K AREN MCLEOD

AUF DER SUCHE NACH DER VERLORENEN WIMPER Roman Aus dem Englischen von Robin Detje

Berlin Verlag

1 Ich bin in einer fremden Achselhöhle aufgewacht. Von draußen tauchen die Straßenlaternen ihren Arm in blassorangenes Licht, und als ich den Kopf hebe, bleibt der Arm einfach liegen, ruhig über das Bett gebreitet. Soweit ich sehen kann, sind die Stoppeln in ihrer Achselhöhle ein paar Tage alt, aber die eine Brust ist ihr vom Oberkörper gerollt und verdeckt fast alles. Es sieht nicht so aus, als ob sie atmet. Aber gerade als mir wieder einfällt, wie sie sich gestern Abend bei mir an der Ecke nass gemacht hat, steht ihr auch schon der Mund offen, und ihr leises Schnarchen zeigt mir an, dass sie doch noch nicht tot ist. Meine Zunge ist trocken, meine Zähne sind pelzig. Ich lasse mich aus dem Bett auf den Boden fallen, und da liegen meine Kleider auf einem Haufen. Dass ich nackt bin, merke ich am Luftzug. Oben auf meinen Sachen liegt ihr BH . Er ist groß, mit zwei grinsenden Bügeln unten an den silbrigen Körbchen, die irgendwie schusssicher aussehen. Ich weiß noch, dass sie mir ihre nasse Hose ins Bad gelegt hat und dass ich betrunken war, aber sehr entgegenkommend, schließlich habe ich ihr mein einziges Handtuch zum Abtrocknen gegeben. Ich krieche zur Tür und dann durch den Flur und spüre noch den Alkohol in meinem Blut. Mir ist zum Lachen, ich erkenne mich nämlich selbst nicht wieder. Ich bin ein schweinischer Junggeselle in einem schlechten amerikanischen Film, der vielleicht im harschen grellen 9

Licht des Kühlschranks Saft direkt aus der Packung trinkt, total verschlampt, nur in Socken und schlabberigen Unterhosen. Dann erklingt ein Rocksong, und mein Haar sieht ganz verwuschelt aus und rund um meine Lippen kann man sehen, dass ich es gerade gemacht habe, und weil ein fremdes Mädchen in meinem Bett liegt, wackele ich zu den wüsten Gitarrenklängen mit dem Kopf, und ich weiß, der Sex war super. Aber Kinostecher brauchen Publikum, und ich würde Petula erst am Morgen alles erzählen können. Mann, bin ich froh, dass ich in meiner Küche bin, als ich den Lichtschalter gefunden und umgelegt habe! Ich lebe noch nicht lange hier, und die Wohnung ist mir noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen; im Halbschlaf denke ich noch immer, ich bin da, wo wir aufgewachsen sind. Das ist der Ort, von dem ich träume. Ich schalte das Licht aus und blicke in die Nacht hinaus, die vor dem Fenster hängt wie Wackelpudding. Um diese Zeit kann ich mir immer so schön vorstellen, dass die Sonne nie aufgehen wird, und vielleicht ist die Zeit stehen geblieben, und der Druck ist weg, an sie zu denken oder Simon zu finden. Weißt Du noch? Ja. Si, wie ich ihn immer gerufen habe, ist/war mein Bruder, und von ihm erzähle ich Dir später. Ich bibbere auf dem Linoleum, mache den Kühlschrank auf und suche nach dem Saft aus dem Stecherfilm und genieße das wohlige Gefühl, wie die Kühlschranktür aufschwingt und das Licht angeht. Ganz echt komme ich mir jetzt vor. Ein paar Teile von mir sind beleuchtet. Da, wo ich früher mit ihr gelebt habe, war die Birne im Kühlschrank durchgebrannt, und einen Kühlschrank ohne Licht aufzumachen ist einfach eklig (in der Zeit brannte überhaupt eini10

ges durch, den Sandwichtoaster und die Türklingel hat sie mir angehängt). Zwischen den Krümeln auf den leeren Glasböden steht ein Karton mit Pampelmusensaft, der erst ein paar Wochen abgelaufen ist. Als ich gerade eingezogen war, hatte ich den zum Mixen für Cocktails gekauft. Ich schlage die Kühlschranktür wieder zu und fülle an der Spüle zwei Gläser mit Leitungswasser, eins für mich und eins für die Fremde. Durch das Fenster über der Spüle kann ich sehen, dass im Haus gegenüber noch alles schläft: Die Vorhänge sind fest zugezogen und lassen kein Leben raus. Ich gehe zurück ins Schlafzimmer und krieche langsam wieder ins Bett. Sie schnarcht nicht mehr und hat sich umgedreht. Ich kann ihren Rücken sehen, ihre Haare sind lang und reichen bis an mein Kissen. Weil mir sonst nichts einfällt, halte ich den Atem an, aber eigentlich möchte ich mir die Füße an ihr wärmen. Ich bin nicht mehr ganz sicher, wie wir gestern Abend nach »dicht nebeneinander tanzen« bei »sie kommt noch mit zu mir« gelandet sind. Könnte sein, dass ich ihr ein paarmal zugezwinkert habe. Ich hätte nie gedacht, dass Zwinkern funktioniert, aber es ist einfacher als Reden, besonders wenn man vorher vor dem Spiegel übt. Und da liegt sie bei mir im Bett, der lebende Beweis, dass Zwinkern funktioniert, und ich gehe unten gar nicht zu sehr in die Breite, wie sie behauptet hat, kurz vor diesem ganzen Lasagne-Ding. Da gibt es eine andere Frau in meinem Leben, und von allen Mädchen im Club ist die Wahl der Fremden auf mich gefallen. Jetzt haben sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt, und ich hebe die Decke hoch, um den Körper der Fremden zu begutachten. Sie hat die Figur einer Schwimme11

rin, soweit ich das an ihrem Rücken sehen kann, der sich von mir wegkrümmt, breite Schultern und dunkles, welliges Haar. Ihr Hintern ist nicht so schwer wie meiner, ein bisschen wie bei einem Mann, ganz blass, und in der Beleuchtung sieht er beinahe fleckig aus. Ich beschließe, die Augen den Rest der Nacht über nicht mehr zuzumachen, weil es sonst schneller Morgen wird und sie dann aufwacht und ist, wer sie ist, und nicht mehr, zu wem ich sie mir für den Augenblick mache. Ich überlege, ob ich an mir rummachen soll, aber dann finde ich das respektlos, als würde man neben einer Leiche onanieren. Also hebe ich wieder die Decke und sehe an mir herab und erschrecke, weil offenbar mein Hüftknochen weg ist. Ich drücke da, wo er sonst immer hervorstand, und kann den unter einer Fettschicht verborgenen Knochen fühlen. Meine Beine sehen aus wie Würste, die aus einer viel zu engen Orangenhaut-Pelle platzen wollen. Ich fahre mit den Fingern über meinen weichen Bauch, bekomme zwei Hand voll Fleisch zu fassen, finde dann unten auf den Rippen noch zwei und drücke die beiden Würste zusammen und entdecke, dass ich noch andere Fettwülste hinbekomme und aus der Falte an meinem Bauchnabel ein Gesicht formen kann. Ich drehe mich auf die Seite und merke, wie mein Bauch sich vor mir auf die Matratze ergießt. Ich kann mich überhaupt nicht erinnern, wie ich so fett geworden bin oder wann das angefangen hat oder wann ich es nicht war. Bei mir in der Wohnung gibt es eben keine großen Spiegel; meine schneiden mich alle am Hals ab. Ich lege mir die Hand wieder auf den Schenkel und lange mit der anderen nach dem Rücken der Fremden, aber dann kriege ich mich wieder ein. Ich mache lieber die Augen zu, rubbele zwischen meinen 12

Beinen und verwandle die Fremde in sie, nur für den Augenblick, bis ich keuche und mir der Kopf platzt von dem Gefühl, das mir die Zehen wärmt. Jetzt muss ich Dir gestehen, dass ich seit drei Monaten eine Schwäche für Knoblauchbrot habe, oft packt es mich tief in der Nacht, ich bekomme sie nicht in den Griff, ungewöhnlich für den Frühling, die Jahreszeit, in der man uns weismacht, wir würden nun ganz selbstverständlich unsere Erscheinung prüfen und nein zum Nachschlag sagen wollen. Mein Körper ist noch ganz darauf eingestellt, sich auszupolstern wie sonst zu Winteranfang. Vor Kurzem habe ich angefangen, das Eisfach leer zu räumen, sobald ich merke, dass ich eigentlich schlafen gehen sollte, und die Knoblauchbaguettes zum Aufbacken in den Ofen zu schieben, satt gefüllt mit Knoblauchbutter, und weil ich so ungeduldig bin, hole ich sie schon raus, wenn sie noch ganz hell sind, kann kaum erwarten, dass mir alles das Gesicht runterläuft, und schiebe die Zunge in den halbgefrorenen Brotkern. Früher waren es Donuts voller Marmelade, in die Mikrowelle, ping!, schon fertig, und heute frage ich mich, warum ich so scharf auf phallischen Fraß bin, und ob es da ein heimliches Verlangen gibt, mit einem Mann zu schlafen, von dem ich noch nichts gemerkt habe. Aber dann wäre ich so mies wie sie, oder? Dass ich innen an den Armen mehr Fleisch habe, ist mir aufgefallen, auch, dass meine Schenkel sich zart aneinander reiben, wenn ich die Straße entlanglaufe. Ich habe mich schon wochenlang nicht mehr angesehen, das heißt, ich weiß gar nicht, wie ich aussehe, wenn ich weggehe. Wenn man keinen großen Spiegel hat, ist das nicht schwer. Mein Gesicht sehe ich mir nach wie vor im Badezimmerspiegel an und 13

glaube nicht, dass es so viel voller geworden ist, aber andererseits sieht man natürlich dauernd mollige Damen mit hübschen und vollkommen geformten Gesichtern oben auf den dicken Körpern. Aber trotzdem liegt da eine Frau bei mir im Bett, die mich unter allen anderen Frauen im Club am liebsten mochte und mit zu mir gekommen ist. Nur dass ich mir nicht sicher bin, ob überhaupt was war, und ich kann sie natürlich schlecht fragen, vielleicht hatten wir ja irre guten Sex und ich war die Beste, die sie je hatte, und sie ist längst in mich verliebt. Vielleicht war das für sie die Nacht der Nächte, und das will ich ihr nicht verderben, also frage ich lieber nicht. Mein Leben ist anders. In einer einzigen Nacht hat es sich verändert und ein bisschen verschoben, vielleicht nicht richtig voran, aber rückwärts bestimmt auch nicht, dahin, wie es mal war, davor habe ich nämlich immer Angst. Es ist genau wie mit dem Abend, an dem Petula ihren heimlichen Geliebten Ewan kennengelernt hat. Sie hat gesagt, plötzlich sei das Morgen nicht mehr so berechenbar gewesen. Sie hat gesagt, die Menschen im Zug hätten sie angestarrt, als wäre etwas Besonderes an ihr …, als sei ihr das Geheimnis ihres Glücks ganz offen ins Gesicht geschrieben.

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2 Si, wie ich ihn oft genannt habe, ist/war mein Bruder. Aber das weißt Du ja. Auf meinem Foto von ihm hält er einen Billardqueue und grinst ganz breit. Sein Pulli ist ihm ein bisschen zu klein und sein Freund Colin, ein Schwarzer, hat ihm locker den Arm um die Schultern gelegt; so wie Männer das machen, ohne schwul auszusehen. Sie stehen vor einem Billardtisch in dem Ferienlager bei Brighton, wo wir jedes Jahr hingefahren sind. Die Fotos habe damals ich geschossen, in der Woche wollte ich nämlich gerade Modefotografin werden. Ich hatte die Kamera um 45 Grad geneigt und nachlässig auf den Auslöser gedrückt und dann ganz schnell wieder aufgezogen und noch eine Aufnahme gemacht, dann wieder ganz schnell aufgezogen, bis mir der Daumen an den Ritzeln wund wurde, und ich wünschte, ich hätte eine Automatik. Simon ist verschwunden. Am Polizeirevier hängt ein Plakat mit seinem Gesicht drauf. Jeden Morgen komme ich auf dem Weg zur Arbeit bei Ruby daran vorbei und sehe wieder, dass es ihm überhaupt nicht ähnlich sieht. Darunter steht: HABEN SIE DIESEN MANN GESEHEN?

Simon Rodgerson wird seit drei Monaten vermisst. Augen: braun; Haarfarbe: braun; Alter: 23 Jahre; schlank; Größe: 1 Meter 80. Zuletzt gesehen am ersten Weihnachtsfeiertag in 15

der Wohnung seiner Familie, die er nach einem Familienkrach verließ. Wenn Sie ihn sehen, rufen Sie uns bitte an. Ich würde noch unter das Bild schreiben: Simon, auch unter dem Namen Amanda bekannt, wurde zuletzt gesehen, als seine Mutter ihn am ersten Weihnachtstag aus dem Haus warf. Das Essen stand dampfend auf dem Tisch und Simon trug Frauenkleider, eine schiefe Bubikopfperücke und braune Kunstlederpumps, die ihn zwickten. Seine Hände sind wunderschön und zart, aber seine Knie sind richtig knubbelig, und er hat Angst, von der Welt abgelehnt zu werden, und das wird er auch, weil Mama damit angefangen hat. Mama hat gesagt, er wäre gestört, dabei war sie es, die ihn gestört hat. Und als ich ihr sagte, dass ich es schon eine Weile wusste und nichts Komisches daran fand, hat sie gar nicht reagiert und sich mit einer Flasche Sherry in Deinen Lehnsessel gesetzt, den wir noch haben, und das Etikett angestarrt, als stünde darauf, was sie als Nächstes zu tun hätte. »Habe ich dich nicht genug geliebt?«, sagte sie, als ich mir beim Gehen eine Schokoladenorange in den Rucksack steckte. Und dann krümmte sie sich, als litte sie an chronischen Schmerzen, und brüllte: »Meine Kinder sind beide krank!« Und da hat es mir gereicht, und ich wollte sie nie wiedersehen, was bei der eigenen Mutter natürlich nicht so einfach ist.

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3 Sie wohnt fünf Kilometer weit weg, man muss zweimal umsteigen, an einem Kettenhund vorbei, der nicht bellt, und eine Abkürzung durch einen Park nehmen, in dem nachts die Männer im Gebüsch rascheln. Er schläft auch da, mit seinem Stiernacken. Bestimmt genau da, wo ich geschlafen habe. Sie hat immer lieber auf der Seite zur Tür hin gelegen, da sei mehr Platz, hat sie gesagt. Drei Wochen lang ist Sally jetzt schon meine Exfreundin, und es gibt noch immer keine Anzeichen dafür, dass sie mir nachläuft, dafür stehe ich auf der Straße vor ihrem Haus hinter einem Baum mit Blick auf ihren doppelverglasten Wintergarten. Bisher hat sie nicht angerufen und aufgelegt, wenn ich abgehoben habe, und sie hat mich auch nicht an der Tür auf Knien angefleht, sie zurückzunehmen. Aus jedem Lied im Radio höre ich eine Botschaft, also habe ich die Batterien rausgenommen. Sie benimmt sich, als wäre ich ihr schon immer egal gewesen. Ich habe nur einen Abend gebraucht, mich in sie zu verlieben, und sie hat dann neun Wochen gebraucht, mir zu sagen, dass es nicht funktioniert und ich ihr nicht geben kann, was sie braucht, denn: »Du hast keinen Penis, merkst du das denn nicht?«, oder irgendwie so hat sie es formuliert. Ich hatte versucht, die nächtlichen Telefonate zu ignorieren, wenn sie im Bad bei aufgedrehten Wasserhähnen flüs17

terte und kicherte. Ich biss mir auf die Lippen, wollte es gar nicht wissen, hörte trotzdem angestrengt hin, und wenn immer neue SMS eintrafen und auf der Arbeitsfläche in der Küche piepsten und vibrierten, drehte sich mir der Magen um. Noch bevor sie ins Zimmer kam, konnte ich ihre Finger hören, wie sie still und geschickt zurücksimsten, und hielt mir die Hand vor den Mund, damit mir nicht das Herz heraussprang. In Beziehungen geht es um Vertrauen, hatte die Briefkastentante der Zeitschrift gesagt. Ich hätte, so schrieb sie mir, keine eindeutigen Beweise dafür, dass ich Sally nicht vertrauen könne, und solle mir vielleicht selber an die Nase fassen und mich fragen, ob ich nicht etwas hätte, was man mangelndes Selbstbewusstsein nennt. Und dass ich daran nicht leiden wollte, wusste ich ganz genau, also achtete ich nicht auf das Distanzierte in Sallys Blick, und dass sie mir beim Schlafen den Rücken zukehrte. Wenn ich sie anfasste, war es, als würde sie den Atem anhalten, bis ich fertig war. Und an ihrem Geburtstag, als ich eigentlich pastellfarbene Kerzen in pastellfarbene blütenförmige Halter hätte stecken sollen, versuchte ich, meine Nase nicht in Sachen zu stecken, die mich nichts angingen. Ich wollte nicht eifersüchtig sein und überreagieren und fand, ich hielte mich ganz toll, bis ich mich dabei ertappte, wie ich ihr nachspionierte, am fraglichen Abend, im Pub in der Straße, wo sie tagsüber britische Pässe ausstellte.

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