heinrich Groth aus Berlin. In Nordrhein-Westfalen machen - zwei weitere rechtsextreme russlanddeutschen Aktivisten, Johann Thießen und Andrej Triller, viel

Aufhebens. Sie haben ihre Bedeutung mit Vereinen aufgepumpt und ganze sechs rechte Organisationen gegründet. Neben Groths „Internationalem Konvent der Russlanddeutschen“ die „Schutzgemeinschaft Deutscher Heimat der Deutschen aus Russland“, „Die National-Konservative Bewegung der Deutschen aus Russland“, „Die Russlanddeutschen Konservativen“, den „Freundeskreis der Russlanddeutschen Konservativen“ und die Partei „Arminius Bund des Deutschen Volkes“.

Sprecher 1: Heinrich Groths Konvent hat gerade mal 30 Mitglieder, allesamt ältere Männer. Aber sein Versuch, 2006 mit den Stimmen der Spätaussiedler in die Berliner Bezirksvertretung in Marzahn-Hellersdorf einzuziehen, scheiterte. Von den dort lebenden 30.000 Spätaussiedlern erhielt Groth gerade mal magere 500 Stimmen. Auch Thießen und Triller in Nordrhein-Westfalen haben nur wenig Erfolg. Bei den Kommunalwahlen im Mai 2014 im Kreis Düren und im Oberbergischen Kreis erhielten sie lediglich 0,2 und 0,1 Prozent der Aussiedler-Stimmen. Auf der Internetseite der Partei „Arminius Bund des Deutschen Volkes“ zieht Johann Thießen ernüchtert Bilanz:

Sprecher 2: „Die Wähler, auf die wir die größte Hoffnung gesetzt hatten, haben uns zu dem Erfolg nicht verholfen. Die Russlanddeutschen in breiter Masse haben wieder ihre Passivität gezeigt, sind zum großen Teil einfach nicht zur Wahl gegangen. Später habe ich von einigen Leuten, die über uns, unsere Partei und deren Ziele wussten, erfahren, dass sie nicht die Zeit ‚gefunden‘ haben, zu den Wahllokalen zu gehen. Es tut Not, darüber sich Gedanken zu machen, wie man diese Bevölkerungsschicht aktivieren kann.“

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Autorin: Unbestritten stehen Aktivisten wie Thießen dem deutschen rechtsextremen Spektrum und der NPD nahe, genauer: einzelnen Akteuren der rechten Szene. Denn in der NPD sind die Russlanddeutschen nicht voll akzeptiert. Als zum Beispiel der NPD-Kreisvorsitzende in Düren seinerzeit Thießen als parteilosen Kandidaten in die Reserveliste aufnahm, musste er sich bei seinen Parteimitgliedern in einem Schreiben dafür rechtfertigen:

Sprecher 2: „Viele Bürgerinnen und Bürger waren im ersten Augenblick nicht imstande unsere Intention, russlanddeutsche Aussiedler bei der Eingliederung in die Gemeinschaft des Deutschen Volkes zu unterstützen, richtig zu deuten. Ihr erster Gedanke ging gleich in Richtung ‚Russen-Mafia’. Durch viele Gespräche mit interessierten und besorgten Bürgern gelang es uns allerdings deutlich zu machen, dass die kriminelle sogenannte ‚Russen-Mafia’ nichts mit unseren russlanddeutschen Kameraden gemein hat und wir ein verbrecherisches Klientel nicht in Deutschland dulden wollen.“

Autorin: Die Gesamt-NPD hält weiter Abstand. Auf Nachfrage bestätigt der Parteivorstand, derzeit gebe es keinen Arbeitskreis von Russlanddeutschen in der Partei. Der Historiker Alfred Eisfeld vom Nordost-Institut der Hamburger Universität erklärt:

O-Ton Eisfeld: „Bei der NPD war es so, dass die selber eine deutliche Distanz gegenüber den Russlanddeutschen aufgebaut hat. Also, das waren keine richtigen Deutschen. Die waren ja ‚verrusst’, das waren Ivans, die haben ja nicht richtig deutsch gesprochen.“

Autorin: Die heutige NPD scheint zu glauben, dass die während des Nationalsozialismus begonnene ‚Umerziehung’ und sogenannte ‚Eindeutschung’ der Russlanddeutschen nicht gefruchtet hat. Geschichtsbewusste Russlanddeutsche wie meine 76jährige Mutter stellen denn auch die NPD in einen ganz anderen geschichtlichen Zusammenhang.:

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O-Ton Maria Heinrich: „Ich meine, die Leute sind einfach verrückt, dass sie so was wählen. Weil wenn man zurückblickt in den Zweiten Weltkrieg, was sie angestellt haben, dann würde ich nie im Leben die wählen.“

Autorin: Deutsch, halbdeutsch, russlanddeutsch … anders als bei der NPD spielen solche Zuschreibungen bei der AfD keine große Rolle. Die Partei schickte bei den Landtagswahlen 2016 in Baden-Württemberg gleich zwei Kandidaten aus der russischsprachigen Community ins Rennen. Die AfD wirbt mit russischen Flyern und hat in Berlin-Brandenburg das Parteiprogramm ins Russische übersetzt. Für Teile der Aussiedler ist sie wegen ihres russlandfreundlichen Kurses attraktiv. Besonders bei denen, deren Verwandte in Russland leben. Wer möchte schon einen Konflikt zwischen seinem Land und dem Aufenthaltsland seiner Familie haben. Aber auch die AfD ist weit davon entfernt, die Russlanddeutschen als Mitwirkende in ihrer Partei zu akzeptieren, sagt Alfred Eisfeld vom Nord-Ost Institut in Hamburg:

O-Ton Eisfeld: „Wählerstimmen ja, das mag jede Partei. Aber eine Einbeziehung der Russlanddeutschen in ihre Führungsgremien, in ihre Kandidatenlisten, sehe ich nicht. Das ist eine marginale Erscheinung, wenn mal bei Wahlen auf kommunaler Ebene jemand auf Platz 25 oder 33 gesetzt wird ohne jegliche Aussicht, jemals ein Mandat zu kriegen.“

Autorin: Wo etablierte Parteien versagen, punkten die anderen. So wie Dmitri Rempel, früher Mitglied der nordrhein-westfälischen SPD. Er hat in Köln eine Migrantenpartei gegründet. Sie heißt „Die Einheit,“ zu Russisch Edinstwo. So nennt sich auch ein Netzwerk russischsprachiger Migranten und deren Wählerliste, mit deren Hilfe Rempel in den Integrationsrat der Stadt Köln gewählt wurde. Inzwischen ist ein anderes Mitglied seiner Partei im Integrationsrat aktiv.

Atmo: Straße Atlant

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Autorin: Rempel empfängt mich in Köln-Niehl in den Räumen des Aussiedlervereins „Atlant e.V.“, der als Jugendhilfeverein anerkannt ist und nach eigenen Angaben die Wählerliste Edinstwo koordiniert hat. Ob der gemeinnützige Verein auch die Partei „Die Einheit“ koordiniert, bleibt im Gespräch offen. Ob man „die Einheit“ rechtsgerichtet nennen kann, auch. Geschickt weicht der Politiker eindeutigen Fragen aus und bleibt mit seinen Antworten im Vagen. Berührungsängste gegenüber Rechtspopulisten kennt Rempel jedenfalls nicht.

O-Ton Rempel: „Aber was heißt rechtspopulistisch? Wer entscheidet das?“

Autorin: Auf seiner Seite im russischen Internet postet der Politiker Texte aus der Jungen Freiheit, einer Wochenzeitschrift der Neuen Rechten. Oder Texte des Kopp-Verlags, der für rechte Esoterik und Verschwörungstheorien bekannt ist. Seine Leser sollen selbst entscheiden, ob die Inhalte auf seiner Seite rechts oder links sind, findet Rempel.

O-Ton Rempel: „Wenn wir da einen Link weitergeben so was, dass die dann selbst auf die Seite schauen können und dann für sich selbst entscheiden können, ob das links oder rechts ist. Das heißt nicht so was , dass wir das irgendwie verheimlichen, woher wir das alles haben so was. Da steht immer ein Link so was, wo die dann auf den klicken können und dann schon Mal die Internetseite anschauen können zu wem das alls mal gehört. Deswegen so was, da sehe ich mal absolut kein Problem.“

Sprecher 1: Das Parteiprogramm der Partei „Die Einheit“ enthält Forderungen nach MindestQuoten für Migranten in allen staatlichen Strukturen, Zwangsbehandlung von alkohol- und drogenabhängigen Sozialhilfeempfängern und das Absenken der Strafmündigkeit für Kinder auf 12 Jahre. Letzteres taucht mittlerweile auch im

16 Programmentwurf der AfD auf. Obwohl „Die Einheit“ für ein Verbot von extremen rechten und linken Parteien eintritt, fischt sie regelmäßig am rechten Rand. Im Frühjahr trat Dmitri Rempel auf zahlreichen Demonstrationen der russischsprachigen Migranten gegen Flüchtlinge auf.

Atmo: Demo/ Rempel

Autorin: Zum Beispiel im hessischen Offenbach. Auch bekannte Vertreter von Pegida und NPD nahmen an solchen Demonstrationen teil. Mit ihrem Namen erinnert „Die Einheit“ an die Putin-Partei „Einiges Russland“. Finanzielle Verbindungen nach Russland streitet Dmitri Rempel ab. Auch wenn der ehemalige Beauftragte für Spätaussiedlerfragen, Christoph Bergner im Deutschlandfunk sagte:

O-Ton Bergner: „In diesem konkreten Fall rechne ich mit einem relativ starken Einfluss. Alle Hinweise und Indizien, die wir dafür haben, sprechen dafür, dass es hier eine unmittelbare Unterstützung gibt.“

Autorin: Die Verbindung zwischen den Parteien scheint sogar sehr eng zu sein. Im Baden-Württembergischen Ludwigsburg ist „Die Einheit“ unter der gleichen Adresse zu erreichen wie die „Russlanddeutschen Wölfe“ und der Kampfsportverein „Systema Akademie“. Die „Russlanddeutschen Wölfe“ stehen den russischen „Nachtwölfen“ nahe, einer von Präsident Putin anerkannten Rockergruppe, die sich offen zu ihrem kriegerischen Engagement in der Ukraine bekennt. Bei den Kampfsportlern der „Systema Akademie“ soll laut Vermutungen des BND einer der russischen Militärdienste neue Informationsquellen rekrutieren. In den 2000er-Jahren soll ein Dmitri Zaiser in der sogenannten „Sonderoffiziersgruppe, Berlin, Deutschland“ tätig gewesen sein. Zaiser ist auch Mitglied in Rempels Partei. Den Vorsitzenden aber stören die Aktivitäten seines Partners nicht.

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O-Ton Rempel: „Ich kenne ihn als Person und kenne ich auch mal ganz gut und ich finde auch [...] ganz toll, was er macht, was er dann auch mal mit Russlanddeutsche Wölfe macht, dass die jetzt auch mal Kinderprojekte organisieren, dass die Jugendprojekte organisieren, dass die auch mal die Jugendlichen trainieren lassen.Und das sind mal nicht mal nur die Russlanddeutschen.“

Autorin: Auch Dmitri Rempel will in Jugendarbeit investieren. Mit Sport sollen die Jugendlichen in seine Partei gelockt werden:

O-Ton Rempel: „Klar selbstverständlich haben wir auch mal die Jugendlichen und wir gewinnen die auch mal nicht direkt an die Politik, sondern zuerst mal mit irgendwelchen Aktionen, Kultur, Sport, irgendwelche Reisen. Wenn wir direkt mal über die Politik sprechen, es gibt mal sehr wenige, die sich mit 16, mit 18, mit 20 an die Politik mal Interesse denn haben, aber wenn wir dann darüber sprechen: Ja, willst du mal Sport treiben?“

Autorin: Dann hat Rempel die jungen Leute erst mal „am Haken“. Allerdings treibt ihn zurzeit neben fehlendem Sportinventar und Fördergeldern für seine Idee ein großes Problem um:

O-Ton Rempel: „Aber wenn wir heutzutage auch mal darüber sprechen so was, dass viele Sportorganisationen nicht mehr existieren, weil die Sporthallen von Flüchtlingen besetzt sind, dann dürfen die dann auch mal nicht mehr rein [...] Es gibt mal viele Probleme [...] und es ist alles mit der Politik verbunden so was.“

Autorin: „Die Einheit“ hat nach seinen Angaben 400 Mitglieder. Dem größten Verein der Russlanddeutschen hingegen, der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, gehören 30.000 Aussiedler an. Führende Mitglieder kamen aus der politischen Mitte, vor allem aus der CDU und der SPD.

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Musik: Nordseestrand

Autorin: Es deutet sich ein Wandel bei den Russlanddeutschen an. Nachdem sich die erste Generation beruflich und wirtschaftlich etabliert hat, strebt die nächste Generation die gesellschaftliche Integration an. Meine Landsleute sind auf der Suche nach politischem Engagement und Alternativen zum politischen Mainstream: Und diese Alternativen müssen nicht AfD heißen. Jannis Panagiotidis, Professor für Russlanddeutsche Migration und Integration in Osnabrück:

O-Ton Panagiotidis: „Zum Beispiel die Kommunalwahl in Niedersachsen jetzt, die verkompliziert das Bild nach meiner Ansicht deutlich. Hier wurden in den nordwestlichen Landkreisen, also Osnabrück, Oldenburg, Cloppenburg, Vechta, wo es viele Russlanddeutsche gibt, weniger AfD gewählt als im Rest des Landes, stattdessen gab es hier Überraschungserfolge beispielsweise der Linken in Quakenbrück, wo der Russlanddeutsche Andreas Maurer kandidierte, oder der Zentrumspartei in Molbergen, wo Nadja Kurz gewählt wurde, das legt für mich die Vermutung nahe, dass Russlanddeutsche wie viele andere Deutsche politische Alternativen suchen, aber diese sind nicht zwangsläufig die AfD.“

Autorin: Andreas Maurer von der Linken hat bei den Kommunalwahlen am 11. September dieses Jahres 21 Prozent der Wählerstimmen bekommen. Auf seiner Facebookseite. postet Maurer Bilder aus seinem Gemüsegarten, besucht Betriebe in der Region, verschenkt am Weltfrauentag Blumen an Mitarbeiterinnen eines ansässigen Baumarktes. Der fünffache Vater war früher in der CDU aktiv. Er ist in der russlanddeutschen Community stark verwurzelt. Viele suchen Rat bei ihm. Dann hilft er beim Ausfüllen von Formularen, beantwortet Fragen zur Rente, gibt Ratschläge für die Schulwahl. Bei diesen Kommunalwahlen allerdings, so glaubt Andreas Maurer in einem Telefonat, erhielt er so starke Zustimmung aus einem weiteren Grund:

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O-Ton Maurer: „…ich war auf der Krim und das Thema Russland, Freundschaft zu Russland, Beziehungen zu Russland zu vertiefen, das ist kein kommunales Thema, aber das ist das Thema, wo die Menschen bewegt und ich glaube, das hat auch noch dazu beigetragen, dass Ergebnis besser wurde wie letztes Mal.“

Autorin: Bei seinen Besuchen in Russland und auf der Krim traf sich Andreas Maurer mit russischen Politikern und trat in der Talkshow von Wladimir Solowjew auf, Russlands bekanntestem TV-Moderator und Anhänger von Putins Politik.

Atmo: TV-Auftritt Maurers auf Russisch

Autorin: Dort behauptete Maurer „mehr deutsche als russische Firmen“ hätten durch die Wirtschaftssanktionen gelitten. Und das deutsche Volk sei gegen die Wirtschaftssanktionen der Kanzlerin. Im Gespräch verneint Andreas Maurer, dass er mit solchen Auftritten russischer Propaganda dienen könne. Er findet, der russische Staatssender berichte objektiv über die politische Weltlage.

Sprecher 1: Russlanddeutsche sind also oft gespalten in ihren politischen Ansichten: pro oder contra rechts, pro oder contra Flüchtlinge, und pro oder contra Putin. Das ist die dritte Dimension ihrer politischen Selbsteinordnung.

Autorin: Inzwischen sprechen Politologen offen von einem hybriden Krieg, den die russische Regierung über das Fernsehen und das Internet führe. Der Politologe Felix Riefer, Doktorand an der Kölner Universität, zitiert dafür vor allem die halbstaatliche Stiftung „Russkij Mir“, zu deutsch „Russische Welt“. Sie stehe dafür,

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O-Ton Riefer: „dass, ein Teil der russischen Außenpolitik darauf basiert, russischstämmige oder russischsprechende Menschen für ihr sogenanntes ‚Russkij Mir‘, die russische Welt, zu gewinnen.“

Sprecher 1: „Russkij Mir" wurde 2007 durch einen Erlass Präsident Putins gegründet. Im Kuratorium der Stiftung sitzen unter anderem Außenminister Sergej Lawrow und Kulturminister Wladimir Medinskij. Zu ihren Zielen zählt die Stiftung „Russkij Mir“ neben der einer russlandfreundlichen öffentlichen Meinungsbildung die Verbreitung vermeintlich „richtiger“ Information über Russland.

Autorin: Im Gegensatz zu den deutschen Goethe-Instituten in allerWelt will „Russkij Mir“ nicht nur russische Kultur im Ausland präsentieren und Sprachkurse durchführen, sondern Indoktrination betreiben, sagt Historiker Alfred Eisfeld:

O-Ton Eisfeld: „Dadurch auch einen Keil in die westliche Wertegemeinschaft zu treiben, indem man einen Gegensatz zwischen Russland und den USA aufbaut und vergrößert, und immer wieder wird ja betont, dass Russland und Deutschland gemeinsame Interessen hätten, die sich deutlich von der imperialistischen Politik der USA unterscheiden würden. Also, man versucht, den Anschein zu erwecken, dass Russland quasi die Funktion einer Schutzmacht für den armen Europäer wahrnimmt.“

Autorin Der „hybride Krieg“ sät Streit unter den russischsprachigen Migranten. Auch in meiner Großfamilie. Nach einigen Streitigkeiten über die Ukraine, Putin und die Wirtschaftssanktionen versuchen wir nun bei Familientreffen politische Themen auszublenden.

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Atmo: Rede Putins auf einem Kongress

Autorin: Weltkongress von Sootechestvenniki, zu deutsch „Landsleute, in Moskau vor einem Jahr. Einer persönlichen Stiftung des Präsidenten, die sich auf das ganze internationale Netz der russischen diplomatischen Vertretungen stützen kann. Wladimir Putin begrüßt russischsprechende Migranten aus der ganzen Welt. In seiner Rede verspricht er russische Landsleute überall auf der Welt zu beschützen. Als Russlanddeutsche gehöre ich wohl dazu. Aber das Letzte, was ich möchte, ist es von einem anderen Staat als Deutschland beschützt zu werden.

Die Jugendlichen rollen nochmals die Ereignisse um das angeblich von Flüchtlingen vergewaltigte Aussiedler-Mädchen in Berlin auf. Vitali erzählt, dass in seinem Freundeskreis in Essen heftig darüber diskutiert worden ist. Über Whatsapp wurde die Stimmung angeheizt und zu einer Demo in Essen aufgerufen. Die Freunde waren erschüttert. Aber sie diskutierten. Erst nach langem Hin und Her entschieden sich die meisten gegen die Teilnahme an den Protesten und dafür, erst weitere Nachrichten abzuwarten. Am Ende, sagt Vitali, waren alle froh, dass sie nicht auf die Provokation hereingefallen sind.

Die Jugendlichen hier verbindet ihre russlanddeutsche Herkunft. Aber sonst ist die Gruppe bunt zusammengewürfelt. Hier diskutieren Studenten mit Lehrlingen und Schülern, die sonst jeweils unter sich bleiben.

Für die nächste Tagung werden heute verschiedene Themen abgesteckt. Die Jugendlichen melden an, worüber sie beim nächsten Mal diskutieren wollen:

O-Ton: „Also ich muss sagen, dass zum Beispiel die Problematik, die gestern angesprochen wurde, Fremdenfeindlichkeit. Und genauso, die Vorurteile, dass… Ich finde, das ist ein total aktuelles Thema, was ich total beunruhigend finde. Beziehungsweise [...] ich nicht verstehe. Weil, man kann es aber nicht verstehen.“ „Jessika?“

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„Es gab ja auch viele Anschläge auf Asylantenheime auch, es wurden ja teilweise welche abgebrannt, einfach nachts oder so. Und ja, dass man das vielleicht nochmal anspricht.“ „Erik?“ „Ja, weil du das angesprochen hattest mit den Hintergründen und den Medien, vielleicht auch mal als Thema Medienkompetenz, also mit welchen Medien man sich hauptsächlich auch im Alltag zum Beispiel auseinandersetzt. Wie informiere ich mich richtig über bestimmte Themen und, ja, was kann ich haltaussortieren [...], was muss ich wissen.“

Autorin: So unterschiedlich die jungen Leute hier sind, sie gehen freundlich und unbefangen miteinander um. Sie sind nicht fanatisch, hängen keiner Doktrin an. Sie hören einander zu. Ich werde ganz neidisch. Ich hätte mir in ihrem Alter genau solche Leute um mich herum gewünscht. Als mir dann noch ein 18-jähriger sagt, man soll nicht mit dem Strom schwimmen und alles nachplappern, was ein anderer erzählt, da geht mir da Herz auf, so wie bei dem Lieblingslied von meinem Großvater.

Musik: Nordseestrand

Absage: Aus dem Schatten ins Licht? Der Kampf der politischen Rechten um die Russlanddeutschen. Dossier von Katharina Heinrich. Es sprachen: Claudia Mischke, Florian Seigerschmidt und Joachim Aich. Ton und Technik: Christoph Rieseberg und Jens Müller. Regie und Redaktion: Birgit Morgenrath. Eine Produktion des Deutschlandfunks 2016.