August 2012

LaG - Magazin Zeitgemäße Angebote der historisch - politischen Bildung 07/2012 15. August 2012 Inhaltsverzeichnis Zur Diskussion Bildungsarbeit in ...
Author: Linda Steinmann
2 downloads 0 Views 439KB Size
LaG - Magazin Zeitgemäße Angebote der historisch - politischen Bildung 07/2012 15. August 2012

Inhaltsverzeichnis

Zur Diskussion Bildungsarbeit in Prora – topografische Konkretion und historische Komplexität...............5 Unübersehbare Spuren – Gedenkstättenpädagogik in der Gedenkstätte Lager Sandbostel................................................................................................9 Gräber erzählen Geschichte(n)...............................................................................................17 „Stacheldraht (...), Scheinwerfer, sobald wir zur Arbeit gingen“ Lokalgeschichtliche Arbeitsmaterialien zur Schönholzer Heide in Berlin-Pankow..............21 Schulgebäude als „authentische Orte“...................................................................................24 Empfehlung Unterrichtsmaterial Unterricht am interaktiven Whiteboard................................................................................27 Methodenhandbuch zum Thema Antiziganismus.................................................................28 Empfehlung Web Educaching - Lernen mit Geocaching.....................................................................................31 Kudamm‘31. Eine unerhörte Geschichte. Audiowalk auf den Spuren eines Pogroms..........32 Empfehlung App Erinnerungsorte für die Opfer des Nationalsozialismus.......................................................34 Empfehlung Fachdidaktik Geschichte auditiv - Produktion von Audiofeatures..............................................................35 Bildungsträger/ Lernorte Audioführung Waldfriedhof Halbe........................................................................................40 Antikomplex e.V. - Deutsch-tschechische Bildungsprojekte.................................................41 Neu eingetroffen Makom tov – der gute Ort. Jüdischer Friedhof Frankfurt/Oder...........................................43 Homophobie und Devianz......................................................................................................45

Magazin vom 15.08.2012 2

Einleitung Liebe Leserinnen und Leser, Ihnen liegt die aktuelle Ausgabe unseres Magazins „Zeitgemäße Angebote der historisch-politischen Bildung an historischen Lernorten“ vor. Wir haben die breite Thematik auf Orte fokussiert, an denen in erster Linie die pädagogische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Zweitem Weltkrieg im Mittelpunkt stehen. Zunehmend spielt jedoch in der historischpolitischen Bildung auch die Geschichte der Nachnutzungen von solchen Orten in der DDR und der Bundesrepublik eine wichtige Rolle; durch die nachfolgenden Ereignisse und die sie prägenden Weltanschauungen gibt es eine zweite und zum Teil dritte Geschichte. Dies erfordert einen komplexeren Blick auf die Geschichte und fordert dazu heraus aufzuzeigen, dass und welchem Wandel diese historischen Orte unterliegen. Wir haben uns bemüht, in dieser Ausgabe vor allem solche Orte vorzustellen, die nicht zu den sogenannten großen NS-Gedenkstätten zählen und daher eher weniger Aufmerksamkeit bekommen. Ein evidentes Beispiel für die Vielschichtigkeit von Geschichte ist das Monument Prora im „KdF-Seebad Rügen“. Über die verschiedenen Zeitebenen, vor allem über die Nachnutzung durch die Nationale Volksarmee der DDR und die Auseinandersetzungen über die Geschichte(n) schreiben Susanna Misgajski und Mirko Wetzel. Mit der Gedenkstätte Lager Sandbostel stellt Carola Pliska die pädagogische Arbeit zu einem ehemaligen Kriegsgefangenenlager

vor. In ihrem Aufsatz wird deutlich, dass die Auseinandersetzung um die Verbrechen der Wehrmacht noch kein wesentlicher Teil des kollektiven Gedächtnisses ist und auch das ehemalige Kriegsgefangenenlager ein Tatort der Nationalsozialisten ist. Inhaltlich knüpft daran auch die Vorstellung des Moduls „Gräber erzählen Geschichte(n)“ durch Anna Biewer an. Ihr Aufsatz zeigt Möglichkeiten für die historisch-politische Bildung in der hessischen Mahn- und Gedenkstätte Waldfriedhof und dem „Alliiertenfriedhof“ Trutzhain. Die Projektgruppe Schönholzer Heide stellt lokalgeschichtliche Arbeitsmaterialien zu einem Waldgebiet im Berliner Bezirk Pankow vor, in dem sich ein Lager für Zwangsarbeiter/innen befand. Auch in diesem Projekt nimmt die Auseinandersetzung um Formen der Erinnerung und des Gedenkens einen wichtigen Platz ein. Der Historiker Bernhard Bremberger zeigt in seinem Beitrag, wie nahe das Thema Nationalsozialismus räumlich für Schüler/innen und Lehrer/innen liegen kann, indem er für eine Thematisierung der Geschichte der jeweiligen Schulen plädiert. In eigener Sache Wir haben mit dieser Ausgabe die Kategorie „Empfehlung App“ eingeführt. Wir werden unter diesem Titel zukünftig Anwendungen für Smartphones und Tablet-PCs vorstellen. Eine weitere Neuigkeit betrifft unseren Bürostandort, „Lernen aus der Geschichte“ wird im Verlauf des Monats September

Magazin vom 15.08.2012 3

Einleitung umziehen. Der Umzug wird notwendig, da die Technische Universität Berlin das Gebäude, in dem sich derzeit unser Büro befindet, aufgibt. Wir freuen uns auf den neuen Ort im Berliner Bezirk Schöneberg, der uns vor allem etwas mehr Platz bieten wird. Ein Umzug kostet allerdings Geld, ebenso wie das neue Büro. Daher möchten wir wieder einmal an Ihre Spendenbereitschaft appellieren. Neben Spenden freuen wir uns auch über Fördermitgliedschaften in unserem Verein, da sie besonders zur langfristigen Absicherung unserer Arbeit beitragen. Die nächste Ausgabe des LaG-Magazins ist eine Sonderausgabe, begleitend zum Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten, ausgeschrieben von der Körber-Stiftung in Hamburg. Diese Ausgabe erscheint Anfang September und widmet sich dem neuen Thema des Wettbewerbs und bietet Diskussionsgrundlage und vor allem Anregung. Am 19. September erscheint dann ein LaGMagazin mit dem Titel „Wir sind das Volk“ – Bürgerproteste und Runde Tische als Anstöße für politische Partizipation?

Ihre LaG-Redaktion

Magazin vom 15.08.2012 4

Zur Diskussion

Bildungsarbeit in Prora – topografische Konkretion und historische Komplexität Von Susanna Misgajski und Mirko Wetzel „Und so entsteht hier ein gewaltiges soziales Werk, wie es die ganze Welt nicht kennt, und ein Glücksgefühl befällt alle die, denen früher marxistische Hetzer vorgaukelten, daß sie ‚Enterbte‘ dieser Erde seien … .“ Robert Ley, Führer der deutschen Arbeitsfront, 1936 (Rostock/Zadniček, S.39)

„Dann habe ich gestern einen Einsatz mitgemacht. Wir sind 25 km durch den Wald gegangen und haben sämtliche Häuser angesteckt und in Flammen aufgehen lassen. … Um den Partisanen (Heckenschützen) keine Unterkunftsmöglichkeiten zu geben, werden alle Unterkünfte im Wald niedergebrannt. ... Wir waren ‚Brandstifter‘ im wahren Sinne des Wortes. Partisanen haben wir nicht angetroffen, die Hunde sind verschwunden. Ich war gestern abend sehr müde nach dem 25 km Marsch durch dichten Wald und Matsch.“ Hermann Gieschen, Bataillonsfotograf des ReservePolizeibataillons 105, 1941 (Eiber 1991, S.77)

Das geplante „KdF-Seebad Rügen“ Die Geschichte des Gebäudekomplexes in Prora auf Rügen ist kompliziert und sperrig. Als „KdF-Seebad Rügen“ geplant, erinnert der Ort zuallererst an das Versprechen von Wohlstand und Aufgehoben-Sein, das der Nationalsozialismus den „Volksgenossen“

und „-genossinnen“ machte. Prora ist monumentale Erinnerung an die Attraktivität der scheinbar großzügigen Sozialpolitik des NSStaates. „Kraft durch Freude“ war Teil einer Politik, die die Bevölkerung an das nationalsozialistische System binden sollte. Günstige Urlaubsreisen – vom Wanderausflug bis zur Schiffsreise – und kulturelle Veranstaltungen halfen insbesondere Arbeiter/innen über die politische Entrechtung hinweg, die das Regime ihnen in den ersten Jahren zumutete. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass das KdF-Seebad Rügen nie in Betrieb ging. Nicht ein Urlauber hat hier bis 1945 seinen Fuß auf den Ostseestrand gesetzt, sieht man von den Teilnehmern/innen einiger BDM-Lager ab. Die Bedeutung des Ortes lag damals und liegt für die Erinnerungsarbeit bis heute in seinem propagandistischen Nutzen für das NS-Regime. Die KdF-Anlage wurde zu Kriegszeiten aber durchaus genutzt – nicht als Urlaubsparadies wie vorgesehen, sondern als Ausbildungsort für Polizisten und Nachrichtenhelferinnen sowie als Lazarett. Weiterhin wurden Ausgebombte und Flüchtlinge in den halbfertigen so genannten Bettenhäusern untergebracht. Die nötigen Ausbauarbeiten mussten Zwangsarbeiter/innen verrichten, die vor allem aus Polen, der Ukraine und Russland auf die Insel Rügen verschleppt wurden. Sie wohnten in den unfertigen Rohbauten oder in Holzbaracken in unmittelbarer Nähe der Anlage. Hier wird eine andere Bedeutung des Ortes sichtbar: Prora ist auch ein Ort nationalsozialistischer Verbrechen. Insbesondere die Erfahrungen

Magazin vom 15.08.2012 5

Zur Diskussion der ehemaligen Zwangsarbeiter/innen spielen für die Erinnerungsarbeit heute eine zentrale Rolle. Daneben stehen Geschichten wie die des oben bereits genannten Bremer Kaufmanns Hermann Gieschen, der 1939 als Reservist zum Reserve-Polizeibataillon 105 einrückte. Das Bataillon wurde 1940 in Prora für den „auswärtigen Einsatz“ ausgebildet. 1941, unmittelbar nach dem Überfall, wurden sie in die Sowjetunion verlegt. Dort verübten Gieschen und seine Kameraden Kriegsverbrechen an der sowjetischen Zivilbevölkerung, insbesondere an Jüdinnen und Juden. Diese Vieldeutigkeit im Rahmen von Bildungsangeboten aufzuzeigen, begreif- und besprechbar zu machen ist die Aufgabe, der sich das PRORA-ZENTRUM seit gut zehn Jahren stellt. In unterschiedlichen Formaten bietet der Verein verschiedenen Zielgruppen die Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit der Geschichte von Prora. Ausgangspunkt sind dafür immer die Spuren vor Ort, das Sicht- und Erfahrbare. Wir versuchen, ein „forensisches Bewusstsein“ (Heyl 2012, S.3) zu entwickeln und – einem Kriminologen gleich – den Blick auf die Spuren zu richten, die die Geschichte hinterlassen hat. Die Themen unserer Rundgänge und Seminare ergeben sich aus der Topografie des Geländes und der Gestalt der Gebäude. Zur inhaltlichen Vertiefung ziehen wir Archivquellen sowie Berichte von Zeitzeugen/innen und Fotografien heran. Die Nutzung von Prora in der DDR Durch diesen Ansatz rückt eine andere his-

torische Dimension in den Fokus: das heutige Erscheinungsbild des Geländes und der geplanten KdF-Anlage ist maßgeblich durch die Nutzung nach 1945 geprägt. Bei den historischen Rundgängen durch das Gelände beim Block 5 richten wir den Fokus unter anderem auf die Sanitärräume in den Treppenhausbauten. Diese Sanitärräume fallen dadurch auf, dass die Fliesen in den verschiedenen Etagen unterschiedliche Größen und Farben haben. Den meisten Jugendlichen und Erwachsenen ist sofort klar, dass dies für das KdF-Bad so nicht vorgesehen gewesen sein kann. Die Erklärung findet sich vielmehr in der Nachkriegszeit: Ab 1952 waren in Prora bis zu 17.000 Mann der Kasernierten Volkspolizei (KVP) stationiert. Neben ihrer militärischen und polizeilichen Ausbildung hatten diese Männer die Aufgabe, die Rohbauten auszubauen und als Kaserne nutzbar zu machen. Weil zu dieser Zeit in der DDR die Baustoffe knapp waren, wurde dafür auf sämtliches Material zurückgegriffen, das zu haben war – unter anderem auf Fliesen in verschiedenen Farben. Diese frühe Phase des Militärstandorts Prora ist von außerordentlich großer Bedeutung. Die Aufstellung und Kasernierung von ersten Polizeieinheiten erfolgte bereits zur Zeit der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und bildete den Beginn der Militarisierung der späteren DDR. Für diesen, in den ersten Jahren noch getarnten Aufbau einer neuen Armee war Prora einer der wichtigsten Standorte. Die 1956 gegründete Nationale Volksarmee (NVA) übernahm die dann weitgehend fertig gestellte Kaserne, die in

Magazin vom 15.08.2012 6

Zur Diskussion Prora stationierten KVP-Einheiten gingen in die Armee über. Ab dann war Prora regulärer Standort der NVA, unter anderem befand sich hier das einzige Fallschirmjägerbataillon der DDR. Ab 1968 veränderte sich der Charakter des Standortes: Die Kampfeinheiten wurden nach und nach an die deutsch-deutsche Grenze oder in den Großraum Berlin verlegt. Stattdessen wurden in Prora militärtechnische Ausbildungseinheiten und eine Militärhochschule für ausländische Kader aufgebaut. So erreichte Prora als Ausbildungsstandort auch internationale Bedeutung. Militärs aus befreundeten Staaten, aber auch Mitgliedern der Palästinensischen Befreiungsfront (PLO) wurde hier theoretisches und praktisches Know-How vermittelt. Eine weitere Besonderheit in der Geschichte Proras bildet die Stationierung von Bausoldaten, den Waffendienstverweigerern in der DDR, deren Geschichte eng mit der der Oppositions- und Friedensbewegung verbunden ist. In den 1980er Jahren, als die Strategie der NVA-Führung vorsah, die Bausoldaten in größeren Einheiten zusammen zu fassen, wurde Prora zu einem der größten Bausoldaten-Standorte der DDR. Die jungen Männer, die auf der Baustelle des Fährhafens Mukran arbeiten mussten, waren im Block 5 untergebracht, in dem sich heute die Jugendherberge und das PRORA-ZENTRUM befinden.

Komplexität in der pädagogischen Arbeit Für die Einordnung des historischen Ortes Prora ist die DDR-Zeit von zentraler Bedeutung und entsprechend kann sich die pädagogische Arbeit an diesem Ort nicht auf eine einzige historische Epoche beschränken. Prora erschließt sich erst, wenn man sowohl Kenntnisse über die NS-Zeit hat, in der das Gebäude geplant und errichtet wurde, als auch über die Nutzung zu SBZ- und DDR-Zeiten. Insofern praktiziert das PRORA-ZENTRUM in seiner Bildungsarbeit einen Ansatz, der die Zeit von 1933 bis heute umfasst und in dem die Grundsteinlegung am 02. Mai 1936 ebenso vorkommt, wie die Verweigerung des Gelöbnisses durch Bausoldaten in den 1980er Jahren. In dieser übergreifenden Perspektive liegt die Chance für die Teilnehmer/innen im Rahmen von Projekten und Veranstaltungen ein Bewusstsein für historische Kontinuität und Brüche zu entwickeln und zu einem umfassenderen Verständnis der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu gelangen. Das macht die Arbeit sehr anspruchsvoll, die Ergebnisse der historisch-politischen Bildungsarbeit des PRORA-ZENTRUMs zeigen aber, dass sich die Anstrengung lohnt. Ein Beispiel für die übergreifende Bearbeitung der NS- und DDR-Geschichte in einem Projekt ist die Schülerzeitung „Sweden and Germany - Interrelations during the centuries“. Schüler/ innen aus Bergen auf Rügen und Kalmar, Schweden forschten in diesem Projekt zu den Geschichten ihrer Regionen und setzten sich mit den deutsch-schwedischen Bezie-

Magazin vom 15.08.2012 7

Zur Diskussion hungen im 20. Jahrhundert auseinander. Mehr Informationen zu der Zeitung sind auf der Website von PRORA-ZENTRUM zu finden. Literatur Eiber, Ludwig, „.. ein bißchen die Wahrheit“. Briefe eines Bremer Kaufmanns von seinem Einsatz beim Reserve-Polizeibataillon 105 in der Sowjetunion 1941, in: Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, Heft 1/91, S. 58 - 83. Heyl, Matthias, „Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr ...“ – von der schwierigen Balance gedenkstättenpädagogischer Arbeit an den Orten nationalsozialistischer Massenverbrechen am Beispiel Ravensbrück. Manuskript zum Vortrag auf der Internationale Tagung „Diesseits und jenseits des Holocaust. Aus der Geschichte lernen in Gedenkstätten“ in Wien, 15. - 17.09.2011. Rostock, Jürgen/ Zadniček, Franz, Paradiesruinen. Das KdF-Seebad der Zwanzigtausend auf Rügen, Berlin 2008, 8. Auflage.

Über die Autorin und den Autor Susanna Misgajski ist Historikerin und Pädagogin. Sie leitet das PRORA-ZENTRUM als Geschäftsführerin. Mirko Wetzel ist pädagogischer Mitarbeiter des PRORA-ZENTRUMs.

Magazin vom 15.08.2012 8

Zur Diskussion

Unübersehbare Spuren – Gedenkstättenpädagogik in der Gedenkstätte Lager Sandbostel Von Carola Pliska

sals der deutschen Kriegsgefangenen und Vermissten im Vordergrund als die Auseinandersetzung mit Rechtsverletzungen und Kriegsverbrechen der Wehrmacht an Kriegsgefangenen.

Die Gedenkstätte Lager Sandbostel ist eine Gedenkstätte am Ort eines ehemaligen Kriegsgefangenenlagers.

Kriegsverbrechen der Wehrmacht an Kriegsgefangenen sind (noch nicht) Teil des kollektiven Gedächtnisses

Kriegsgefangenenlager und die in diesen Lagern begangenen Verbrechen an Kriegsgefangenen sind heute vielen unbekannt, sind z.B. denjenigen Jugendlichen völlig neu, die aus dem Fernsehen viel über den Holocaust und den Nationalsozialismus zu wissen meinen, aber Verbrechen der Nationalsozialisten in ihrer (norddeutschen) Heimat nicht vermuten und von Kriegsverbrechen der Wehrmacht (noch) nichts gehört haben.

Für die Gedenkstättenpädagogik in Sandbostel ergibt sich daraus die Frage, wie der noch vorhandene, inzwischen durch die Arbeit der Gedenkstätte erhaltene Ort den Besuchergruppen als Tat- und Gedenkort vermittelt werden kann, welche Bezüge Jugendliche und Erwachsene heute zu dem Geschehen vor mehr als 70 Jahren finden können, was Besucherinnen und Besucher bewegt, die heute die Gedenkstätte besuchen.

Das Vorwissen der Besucherinnen und Besucher jeden Alters zu den Themen Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg ist eher rudimentär. Selbst der Hinweis auf ein nationalsozialistisch geprägtes Kriegsgefangenenlager ist im Vorverständnis von Besucherinnen und Besuchern eher ein scheinbar normaler Bestandteil der traurigen Realität eines Krieges, („ zu Kriegen gehören halt auch Kriegsgefangene, und für die gibt es immer Lager“), auch wenn jeder/jedem klar sein müsste, dass es diese sogenannte „Normalität“ unter den Bedingungen des Nationalsozialismus vermutlich nicht gegeben haben dürfte. Für viele ältere Besucherinnen und Besucher steht eher die Bewältigung des noch in der eigenen Familie präsenten Schick-

Das Stalag XB in Sandbostel war von 1939 – 1945 eines der größten Kriegsgefangenenlager Nordwestdeutschlands, zusätzlich grausamer Endpunkt von Todesmärschen aus dem KZ Neuengamme im April 1945, Internierungslager für die Waffen-SS, später Gefängnis, dann von 1952-1960 ein DDR-Notaufnahmelager für Jugendliche. Das ehemalige Lagergelände in Sandbostel wurde 1960 zum Bundeswehrdepot und als Gewerbegebiet 1974 unter anderem an einen Militariahändler verkauft, was - ironischerweise - ein in Europa einmaliges Barackenensemble eines Kriegsgefangenenlagers erhalten hat. Der historische Ort Sandbostel ist damit in mehrfacher Hinsicht ein besonderer Ort für

Magazin vom 15.08.2012 9

Zur Diskussion den Aufbau einer Gedenkstätte: Die Besucherinnen und Besucher treffen auf ein unübersehbares, noch erhaltenes Ensemble des ehemaligen Lagers, das sowohl Originalteile des damaligen Lagers zeigt, als auch wegen der sich überlagernden Schichten der vielfältigen Nachnutzung vom Betrachter dekonstruiert werden muss, also zu Fragen und Gesprächen auffordert und einen hohen Grad an glaubwürdiger Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus vermittelt Als ehemaliges Kriegsgefangenenlager ergänzt es die Erinnerung an die Verbrechen im nationalsozialistischen Lagersystem um eine Variante, für die oft Vorkenntnisse fehlen, und das im Bewusstsein der Besucherinnen und Besucher immer noch geprägt ist vom Mythos der (im Vergleich mit der SS) angeblich sauberen Wehrmacht Als Widerspiegelung deutscher Geschichte nimmt Sandbostel bis heute das kommunikative Gedächtnis der Region auf und trägt im besten Sinne zum Gedenken an das Geschehen an einem „verunsichernden (Tat-) Ort“, zum Gedenken an Verletzungen elementarster Menschenrechte durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft bei Spurensuche in den erhaltenen Gebäuden auf dem ehemaligen Lagergelände Besucherinnen und Besuchern sind bei ihrem ersten Besuch sofort beeindruckt von den noch vorhandenen, nun sanierten, lagerzeitlichen Unterkunftsbaracken und Funktionsgebäuden auf dem Gelände der

Gedenkstätte Lager Sandbostel. Das Gebäudeensemble vermittelt sofort den Eindruck von Lager. Die erhaltene Bausubstanz als unübersehbare Spur ist für die Gedenkstätte das wichtigste Exponat, das sie hat. Der erste Eindruck der Besucherinnen und Besucher ist richtig, schon allein das Erscheinungsbild der Barracken zeigt Rechtsverletzungen der Nationalsozialisten gegenüber den Kriegsgefangenen: Die Bauweise der einfach konstruierten Holzbaracken mit nur einer Bretterlage als Außenwand und Boden schützte im Winter kaum vor Kälte, im Sommer kaum vor Hitze. Das Leben in ihnen war alles andere als einfach, war für große Teile der Gefangenen kein Leben „in einem ganz normalen Kriegsgefangenenlager“, sondern bedeutete eine erhebliche Gefährdung für die Gesundheit. Ein Blick auf die Bausubstanz zeigt die Mängel der Unterbringung - übrigens eine zeittypische Bauweise, den im Zweiten Weltkrieg reichsweit geltenden Bauvorschriften für Kriegsgefangenen- und Reichsarbeitsdienstbaracken entsprechend. Gekoppelt mit der von uns vermittelten Information über eine phasenweise praktizierte Überbelegung, in Zeitzeugenaussagen oft erwähnt, kann vor allem für den Zeitraum gegen Kriegsende nicht von einer den Rechtsgrundsätzen der Genfer Konvention entsprechenden Unterbringung gesprochen werden: Es ist heute kaum vorstellbar, dass in einer der heute noch sichtbaren Baracken phasenweise zwischen 400 und 600 Menschen gelebt haben sollen.

Magazin vom 15.08.2012 10

Zur Diskussion Aber: Der historische Ort in seiner heutigen Gestalt vermittelt eben nicht eine „authentische Atmosphäre“ eines ehemaligen Kriegsgefangenenlagers. Es waren neue Baracken zur Zeit des Massensterbens der sowjetischen Kriegsgefangenen 1941/1942. Die Gebäude wurden in der Nachkriegszeit mehrfach saniert. Der Verfall, den wir heute trotz Sanierung z.T. noch sehen, begann erst 1992 mit Denkmalschutzauflagen, denen der Besitzer nicht mehr nachkommen wollte. In den Baurelikten manifestierte Zeitschichten überlagern sich in fast allen Gebäuden. Die Baracken, wie wir sie heute sehen, vermitteln eben nicht DIE eine Realität, „wie es damals war“, sie wurden schon im Verlauf des Zweiten Weltkrieges mehrfach umgenutzt. Der gegenwärtige Zustand der Gebäude, ihr Aussehen, sich überlagernde Zeitspuren aus verschiedenen Phasen der Lagergeschichte fordern zum Fragen, Forschen und Interpretieren auf. Dokumente über die Einrichtung und Nutzung der noch vorhandenen einzelnen Baracken während des Zweiten Weltkrieges über Bauvorschriften hinaus gibt es kaum. Die noch vorhandenen Archivlücken, der für Besucherinnen und Besucher offengelegte quellenkritische Umgang mit den vorhandenen Dokumenten hat jedoch nicht zur Konsequenz, dass wir nicht mit den Besuchergruppen darüber sprechen könnten, „wie es war“. Wir können zwar nicht genau dokumentieren, wie es in den jetzt noch vorhandenen Baracken aussah. Wir wissen aber, dass

die Einrichtung verfeuert wurde, wenn das Brennholz knapp wurde, dass die sanitären Anlagen katastrophal waren, dass Ungeziefer nicht mehr erfolgreich bekämpft werden konnte. Wir haben Zeitzeugenaussagen, Zeichnungen, einzelne Dokumente und vor allem Fotos aus Unterkunftsbaracken, die von einem italienischen Gefangenen heimlich aufgenommen wurden, die den Alltag, die Unterbringung, das Leben der Gefangenen oft besser dokumentieren als scheinbar authentische Rekonstruktionen von heute. Besonders die Fotos des italienischen Militärinternierten Vialli stoßen auf großes Interesse der Besucherinnen und Besucher: Neben dem noch vorhandenen Barackenensemble sind es vor allem Zeitzeugenaussagen und diese Bilddokumente, die den Wunsch der Besucherinnen und Besucher erfüllen, sich selbst ein Bild davon zu machen, „wie es wirklich war“. Das weist darauf hin, dass das Interesse an Informationen über den Nationalsozialismus nach wie vor hoch ist, kein erstarrtes Ritual als Ergebnis eines politisch korrekten, verordneten Gedenkens. Gedenkstättenpädagogische Arbeit in der Gedenkstätte Lager Sandbostel findet an einem Tatort statt Daran zu erinnern ist für uns eine aktuelle Aufgabe, gerade weil der immer noch tradierte Mythos von der sauberen Wehrmacht sowohl das kollektive Gedächtnis als auch das kommunikative Gedächtnis prägt. Kriegsverbrechen an Kriegsgefangenen tauchen in der medialen Aufbereitung des Nationalsozialismus kaum auf. Die Väter und

Magazin vom 15.08.2012 11

Zur Diskussion Großväter der Besucherinnen und Besucher haben in der Regel nicht von Kriegsverbrechen an der Ostfront oder an Kriegsgefangenen erzählt. Knipserfotos sind zwar in Alben der Familie genauso wie Objekte aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges noch vorhanden, werden aber oft erst durch den Besuch in der Gedenkstätte kontextualisierbar. Die Fragen der vierten Generation an die Kriegsteilnehmer in der Familie werden, ausgelöst durch den Besuch in der Gedenkstätte, überhaupt erst stell- oder gar beantwortbar. Wir erleben oft Besucherinnen und Besucher, die innerhalb der Familie nicht mehr fragen können, aber sich nach wie vor mit der Verstrickung von Angehörigen in die nationalsozialistischen Gewalttaten auseinandersetzen, nach unseren Gesprächserfahrungen auch eine Folge des Geschichtsbooms in den Medien. In diesen Sendungen wird aber bei aller Bilderflut nur illustriert, es wird keine Möglichkeit der eigenen Erkundung zugelassen. Viele unserer Besucher möchten sich selbst informieren, nicht vermeintlichen Dokumentationen oder Rekonstruktionen, die fertige, statische Wertungen vorgaukeln, folgen. Für die gedenkstättenpädagogische Aufbereitung von Materialien bedeutet das heute, dass immer wieder von Besucherinnen und Besuchern die Frage nach den Verantwortlichen, nach Strukturen, nach Entscheidungsspielräumen, aber auch nach Möglichkeiten der Resistenz, nach Überlebensstrategien und Widerstand gestellt wird und für die Besucherinnen und Besucher multiperspek-

tivisch mit Dokumenten aufbereitet werden muss. Der Informationsbedarf nimmt nicht ab, sondern wächst, gerade bei Jugendlichen. Für die Besucherinnen und Besucher aus der Region des ehemaligen Wehrkreises X, der Region Bremen, Lüneburg, Hamburg und Cuxhaven, aus der die Mehrheit der Gruppen kommt, die heute unsere Gedenkstätte besuchen, ist die Geschichte des Kriegsgefangenenlagers und der Todesmärsche im April 1945 darüber hinaus ein immer noch aktueller Teil ihrer Identität und Familiengeschichte. Die Regionalisierung der Einrichtung von Gedenkstätten, der Aufbau der Gedenkstätte Lager Sandbostel am historischen Ort durchbricht Verdrängungsmuster und berührt das kommunikative Gedächtnis der Region. Gedenkstättenpädagogik in der Gedenkstätte Lager Sandbostel setzt (auch) am kommunikativen Gedächtnis der Region an Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge sind in Erzählungen an den Orten der über 1100 Arbeitskommandos in der Region immer noch existent, oft ohne bewussten Bezug zum Stalag XB Sandbostel oder zur Arbeit der Gedenkstätte: Erzählt werden uns verklärende Geschichtsmythen von der guten Behandlung der Kriegsgefangenen, die von uns während der Rundgänge durch die Vorstellung des ehemaligen Kriegsgefangenenlagers als Tatort aufgelöst werden, aber auch drastische Erzählungen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen über das erlebte oder das in

Magazin vom 15.08.2012 12

Zur Diskussion Erzählungen tradierte Wissen vom bewusst herbeigeführten Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen, von den Todesmärschen und vom Massensterben der KZHäftlinge im April und Mai 1945. Erzählt werden von Besucher/innen beispielsweise traumatische Erlebnisse aus der Zeit als Dienstverpflichtete für das Aufräumen des Lagers nach der Befreiung durch die britische Armee, die für die Beteiligten manchmal überraschend während eines Rundgangs in der Gedenkstätte zutage kommen: Zivilgesellschaft und Konzentrationslager trafen 1945 unübersehbar für diejenigen Jugendlichen und Erwachsenen aufeinander, die im Mai 1945 als Dienstverpflichtete das KZ-Auffanglager Sandbostel aufräumen, Tausende von Toten bergen, beerdigen und die Überlebenden und Sterbenden pflegen mussten. Jeder Ort in der Region musste diese Dienstverpflichteten stellen, viele haben die Folgen nationalsozialistischer Gewaltherrschaft mit eigenen Augen gesehen und erzählen nun ein erstes Mal von ihren Erlebnissen und Eindrücken. Ein Teil der gedenkstättenpädagogischen Arbeit in Sandbostel sind die Gespräche zwischen den Generationen in den Gruppen aus der Region in generationenübergreifenden Projekten. Konfirmanden- oder Jugendgruppen kommen mit ihren Familien zu uns in die Gedenkstätte. Neugierig geworden durch die noch vorhandenen Baurelikte und den Aufbau der Gedenkstätte besuchen uns Familien, Vereine,

Betriebe oder sogar Jugendgruppen mit Eltern und Großeltern und beginnen zu erzählen. Anders als aus einem politisch verordneten Gedenken an Gedenktagen ergibt sich aus diesem kommunikativen Gedächtnis der Region häufig eine nach dem Besuch folgende Beteiligung einzelner Jugendlicher an unserer Arbeit und eine große Motivation während der Gruppenbesuche, sich mit den in der Gedenkstätte vermittelten Inhalten auseinanderzusetzen. Gedenkstättenpädagogische Arbeit an einem GEDENKort beinhaltet auch die Erarbeitung von neuen Formen des Gedenkens Der lange, im Gedächtnis der Region immer noch präsente, von Besucherinnen und Besuchern oft angesprochene Streit um den Aufbau einer Gedenkstätte am Ort des ehemaligen Kriegsgefangenenlagers Sandbostel ist dabei für die Jugendlichen kein Thema mehr. Die Jugendlichen, die wir kennenlernen, fragen nach, weil sie wissen möchten, was hinter den Erzählungen in ihren Familien steckt, was in den Baracken wirklich war. Häufig ziehen sie den Vergleich zur Gegenwart, stellen in Frage, dass heute die damals verletzten Menschenrechte überall selbstverständlich sind. Sie möchten nach der Auseinandersetzung mit dem historischen Ort etwas tun, weil sie erfahren haben, dass das Geschehen im ehemaligen Lager zu lange verdrängt wurde. Sie sind alles andere als übersättigt, gerade weil Magazin vom 15.08.2012 13

Zur Diskussion ihnen in der Gedenkstätte zum ersten Mal Informationen über Kriegsgefangenenlager begegnen, die sie aus den Medien nicht kennen, die aber zu Erzählungen und Spuren aus ihrem persönlichen, regionalen Umfeld passen, Erzählungen, die sie in ihrem direkten Umfeld gehört haben. Sie hinterfragen, wollen sich informieren und die Erzählungen aus ihrem Heimatort mit Dokumenten und Informationen aus der Gedenkstätte abgleichen. Das von uns Vermittelte ist für sie wiedererkennbar. Sie beteiligen sich an den Gedenkprojekten der Gedenkstätte, nehmen am Namensziegelprojekt teil, um den toten sowjetischen Soldaten zumindest symbolisch den Namen als Teil der Würde wiederzugeben und um zu visualisieren, dass das ehemalige Lager Sandbostel Tausende das Leben gekostet hat. Die verhältnismäßig große Beteiligung der Jugendlichen an der Gestaltung von Gedenkfeiern, Medien- und Visualisierungsprojekten und an ehrenamtlicher Arbeit in der Gedenkstätte sind ein Beleg dafür, dass die Jugendlichen, wenn sie Gestaltungsspielräume haben und sich ein eigenes Bild vom historischen Geschehen machen können, bereit sind, sich am Gedenken zu beteiligen. Gerade weil unübersehbare Spuren der Vergangenheit glaubwürdig und begleitet von Dokumenten zu sehen, erforsch- und erfahrbar sind, nehmen Jugendliche die Geschichte nationalsozialistischer Gewaltverbrechen als Teil ihrer eigenen Familien- und Regionalgeschichte wahr, nicht mehr nur distanziert als Medienbericht oder Schulstoff.

Internationale Begegnungen führen zu internationalem, gemeinsamen Gedenken Von besonderer Bedeutung in der Arbeit mit Jugendgruppen ist die zunehmende Zahl von internationalen Begegnungen in der Gedenkstätte Lager Sandbostel. Als Menschenrechtsprojekte oder als Austauschbegegnungen der Gegenwart haben sie den Umgang mit der gemeinsamen Geschichte aber auch die Unterschiede in der Wahrnehmung dieser Geschichte zum Thema. In den internationalen Jugendprojekten oder in Gruppen, in denen Jugendliche mit Migrationshintergrund teilnehmen, ist ein Austausch über die unterschiedlichen Traditionen des Gedenkens oft bereichernder Bestandteil. Diesen Ansatz neben der Regionalisierung weiterzuverfolgen, wird Teil zukünftiger Arbeit zum Thema Erinnerungskultur sein, in der wir Jugendgruppen an der Gestaltung der Gedenkorte beteiligen wollen. Dabei fällt uns auf, dass aktuelle Diskussionen um rechtsextreme Gruppierungen und Symbole oder Diskussionen um die Notwendigkeit, als nächste Generation das Gedenken weiterzuführen, zwar positiv aufgenommen werden, aber in den Jugendgruppen aus Nationen, die die Opfer stellten, nicht immer konfliktfrei sind. Wir erleben außerdem zunehmend einen naiven Umgang mit nationalsozialistischen Symbolen in den internationalen Gruppen, die wir zu Gast haben, erleben, dass diese Jugendlichen häufig ohne Vorinformationen zu uns kommen.

Magazin vom 15.08.2012 14

Zur Diskussion Fazit Die Beschäftigung mit dem erhaltenen Gebäuden im ehemaligen Lager Sandbostel, mit der Vor- und Nachgeschichte, mit dem Konstruktionscharakter von Geschichte, der sich im Umgang mit dem historischen Ort und in der Geschichte der Gedenkstätte Lager Sandbostel selbst widerspiegelt, die Begegnung mit der Gedenkkultur in anderen Nationen und der gemeinsamen Spurensuche in internationalen Begegnungen, das Einbeziehen von Jugendlichen in die Gestaltung des Gedenkortes ist gegenwartsbezogen und auch nach 70 Jahren noch aktuell für die Besucherinnen und Besucher. Die Antwort auf die Frage, ob man gegenwartsbezogene Gedenkstättenpädagogik betreibt, hat auch damit zu tun, ob die Besucherin oder der Besucher von einem erstarrten Gedenkstättenbesuchsritual zu einer Auseinandersetzung mit dem Ort und der Geschichte kommt/kommen kann. Das setzt wiederum voraus, dass man die Besucherinnen und Besucher ernst nimmt und da abholt, wo sie stehen, an ihren Fragen, Interessen, ihrem Vorwissen - ohne dabei an Inhalten zu verlieren. Ausstellungen, Informationsplattformen, interaktive Rundgänge sollten so konzeptioniert sein, dass die Besucherinnen und Besucher genügend Anregungen und Informationen für ihre Auseinandersetzung mit der Geschichte finden können. Eigentlich ein Anspruch, der für alle historisch-politische Museen gilt, sich aber an einem Tat- oder Gedenkort noch anders dar-

stellt, da er als Anspruch einer Gedenkstätte und der Gedenkstättenpädagogik nicht vom Gedenken abgelöst wird und keinesfalls auf eine rein gegenwartsbezogene Eventpädagogik reduziert werden sollte, womöglich angepasst an vermeintliche Rezeptionsgewohnheiten und fehlendes Interesse von Jugendlichen. Spätestens dann, wenn man ohne Geschichtsbetrachtung gar nicht mehr erklären kann, woher eine Entwicklung kommt, hören Jugendliche und übrigens auch Erwachsene auf, mitzudenken. Ein GeDENKort hat viel mit (mit-)denken (können/dürfen) und der Vermittlung der nach wie vor dafür notwendigen Information über die Geschichte eines Gedenkortes zu tun. Die These von der sogenannten Übersättigung heutiger Besucher, geprägt vom medialen Geschichtshype, greift zu kurz. Diese These, die Jugendliche selbst so gar nicht für sich in Anspruch nehmen würden, und die das ungebrochene Interesse der Jugendlichen an Information und Fortführung des Gedenkens nicht ernst nimmt, ist eine praxisferne, rein akademische Diskussion, die unnötig viel Raum einnimmt. Spurensuchekonzepte sind nicht überholt. Die nun notwendig werdende methodische Aufbereitung von medial vorhandenen Zeitzeugeninterviews ist die Aufgabe, vor der die Gedenkstättenpädagogik steht. Das bald nicht mehr mögliche direkte Gespräch mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen hat lange (und berechtigt) gedenkstättenpädagogische Konzepte bestimmt. Die Auseinander-

Magazin vom 15.08.2012 15

Zur Diskussion setzung mit Erinnerungskultur ermöglicht neue Wege der inhaltlichen Auseinandersetzung mündiger Besucherinnen und Besucher mit dem historischen Ort. Spurensuche und Auseinandersetzung mit Geschichte durch interaktive Rundgänge und aufbereitete Informationsplattformen sind weitere Konzepte, die eine Voraussetzung für gegenwartsbezogene Gedenkstättenarbeit sein können. Über die Autorin Carola Pliska ist seit 2011 pädagogische Leiterin der Gedenkstätte Lager Sandbostel.

Magazin vom 15.08.2012 16

Zur Diskussion

Gräber erzählen Geschichte(n): Ein pädagogisches Modul für die Mahn- und Gedenkstätte Waldfriedhof und den „Alliiertenfriedhof“ Trutzhain Von Anna Biewer Eine gute halbe Stunde sind Besucherinnen und Besucher des Museums der Gedenkstätte Trutzhain im nordhessischen Schwalmstadt zu Fuß unterwegs, bis sie die „Mahnund Gedenkstätte Waldfriedhof Trutzhain“, so lautet seit 1992 die offizielle Bezeichnung, erreichen. Der Spaziergang führt vom Museum in der ehemaligen Wachbaracke des Kriegsgefangenen-Mannschafts-Stammlagers STALAG IX A Ziegenhain zunächst durch den Ort und vorbei am heutigen Gemeindefriedhof, ehemalig „Alliiertenfriedhof“. Seit 2003 bilden diese Stationen ein gemeinsames Gedenkstättenkonzept. Die wechselvolle Geschichte Trutzhains vom größten Kriegsgefangenenlager der Wehrmacht zwischen 1939 und 1945 in Hessen bis hin zur Gemeindegründung durch Flüchtlinge und Vertriebene 1951 spiegeln die beiden Friedhöfe in besonderer Weise wider. Als Orte der Erinnerungs- und Gedenkkultur, die Ausgangspunkt für eine vielschichtige historisch-politische Bildung sein können, wurden sie bislang jedoch kaum wahrgenommen. Daher hat die Gedenkstätte und Museum Trutzhain 2012 mit Hilfe des Landesverbands Hessen im Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. ein neues pädagogisches Modul entwickelt, das Schulen und andere Besuchergruppen

dazu anregen soll, die Friedhöfe als Lernorte zu entdecken. Der Landesverband Hessen verfolgt bereits seit vielen Jahren das Ziel, ausgewählte Kriegsgräberstätten zu erforschen und auf dieser Grundlage Programme für Schulen und Gruppen anzubieten. Allein in Hessen gibt es 1052 Friedhöfe mit Kriegsgräbern – doch kaum jemand kennt ihre Geschichte(n). Das pädagogische Modul „Gräber erzählen Geschichte(n)“ ist als ganztägiger Projekttag konzipiert. Das Angebot richtet sich an alle Schulformen ab der 9. Klasse bzw. an Gruppen mit bis zu 35 Personen ab 14 Jahren. Die Ergebnisse werden in Form von Plakaten dokumentiert und können als Ausstellung z.B. der Schulgemeinde zugänglich gemacht werden oder als Grundlage dienen, um Themen zu vertiefen. Spurensuche auf den Friedhöfen Der Projekttag startet mit einer Spurensuche auf den beiden Friedhöfen. Mit Hilfe eines Fragebogens erschließen sich die Jugendlichen die Orte selbstständig. Bei einem gemeinsamen Rundgang werden anschließend die Antworten besprochen. Der erste Teil der Spurensuche orientiert sich an den unterschiedlichen Bereichen auf dem Waldfriedhof: Ende 1941 wurde der STALAG-Friedhof II angelegt, auf dem sowjetische und serbische Tote fernab vom Lagergelände begraben wurden. Die nationalsozialistische Bezeichnung „Russenfriedhof“ ist einer der problematisierten Punkte der Spurensuche. Auch entdecken die Jugendlichen das Grab eines

Magazin vom 15.08.2012 17

Zur Diskussion muslimischen sowjetischen Soldaten. Der Fragebogen führt weiter zu einem Gräberfeld, in dem auch Frauen und Kinder bestattet sind, die nach 1945 gestorben sind. Es handelt sich um Verstorbene aus einem TBC-Sanatorium in Steinatal. Das ehemalige STALAG IX A Ziegenhain diente ab dem Sommer 1946 als Lager für Displaced Persons (DP), zu dem dieses UNRA- bzw. IROKrankenhaus (1) gehörte. Die letzte Station auf dem Waldfriedhof sind die Gräber von deutschen Internierten. Im März 1945 richtete die US-Army in Ziegenhain das Civil Internment Camp 95 ein. 1960 wurden verstorbene Internierte vom Truppenübungsplatz Schwarzenborn hinzugebettet. Der Fragebogen lenkt die Aufmerksamkeit auf die Inschrift eines Gedenksteins, aus der die Begriffe Ehre und Treue hervorstechen. Dies bietet Gelegenheit für eine Diskussion über Täterschaft und Schuld und schlägt den Bogen zu Rechtsextremismus. Die systematische Ungleichbehandlung der verschiedenen Gefangenengruppen fand ihre konsequente Fortsetzung über den Tod hinaus. Dies wird auf dem ehemaligen „Alliiertenfriedhof“ besonders deutlich. Dort findet der zweite Teil der Spurensuche statt. Die polnischen, westeuropäischen und jugoslawischen Toten wurden nach 1945 auf zentrale Kriegsgräberstätten umgebettet, teilweise in den Heimatländern. Daher stehen im Mittelpunkt das Eingangstor und die Skulptur „Die trauernde Frau“, beides von französischen Kriegsgefangenen gefertigt.

Sie sind auf dem heutigen Gemeindefriedhof die einzigen verbliebenen Zeitzeugen. Durch die Spurensuche wird die Frage gestellt, was sie uns heute noch von der Geschichte des STALAG IX A Ziegenhain erzählen können. Die angebotenen Themen für vertiefende Gruppenarbeit Dem Rundgang über die Friedhöfe schließt sich eine Phase der Gruppenarbeit an, welche die Themen vertieft und veranschaulicht. Das jeweils ausgewählte und aufbereitete Material und die dazugehörigen Arbeitsaufträge bieten unterschiedliche inhaltliche Aspekte ebenso wie diverse methodische Herangehensweisen. Somit ermöglicht das selbstständige Lernen in den Arbeitsgruppen (AG) den Jugendlichen verschiedene Lernzugänge. Alle Formulierungen in den Projekttagsunterlagen sind leicht verständlich; Textquellen oder Hintergrundinformationen sind in kurze Einheiten aufgeteilt und komplexe Zusammenhänge entzerrt. Insgesamt wurden fünf Themen gewählt: 1. Ein Zeitzeugenbericht und Ausstellungsexponate veranschaulichen das Leben von französischen Kriegsgefangenen. Die Aufgabe besteht in einer szenischen Darstellung eines Dialogs oder Monologs im Lager. Dadurch sollen Handlungsoptionen oder emotionale Reaktionen ausgelotet werden. Auch stellen sich Fragen wie »Was bedeutet Demütigung?« oder »Welche Auswirkungen hatten die Lebensbedingungen auf das Zusammenleben?«. 2. Eine weitere AG widmet sich der Klärung des realen Schicksals eines sowjeti-

Magazin vom 15.08.2012 18

Zur Diskussion schen Kriegsgefangenen. Zu dem bereit gestellten Archivmaterial gehört eine Anfrage des Enkels an den Suchdienst des Roten Kreuzes von 2010. Die Jugendlichen sollen sich mit den Auswirkungen historischer Zusammenhänge auf Einzelne auseinandersetzen. Welche Antworten finden sie für die Familie des Verstorbenen? 3. Auf dem Waldfriedhof zeugt heute nichts mehr von den verstorbenen Italienischen Militärinternierten (IMI), die nach 1945 nach Frankfurt umgebettet wurden. Quellen geben Auskunft über den Status der IMIs und Einblick in die alltäglichen Schikanen, denen sie ausgesetzt waren. Die Aufgabe steht im Kontext von aktuellen Formen von Erinnerungskultur und es ist Kreativität gefragt: Die Jugendlichen werden vor die Herausforderung gestellt, ein Denkmal zu entwerfen. 4. In Deutschland bestattete Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter bleiben oft nur abstrakte Namen auf Grabsteinen. Diese Leerstellen sollen erzählerisch gefüllt werden, in Form einer fiktiven Biographie. Bei diesem Portrait soll klar werden, dass es um Menschen geht, die ein Leben und eine Persönlichkeit hatten, was ihnen durch die Zwangsarbeit genommen wurde. 5. Wie sieht ein angemessener Umgang mit Gräbern von NSDAP-Mitgliedern aus? Ende der 1980er Jahre gab es darüber eine hitzige Diskussion im Schwalm-Eder-Kreis, die durch Zeitungsartikel und Leserbriefe dokumentiert ist. Anhand einer rechten Hetzrede, die bei einem Interniertentreffen auf dem Waldfriedhof gehalten wurde, können

die Jugendlichen geschichtsrevisionistische Argumente dekonstruieren. Sie sollen eine eigene Position zu dem Umstand finden, dass Kriegsgräberstätten potentiell Rechtsextreme und Neonazis anziehen. Am Ende des Projekttags werden die Ergebnisse präsentiert und gemeinsam reflektiert. Abhängig vom Lernniveau und den Bedürfnissen der Lerngruppen kann ein Projekttag entsprechend angepasst werden. Der Spurensuche kann z.B. praktische Pflegearbeit auf dem Friedhof folgen. Dies kann mit einem Zeitzeugenfilm ergänzt werden. Das Ziel des Projekttags besteht nicht allein in Wissensvermittlung; es geht vielmehr um Sensibilisierung: Es soll ein Bewusstsein geschaffen und Orientierung geboten werden für das Thema Nationalsozialismus und den Umgang mit Vergangenheit. Das pädagogische Modul bietet einen neuen Zugang zur Geschichte Trutzhains. Jugendliche und Erwachsene können sich aus verschiedenen Perspektiven und mit Bezügen zu unserer Gegenwart dem historischen Lernort der Gedenkstätte (neu) nähern. Von der Webseite des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge kann ein Infoblatt mit weiteren organisatorischen Hinweisen heruntergeladen werden. Die Broschüre kann als PDF herunterladen werden.

Magazin vom 15.08.2012 19

Zur Diskussion Endnote (1) UNRA = United Nations Relief and Rehabilitation Administration, IRO = International Refugee Organization, 1946 als Nachfolgeorganisation der UNRRA eingerichtet

Über die Autorin Anna Biewer ist Historikerin und arbeitet als Referentin für Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit im Landesverband Hessen des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.

Magazin vom 15.08.2012 20

Zur Diskussion

„Stacheldraht (...), Scheinwerfer, sobald wir zur Arbeit gingen“ - Lokalgeschichtliche Arbeitsmaterialien zur Schönholzer Heide in Berlin-Pankow Von der Projektgruppe Schönholzer Heide Wer heute die Schönholzer Heide, ein kleines Waldgebiet am westlichen Rande des Berliner Bezirks Pankow betritt, wird, insbesondere bei gutem Wetter, auch auf andere Ausflügler/innen treffen. Auf den Wiesen sitzen kleinere und größere Menschengruppen, immer wieder kreuzen Joggende den Weg und auch der Bolzplatz findet regelmäßige Verwendung. Allein zwei Tafeln des Museumsverbundes Pankow deuten auf die wechselvolle Geschichte des Parks hin. Eine kleine Projektgruppe hat sich in den vergangenen zwei Jahren dieser Geschichte gewidmet. Zunächst wurde zusammen mit Pankower Jugendlichen ein Film zum Thema erarbeitet, der nun durch didaktische Materialien für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit ergänzt wird. Die jüngst im Rahmen des Lokalen Aktionsplan Pankow (LAP) realisierten Materialien gliedern sich in drei thematische Bausteine, die unabhängig voneinander genutzt, aber auch miteinander kombiniert werden können. Die Heiderallye Einen historischen Längsschnitt zur Geschichte des Ortes bietet die Heiderallye. Die Nutzungsgeschichte des Waldstücks erstreckt sich vom Ende des 19. Jahrhunderts bis heute und bietet die Möglichkeit, sich auf unterschiedliche Epochen und Aspekte

der Vergangenheit zu fokussieren. Die Anlage selbst wird damit ein erfahrbares historisches Objekt, mit der Besonderheit, dass sich die Zeugnisse der Geschichte, vom sowjetischen Ehrenmahl abgesehen, eher unauffällig präsentieren. In Kleingruppen werden sechs verschiedene Punkte in der Schönholzer Heide erlaufen, an denen chronologisch die Geschichte des Parks durch beigelegte historische Quellen und Fragestellungen sowie Diskussionsanregungen nachvollzogen wird. Die Spurensuche führt so von der Nutzung des Parks als Erholungsgebiet über das stetige Anwachsen des Bezirkes im Zuge der Industrialisierung zunächst zum großen Vergnügungspark „Traumland“ in den 1930er Jahren. Von dem 1940 in der Schönholzer Heide aufgebauten Zwangsarbeiter/ innenlager und zeitweilig mit knapp 2500 Bewohner/innen einem der größten Berlins steht heute nur noch ein alter Bunker. Die Suche führt schließlich weiter von der inmitten des Parks gelegenen Kriegsgräberstätte über die Spuren der Nutzung des Parks in der DDR. Die Relikte des großen Freilichttheaters und die zeitweilige Müllkippe verdeutlichen, dass die historische Bedeutung des Ortes keine Rolle spielte. Das Zwangsarbeiter/innenlager Im zweiten Baustein wird über die Geschichte des Zwangsarbeiter/innenlagers in der Schönholzer Heide in die verschiedenen Facetten der nationalsozialistischen Zwangsarbeit eingeführt. In vier Modulen werden mit kurzen Texten eingeführte Quellen vorgestellt, die mit Arbeitsaufgaben und Vorschlägen zur methodischen Bearbeitung Magazin vom 15.08.2012 21

Zur Diskussion abgerundet werden. Bei der Bearbeitung des Einführungsmoduls soll zunächst deutlich werden, dass die nationalsozialistische Politik der Zwangsarbeit sich in einem permanenten Spannungsfeld zwischen wirtschaftlichen Erfordernissen und nationalsozialistischer Ideologie bewegte. Die rassistischen Bestimmungen, die sich neben den Erlassen der Behörden auch anhand unterschiedlicher lokaler Firmendokumente nachzeichnen lassen, werden im zweiten Modul mit den Erfahrungen der Betroffenen in Form von drei Biografien und Interviewauszügen kontrastiert. Im Modul zum Thema Widerstand sind verschiedene Handlungsebenen widerständigen Verhaltens dokumentiert. So organisierte Josef Lenzel, Pfarrer einer lokalen Gemeinde, Gottesdienste für die polnischen Zwangsarbeiter/innen und geriet deshalb in das Visier der Gestapo. Nach seiner Verhaftung im Januar 1942 wurde er schließlich in das KZ Dachau deportiert, wo er nach kurzer Zeit umkam. Auch in den Interviews, die der Museumsverbund Pankow mit einigen ehemaligen Zwangsarbeiter/innen vor einigen Jahren geführt hat, werden verschiedene Geschichten über Widerstand gegen die menschenunwürdigen Bedingungen erzählt. Kernstücke des letzten Moduls zum Umgang mit der NS-Zwangsarbeit in der deutschen Nachkriegsgesellschaft sind ein (gescheitertes) Klageverfahren einer ehemaligen Zwangsarbeiterin aus dem Lager sowie ein relativ aktueller Schriftwechsel eines ehemaligen polnischen Zwangsarbeiters mit In-

stitutionen bzw. Vertreter/innen der deutschen Politik. Erinnern und Gedenken im Bezirk Der dritte Baustein widmet sich unter der Überschrift „Erinnern und Gedenken“ in vier Modulen der neueren Geschichte des Bezirks. In der Einführung wird zunächst die historische Entwicklung des Erinnerns und Gedenkens an den Nationalsozialismus in seinen verschiedenen Facetten in den beiden deutschen Staaten vorgestellt. Anhand von Quellen können die Jugendlichen herausarbeiten, welche Funktionen die unterschiedlichen Formen des Gedenkens sowohl für einzelne Menschen, aber auch Institutionen oder eine ganze Gesellschaft haben können, um anschließend eine eigene Position zu entwickeln. Die Beschäftigung mit der Kriegsgräberstätte in der Schönholzer Heide ermöglicht es, neben einer Auseinandersetzung mit gestalterischen Elementen und den damit verbundenen Intentionen des Gedenkens auch auf aktuelle Facetten rechtsextremer und neonazistischer Geschichtsinstrumentalisierung und der Rolle, die diese für die Konstituierung rechtsextremer Ideologie einnimmt, zu schauen. Sicherlich am bekanntesten ist das Sowjetische Ehrenmal in der Schönholzer Heide, das derzeit aufgrund von Restaurierungsarbeiten nicht besichtigt werden kann. Der Vergleich des Ehrenmals mit dem Ehrenmal im Treptower Park ermöglicht es, grundlegende Elemente des Gedenkens zu Magazin vom 15.08.2012 22

Zur Diskussion thematisieren. Über die Analyse der zwei zentralen Figuren der Denkmäler lässt sich herausarbeiten, dass das Treptower Ehrenmal vor allem als Symbol des Sieges gebaut wurde, während das Schönholzer Ehrenmal hingegen der Trauer gewidmet ist. Das bei der Ikonografie auch Geschlechterstereotype eine zentrale Rolle spielen ist ebenfalls Bestandteil des Moduls. Insbesondere die Gedenkfeierlichkeiten am Schönholzer Ehrenmal zu Zeiten der DDR ermöglichen es, in den komplexen Zusammenhang von Gedenkpolitik und ihrer Rolle für das gesellschaftliche Selbstverständnis einzusteigen. Das Modul Gedenken im Bezirk Pankow wirft einen Blick auf die jüngste Geschichte des Erinnerns im Bezirk. Die neu entstandenen Erinnerungsorte verdeutlichen eine Ausdifferenzierung auf verschiedenen Ebenen: Zum einen steht, anders als in der DDR, nicht mehr allein der kommunistische Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime im Fokus. Neben dieser thematischen Ausdifferenzierung des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus sind auch Erinnerungsorte an andere Ereignisse der Lokalgeschichte, wie dem Fall der Mauer hinzugekommen. Nichtsdestotrotz bleibt die Frage nach der geschichtspolitischen Funktion des Gedenkens auch heute aktuell.

schichte und sind somit auch, offensichtlich oder versteckt, im Stadt- oder Landbild präsent, so dass über die Materialien eine lokale Spurensuche und Auseinandersetzung der Jugendlichen mit ihrer eigenen Position zum Thema Erinnern und Gedenken angestoßen werden kann. Die Materialien und der Film können in digitaler Form sowie als Ordner mit Kopiervorlagen gegen Spende bestellt werden. Kontakt: [email protected]

Die Autor/innengruppe Schönholzer Heide besteht aus Anne Hunger, Vera Henßler, Axel Klein, Michael Mallé und Benjamin Steinitz.

Obwohl die Materialien vorrangig für die Bildungsarbeit im Bezirk konzipiert wurden, lassen sie sich in lokal angepasster Form auch an anderen Orten verwenden. Schließlich gehören die behandelten Themenkomplexe „NS-Zwangsarbeit“ und „Erinnern und Gedenken“ vielerorts zur LokalgeMagazin vom 15.08.2012 23

Zur Diskussion

Schulgebäude als „authentische Orte“ Von Bernhard Bremberger Dass die Justus-Liebig-Schule in meiner Heimatstadt Darmstadt 1942 ein Sammellager war, von dem südhessische Juden zur Vernichtung transportiert worden waren – das erfuhr ich zu meiner Schulzeit nicht, es wäre wohl auch kein Thema für den Unterricht gewesen. Viel später recherchierte ich in den Sterbebüchern des Berliner Bezirks Neukölln und wunderte mich über die vielen Italiener, die während des Krieges in der Donaustraße 122 starben. Dort steht eine Schule, die während des Zweiten Weltkrieges als Reservelazarett genutzt wurde – das Standesamt registrierte weit über 100 Tote – Kriegsgefangene verschiedenster Nationalität. Allmählich fanden sich noch weitere Informationen zu Neuköllner Schulgebäuden: • Die heutige Anna-Siemsen-Oberschule: Zeitzeugen berichten von einer Baracke auf dem Schulhof für französische Arbeiter, die zu Steinmetzarbeiten eingesetzt worden waren. • Die Firma National Krupp (eine Tochter des US-Konzerns NCR) nutzte die benachbarte Schule am Stuttgarter Platz ebenfalls als Zwangsarbeiterlager. Untergebracht waren die Polen und Polinnen unter anderem in der von Reinhold Kiehl entworfenen Turnhalle. (1944 wurde daneben ein KZ-Außenlager errichtet für die jüdischen Arbeitskräfte der

Firma.) • Die Schulgebäude in der Rütlistraße wurden als Hilfskrankenhaus genutzt, Namen von dort verstorbenen Ausländern sind bekannt, mittlerweile liegen auch Patientenakten von Zwangsarbeitern vor. Diese Beispiele kann ich beliebig vermehren: für Neukölln, für ganz Berlin. Quer durchs Land lassen sich sicher Belege dafür finden, dass Schulgebäude während des Zweiten Weltkriegs Sammellager, Ausländerunterkünfte, Lazarette oder Hilfskrankenhäuser waren. Seit über einem Jahrzehnt wird Zwangsarbeit von ausländischen Zivilisten in deutschen Schulen behandelt. Um das Thema den Jugendlichen nahezubringen, stehen nun zahlreiche pädagogische Materialien parat, die ihnen die grundlegende Problematik und die Lebensumstände ausländischer Zwangsarbeiter/innen vermitteln. Während die Zahl der Unterrichtsmaterialien zunimmt, sterben die Zeitzeugen; es kommt kaum mehr vor, dass Jugendliche Kontakt zu ehemaligen Zwangsarbeitern bekommen. Das Thema erreicht daher ihre Lebenswirklichkeit immer weniger. Vor dem oben geschilderten Hintergrund gibt es bislang weitgehend ungenutzte Möglichkeiten, sie dafür zu interessieren. Wenn sie wüssten, dass in ihren Klassenzimmern 40 Personen wohnen mussten – Jugendliche in ihrem Alter, vielleicht auch Familien mit Kindern, die in der Nachbarschaft zur Arbeit gezwungen waren! Wenn sie wüss-

Magazin vom 15.08.2012 24

Zur Diskussion ten, dass in ihrem Schulgebäude Menschen auf dem Weg in den Tod Station machen mussten! Wenn Sie wüssten, dass ein Trakt ihrer Schule als Krankenhaus genutzt war, in dem monatlich Dutzende von Osteuropäer/innen an Tuberkulose starben! Ich kenne keine Schule, die ihre eigene Geschichte in dem Maße behandelt, wie die Sophie-Scholl-Schule in Berlin-Schöneberg. Am Anfang stand der Brief einer ehemaligen Zwangsarbeiterin, deren Familie in der Schule untergebracht war: Ihre Eltern und der ältere Bruder mussten am benachbarten Bunker bauen, die Zwölfjährige hatte das Lager sauber zu halten und jüngere Kinder zu beaufsichtigen. Nach Erhalt des Briefes begann man, sich mit der Geschichte des Gebäudes zu befassen. Es entstanden enge persönliche Kontakte zu den damals dort untergebrachten Ukrainern, Freundschaften, die über die Generationen gehen und bis heute gepflegt werden. Das Thema ist bei den Schülern verankert, sei es durch die Behandlung im Unterricht, sei es auch durch künstlerische Aktionen. Oft wünsche ich mir, dass sich auch andere Schulen mit der Geschichte ihres Standortes und ihres Gebäudes auseinandersetzen. Nicht nur wegen des pädagogischen Wertes und der Nachhaltigkeit solcher Erfahrungen für die Schüler/innen. Bei meiner Forschung in Archiven begegnen mir häufig solche Informationen, allerdings lässt die alltägliche Arbeit gar nicht zu, jeder Spur intensiv nachzugehen. Ich kann die Schulen darauf hinweisen, kann meine Unterstützung anbieten und hoffen, dass die Hinwei-

se auf fruchtbaren Boden fallen. Ich kann hoffen, dass sich Pädagog/innen dafür interessieren und bemerken, welch großartige Chance sich bietet, anschaulich Geschichte am eigenen Ort zu lernen und zu erarbeiten. Ein interessiertes Team von Schüler/innen unter motivierender pädagogischer Anleitung kann mit fachlicher Beratung großartige lokalhistorische Ergebnisse bringen. Sonst gibt es kaum jemanden, der sich in dieser Intensität darum kümmern dürfte. Die Schule in der Graefestraße 85 in BerlinKreuzberg beherbergte während des Krieges sogar zwei Ausländerkrankenhäuser, eines für Arbeiter/innen aus Frankreich, eines für „Russen“. 385 Personen sollen dort verstorben sein. Es war gelungen, Kontakt zu einem französischen Arzt zu bekommen, der freiwillig in dieses Krankenhaus gegangen war und unter dem sich die Schule auch zu einem Freiraum für französische Priester entwickeln konnte. Es stand zur Debatte, die Schule nach diesem mittlerweile verstorbenen Arzt zu benennen – bleibt abzuwarten, ob sich die Schule auch nach dem Weggang des Lehrers, der sich intensiv darum kümmerte und engagierte, weiterhin dafür interessieren wird. Die Clay-Schule in Berlin-Rudow bekommt endlich einen Neubau, und zwar in der Köpenicker Straße 39-45. Diese Adresse war Standort des größten Neuköllner Zwangsarbeiterlagers. Ich bin zuversichtlich, dass sich die Schule, die immerhin das Thema „Verdrängte Geschichte“ auf ihrer Website thematisiert, mit der Geschichte des Ortes und dem Schicksal von über 2.500 AuslänMagazin vom 15.08.2012 25

Zur Diskussion der/innen, die dort leben mussten, beschäftigen wird. Alles liegt am Engagement einzelner Pädagog/innen. Sie haben es in der Hand, am Beispiel des eigenen Schulgebäudes Geschichte interessant, anschaulich und erlebbar zu vermitteln.

Über den Autor Dr. Bernhard Bremberger arbeitete als Historiker am Museum Neukölln und an der Zwangsarbeiterkoordinierungsstelle des Berliner Senats, er publiziert zu Medizin und Zwangsarbeit und zur Lokalgeschichte und forscht derzeit an der Universität Potsdam zur NS-Geschichte des Gefängnisses Cottbus. Er ist Gründer und Moderator der seit 2001 aktiven internationalen Mailing-Liste NS-Zwangsarbeit.

Magazin vom 15.08.2012 26

Empfehlung Unterrichtsmaterial

Unterricht am interaktiven Whiteboard Das Whiteboard, die interaktive Tafel, hält immer mehr Einzug in die Schulen, aber auch in die außerschulische Bildungsarbeit. Mit diesem Medium können multimediale Materialien genutzt und modifiziert werden, gleichzeitig bleibt die Funktionsweise einer Tafel erhalten. Das Whiteboard ermöglicht die Arbeit und die Ergänzung der Materialien durch Ausfüllen von Tabellen, Einfügen schriftlicher Ergänzungen und das Importieren von Fotos und Videos an der Tafel. Die Whiteboard-Materialien sind meist PDFDokumente, die auch auf dem PC aufgerufen werden können. Durch die Nutzung der Whiteboards kann aber auch eine frontale Unterrichtsgestaltung befördert werden. Daher ist es wichtig, dass die entwickelten Unterrichtsmaterialien für dieses Medium immer auch Aufgaben für eine Gruppenarbeit und Hinweise für Diskussionsphasen enthalten. Material zu Anne Frank Das Anne Frank Zentrum hat ein Material zur Einführung in Anne Franks Lebensgeschichte entwickelt. Neben einem Mindmap zum Zweiten Weltkrieg und der Person Anne Frank gibt es einen Kurzfilm mit dazugehörigem Arbeitsauftrag und eine Zeitleiste, in der Bilder chronologisch geordnet werden sollen. Die Zusammenstellung für das Whiteboard eignet sich für die 5. und 6. Klasse und unterstützt die historische Kontextualisierung von Anne Franks Lebensgeschichte. Zudem dient das Mate-

rial der Vorbereitung für einen Besuch im Anne Frank Zentrum. Das Unterrichtsmaterial kann kostenfrei von der Internetseite des Anne Frank Zentrums heruntergeladen werden. In dem Download-Paket steht für Lehrerinnen und Lehrer außerdem eine Handreichung für den Umgang mit dem Material bereit. Material der BpB Die Bundeszentrale für politische Bildung hat gemeinsam mit Lehrer-Online Unterrichtssequenzen zum Thema Mauerbau 1961 entwickelt. Dabei setzen die jeweiligen Zusammenstellungen unterschiedliche Schwerpunkte, wie die politische Kontextualisierung des Mauerbaus innerhalb des Kalten Krieges, den Zusammenhang von Mauerbau und Flucht aus der DDR vor 1961 und drei unterschiedlichen Perspektiven auf die Errichtung der Mauer um Westberlin. Beispielsweise wird in letzterer Unterrichtsequenz eine kritische Fotoanalyse angestrebt und der dazugehörige Arbeitsauftrag für Schülerinnen und Schüler beinhaltet die Erstellung einer Fotocollage aus den bereitgestellten Fotos. Neben den drei genannten Materialien sind auf der Website der BpB auch eine Präsentation für das Whiteboard und eine weitere Unterrichtssequenz zu den Montagsdemonstrationen 1989 vorhanden. Die Materialien können ohne eine spezielle Software über alle Rechner und Whiteboards genutzt werden. Neben dem Download der Unterrichtsmaterialien werden auch didaktische Vorbemerkungen und weiterführende Materialien angeboten.

Magazin vom 15.08.2012 27

Empfehlung Unterrichtsmaterial

Methodenhandbuch zum Thema Antiziganismus Von Ingolf Seidel Es ist eine durchaus naheliegende Vermutung, dass ein Titel wie „Methodenhandbuch zum Thema Antiziganismus“ manche potentielle Käufer/innen vor die Frage stellt: Worum handelt es sich überhaupt bei Antiziganismus? Obwohl dieses Phänomen ein durchaus weit verbreitetes Problem darstellt und nach einer Umfrage des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma 76% der Befragten aus der Minderheit angaben, schon häufiger diskriminiert worden zu sein (vgl. S. 12), ist die Sensibilität gegenüber dieser Form von Diskriminierung im Vergleich zur Aufmerksamkeit, die Rassismus und Antisemitismus zu recht erfahren, gering. Ein Problem bei der Benennung von manchen Phänomenen aus dem Bereich der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit liegt darin, dass der jeweilige sprachliche Ausdruck bereits leicht in die Logik von homogenisierenden Zuschreibungen und Differenzkonstruktionen verfällt. So ist im Begriff des Rassismus die fälschliche Annahme der Existenz von menschlichen Rassen enthalten, Antisemitismus – ursprünglichen eine Selbstbezeichnung eines sich als wissenschaftlich verstehenden Judenhasses – meint nicht die Stereotypisierung von Angehörigen der semitischen Sprachfamilie, sondern von Juden und der Begriff Islamophobie, der eine rassistische Haltung gegenüber Personen, die als Muslime angesehen werden, ist ursprünglich ein Kampfbegriff

der iranischen Theokratie, mit dem Kritik am politischen Islam und Islamismus als westliche antimuslimische Haltung abgewehrt wurden. Ähnliche Problematiken beinhaltet der Begriff Antiziganismus. Ihm liegen, so die Herausgeber/innen einleitend, „diskriminierende Strukturen und Handlungen“ zugrunde, die „das antiziganistische Konstrukt von ‚Zigeuner‘, welches in den europäischen Gesellschaften weit verbreitet und tief verankert ist“ befördern und solche ‚Zigeunerbilder’ „öffentlich in medialen Diskursen und privat in zwischenmenschlichen Beziehungen“ verbreiten und reproduzieren (S. 12). Dabei basieren die Fremdbilder von Sinti und Roma in der Regel nicht auf Erfahrungen, „sondern entstehen durch die kulturelle Vermittlung und soziale Vermittlung und Reproduktion, die unkritisch übernommen wird.“ (S. 12) Wie bei anderen Ressentimentstrukturen, ist auch beim Antiziganismus nicht die von der Diskriminierung betroffene Gruppe das Problem, sondern die sozialen Praxen und Differenzkonstruktionen der diskriminierenden Mehrheitsbevölkerung. Dementsprechend sollte zu Beginn der Thematisierung von Stereotypen und Ressentiments in Bildungsprozessen idealerweise die Auseinandersetzung der beteiligten Pädagog/ innen und Lehrkräfte mit der eigenen Verstrickung in Vorurteilsstrukturen und die Erarbeitung einer eigenen Haltung zur Thematik stehen. Die Vielschichtigkeit und der Facettenreichtum der „antiziganistischen Vorurteilsstruktur“ (Markus End, S. 28) bestimmen auch den Aufbau des vorliegenden

Magazin vom 15.08.2012 28

Empfehlung Unterrichtsmaterial Methodenhandbuches. Die Darstellung der Geschichte der Sinti und Roma im deutschsprachigen Raum durch die Historikerin Patricia Pientka gibt einen Eindruck von der langen Geschichte der Minderheit in Europa und bemüht sich dabei diese Geschichte nicht allein auf eine Verfolgungsgeschichte zu reduzieren oder in romantisierende Bilder von musizierenden ‚Zigeunern’ zu verfallen. Der Politologe Markus End der bereits als Mitherausgeber eines Sammelbandes zu Antiziganismus auf sich aufmerksam machte, umreißt im Anschluss die „Wirkungsweise der antiziganistischen Vorurteilsstruktur“ (S. 28), deren Ursache er, adäquat zu anderen Ressentiments, darin sieht, „dass sie dazu beitragen, die eigene Gruppe und damit das eigene Selbstwertgefühl zu stärken“ (S. 29). End fragt nach dem Sinngehalt von Antiziganismus und sieht ihn vor allem in der Zuschreibung von Nicht-Identität an Sinti und Roma. Während in der Vorurteilsstruktur „die Wir-Gruppe“ ihre feste Identität aus der Identifikation mit der Nation zieht, im vorliegenden Fall also mit Deutschland, wird über jene, die als ‚Zigeuner’ stigmatisiert werden, gesagt, sie hätten keine Heimat, kein Vaterland, und zögen stattdessen nomadisierend umher. An dieser Stelle wird deutlich, dass die theoretische Auseinandersetzung mit Vorurteilsstrukturen keine akademische Übung ist. Einserseits zeigen sich Ähnlichkeiten zwischen Antiziganismus und Antisemitismus – auch den Juden wurde und wird die Fähigkeit zur Staatenbildung im Motiv des ruhelos wandernden

Ahasver abgesprochen, während Israel als durch Juden gegründeter Staat, in der antisemitischen Logik häufig eine vermeintlich parasitäre Struktur nachgesagt wird. Demgegenüber finden sich im Antisemitismus keine Weltverschwörungstheorien gegenüber Sinti und Roma, wie sie in der pathischen Judenfeindschaft ein zentrales Motiv sind. End veranschaulicht an einem Zitat von Friedrich Ludwig Jahn die Funktion des Nationalismus bei der Konstruktion von Gruppen: „ (N)ichts ist ein Volk ohne Staat, ein leibloser luftiger Schemen, wie die weltflüchtigen Zigeuner und Juden“ (Jahn 1841, zit. nach End, S. 33). Den historischen und theoretischen Ausführungen schließt sich ein ausführlicher Teil mit Übungen für den Einsatz in der Bildungsarbeit an, das der Projektleiter Kerem Atasever sowie die Autor/innen Elisa Schmidt und Roland Wylezo verfasst haben. Das etwas knapp auf anderthalb Seiten dargestellte Gerüst des pädagogischen Konzepts zielt vor allem auf die außerschulische Bildungsarbeit. Das ist einerseits schlüssig, weil die Bearbeitung von Vorurteilsstrukturen nicht sinnvoll mit der Erzielung bestimmter durch Noten zu bewertender Lernergebnisse verknüpft werden sollte. Das Resultat wäre vor allem ein sozial erwünschtes Sprechen und weniger die Dekonstruktion von stereotypisierenden Haltungen. Wir kennen diese Problematik aus dem Bereich des schulischen historischen Lernens zum Nationalsozialismus. Außerdem sprengen viele Übungen das enge 45-minütige Korsett des Unterrichts. Dem-

Magazin vom 15.08.2012 29

Empfehlung Unterrichtsmaterial zufolge eignet sich das Methodenhandbuch für den schulischen Einsatz nur im Rahmen von Projekten. Grundsätzlich ist es bei der pädagogischen Bearbeitung von Vorurteilen richtig und sinnvoll mit handlungsorientierten Übungen den „aktiv-emotionalen“, statt ausschließlich den „kognitiv-sprachlichen Bereich“ (S. 35) von Jugendlichen anzusprechen. Die Ergebnisse einer solchen prozessorientierten Bildungsmaßnahme sind sicherlich nachhaltiger, als das Lernen hin auf ein bestimmtes Notenziel. Trotzdem vermisst man im Konzept spezifische Vorschläge, wie Lehrkräfte das Thema Antiziganismus im regulären Unterricht aufgreifen können. Hier wurde von den Autor/innen eine Chance vertan. Mit dem Hinweis, dass die Bezeichnung „Seminar“ synonym für andere Bildungssettings benutzt wird und die Bezeichnung „Seminarleitung“ als „kongruent zu Lehrer_innen, Pädagog_innen und auch Nicht-Pädagog_innen verstanden“ (S. 42) werden solle verwischen die Autor/innen unzulässig verkürzend die Unterschiede zwischen Bildungs- und Lernkonzepten und den jeweils dahinter stehenden Rollenmodellen der pädagogisch Tätigen. Die Übungen der Handreichung sind in vier Abteilungen gegliedert und umfassen den thematischen Einstieg, die Arbeit zu historischen Hintergründen, Sensibilisierungsübungen und solche, die zur Dekonstruktion von Vorurteilsstrukturen beitragen sollen. Dabei wurde nach Möglichkeit darauf Wert gelegt, dass keine den Jugendlichen unbekannten Stereotype durch die Arbeit mit dem Material erst bekannt gemacht werden.

Positiv ist zur Konzeption zudem anzumerken, dass Positionen aus der Minderheit von Sinti und Roma eingeflossen sind, indem Engagierte aus dem Verein Amaro Drom eingebunden wurden. Rund ein Drittel der Übungen wurde speziell für den vorliegenden Kontext neu erarbeitet, ein weiteres Drittel besteht aus Adaptionen von Übungen aus dem Bereich der nicht-rassistischen Bildungsarbeit und der Demokratiepädagogik, ein ungefähres letztes Drittel machen übernommene Übungen zur Gruppendynamik wie Warm-ups u.ä. aus. Eine dem Handbuch beiliegende DVD enthält Kurzfilme zum Thema Antiziganismus, zur Bedeutung der Verfolgung und massenhaften Ermordung von Sinti und Roma im Nationalsozialismus sowie zwei Fernsehsendungen als Material für die Übung „Haschkuchen“. Zusammenfassend hinterlässt das Methodenhandbuch trotz der Kritik einen positiven Eindruck. Lobenswert ist auch die Förderung des Projekts durch die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. Zur eigenen Sensibilisierung und Methodensicherheit können bei der Jugendbegegnungsstätte Kaubstraße in Berlin Fortbildungen und Seminare zum Thema Antiziganismus gebucht werden. Alte Feuerwache e.V. Jugendbildungsstätte Kaubstraße (Hg.): Methodenhandbuch zum Thema Antiziganismus. Für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit. UNRAST-Verlag Münster, 2012, 144 S., 19,80 €.

Magazin vom 15.08.2012 30

Empfehlung Web

Educaching Lernen mit Geocaching Beim Geocaching werden Objekte mit Koordinaten versehen, die auf dem Global Positioning System (GPS) beruhen und an verschiedenen Orten versteckt sind. Über das Internet werden diese Orte mit GPS-Koordinaten gekennzeichnet und beschrieben und somit für eine digitale Schnitzeljagd nutzbar gemacht. Die „Geocacher“ werden so an Orte geführt, wo eine Plastikbox versteckt wurde - der „Cache“. In diesem befindet sich immer ein Logbuch, in dem der Besuch eingetragen wird. Außerdem können weitere Informationen zum Ort oder auch kleine Gegenstände zum Tauschen enthalten sein. Es gibt verschiedene Arten von „Caches“: beim „Traditional Cache“ sind die genauen Koordinaten angegeben, beim „Mystery Cache“ muss ein Rätsel gelöst werden um die Koordinaten zu erhalten und beim „Multi Cache“ müssen verschiedene Stationen mit Aufgaben erkundet werden, durch die die Final-Koordinaten zu ermitteln sind. Beim „Educaching“ wird Geocaching in Lernprozesse übertragen. Verschiedene Internetseiten sammeln Informationen und Anleitungen für die Bildungsarbeit mit diesem Medium und stellen einzelne Projekte vor. pb21.de Die Website www.pb21.de berichtet von Schnittstellen zwischen politischer Bildung und dem Internet. Es ist eine Kooperation der Bundeszentrale für politische Bildung und des DGB Bildungswerks. Zu einzelnen Diensten im Internet, die als Werkzeu-

ge für die politische Bildungsarbeit dienen können, gibt es Artikel, Videos und aufgezeichnete Interview-Streams. Zum Thema Geocaching und Educaching sind eine Anleitung zum Suchen von Caches, aber auch Interviews zu Projekten der politischen Bildung veröffentlicht worden. In der Aufzeichnung des #pb21-WebTalks mit Daniel Seitz, Mitarbeiter von Mediale Pfade. Agentur für Medienbildung und dem Audio-Interview mit Tobias Thiel, Studienleiter der gesellschaftspolitischen Jugendbildung der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt werden Möglichkeiten für eigene Projekte erörtert. Den Nutzer/innen werden Ideen für eine eigene Umsetzung gegeben und sie werden auch auf Schwierigkeiten hingewiesen. Für Tobias Thiel ist das gemeinsame Verstecken von „Caches“ mit Jugendlichen interessanter, als sie die Objekte suchen zu lassen. So können sich die Jugendlichen mit ihrem eigenen Verständnis von Orten auseinandersetzen und üben einen kurzen prägnanten Text für die Geocaching-Websites zu schreiben. Bildungsserver Rheinland-Pfalz Auf der Internetseite des Bildungsserver Rheinland-Pfalz hat Daniel Bernsen wichtige Informationen zum Geocaching in der Bildungsarbeit zusammengestellt. Hierbei liegt der Fokus auf einer Erklärung dieses Mediums, aber auch auf der Erörterung wie Geocaching für den Geschichtsunterricht genutzt werden kann. Viele „Caches“ liegen an historischen Orten, die wenig beachtet werden und so von dem „Owner“ (Besitzer/ in und Verstecker/in des Caches) bekannMagazin vom 15.08.2012 31

Empfehlung Web ter gemacht werden wollen. So kann auf beinahe vergessene Denkmäler, Überreste von Bauwerken und überbaute Grundstücke hingewiesen werden. An vielen historischen Orten, auch in der Nähe von Gedenkstätten und Museen befinden sich „Caches“ die auf die Vergangenheit hinweisen, so dass diese in die eigene Bildungsarbeit integriert werden können. So können für den Schulunterricht schon vorhandene „Caches“ von geocaching.com oder opencaching.de benutzt oder gemeinsam mit den Schüler/innen Geocaching-Routen entwickelt werden. Eine kurze Anleitung und Links zum Weiterlesen befinden sich auf der Website des Bildungsservers Rheinland-Pfalz. Beispiel: Zwei Geocaches zur Landespolitik in Düsseldorf Im Auftrag der Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen hat Jöran Muuß-Merholz zwei Caching-Touren in Düsseldorf entwickelt und diese bei den beiden Plattformen geocaching.com und opencaching.de veröffentlicht. Die Tour Landtaggeschichte(n) führt zu den vier Standorten des Landtags in Düsseldorf. An allen Stationen gibt es eine Aufgabe zu lösen, die dann zur nächsten Station und am Ende zu einem „Final-Cache“ führen. Bei der Tour Große Politik am Rheinufer werden vier Orte rund um den Rheinturm abgelaufen, die auf wichtige historische Ereignisse und Persönlichkeiten der Landesgeschichte hinweisen. Weitere Hinweise und ein Video zu diesen beiden Caching-Touren befinden sich auf der Website des Autors.

Kudamm‘31. Eine unerhörte Geschichte. Audiowalk auf den Spuren eines Pogroms. Am Tag des jüdischen Neujahrsfestes, dem 12. September 1931 versammelten sich junge Nationalsozialisten und SA-Männer auf dem Kurfürstendamm in Berlin und verprügelten „jüdisch aussehende Menschen“ und Besucher/innen der Synagoge in der Fasanenstraße. An diese fast vergessene Geschichte eines frühen Pogroms erinnern Studentinnen des Public History Masters an der Freien Universität Berlin in Zusammenarbeit mit Christine Bartlitz (vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam) und Sebastian Brünger (Dramaturg bei Rimini Protokoll) in Form eines Audiowalks. Rund um das Thema „Kudamm-Pogrom 1931“ wurden etwa 40 Hörblasen entwickelt. Diese bestehen unter anderem aus eingesprochenen Prozessakten und zeitgenössischen Gedichten. Des Weiteren wurden Texte konzipiert, die die Zeit am Ende der Weimarer Republik widerspiegeln und Expert/innen zur Gewalttat und zum jüdischen Leben im Berlin der 1920er und 1930er Jahre befragt. Auch ein Zeitzeuge - der heute in den USA lebende Siegbert Veit - kommt in drei Hörblasen zu Wort. Seine Eltern besaßen bis 1942 das „Speisehaus Veit“ am Kurfürstendamm und emigrierten dann in die USA. Zudem wird ein Blick in die Gegenwart gerichtet und geschaut wie sich jüdisches Leben heute in dieser Gegend, aber auch im restlichen Berlin gestaltet. Alle Hörstücke wurden von professionellen Sprechern und

Magazin vom 15.08.2012 32

Empfehlung Web einer Sprecherin aufgenommen und von den Studentinnen selbst geschnitten. Die Audiostücke sind auf der Plattform Radio Aporee gespeichert und können jederzeit angehört werden. Außerdem kann man mit einem eigenen Smartphone mit Android-Betriebssystem und der vorher installierten Radio Aporee App den Audiowalk am Kurfürstendamm und Umgebung ablaufen. Zur Orientierung dient eine Karte, die auf der Homepage des Projektes Kudamm‘31 heruntergeladen werden kann. Diese beinhaltet zudem Kurzbeschreibungen zu jedem Audiostück. Auf der Website befinden sich auch eine Anleitung zur Installation der App und eine Dokumentation des Projektes. In einem Beitrag auf Lernen aus der Geschichte wird das Projekt „Hörpol“, welches die Spandauer Vorstadt in Berlin hörbar präsentiert, vorgestellt. Lernen aus der Geschichte hat außerdem eine praktische Anleitung für Lehrende veröffentlicht, die aufzeigt, wie man ein Bildungsprojekt mit der Erstellung von Audiostücken verbinden kann.

Magazin vom 15.08.2012 33

Empfehlung App

Erinnerungsorte für die Opfer des Nationalsozialismus Eine Datenbank der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) für Museen, Gedenkstätten und Online-Angebote zur Erinnerung an die Opfer des nationalsozialistischen Regimes sammelt seit Januar 2012 Informationen und Kontaktdaten verschiedener Einrichtungen. In Kurztexten wird der Ort und das pädagogische Programm von derzeit 257 Erinnerungsorten (Stand August 2012) vorgestellt.

Orten, kann aber auch als Informationsangebot genutzt werden. Im App Store kann die Anwendung kostenlos heruntergeladen werden. Leider gilt das Angebot derzeit nur für iPhones, iPods sowie für iPads in einer nicht speziell für die Tablets optimierten Version und nicht für Smartphones mit Android-Betriebssystem.

In der App für das iPhone sind nun die gesammelten Daten nutzerfreundlich aufbereitet worden. In der Anwendung kann nach Typen (Bildungsstätte, Dokumentationszentrum, Gedenkstätte, Gedenkstein/ Mahnmal, Museum oder Online-Angebot) oder nach Ort bzw. Postleitzahl gesucht werden. Über die Funktion „In der Nähe“ werden Erinnerungsorte in der Umgebung des eigenen Standortes über eine GoogleMapsKarte abgefragt und angezeigt. Die Inhalte zu den Orten und ihrem pädagogischen Angebot entsprechen der Online-Datenbank auf der Website des BpB. Die Sammlung ist nicht abgeschlossen und kann von den Nutzer/innen stetig erweitert werden. Es können Erinnerungsorte mit Kurztext, Foto und Kontaktdaten sowie Angaben zur pädagogischen Arbeit an die E-Mail-Adresse [email protected] gesendet werden. Weitere Hinweise befinden sich auf der Internetseite der BpB. Die App „Erinnerungsorte für die Opfer des Nationalsozialismus“ dient zur Orientierung und Erkundung von

Magazin vom 15.08.2012 34

Empfehlung Fachdidaktik

Geschichte auditiv Produktion von Audiofeatures Von Dorothee Ahlers Eine besondere Präsentationsform historischer Projektergebnisse stellen Audiospaziergänge oder -beiträge dar. Sie ermöglichen Lernenden ihre erworbenen Erkenntnisse jenseits der allzu üblichen Wandzeitung oder Miniausstellung in ansprechender Weise weiter zu verarbeiten und dabei Erfahrungen und Kenntnisse im Umgang mit dem Medium Audio zu erwerben. Je nach Kenntnisstand und Alter der Lernenden erfordert dieses eine mehr oder weniger starke technische Anleitung von Seiten der Lehrkraft. Die notwendigen Fertigkeiten können allerdings mit ein wenig technischer Affinität und Einarbeitung im Vorhinein erworben werden. Dieser Beitrag gibt Anregungen, Hinweise und praktische Tipps wie ein Seminar, Projekttage oder eine Unterrichtsreihe zu einem lokalhistorischen Thema mit der selbstständigen Produktion von Audiobeiträgen verbunden werden kann. Hintergrundüberlegungen Die Grundidee hinter der Erarbeitung von Audiostücken mit Lernenden ist nicht die Erstellung professioneller Audiobeiträge, sondern die kreative Auseinandersetzung mit einem lokalhistorischen Thema, wobei Recherchefähigkeiten sowie verschiedene Medienkompetenzen erworben werden. Lokalhistorische Themen haben hierbei natürlich den Vorteil, dass sie einen sehr

konkreten Gegenstand bieten, der in einem Audioformat bearbeitet werden kann. Das zuvor erarbeitete historische Wissen wird im Prozess der Audioproduktion vertieft, offen gebliebene Fragen selbstständig weiter recherchiert und die Lernenden haben die Chance, sich selbstständig und kreativ mit einem Themenkomplex auseinander zu setzen. Neben dieser vertieften Beschäftigung mit der Materie erwerben die Lernenden nicht zuletzt umfangreiche Medienkompetenzen: Schreiben eines Drehbuches, Umgang mit einem Aufnahmegerät, Vorbereitung und Führung eines Interviews, Schneiden und Veröffentlichen des eigenen Beitrages. Vorbereitungen Neben Wahl und inhaltlicher Erarbeitung des historischen Themas sind einige organisatorische Vorbereitungen für die Audiobeiträge vonnöten. Wichtig ist die vorherige Kontaktaufnahme mit Expertinnen und Experten, die sich mit dem gewählten Thema beschäftigen. Dieses dient nicht nur – wie bei jeder lokalhistorischen Projektarbeit – der Informationssammlung, sondern es sollten wenn möglich Kurzinterviews vereinbart werden, die später Bestandteil der Audiobeiträge sein können. Um die Beiträge multiperspektivisch zu gestalten bietet es sich an, sowohl Interviewpartner/innen zur Verfügung zu haben, die zur allgemeinen Geschichte (d.h. beispielsweise den nationalen oder globalen Kontext betrachten) des gewählten Themas arbeiten, als auch Expertinnen und Experten für die lokale Geschichte und Besonderheiten. IntervieMagazin vom 15.08.2012 35

Empfehlung Fachdidaktik wpartner können wissenschaftliche Mitarbeiter/innen nahe gelegener Universitäten sein, Museumsmitarbeiter/innen, Archivar/ innen und Lokalhistoriker/innen. Natürlich kann die Recherche nach geeigneten Interviewpartner/innen und die Kontaktaufnahme auch von den Lernenden geleistet werden, das ist vor allem bei einer längeren Projektlaufzeit lohnend. Für die Audiobeiträge müssen Aufnahmegeräte zur Verfügung stehen, eines pro Team/ geplantem Beitrag wäre ideal, aber auch mit weniger Geräten kann man arbeiten. Diktiergeräte und die Aufnahmefunktion von Mobiltelefonen sind wegen der schlechten Qualität nicht zu empfehlen. Neue Geräte kosten ab etwa 70 Euro. Lohnend kann eine Anfrage bei einer lokalen Zeitung, einem Radiosender oder dem Medienzentrum einer Universität sein, um dort einige Geräte auszuleihen. Die Lehrkraft sollte sich zudem mit einem Audioschnittprogramm vertraut gemacht haben. Solche Schnittprogramme sind ausreichender Qualität und Ausstattung kostenlos zu bekommen (dazu weiter unten mehr). Die folgenden Ausführungen zur Produktion von Audiobeiträgen können auch in Form eines Handouts für die Lernenden vorbereitet werden. Wenn die Lehrkraft noch keine Erfahrungen mit der Materie hat, ist es sinnvoll, zur Vorbereitung einmal selbst einen Beispielbeitrag zu produzieren. An diesem kann auch die Vorgehensweise den Lernenden erklärt werden.

Produktion und Veröffentlichung von Audiobeiträgen Ein Audiobeitrag beinhaltet unterschiedliche Bestandteile: Die Sprecherstimme führt durch den Beitrag und sollte - um Orientierung zu bieten - stets von der gleichen Person gesprochen werden. Originaltöne („O-Töne“) sind Aussagen von weiteren Personen, zumeist Interviews mit einem Experten/einer Expertin zum Thema. Abwechslungsreicher und kontrovers wird ein Beitrag durch die Verwendung von Interviews mit mehreren Personen. Zur Untermalung dient Musik, Atmosphäre („Atmo“, z.B. Straßenlärm) und Geräusche (kürzer als eine Atmo, z.B. Hundebellen). Dabei sollte der Einsatz von Musik niemals emotionalisierend oder dramatisierend wirken. Zudem können historische Dokumente, Zeitungsartikel o.ä. eingelesen werden, in diesem Fall von einer zweiten Sprecherstimme. Bei fremdsprachigen Interviews kommt noch eine Übersetzer/innenstimme hinzu. Schritt 1 Aufbereiten eines Themas und Verfassen eines Manuskripts Folgende Überlegungen stehen am Anfang der Planung: Wie kann ich das gewählte Thema interessant und spannend im Rahmen einer akustischen Handlung erzählen? In welcher Reihenfolge sollen die Elemente auftreten? Möchte ich informieren, ein Thema aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten oder lieber einen fiktiven Beitrag wie etwa ein Hörspiel schreiben? Bevor man mit dem Zusammentragen der einzelnen Feature-Teile beginnen kann,

Magazin vom 15.08.2012 36

Empfehlung Fachdidaktik braucht man zunächst ein Manuskript für das gesamte Vorhaben. Das Manuskript ist das Drehbuch des Features und verzeichnet die Reihenfolge der einzelnen Bestandteile wie Moderation, Geräusche, Musik, O-Töne etc. Erst durch ein gutes Drehbuch wird ein Feature spannend oder interessant. Es sollte dabei möglichst übersichtlich gestaltet sein, damit der Autor/die Autorin es beim anschließenden Schneiden selbst noch versteht. Dabei muss die Länge des Features bedacht werden, rund 500 Wörter sind etwa fünf Sendeminuten. Schritt 2 Informationen sammeln, Interviews führen Als zweiten Schritt muss man sich alle Informationen beschaffen, die in dem Feature verwendet werden sollen. Neben der klassischen Sekundärliteratur und einer eventuellen Archivrecherche sind die besten Informationsquellen für ein Feature die Interviews: Zum Einen sind es Primärquellen, zum Anderen kann man sie leicht aufnehmen und weiterverarbeiten. Interviewvorbereitung: • Informiert sein. Der Gesprächspartner setzt bei der/dem Interviewer/in Kompetenz und Sachwissen voraus. • Fragen vorbereiten. Regeln: • kurze Sätze (höchstens ein Nebensatz!) • keine Doppelfragen • keine doppelte Verneinung • klären, ob sich eine offene oder eine geschlossene (W-Frage) Frage eher eignet. Beide können in einem Interview vorkommen, haben aber unterschiedliche

Funktionen. • Keine Suggestivfragen • Umgang mit dem Aufnahmegerät lernen: ein-aus, Standby • Aufnahmegerät richtig einpegeln (Testaufnahmen machen! Leise Aufnahmen kann man lauter machen, aber nicht bei übersteuerten die Qualität verbessern) Interviewführung: • vor und nach dem Gespräch einige Minuten Atmo (Hintergrundgeräusche, Stille) aufnehmen • keine bestätigenden Geräusche machen (mhm, ja, achso). Stattdessen sich darauf konzentrieren, nur pantomimisch zu reagieren! • Wenn der Gesprächspartner zu lange redet oder vom Thema abkommt, ebenfalls nur pantomimisch versuchen zu unterbrechen • am Ende des Gesprächs nicht sofort abschalten, häufig kommen dann noch weitere Informationen/Kommentare Schritt 3 Sprechertext verfassen Hat man die notwendigen Interviews zusammen, macht man sich an das Verfassen des Sprechertextes, sofern dies noch nicht beim Verfassen des Manuskriptes geschehen ist. Anschließend muss der verfasste Sprechertext eingelesen, also aufgenommen werden. Oftmals muss der Sprechertext auch den Aussagen des Interviews entsprechend angepasst werden. Schreiben des Sprechertextes: • Generell gilt: Zuhörende nehmen Infor-

Magazin vom 15.08.2012 37

Empfehlung Fachdidaktik mationen anders auf als Lesende es können. Deshalb: klar strukturiert und verständlich schreiben! • Keine Schachtelsätze

cherkabine zur Verfügung haben (eventuell bei einem lokalen Radiosender möglich), die Aufnahmen sollten aber in einem möglichst kleinen Raum gemacht werden.

• Faustregel: Sätze bis 13 Wörter!

Schritt 4 Ausschmücken des Features

• Wiederholungen dienen dem Hörenden als Orientierung • lieber Aktiv- als Passivsätze • keine Füllwörter, nicht zu viele Adjektive • Tipp: sich selbst vorlesen. Dann hört man, ob die Sätze die richtige Länge haben, zu kompliziert sind o.ä. • großer Zeilenabstand und Trennung von Wörtern vermeiden für eine bessere Lesbarkeit beim Einsprechen • mindestens Anfangs- und Endworte sowie Länge der O-Töne verzeichnen (wichtig für den Schnitt!) • beim Zitieren (z.B. aus Sekundärliteratur oder Archivquellen) die Quelle immer mit angeben Sprechen des Textes: Sprechen fürs Radio ist nicht einfach und braucht einige Übung. Eine Linkliste verzeichnet Internetseiten mit Tipps zum Stimmtraining. Beim Einsprechen des Textes ist es wichtig, klar und deutlich sowie langsam zu sprechen, sonst ist für den Hörenden am Ende wenig zu verstehen. Natürlich muss auch der Raum, in dem man die Texte einspricht, ruhig sein, denn jedes Hintergrundgeräusch wird später zu hören sein (auch solche, die man selbst eventuell nicht wahrnimmt, wie beispielsweise das Summen einer Lampe oder eines Computers). In den meisten Fällen wird man keine Spre-

Wenn man O-Töne und Sprecherstimme als Audio-Datei vorliegen hat, sammelt man die Geräusche, Musik und Atmo entsprechend der Notizen im Manuskript zusammen. Geräusche und Atmosphäre sind dazu da, das Erzählte (Sprechstimme, O-Töne) zu unterstreichen und zu verdeutlichen. Das bedeutet, die Geräusche dürfen nicht ablenken, sie sollten auf keinen Fall emotionalisieren, sondern müssen den Hörenden ermöglichen, in das Thema/die Situation einzutauchen. Geräusche: Hintergrundgeräusche und Musik können entweder selbst produziert und aufgenommen werden, oder man greift auf kostenlose Angebote im Internet zurück, wie beispielsweise bei PDSounds oder Hörspielbox. Auf der Seite Medienpädagogik-Praxis findet man weitere Links zu freien Geräuschen und Musik. Die Seite enthält zudem viele weitere Aufsätze, Tipps und Links zur Medienbildung. Musik: Die Rechte liegen bei den Künstler/innen bzw. beim Musikverlag, dort muss man die Zweitverwertungsrechte einholen. Ist der Titel außerdem bei der GEMA registriert fallen dort Kosten an. Es gibt verschiedene Modelle. Das einfachste ist, sich als Hobby-

Magazin vom 15.08.2012 38

Empfehlung Fachdidaktik moderator zu registrieren, der mit seinen Podcasts keinen Gewinn erzielen möchte und höchstens einmal täglich einen maximal 30-minütigen Podcast veröffentlicht. Das kostet zur Zeit 5 Euro im Monat. Mehr Informationen gibt es auf den Seiten der GEMA. Als Alternative gibt es Podsafe Music, also Musik, die ohne Lizenzzahlungen verwendet werden kann. Es gibt verschiedene Anbieterseiten, beispielsweise Musicalley, Archive.org oder Garageband. Schritt 5 Schnitt Für den Audioschnitt stehen einige Freeware Schnittprogramme zur Verfügung, beispielsweise Audacity, Live Lite oder für Mac GarageBand. Audacity ist wohl das geläufigste Programm, es enthält alle notwendigen Funktionen und kann kostenlos herunter geladen werden. Der LAME-Encoder muss zudem nach der Installation von Audacity installiert werden, um mit Audacity bearbeitete Dateien in mp3-Format exportieren zu können. Den Schnitt lernt man durch Ausprobieren und Übung; wenn man als Lehrkraft zuvor einen Kurzbeitrag selbst produziert hat, sollte man die grundlegenden Funktionen beherrschen. Ein Videotutorial zur Arbeit mit Audacity gibt eine leicht verständliche Einführung, die ein grundlegendes Verständnis für die Funktionsweise des Programmes vermittelt. Schritt 6 Veröffentlichung

der Audiobeiträge. Dafür braucht man zum einen eine Internetseite, die Podspace anbietet und auf der man seinen Audiobeitrag hochlädt, zum anderen muss er bei PodcastPortalen angemeldet werden, um von Nutzern gefunden zu werden. Einen Audiobeitrag kann man beispielsweise bei Podhost hochladen. Man muss sich dort einen Account erstellen, das Hochstellen ist einfach und selbsterklärend. Sodann meldet man den Audiobeitrag auf verschiedenen Internetseiten an, wo er von Usern gefunden werden kann. Beispiele für den deutschsprachigen Raum sind Podster.de, Podcast.de oder i-Tunes (dazu den iTunes Music Store öffnen und unter „Podcasts“ einen Podcast einreichen). Eine Kurzanleitung zum Veröffentlichen von Podcasts mit weiteren Links findet man auf Ohrenspitzer. de. Die Beiträge können selbstverständlich auch auf der Internetseite der Schule/Bildungsinstitution eingebunden werden. Zum Abschluss sollte natürlich eine Präsentation der Ergebnisse erfolgen, die wegen des besonderen Formates auch in Form einer Radiosendung, eventuell in Zusammenarbeit mit einem lokalen Sender geschehen kann. Ein Beispiel für die selbstständige Erarbeitung von Audiobeiträgen durch Studierende zu einem Pogrom auf dem Ku‘damm in Berlin 1931 wird in einem weiteren Beitrag auf Lernen aus der Geschichte zum Projekt „kudamm’31. eine unerhörte geschichte“ beschrieben.

Der letzte Schritt ist die Veröffentlichung

Magazin vom 15.08.2012 39

Vorstellung Bildungsträger/Lernorte

Audioführung Waldfriedhof Halbe Der Waldfriedhof Halbe südöstlich von Berlin ist eine der größten Kriegsgräberstätten in Deutschland. Die über 24.000 Grabstätten, größtenteils namenlos und alle mit einem Todesdatum Ende April 1945 versehen, werfen Fragen auf. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge hat einen Audioführer entworfen, der in 16 Stationen über die Kriegsgräberstätten und den angrenzenden Zivilfriedhof führt. Auf dem Waldfriedhof Halbe liegen Soldaten der deutschen Wehrmacht, der sowjetischen Armee, Zivilpersonen, sowjetische Zwangsarbeiter und im sowjetischen Speziallager Ketschendorf Getötete begraben. Bei der Gemeinde Halbe etwa 40km südöstlich von Berlin fand noch Ende April 1945 eine Schlacht zwischen deutschen Truppen und der Roten Armee statt. Bei dieser so genannten Kesselschlacht von Halbe wurden etwa 40.000 Menschen getötet. Aufgrund der Witterungsbedingungen war eine schnelle Bestattung vonnöten und so entstanden an Ort und Stelle zahlreiche provisorische Grabstätten. Erst sechs Jahre später, 1951 wurde mit der Zusammenlegung der verstreut liegenden Gräber auf einem Zentralfriedhof begonnen. Dieser entstand auf einem sieben Hektar großen Waldgelände, auf dem bis jetzt rund 24.000 Opfer der Kesselschlacht von Halbe ruhen. Auch heute finden weiterhin Umbettungen statt. Der Waldfriedhof von Halbe war jahrelang eine Wallfahrtsstätte von Rechtsextremen

und Neonazis. Mit dem Audioguide will der Volksbund solchen Bestrebungen entgegenwirken. Der Audioguide führt in rund 60 Minuten über das Gelände, beleuchtet die historischen Hintergründe, geht auf die Entstehung der Kriegsgräberstätte ein und widmet sich Herkunft und Todesumständen der verschiedenen Opfergruppen. Die beiden Sprecherstimmen werden ergänzt durch O-Töne von Zeitzeugen und Engagierten. Positiv hervor zu heben ist die Vielzahl an Themen, die neben den historischen Ereignissen auch individuelle Opfer herausgreifen und Entstehung des Ortes und Umgang mit dem Friedhof heute beleuchtet. Unglücklich ist jedoch die stark emotionale Gestaltung der Führung: Dramatische musikalische Untermalung, Kampfgeräusche und andere atmosphärische Elemente sowie moralische Aufrufe „Gegen das Vergessen“ schaffen eine emotionale Stimmung. Diese Einschränkung ist schon insofern schade, als dass der Audioguide ansonsten ein wertvoller Begleiter bei einem Rundgang über den Friedhof ist. Filtert man die Informationen aus der atmosphärischen Einbettung heraus bietet er durchaus solide, abwechslungsreiche Informationen. Mit Schülerinnen und Schüler sollte die Verwendung des Audioguides daher intensiv vorbereitet werden und kann und sollte durch eine medienkritische Übung ergänzt werden. Die Führung kann kostenlos auf der Internetseite des Volksbundes heruntergeladen und auf einem eigenen MP3-Spieler oder Handy angehört werden. Ein Übersichtsplan Magazin vom 15.08.2012 40

Vorstellung Bildungsträger/Lernorte des Friedhofs verdeutlicht den Verlauf des Rundganges und die einzelnen Stationen. Zudem stehen Audiogeräte für die Führung im Informationsgebäude auf dem Gelände zur kostenlose Ausleihe bereit (Montag bis Freitag 8:00 bis 15:00 Uhr).

sellschaft zu fördern. Zu den Aktivitäten des Vereins gehören Ausstellungen, öffentliche Diskussionen und Vorträge, die Veröffentlichung von Publikationen sowie Bildungsprojekte sowohl mit tschechischen als auch mit deutschen Lernenden.

Der Volksbund hat außerdem ein Themenheft zum Waldfriedhof Halbe veröffentlicht, das weitere Informationen über die Kesselschlacht bei Halbe, sowie über die Anlegung der Gräberstätte enthält.

In der Tschechischen Republik arbeitet Antikomplex mit zahlreichen Schulen und regionalen Initiativen zusammen. Dabei begreift der Verein die Wohnorte und Umgebung der Schülerinnen und Schüler als Lernort und leitete sie dazu an, sich mit der lokalen Geschichte um die Komplexe Krieg, Vertreibung und Neuansiedlung zu beschäftigen und diese als Teil der großen Geschichte zu verstehen.

Antikomplex e.V. - Deutschtschechische Bildungsprojekte Das Grenzland der Tschechischen Republik war bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges mehrheitlich von deutschsprachiger Bevölkerung besiedelt. Die Vertreibung dieser Menschen als eine Konsequenz aus den Verbrechen des Nationalsozialismus und die Wiederbesiedlung der Gebiete bedeutete einen Bruch mit dem jahrhundertelangen Zusammenleben von Deutschen und Tschechen in den böhmischen Ländern. Die Landschaft im Grenzland ist bis heute von diesem Einschnitt gezeichnet und erzählt so die Geschichte einer untergegangenen Welt.

Antikomplex ist zudem Partner für deutsche Vereine und Institutionen, die sich in der historischen Bildungsarbeit deutsch-tschechischen Themen widmen. Für den deutschsprachigen Raum ist vor allem das Buch und die Ausstellung „Das Verschwundene Sudetenland“ hervor zu heben, das die Veränderungen im tschechischen Grenzland in den vergangenen Jahrzehnten dokumentiert und somit den Einfluss historischer Brüche auf den Raum aufzeigt. Die Ausstellung wird auch in Deutschland gezeigt (die Termine befinden sich auf der Homepage von Antikomplex) und kann ausgeliehen werden.

Ausgehend von dieser Beobachtung hat sich der tschechische Verein Antikomplex zum Anliegen gemacht, eine Beschäftigung mit der gemeinsamen deutsch-tschechischen Vergangenheit und der lokalen Geschichte des Grenzlandes in der tschechischen Ge-

Eine besondere Bildungsveranstaltung, die jeden Sommer von Antikomplex veranstaltet wird, nimmt die Idee des Spurenlesens in der Landschaft auf. Auf dem Rad erkunden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine Woche lang eine Region, deren sichtba-

Magazin vom 15.08.2012 41

Vorstellung Bildungsträger/Lernorte re Veränderungen Fragen aufwirft und die einschneidenden Veränderungen des 20. Jahrhunderts widerspiegelt, wenn man sie zu lesen weiß. Im Sommer 2012 führt diese Reise durch Nordböhmen und folgt unter dem Titel „Flucht nach Ägypten durch Nordböhmen“ nicht nur den Spuren des sich verändernden Grenzlandes, sondern auch denen der Heiligen Familie, die in Otfried Preußlers „Die Flucht nach Ägypten: Königlich böhmischer Teil“ Anfang des 20. Jahrhunderts das Land durchquerte. In dem aktuellen Projekt „Grenzüberschreitungen“ arbeiten Antikomplex, der deutsche Verein Dialog mit Böhmen e.V., die Technische Universität Chemnitz und das Staatsarchiv im tschechischen Cheb an einem besseren Kennenlernen der regionalen Geschichte im tschechisch-sächsisch-thüringischen Grenzland. Im Rahmen des Projektes werden sowohl historische Forschung betrieben als auch Fachtagungen, Studienreisen und Schulprojekte organisiert.

Magazin vom 15.08.2012 42

Neu eingetroffen

Makom tov – der gute Ort. Jüdischer Friedhof Frankfurt/ Oder. Von Markus Nesselrodt Die vorliegende Publikation des Instituts für angewandte Geschichte (Frankfurt/Oder) ist das Ergebnis jahrelanger Beschäftigung des Frankfurter Lokalhistorikers Eckard Reiß mit der Geschichte des lokalen jüdischen Friedhofs. 20 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges gelang es Reiß, den ehemaligen Friedhof in Słubice, der ehemaligen Frankfurter Dammvorstadt, zu besuchen und zahlreiche Photographien von den erhaltenen Grabsteinen zu machen. Diese Aufnahmen gehören zu den wenigen Überbleibseln des heute fast vollständig verschwundenen Friedhofs. Die 1399 erstmals erwähnte Begräbnisstätte gehört zum jüdischen Erbe der deutsch-polnischen Grenzregion. Das Herzstück des Buches bilden die Photographien, die Eckard Reiß 1965 anfertigte. Die Inschriften der auf den Bildern zu erkennenden Grabsteine wurden aus dem Hebräischen übersetzt und teilweise um theologische Erklärungen ergänzt. Flankiert wird die Photodokumentation von vier Essays und einer Zeittafel zur Geschichte der Jüdinnen und Juden in Frankfurt an der Oder. Der Lokalhistoriker und Autor der historischen Photographien, Eckard Reiß, stellt in seinem einleitenden Text „Makom tov – der gute Ort“ die Geschichte des jüdischen Friedhofs Frankfurt(Oder) / Słubice

dar. Reiß versteht Friedhöfe als „offene Geschichtsbücher“, die es zu lesen gelte. Die ältesten Quellen zur Existenz eines jüdischen Friedhofs in Frankfurt/Oder reichen bis in die Anfangstage der Stadtgeschichte zurück. Seine Funktion als jüdische Begräbnisstätte endete mit der letzten Beerdigung im Jahre 1944. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges liegt der Friedhof auf polnischem Territorium, wodurch die Frage auftauchte, was die neue Verwaltung mit dem kulturellen Erbe der deutschen Juden anfangen sollte. Jahrzehntelang verfiel das im Krieg kaum zerstörte Gelände, bis es 1975 sukzessive abgetragen wurde. Nach jahrelanger Debatte um die Nutzung des ehemaligen Friedhofgeländes erwarb die Stadt Słubice einen Teil des Territoriums und überschrieb dieses 2004 der jüdischen Gemeinde in Stettin. Auf dem Gelände befinden sich heute bis auf einige wenige symbolische Grabmäler und eine Informationstafel keine Anzeichen für seine jahrhundertelange Funktion als jüdische Begräbnisstätte. Nathaniel Riemer, Mitarbeiter an der Universität Potsdam, erläutert aus theologischer Sicht die Bedeutung jüdischer Friedhöfe. Ähnlich wie schon Reiß weist auch er auf die kulturhistorische Bedeutung von Begräbnisstätten hin, die der Nachwelt zahlreiche „Daten über die Vergangenheit“ liefern. Die Besonderheit jüdischer Friedhöfe bestehe allerdings aus zwei Aspekten: Erstens, die „unbehelligte Bedeutung der Ehre und die ungestörte Ruhe des Verstorbenen“ und zweitens, die „Vermeidung einer rituellen Verunreinigung durch den

Magazin vom 15.08.2012 43

Neu eingetroffen Kontakt mit dem Leichnam“. Die Grabsteine (Mazeva=Säulen) sollen den Toten „ein Denkmal“ setzen. Riemer ruft am Ende seiner Ausführungen dazu auf, die nicht mehr benutzten jüdischen Friedhöfe in Mittelund Osteuropa als kulturelles Erbe der Gesellschaft zu begreifen und als Denkmäler langfristig zu schützen. Jemand, der diesen Aufruf sehr ernst nimmt, ist Andrzej Kirmiel. In seinem Text zeigt er jüdische Spuren im Lebuser Land, also der deutsch-polnischen Grenzregion, auf und richtet seinen Fokus dabei auf die Geschichte nach 1945. Jahrzehntelang tat die polnische Verwaltung im Lebuser Land wenig für den Schutz regionaler jüdischer Kulturgüter. Um dies zu ändern, gründete sich 2006 die private Lebuser Stiftung Judaica mit dem Ziel, die Erinnerung an die jüdische Präsenz in der Region wachzuhalten. Die von der Stiftung organisierten Ausstellungen und Kulturfeste finden stets ein interessiertes Publikum, doch stelle sich immer wieder die Frage, so Stiftungsvorsitzender Kirmiel, ob nicht jüdische Polen die Nachlassverwalter jüdischen Erbes sein können.

heutigen deutsch-polnischen Grenzregion. Der jüdische Friedhof in Słubice dient hierbei tatsächlich als „offenes Geschichtsbuch“. Die Frage stellt sich allerdings, wer – um im Bild zu bleiben – darin lesen wird. Denn die lobenswerte zweisprachige Ausgabe (deutsch/polnisch) kann nur einen Teil des potentiellen Publikums erreichen. So wird beispielsweise deutschen und polnischen Schulklassen auf ihrer historischen Spurensuche in der Grenzregion ein hilfreiches und gut verständliches Buch in die Hand gegeben. Doch die verbliebene große Mehrheit des nicht deutsch- oder polnischsprachigen Publikums wird sicher nur durch eine englischsprachige Übersetzung auf das vorliegende Ergebnis einer langjährigen Puzzlearbeit aufmerksam. Eckard Reiß, Magdalena Abraham-Diefenbach (Hg.): Makom tov – der gute Ort. Jüdischer Friedhof Frankfurt (Oder) / Słubice, Vergangenheitsverlag Berlin 2012, 12,90 €.

Die abschließende Zeittafel von Matthias Diefenbach zeichnet die jüdische Geschichte in Frankfurt/Oder von der ersten Erwähnung im 13. Jahrhundert, über die Jahre des Nationalsozialismus bis zur Neugründung der jüdischen Gemeinde durch Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion in Jahre 1998 nach. „Makom tov“ ist ein wertvoller Beitrag zum Verständnis der jüdischen Geschichte in der

Magazin vom 15.08.2012 44

Neu eingetroffen

Homophobie und Devianz Von Annemarie Hühne Ausgehend von der Debatte um das Berliner Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen befasst sich das vorliegende Buch sowohl mit der historischen Forschung zu Homosexuellen im Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit, wie auch mit der gegenwärtigen Erinnerung an die Verfolgung.

durch unterschiedliche Lebensumstände und Verfolgungssituationen. Hierbei wird deutlich, dass es nicht eine bestimmte Form der Verfolgung von lesbischen Frauen gab, sondern die rechtliche und ideologische Diskriminierung und Entrechtung auf unterschiedliche Weise stattfand. Insgesamt wird die Geschichte von lesbischen Frauen in dem vorliegenden Band ebenso ausführlich betrachtet wie die von schwulen Männern. Erinnerungen und Kontroversen

Homosexualität und Homophobie im Nationalsozialismus

Besonders hervorzuheben sind die Artikel im dritten Teil des Buches, welche sich der

Der erste Teil des Bandes beschäftigt sich mit den ideologischen und rechtlichen Voraussetzungen für die nationalsozialistische Verfolgung von Homosexuellen. Dabei werden auch Differenzen und Praktiken der unterschiedlichen Verfolgung von Männern und Frauen aufgezeichnet. Jens Dobler plädiert in diesem Zusammenhang dafür, dass die Verfolgung von schwulen Männern und lesbischen Frauen nicht gegeneinander aufgerechnet werden soll. Die Ausführungen zu polizeilicher und gesellschaftlicher Diskriminierung von Homosexualität im Nationalsozialismus leiten über zu einer Beschreibung von Homosexualität und Homophobie in den Konzentrationslagern. Neben einer Überblicksdarstellung von Insa Eschebach zum Konzentrationslager Ravensbrück und der Beschreibung Alexander Zinns zur Situation von männlichen Häftlingen mit dem rosa Winkel, skizziert Claudia Schoppmann vier Frauenporträts. Die Geschichten der lesbischen Frauen sind gekennzeichnet

Erinnerungsgeschichte und dem Gedenken an die verfolgten Homosexuellen widmen. Homosexuelle waren bis zur Mitte der 1990er Jahre eine kaum beachtete Gruppen von im Nationalsozialismus Verfolgten, was vor allem mit der anhaltenden Diskriminierung nach 1945 zu begründen ist. Klaus Müller benennt in seinem Artikel „Gedenken und Verachtung“ zwei maßgebliche Perspektiven bei der Erinnerung an Homosexualität im Nationalsozialismus. Zum einen beschreibt er den Mythos von homosexuellen Nazis, wobei in der Nachkriegszeit „Homosexualität […] als missglückte (sexuelle) Individuation denunziert“ (S.115) und mit Gewalt und Faschismus verbunden wurde. Zum anderen schildert der Autor die Verweigerung, die nationalsozialistische Homosexuellenverfolgung als Unrecht in den Nachkriegsgesellschaften anzuerkennen. In seiner Betrachtung der homosexuellen Gedenkkultur der 1970er Jahre bezieht er diese beiden Perspektiven mit ein. Sein Hauptfokus liegt dabei auf männlichen HoMagazin vom 15.08.2012 45

Neu eingetroffen mosexuellen, was der Autor mit der Fokussierung der staatlichen Verfolgung auf diese Gruppe, aber auch mit dem hierarchischen Geschlechterverständnis im Nationalsozialismus und der Zeit danach, begründet. Am Schluss des Aufsatzes ergänzt Müller eine Reflexion zum NS-Verständnis des weiblichen Geschlechts und der dazugehörigen Forschung. Außerdem stellt er eine umfangreiche Bibliografie zur Homosexuellenverfolgung zur Verfügung. Thomas Rahe beschäftigt sich in seinem Beitrag mit dem Gedenken an Orten von ehemaligen Konzentrationslagern und der Informationsbereitstellung in den Dauerausstellungen der Gedenkstätten. Der Autor beschreibt die Entwicklung der wissenschaftlichen Forschung zu der Thematik und weiterhin bestehende Forschungsprobleme und – defizite. Anhand von drei Punkten erläutert Rahe die Bedeutung von KZ-Gedenkstätten für die Vermittlung der Geschichte von homosexuellen Verfolgten im Nationalsozialismus. Erstens verspreche die hohe Besucherresonanz eine Breitenwirkung der Aufarbeitung dieser Geschichte und zweitens seien diese Institutionen, der einzige Ort an dem die Besuchenden darüber informiert werden, da in anderen Medien wie Schulbüchern die Thematik kaum angesprochen wird. Drittens sei laut dem Autor die Einbeziehung der Verfolgung von Homosexuellen in den Komplex der Konzentrationslager und die Präsentation neben der Verfolgung anderer Gruppen eine eindeutige Einordnung als Verbrechen.

Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen Die weiteren Artikel befassen sich mit dem Homosexuellen-Denkmal in Berlin und dem in diesem Kubus gezeigtem Film. Stefanie Endlich stellt verschiedene Denkmäler zu dieser Thematik im In- und Ausland vor, skizziert die Entwicklungsgeschichte des Berliner Denkmals und ordnet dieses in die nationale Denkmalkultur ein. Außerdem thematisiert sie den im Denkmal installierten Film von einem sich küssenden Männerpaar. Um dieses Video entspann sich eine Kontroverse über das gemeinsame Gedenken an die verfolgten Männer und Frauen. Mit dieser Debatte um den Film und einem neuen Film, der nun die gleichgeschlechtliche Liebe zwischen Männern und Frauen zeigt, befasst sich Corinna Tomberger in ihrem Beitrag. Sie nähert sich dabei der Frage an, ob es ein Denkmal für Schwule und Lesben sein kann, wenn der gestalterische Entwurf auf homosexuelle Männer ausgerichtet war. Anderseits, so führt sie aus, ist das Denkmal sowohl homosexuellen Männern, als auch Frauen gewidmet. In der Interpretation des neuen Film „Kuss ohne Ende“ resümiert die Autorin: „Einen Ausweg aus dem Dilemma, das dem Denkmal aufgrund seiner Widmung strukturell innewohnt, bietet somit auch der zweite Film nicht.“ (S.207) Tomberger schließt sich der Forderung einiger Aktivistinnen an und plädiert für eine Umwidmung des Denkmals als exklusives Schwulendenkmal.

Magazin vom 15.08.2012 46

Neu eingetroffen Fazit Die Erforschung der Verfolgung von Homosexuellen im Nationalsozialismus, aber auch der Umgang mit dieser Geschichte nach 1945 sind bislang nicht umfassend erfasst und dokumentiert wurden. Daher ist das vorliegende Buch ein wichtiger Schritt vor allem für die Analyse des Gedenkens und Erinnerns an die nationalsozialistischen Verbrechen an Homosexuellen. Das Buch versammelt bekannte Autor/innen wie Insa Eschebach, Claudia Schoppmann und Jens Dobler und präsentiert den neuesten Stand der Forschung auf diesem Gebiet. Für eine Beschäftigung mit der Thematik Homosexualität und Homophobie im „Dritten Reich“ und den Nachkriegsgesellschaften ist dieses Buch unerlässlich. Insa Eschebach (HG.): Homophobie und Devianz. Weibliche und männliche Homosexualität im Nationalsozialismus. Berlin 2012, 207 Seiten, 19 Euro.

Magazin vom 15.08.2012 47

Unser nächstes Magazin erscheint am 19. September 2012 und trägt den Titel „Wir sind das Volk“ - Bürgerproteste und Runde Tische als Anstöße für die politische Partizipation?

IMPRESSUM Lernen aus der Geschichte e.V. c/o TU-Berlin Institut für Kunstwissenschaft und Historische Urbanistik Fachgebiet: Fachdidaktik Geschichte FR 3-7 Franklinstr. 28/29, 10587 Berlin http://www.lernen-aus-der-geschichte.de Projektkoordination: Birgit Marzinka Webredaktion: Ingolf Seidel, Dorothee Ahlers und Annemarie Hühne Das mehrsprachige Webportal wird seit 2004 gefördert durch die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, Berlin. Die vorliegende Ausgabe unseres Magazins wird durch den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. gefördert. Die Beiträge dieses Magazins können für nichtkommerzielle Bildungszwecke unter Nennung der Autorin/des Autors und der Textquelle genutzt werden.