AUS DEM LEBEN DER KIRCHE. Zukunftsweisende Erfahrungen der Kirche und Christen im Herrschaftsbereich des atheistischen Staatssozialismus

AUS DEM LEBEN DER KIRCHE Zukunftsweisende Erfahrungen der Kirche und Christen im Herrschaftsbereich des atheistischen Staatssozialismus Nach HerKorr 4...
Author: Kerstin Weber
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AUS DEM LEBEN DER KIRCHE Zukunftsweisende Erfahrungen der Kirche und Christen im Herrschaftsbereich des atheistischen Staatssozialismus Nach HerKorr 44 (1990) 343 traf sich vom 5.-7. Juni im Vatikan eine Kommission der Europäischen Bischofskonferenz zur Vorbereitung der angekündigten Sonderversammlung der Bischofssynode für Europa, auf der auch der Papst das Wort ergriff und als Hauptthema für die Europasynode zwei Grundfragen nannte: • Welche Gaben und Erfahrungen können die Kirchen aus den bisher kommunistischen Ländern einbringen? • Wie muß der gegenseitige Austausch im Blick auf die Sendung der Kirche in Europa und in der Welt weiterentwickelt werden? Nachstehend versuchen wir, diese Fragen des Papstes in etwa zu beantworten. Die Kirchen in der Sowjetunion haben seit 1917 ihre siebzigjährige •Babylonische Gefangenschaft" erlebt, die Kirchen im Machtbereich der Sowjetunion ihre vierzigjährige •Wüstenzeit". Für das Gottesvolk des Alten Bundes waren beide Zeiten - trotz allen eigenen Versagens - Gnadenzeiten. Haben auch die Kirchen und Christen Mittel- und Osteuropas in der für sie harten Zeit des •real existierenden Sozialismus" und des •verordneten Atheismus" (Bischof Joachim Wanke) Gottes Gnadenhilfe erfahren? Haben sie in der Schule der existentiellen Infragestellung und der Bedrückung, in der Notwendigkeit, unter nicht wenigen Benachteiligungen den Glauben zu bekennen, etwas gelernt? Können sie gnadenhafte Erfahrungen aufweisen, die sie dankbar meinen bewahren zu müssen, wenn sie nun - gewiß unterschiedlich schnell - aufgenommen werden von der Welt, die bestimmt ist von freier Marktwirtschaft mit ihrer Konsumgesellschaft, dem gesellschaftlichen Pluralismus mit seinen Libertinismen? Die Situation der hier in den Blick genommenen Kirchen ist - von der Geschichte her - sehr unterschiedlich, so daß auch die Antwort auf unsere Frage von Land zu Land verschieden gegeben werden muß, wenn sie konkret sein soll. Und dennoch scheint hier eine gemeinsame geistliche Wirklichkeit sichtbar zu werden, die Beachtung verdient: falls sie sich bewährt - und: wenn sie bewahrt werden kann. Bevor wir diese •geistlichen Gegebenheiten" zu beschreiben versuchen - es handelt sich keinesfalls um •Errungenschaften" (von der Art, deren sich die sozialistischen Länder gern brüsteten!) -, sei eine Zwischenbemerkung erlaubt: Was wir zu sehen glauben und artikulieren möchten, gleicht in keiner Weise schon einer •geistlichen Bewegung", einem movimento. (Alle geistlichen Bewegungen in ihrer farbigen Palette sind in diesem Raum westliche Importware.) Es handelt sich um eine geistliche Gegebenheit, die nicht die große Masse der Christen prägt (wenngleich doch irgendwie auch affiziert), sondern primär wirklich entschieden lebende Christen. Es ist damit zu rechnen, daß die Massen-Egalität, die von Profit, Konsum und Karriere bestimmt ist, auch einen Großteil der milieuhörigen •Traditionschri-

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sten" dieses Raumes beeinflussen und bestimmen wird. Aber immerhin waren die Erfahrungen in der Babylonischen Gefangenschaft und in der Wüstenzeit nicht nur die Erfahrungen einiger heroischer Widerstandskämpfer, sondern solche der vielen Kleinen mit ihrer kleinen (oft freilich auch schon heroischen!) Liebe, die, so darf man hoffen - unter Nachteilen und Opfern erduldet -, einprägsam waren und prägend bleiben werden.

Wir möchten also hier die Frage wiederholen, die der Vorsitzende der Berliner Bischofskonferenz, Bischof Georg Sterzinsky, auf der ersten gemeinsamen Versammlung der •Deutschen Bischofskonferenz" und der Berliner Bischofskonferenz am 7. März 1990 in Augsburg recht programmatisch in den Raum gestellt hat: •Wir fragen uns, was wir als Christen in extremer Diaspora" - •extrem", weil hier, so möchten wir urteilen, schon fast auf der Talsohle des Säkularismus, auf der es schon zu •Inversionen" kommt - •in die Gemeinsamkeit der Kirche in Deutschland einzubringen haben." Zu nennen wäre da wohl eine einzige, noch kaum zu definierende, abgründig dunkle Grunderfahrung, die sich vielleicht fünffach artikulieren läßt:

Die neue Gotteserfahrung Die Gottverlassenheit als Erfahrungsmitte Die (im Ursprung jüdisch inspirierte und von daher auch berechtigte) Ausgangserfahrung des Marxismus war die leidvolle Ungerechtigkeit in der Welt, die es tatkräftig zu beseitigen gilt. Aktuell angegangen wurde marxistisch das Leid, das Menschen sich untereinander zufügen, vor allem - die Basis ist die Wirtschaft durch die •Ausbeutung des Menschen durch den Menschen". Natürlich sah man in der sozialistischen Bewegung schon von Anfang an, daß es auch viel Leid gibt, weil die •Schöpfung der Vergänglichkeit unterworfen" (Rom 8,20) und keineswegs die beste aller möglichen Schöpfungen Gottes ist. Das ist ein eminent theologisches Problem! Die marxistische Lösung heißt: Der Gott, der diese •Katastrophe Welt", die immer neu todgeweihte Welt, zu verantworten hat, den darf es nicht geben! Von daher der •verordnete Atheismus", der keineswegs beanspruchte, die Nichtexistenz eines Gottes wissenschaftlich stringent bewiesen zu haben. Jene •negative Erfahrung" Gottes führte letztlich zu jenem kämpferischen Atheismus, der aus seiner Verwundung heraus - der tiefen •Gotteswunde" - aggressiv gegen alles •Religiöse" oder gar •Kirchliche" wurde. Nun, die Gott-Entfremdung, der •Säkularismus" (der nicht mit der •Säkularisation" oder mit einer berechtigten •entsakralisierenden Säkularisierung" verwechselt werden darf), hat weiter zurückliegende geistesgeschichtliche Wurzeln, die wir hier nicht aufzeigen können. In westlichen Ländern zerstört letztlich die •PKK"-Einstellung (die auf Profit, Konsum und Karriere aus ist), der praktische Materialismus also, den Glauben der vielen (Ursache ist keineswegs nur das Versagen der •Institution Kirche"). Im Bereich des den Atheismus als •sakrosankte" Lebensweise sanktionierenden Staatssozialismus (mit seinem ohnmächtigen •dialektischen Materialismus") zerstörte dieser nicht einen •entschiedenen" Glauben

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(er stärkte ihn!); wohl aber entlarvte er ein Traditionschristentum und •entkleidete" es seiner traditionellen •Hüllen" und •Trachten", so daß die Kirchen leer wurden: leer aller Volkstrachten, Schützenvereine, Verbände mit Fahnen, Standesgewohnheiten und vielerlei Traditionsstützen - damit aber auch leer von Traditionschristen. So ist die Mitgliederzahl der Kirchen nach einer Allenbacher Umfrage (nach FAZ 4. Aug. 90, Nr. 179, S. 29) in der ehemaligen DDR seit der Volkszählung 1946 von 81,9 Prozent auf 34 Prozent abgesunken. 66 Prozent der Bewohner der neuen Bundesländer gehören keiner Kirche an, das sind mehr als 10 Millionen von den 16,2 Millionen Einwohnern; etwa 5 Millionen zählen sich noch den Evangelischen Kirchen zu, der katholischen weniger als 1 Million (vielleicht noch etwa 700000-800000?). Den Sonntagsgottesdienst besuchen davon aber nur noch etwa 20 bis 10 Prozent in der katholischen Kirche, 1 Prozent in den Evangelischen Kirchen. Noch realistischer: Nach einer anderen demoskopischen Umfrage erklärten Mai 1990 (nach CiG 42, 1990, S. 275 0 10 Prozent in der BRD: •Gott ist in meinem Leben völlig unwichtig" - also etwa jeder Zehnte; in der damaligen DDR 42 Prozent. Gott ist weltweit, in Ost und West, wohl nie so der •Verlassene" gewesen wie in unsern Tagen. Gott ist sehr einsam und verlassen - das erfahren wir täglich. Er muß sich von den Menschen - und uns! - viel gefallen lassen. Gott ist ein •leidender Gott"? Wir wagten das nicht auszusprechen, wenn er sich in der Kreuzigung Christi nicht selbst so zur Darstellung gebracht hätte. Da wurde der Sohn Gottes nach Gal 3,13 zum •Fluch" (der auf der Menschheit liegt), nach 2 Kor 5,21 selbst zur •Sünde" (in der die Menschheit lebt). Gott unterfängt das Leid und die Sünde der Welt in Menschwerdung und Kreuzestod. Er nimmt die Gottverlassenheit der Menschheit in sein Herz hinein, verwandelt sie in die eigene Verlassenheit und •erleidet" sie. Geistlich wache Christen haben in der bedrückenden Zeit des atheistischen Staatssozialismus in der eigenen Verlassenheit etwas erfahren von diesem •verlassenen Gott". Die Paradoxität des Kreuzes: der •gekreuzigte Gott" (J. Moltmann), macht den •Wahnsinn Gottes" (H. U. v. Balthasar) sichtbar, der ein Phänomen der •wahnsinnig liebenden Selbstentäußerung Gottes" ist: Gott ist •die Liebe" (1 Joh 2,4.8), d.h. aber: die •Selbst-Entleerung" und •Nieder-Tracht" in Person: •Er entäußerte sich selbst >nieder-trächtig