Bach, Claudia ed. (2010), MitMenschen. Gespräche am deutschen Kamin II. Der kritische Salon und seine Gäste, Leonard-Thurneysser-Verlag: Berlin/Basel. Charlotte Meisner geb. 1983, Studium der französisch/italienischen Philologie und Politikwissenschaften, engagiert sich für interkulturelle Arbeit, Redakteurin und Auslandskorrespondentin der Berliner Kulturzeitschrift „Eiskraut und Sauerbein“, Gastautorin des Kritischen Salons, lebt in Zürich

Auf der Suche nach dem Wortschatz Charlotte Meisner Warten Dicke Tropfen norddeutschen Regens perlen von den abgedunkelten Scheiben seiner Sonnenbrille. Sein Gesicht oder zumindest der Teil, der nicht durch die Brille verdeckt wird, lässt keine Regung erkennen. Kleine Rinnsale fließen über Gläser, Wangen und Hals, bis sie den aufgestellten Kragen seines rosa Polohemdes erreichen. Im aufgeknöpften Ausschnitt baumelt ein goldenes Kreuz, umwuchert von kräftiger Brustbehaarung, die unter dem hellen Stoff hervorquillt. Der leichte Bronzeton seiner Haut zeugt von Strand- oder Solariumsbesuchen. Das einzige, was annähernd zum Berliner Schmuddelwetter passt, ist sein Wet-Look-Hairstyling. Es säße auch ohne Regen perfekt. Nass glänzend schmiegen sich die pechschwarzen Haare eng an den Kopf und münden im Nacken in ein Zöpfchen. Einzelne Strähnen haben sich gelöst und hängen ihm verwegen ins Gesicht. Das energische Kinn stolz gereckt, trotzt er dem Sturm. Die bleichen Berliner, die achtlos vorbeistapften, schenkten dem Exoten kaum Aufmerksamkeit. Sie hatten Züge und Bahnen zu erreichen. Das ungastliche Wetter unterstrich den Hart-Aber-Herzlich-Charme der Stadt. In der S-Bahn-Station Neukölln hielt sich niemand länger als nötig auf. Die Ankommenden drängten eilig zum Ausgang und die Wartenden traten ungeduldig von einem Fuß auf anderen. Ein junger Kampfhundbesitzer lieferte sich auf dem Bahnsteig eine kernige Diskussion mit einer Gruppe Halbstarker. Nachdem sie sich gegenseitig den Geschlechtsverkehr mit sämtlichen weiblichen Verwandten angedroht hatten, gingen sie auf ihre Haustiere über: Alta, isch ficke deine Hund! Ein junger Mann, mit dicker Fellmütze auf dem Kopf, drehte sich neugierig um. Bislang hatte er fasziniert die Sonnenbrillenwerbung über den Schienen betrachtet. Wie der Streit ausging, erfuhr er nicht mehr, da die Gruppe lärmend in einer Bahn verschwand. Seufzend wandte er sich wieder dem geschniegelten Typen mit Sonnenbrille und Polohemd zu, der auf dem Werbeplakat abgebildet war, das über den Schienen thronte. Das männliche Model auf dem Plakat hatte sich offenbar größte Mühe gegeben, möglichst mysteriös zu wirken. Man hörte förmlich die Anweisungen und Anfeuerungen des Fotografen, mit denen das Bild entstanden sein könnte: Jaa – toll machst du das. Sehr gut Schätzchen. Denk daran: Du bist 'n Typ mit ’nem dunklen Geheimnis. Jaaa – wenn ich ’ne Lady wär', würd’ ich dir sofort ’n unmoralisches Angebot machen. So isses super, Schätzen! Mach mir den Südländer! Ja – aa, soo... Nein! Hierher schau'n sollst du! Sag mal, siehst du überhaupt was, mit dieser dunklen Brille auf der Nase? Emiliano fragte sich, ob man mit solchen Klischees heutzutage allen Ernstes noch Geld verdienen konnte und warum zum Teufel man mitten im Winter Werbung für Sonnenbrillen machen musste. Er schlang seinen Schal noch einmal um den Hals und starrte auf den Punkt, an dem die Schienen in der Dunkelheit des Winternachmittages verschwanden. Hoffentlich ließ die Bahn nicht mehr allzu lange auf sich warten, sonst würde er schon wieder zu spät zur Uni kommen. Silberlaube Einmütig stapfen die Studenten den Trampelpfad durch Wiesen und Büsche in Richtung Uni entlang. Es ging treppauf, treppab und über eine glitschige Holzbrücke. Bis schließlich das riesenhafte Gebäude der Silberlaube vor ihnen auftauchte und das Gewirr der Gänge die eintretenden Menschenmassen verschluckte. Bald würde der einsetzende Frühling, wenn er denn käme, die umliegenden Wiesen mit Studenten garnieren, die ihre Freistunden an frischer Luft verbrachten. Emiliano erinnerte sich daran, wie er die ersten Male diesen Weg gegangen war, damals vor zwei Monaten, als er gerade frisch aus Italien gekommen war, um sein heiß ersehntes Erasmusjahr zu begehen. Deutschland – Nation der Organisierer und Krautesser. Er hatte so viel darüber gehört. Nun wollte er den Teutonen selber auf den Zahn fühlen. Waren sie wirklich so anders? Herzlos und kühl oder nur gehemmt und verkannt? Er wollte es herausfinden. Welcher Ort konnte dazu besser geeignet sein als Berlin, die Metropole Mitteleuropas? Die Stadt

der Kinder vom Bahnhof Zoo, Austragungsort der Fußball-WM und Lieblingsreiseziel aller Italiener, die sich je über Bayern hinauswagten. Unwillkürlich musste er lächeln, als er daran dachte, wie unbedarft er gewesen war. Völlig planlos, trotz Stadtplan, war er damals am neuen Hauptbahnhof angekommen. In Berlin, wo Ost und West nicht nur von geografischer Bedeutung waren, hatte er lernen müssen, sich alleine zu orientieren. Mit Hilfe des Stadtplanes hatte er schließlich doch noch den Weg zu seiner Wohnung in Neukölln ausmachen können. Guter Dinge und frei von lästigen Vorurteilen war er eingezogen. Überrascht hatte er festgestellt, dass niemand in seinem Viertel so sprach wie Hans und Gertrud aus dem Deutschlehrbuch. Aber das konnte er ja eigentlich auch nicht erwarten. Er war schließlich hier, um das Deutsch der Straße zu lernen. Mit der Zeit dämmerte ihm, dass das Weglassen von Artikeln, obwohl ihm das sehr entgegenkam, und der exzessive Gebrauch der Wörter „krass“ und „Alter“ zwar die Sprache der Straße, aber nicht unbedingt die aller Deutschen war. Ob das vielleicht diese berühmte „Berliner Schnauze“ war, über die sie im Germanistikkurs gesprochen hatten? Er hatte versucht jemanden aus seinem Haus danach zu fragen, aber dieser hatte darauf leicht überreizt reagiert: Was, Schnauze? Isch geb` dir Schnauze! Emiliano dachte an seine neuen Nachbarn. Nein, Murat und Dennis konnte man wirklich nicht als Lehrbuchdeutsche bezeichnen. Es sei denn, es ging um Fußball. Da waren sie mit Leib und Seele ‚Kartoffeln‘, wie sie es ausdrückten. Emiliano erreichte das Unigebäude und steuerte sofort die Cafeteria an. Er brauchte jetzt erstmal einen Kaffee. Pädagogische Übergriffe Mit minimaler Verspätung betrat er den Seminarraum seines Germanistikkurses Entwicklung und Begriff des Deutschen. Er hatte an der Kaffeebar anstehen müssen und hielt dies durchaus für eine gute Entschuldigung. Ganz im Gegensatz zu seinem Professor, der Kreidewölkchen hustete und ihn mit einem ungeduldigen Wedeln auf einen der hinteren Plätze scheuchte. Der Professor hatte, irritiert von Emilianos Eintreten, offenbar den Faden verloren und brauchte einige Zeit, um ihn wieder aufzunehmen. Er fuhr sich durch das spärliche Haar, welches er nach Alt-Achtundsechziger-Schule zum Pferdeschwanz gebunden trug, und bestäubte dabei nicht nur das Haar, sondern auch sein Gesicht und den obligatorischen braunen Strickpulli mit Kreide. Als es schon fast niemand mehr für möglich gehalten hatte, fiel ihm sein Gedankengang wieder ein und er beendete ihn. Emiliano hatte die Zeit genutzt, um sich mit Zetteln und Mappen auf den Knien – einen Tisch hatte er nicht mehr abgekriegt – einzurichten und wartete, Stift und Ohren gespitzt, auf weitere Weisheiten. Zu Beginn des Kurses hatte er sich den Seminarstitel spontan mit Auspacken und Anfassen des Deutschen übersetzt, was er für eine sehr gute praktische Übung gehalten hatte. Inzwischen hatte sich herausgestellt, dass es sich doch eher um einen theoretischen Kurs handelte. Der Professor war mittlerweile dazu übergegangen, eine Referatsliste zu verlesen, auf der Emiliano sich allem Anschein nach irgendwann einmal eingetragen hatte: So und nächste Woche wird uns dann Herr, der Professor zögerte kurz und las dann, Herr Matscho mit einem Referat erfreuen. Emiliano schrak zusammen. Fast hätte er seinen eigenen Namen nicht erkannt. Macchio mit k! Korrigierte er in Gedanken, wie Macchiato, das könnt ihr doch auch aussprechen. Ihr bestellt es ja ununterbrochen. Dann erst wurde ihm klar, was es bedeutete, dass soeben sein Namegefallen war. Der Blick des Professors glitt noch suchend durch die Reihen und blieb dann unweigerlich an Emilianos Kaffeebecher haften. Sind Sie das?, fragte er freundlich. In Emilianos Ohren klang die Frage jedoch wie eine Drohung. Jaa! stotterte er, Aber iik aabs irrrgendwie total verpaijelt, dass iik eine Reeferaat aabe. Kapriziös wie sie war, weigerte sich seine Zunge auf einmal die harten deutschen Laute hinten im Rachen zu bilden. Stattdessen tat sie das, was sie am besten konnte, spielte virtuos mit den Vokalen und die Rs rollten nur so dahin. Die Augenbrauen des Professors schnellten empor. In früheren Jahren wären sie dabei vielleicht unter seinem Haarschopf verschwunden. So, so, murmelte er, klimperte noch einmal nervös mit den Augenlidern und beließ es dabei. Der ein oder andere Student konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Das Semester versprach nun doch noch spannend zu werden. Die nächste Stunde durften sie auf keinen Fall versäumen. Für gewöhnlich bestanden die Höhepunkte des Seminars darin, dass jemand den Professor in eine Unterhaltung über Startrek verwickelte und dieser, froh darüber, einen Gleichgesinnten gefunden zu haben, in ein längeres Zwiegespräch über Klingonen verfiel, während die restlichen Erdenbürger im Raum ahnungslos vor sich hindämmerten oder in Moleskine-Kalender kritzelten. Und nun kam ein verpeilter, vorlauter „Macho“ daher, der vor lauter Aufregung seinen heißen Kaffee verschüttete, wenn man ihn ansprach. Ausgerechnet der sollte in der nächsten Woche ein Referat über ein Pamphlet aus dem 18.Jahrhundert gegen die französischen Einflüsse in der deutschen Sprache halten. Es hieß: Auf gut Teutsch. Prost Mahlzeit! Ein gefundenes Fressen. Emiliano war verzweifelt. Er sprach mittelmäßig Hochdeutsch, wie sollte er Mittelhochdeutsch verstehen? Zuhause angekommen, zwang er sich den Text zumindest anzuschauen, obwohl ihn schon die schnörkelige, alte Schrift abschreckte: Auf gut Teutsch Man möge mir die Anmaßung vergeben, mich zum Hüter teutschen Wortschatzes zu erheben. Manch schmählich Stimme gar, mag behaupten, dem Teutschen sei es nicht beschieden, als solcher nur genannt zu sein. Gibt es

doch in unsren Breiten die frivole Eigenart, sich lieber in französischem Geschnatter zu ergehen, als so daherzureden, wie uns der Schnabel einst gewachsen. Manch Höfling hält sich für besonders chic, wenn er mit gespützten Lüppen zur Toilette eilt, statt zum Klo wie jedermann. In der That mag die teutsche Sprache nicht die Harfe unter den Gespielinnen Europas sein. Zum Minnesänger es ihr nicht gereichet, welcher Sprachgirlanden windet noch und nöcher, hinter deren Ranken die Wahrheit jedoch alsbald verblasset. Ein Klo, auf gut teutsch, ist ein Klo, und keine edle „Toilette“. Zwar mögen ihre Sätze schmucklos sein, doch die Botschaft bleibt stets klar und rein. Und schämen wir uns dessen? – Nein. Emiliano hatte nichts verstanden. Verärgert schlug er sich mit der Mappe gegen die Stirn, als könne er so die Aufnahme des Textes in sein Gehirn auf direktem Weg erreichen. Wovon redete der Typ eigentlich? Er erhob sich seufzend vom Sofa und begann ziellos durch seine Neuköllner Wohnung zu tigern. Einzelne Wörter hatte er anhand des Lexikons herausfinden können. Zum Beispiel, dass es sich bei diesem ominösen „Wortschatz“ nicht um eine Schatztruhe voller Wörter, sondern einfach nur um das Vocabolario, also die Wörter, die man kannte, handelte. Außerdem verstand er, dass es um einen Streit um das Wörtchen „Klo“ ging. Das half ihm aber auch nicht weiter. Er sollte nächste Woche vor einer Horde deutscher Studenten ein Referat in einer Sprache halten, die er nur lückenhaft verstand und noch weniger sprach. Sein Wortschatz reichte dafür einfach nicht aus. Emiliano beschloss, eine Runde durchs Haus zu drehen. Vielleicht konnten seine Kumpels ihm helfen, diesem Text eine Aussage zu entlocken. Schatzsuche in Neukölln Dennis und Murat boten sofort ihre Hilfe an. Alta, wenn du Probleme hast, du kanns immer auf uns zähln! Zu dritt standen sie über das Blatt gebeugt. Nach sehr langer Zeit sagte Murat sehr langsam: Kraaaaass, der is ja voll auf Drogen, ey. Schwürd escht ma gern wissen, was der sisch geballert hat. Schwang da ein Hauch von Bewunderung mit? Sie starrten weiter das Blatt an. Dennis gab als erster auf und schaltete den Fernseher in Emilianos Wohnzimmer ein. Voll der Scheiß! murmelte er. Is doch scheißegal, wo ich scheißen geh. –Mann, komm ma klar! Murat war offenbar von Ehrgeiz gepackt worden und ließ sich von Dennis’ Fäkaltiraden nicht verunsichern. Er begab sich in Denkerpose, den Kopf auf die Hand gestützt, den Zeigefinger schnittig an die Nase gelegt und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf die verschnörkelte Schrift. Es geht auf jeden Fall um einen Schatz, ließ er nach einer Weile verlauten. Hey Mann, irgendwo in Deutschland! Heftig stieß er Dennis in die Seite. Dieser grunzte unwillig und sagte: Alta, schab gar kein Bock, hier so ganze Abend auf so Blatt zu starren, wo isch nix kapiere. Für so was gips Maschine. Mein Kuseng hat so Übersetzungsprogramm auf Computer. Machstu Italjenisch, hastu Text auf Italjenisch. Voll krass. Emiliano war sprachlos. Das war bei Weitem das Vernünftigste, was er an diesem Tag gehört hatte. Wortsalat statt Wortschatz Die Ernüchterung war groß, als sie, tags darauf, das Computerprogramm ausprobierten. Der Text, den die Übersetzungssoftware auf Italienisch lieferte, ergab überhaupt keinen Sinn. Im Gegenteil, er war voller Fehler, einfach nur ein Wortsalat. Emiliano war enttäuscht. Murat klickte weiter auf „Übersetzen“ und sie sahen mit Staunen, wie sich der Text veränderte und das Gerippe des Ursprungtextes sich immer neue Gewänder überwarf. Es schmückte sich mit französischen, englischen und italienischen Wörtern. Irgendwann waren sie wieder bei Deutsch angelangt. Murat und Dennis kringelten sich vor Lachen über die eigenwilligen Wortschöpfungen der Maschine. Der Text war vorher schon unverständlich gewesen, aber nun wies er auch noch Spuren von all den Sprachen auf, die er durchlaufen hatte, und war bis zur Unkenntlichkeit verfremdet. Emiliano fand es weniger witzig. Schließlich war er derjenige, der den Vortrag halten sollte, und nicht die beiden Durchgeknallten auf seinem Sofa. Er war verzweifelt. Es gab nur einen Menschen, der ihm jetzt helfen konnte. Er rief seine Mutter an. Sie war Lehrerin am Liceo in Bologna und hatte ihn schon immer rausgepaukt, wenn er in Schwierigkeiten steckte. Mamma mia Sie lauschte seinen aufgeregten Schilderungen schweigend und sagte schließlich: -

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Tesoro mio – mein Schatz, was hast du denn von diesem merkwürdigen Text eigentlich verstanden? Fast gar nichts, war die klägliche Antwort, nur dass es um die deutsche Sprache geht und um ihren Wortschatz – Tesoro di Parole, verstehst du? Das Vocabolario, das man zu seiner Verfügung hat. Und dass man lieber „Klo“ als „Toilette“ sagen soll. Tesoro di Parole – Schatz der Worte, wiederholte sie leise für sich. Gar nicht mal so unpoetisch, diese Deutschen. Er hörte, dass sie lächelte. Aus irgendeinem Grund ärgerte ihn das. Er brauchte ihre Hilfe und keine philosophischen Ergüsse.

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Mamma, sagte er streng, das bringt uns auch nicht weiter. Figlio mio, hast du schon mal darüber nachgedacht, dass im 18. Jahrhundert – als dein Text geschrieben wurde – das Französische die In-Sprache schlechthin war? Vielleicht geht es in dem Text einfach um die Angst der Deutschen vor Überfremdung. Sie wollten den Schatz ihrer Wörter und auch ihrer Kultur bewahren. Im Moment machen sich doch hier in Italien auch alle Sorgen, weil immer mehr englische Wörter bei uns Einzug halten und angeblich unsere eigene Sprachkultur verdrängen. Einen solchen Austausch zwischen den Sprachen hat es schon immer gegeben. Na ja, aber die deutsche Sprache ist noch ziemlich lebendig. Mir kommt es nicht so vor, als wäre sie von den Franzosen damals verdrängt worden. Im Gegenteil, sie ist ebenfalls in andere Sprachen übergegangen. In unserer Literatur tauchen ununterbrochen deutsche Wörter auf. Wenn man etwas nicht ins Italienische übersetzen kann, dann nimmt man einfach ein deutsches Wort. Wer etwas besonders Schlaues schreiben möchte, der würze seinen Text mit etwas „Zeitgeist“ und einer Prise „Über-Ich“ und schwups, fertig ist das „Gesamtkunstwerk“. Seine Mutter lachte herzlich. Ja, siehst du, dann kannst du deinen Kommilitonen ja mitteilen, dass die Sorge ihrer Vorväter überflüssig war. Der deutsche Wortschatz ist nicht ausgestorben, im Gegenteil, er ist sogar ausgewandert. Mamma, du bist die Größte!

Er sandte ihr einen Kuss durchs Telefon. Der Text war eine Schatzkarte und sie hatte ihm gezeigt, wie er sie lesen konnte. Er wusste jetzt, wo er suchen musste. Den Schatz würde er alleine finden. Wörterwanderung Die ganze Nacht verbrachte er damit, seine Gedanken zur deutschen Sprache und Kultur festzuhalten. Natürlich auf Italienisch, sonst hätte es noch länger gedauert. Ihm schwebte da eine These vor: Seiner Meinung nach wollte der Autor des alten Textes darstellen, dass sich jedes Volk in einer Art und Weise ausdrückte, welche die Eigenheiten seiner Kultur widerspiegelte. Demnach wäre es lächerlich, wenn ein gradliniger Deutscher, den galanteren Franzosen imitierend „Toilette“ statt einfach „Klo“ sagte. Aber war es eigentlich möglich, den Sprachschatz eines Volkes vor äußeren Einflüssen zu schützen? Und könnten diese Einflüsse nicht eine Bereicherung sein? Emiliano hatte einen Plan. Er würde seinen Mitstudenten zeigen, wie stark die deutsche Sprache außerhalb Deutschlands vertreten war und was ausgewanderte Wörter über eine Kultur aussagen konnten. Zusätzlich zu den Wörtern aus der Philosophie fielen ihm nach und nach auch andere ein. So erzog einer seiner Freunde in Bologna seinen Hund ausschließlich auf Deutsch. Er behauptete, Bruno höre deutlich besser, wenn er ihm im Befehlston „Sitz! Platz!“ zurief. Er störte sich überhaupt nicht daran, dass „Sitz“ und „Platz“ eigentlich zwei unterschiedliche Kommandos waren. Bruno brauche eben die deutsche Disziplin. „Disziplin“ und “Hundezucht“ – stellte Emiliano bei der Lexikonrecherche fest – waren in der Tat Bereiche, in denen deutsche Wörter zum Exportschlager wurden. Ebenso „Maschinenbau“ und natürlich die Klassiker der Hausmannskost: „Speck“, „Würstel“ und „Krauti“. Ein wenig Neugier war wohl auch dabei, als die deutschen Wörter sich über die Alpen schlichen, denn das Guckloch in italienischen Wohnungstüren hieß „Vasistas“. Das klang wie „Was ist das?“ Beschwingt begann Emiliano, die gefundenen Einzelteile für seinen Vortrag zusammenzusetzen. Was ihm am Ende jedoch von seinem Blatt entgegenstarrte, war das Bild eines Philosophen in Lederhosen, der seinen Hund mit Würstchen fütterte und an einem Auto herumschraubte. Das sollte die deutsche Kultur sein? Er versuchte sich zu erinnern, wie er gedacht hatte, bevor er nach Deutschland gekommen war. Bilder von Murat und Dennis tauchten auf. Das Bild von dem Mann mit der Sonnenbrille auf dem Plakat. Sein Professor mit drohend erhobenem Zeigefinger. Zungenkuss der Muse? Auf einmal schien ihm seine Idee gar nicht mehr so genial. Sein wunderbarer Vortrag: Die Sprache als Schlüssel zur Kultur schien ihm nur mehr wie eine Aneinanderreihung von Klischees. Spiegelte die Sprache etwa doch nicht die Kultur eines Landes wider? Was war mit den Ausdrücken, die er erst hier in Deutschland gelernt hatte: „krass“, „abhängen“, „Bock haben“? Das alles konnte er nicht übersetzen. Wie passten diese Wörter mit dem Bild des autoschraubenden, philosophierenden Hundebesitzers zusammen, das er anhand der intellektuellen deutschen Fremdwörter im Italienischen gezeichnet hatte? Gehörten diese Wörter nicht genauso zur deutschen Kultur? Emiliano konnte später nicht mehr genau sagen, zu welchem Zeitpunkt er aufgegeben hatte, für den eigentlichen Vortrag zu schreiben. Wann hatte er angefangen, seinen eigenen Hirngespinsten und Klischees über Deutschland nachzujagen? Er schrieb nicht mehr für die Uni, er schrieb für sich selbst. Er schrieb, um das Land, das ihn umgab, zu begreifen. Doch immer, wenn er dachte, er hätte einen Ansatzpunkt gefunden, musste er sich von neuem eingestehen, dass ihm Deutschland, die Deutschen und das Deutsche entglitten. Er konnte das, was er sagen wollte, nicht in Worte fassen.

Um seinem Frust und der Plattheit seiner eigenen Gedanken zu entkommen, klickte er auf „Text übersetzen“. Die Software tat das Ihrige, um Emilianos Gedanken zu verfremden und zu einem neuen Textgebilde zusammenzusetzen. Auf der grammatikalischen Konstruktion seines italienischen Vortrages basierend entstand ein merkwürdiger, aber nicht unsympathischer deutscher Text, der seinen Gedanken eine völlig neue Note verlieh. Der Titel lautete jetzt: Die Zunge als Schlüssel zur Kultur. Angekommen S-Bahnstation Neukölln. Regennass funkelten die Schienen im gleißenden Sonnenlicht des Winternachmittages, als Emiliano aus der Bahn stieg. Komischerweise kam er sich gar nicht wie ein Feigling vor, obwohl er wohl – objektiv betrachtet – einer war. Er hatte seinem Professor den halbfertigen, notdürftig übersetzten Vortrag einfach ins Fach gelegt und das Seminar geschwänzt. Er wusste, dass sein Text voller Fehler war. Anstatt Die Sprache als Schlüssel zur Kultur hatte die Software die Überschrift mit Die Zunge als Schlüssel zur Kultur übersetzt. Das italienische Wort „Lingua“ konnte sowohl „Zunge“ als auch „Sprache“ bedeuten. Grammatikalisch war der Satz richtig, er ergab nur keinen Sinn. Die Übersetzungssoftware konnte eben keine Zusammenhänge erkennen. Emiliano hätte natürlich die offensichtlichsten Fehler korrigieren können, aber irgendwie gefiel ihm der Gedanke, dass sich sein Professor auch mal den Kopf über seinen Text zerbrechen musste. Wahrscheinlich würde es ihm sogar Spaß machen. Ob er wohl erraten würde, dass „Zunge“ ursprünglich „Sprache“ heißen sollte? Na ja, eine Verbindung gab es schon, ohne Zunge konnte man schließlich nicht sprechen. Keine unlösbare Aufgabe für einen Linguistik-Professor! Ein bisschen in seinem Wortschatz herumsuchen musste er wahrscheinlich schon. Emiliano dagegen wollte im Augenblick nicht mehr weitersuchen, weder nach dem Schatz der Worte noch nach der deutschen Kultur. Er hatte keine Lust mehr, seinen eigenen Vorurteilen nachzuspüren. Es war schon anstrengend genug, in einer fremden Kultur zu leben, da brauchte man sie nicht noch ständig zu analysieren. Was immer es auch war, dieses Deutschland, er wohnte jetzt hier und das war auch gut so. Im Augenwinkel sah er, dass das Plakat mit dem coolen Südländer durch das Bild einer strahlend-blonden Familie ausgetauscht worden war. Sie warben statt für Sonnenbrillen für ein Vitaminpräparat, das eindeutig besser zur Jahreszeit passte. Zum Zeichen, dass sie mit dem Präparat optimal geschützt waren, war die Bilderbuchfamilie von einer Art Heiligenschein umgeben und strahlte mit der Sonne um die Wette. Emiliano kam es so vor, als hätte ihm soeben die Mutter – oder war es vielleicht nur die ältere Schwester? – zugezwinkert. Unten auf dem Bahnsteig ging es weniger heilig zu. Dort tummelten sich die üblichen Verdächtigen und lieferten sich wieder einmal ein Wortgefecht, das der netten jungen Mutter auf dem Plakat wohl die Schamesröte ins Gesicht triebe. Emiliano lächelte und stieg beschwingt die fahrende Rolltreppe hinunter. Er musste sich beeilen. Die Jungs waren zum Fußballschauen verabredet.

Nachdruck aus ‚eiskraut und sauerbein’ – Zeitschrift für Kunst und Leben zwischen den Kulturen

Bon Lieu? Unterwegs in der Pariser Vorstadt Charlotte Meisner In Deutschland, dessen Städte anders aufgebaut sind als die Französischen, bleibt die Bedeutung des Wortes Banlieue im Nebel reißerischer Zeitungsartikel verborgen. Irgendwo zwischen brennenden Autos und gähnender Langeweile müssen sie liegen, diese Vororte der Weltstadt Paris. Vor zwei Jahren sollen hier bürgerkriegsähnliche Zustände geherrscht haben. Im Licht der ersten Sonnenstrahlen, welche zaghaft durch den dicken Dunst über der Pariser Vorstadt dringen, erscheint mir diese Vorstellung ebenso unmöglich, wie die Tatsache, dass der Nebel sich im Laufe des Tages auflösen wird und wir einem strahlenden Tag in Paris entgegensehen. In Paris? Du bist hier nicht in Paris. Informieren mich die Leute ungefragt. Von der Gare Saint Lazare bin ich vier Stationen mit dem Regionalzug gefahren. Innerhalb von 20 Minuten soll man in eine andere Welt gelangen? Das sind Entfernungen, die ein Berliner jeden Tag zurücklegt. Eine halbe Stunde S-Bahn fahren? Völlig normal. In Steglitz wohnen und in Mitte arbeiten? Auch das – ganz und gar nicht ungewöhnlich. Warum wird hier in Paris so viel Wert auf die Unterscheidung gelegt? Der Übergang von einer Stadt zur anderen wird nicht durch einen Grüngürtel markiert, sondern durch die Architektur der Gebäude, die man aus dem Zugfenster sieht. Statt der prunkvollen Altbauten des Zentrums

stehen hier Betonpaläste und lange Reihen identischer Einfamilienhäuser. Die Straßen und Plätze besitzen ungefähr den Charme von Autobahnraststätten. Anders sehen auch die Menschen aus, die ein- und aussteigen. Je nachdem, wo eine Frau zusteigt, kann man mit ziemlicher Genauigkeit sagen, ob ihre Louis Vuitton Tasche aus dem protzigen Nobelgeschäft auf den Champs Elysées stammt, oder vom Flohmarkt an der Porte de Clignancourt. Jeden Morgen leeren sich die Vororte und ihre Bewohner strömen nach Paris zur Arbeit. Im Rhythmus der einfahrenden Metros werden Menschenmassen durch die langen Gänge gepumpt. Sie hasten von einem Bahnsteig zum nächsten und die wenigen unter ihnen, die keine Eile haben, werden von den anderen mitgerissen. Métro, boulot, dodo, Metro, Arbeit, Schlafen – sagt der Pariser. Das ist der Puls der Stadt. Wenn ich morgens zu meinem Arbeitsplatz vom Zentrum aus in die Banlieue fahre, dann erscheint es mir, als wäre ich der einzige Mensch, der diese Richtung einschlägt. In den Gängen der Umsteigebahnhöfe taste ich mich langsam an der Wand entlang, um der entgegenkommenden Herde auszuweichen. Im Regionalzug findet man dafür immer einen Sitzplatz und kann während der Fahrt einen Blick in den Nouvel Observateur werfen oder wie ich - die Unterrichtsplanung für den Tag durchgehen. Ich bin Fremdsprachenassistentin an zwei Gymnasien in der Pariser Banlieue. Die kommenden sieben Monate werde ich damit verbringen, den Schülerinne und Schülern meine Sprache nahe zu bringen und ihnen ein Bild von Deutschland zu vermitteln. Nach Möglichkeit ein Positives. Bei dieser Aufgabe kommt mir die Sozialstruktur der Vororte manchmal sehr zugute: Viele Familien sind nach Frankreich immigriert. Obwohl die meisten Schüler hier geboren sind, bilden sie dennoch einen bunten Kulturmix, wie er einem genauso auch auf der Oranienstraße in Kreuzberg begegnen könnte. Viele Namen klingen vertraut – Unal, Ayshe, Murat – daran ändert auch die französische Aussprache nichts. Diese Vielfalt, welche weder in der deutschen noch in der französischen Gesellschaft uneingeschränkt als etwas Positives angesehen wird, ist mein Trumpf im Ärmel der Völkerverständigung. Wo wohnst du in Deutschland? Fragen sie mich. In Berlin. Eine aufgeregte Diskussion bricht los, alle möchten mir von ihren Verwandten erzählen, die in Deutschland leben – viele auch in Berlin. Jeder zweite war schon einmal in Deutschland. Nicht nur im Urlaub, sondern um dort Freunde oder Familien zu besuchen. Dieser Bezug zu Deutschland ist unser großer Vorteil, erklärt mir Julia, die engagierte Deutschlehrerin. Wo man bei anderen Schülern auf Schützenfeststereotype oder Kriegserinnerungen der Großeltern stößt, wenn man sie nach unserem Heimatland fragt, haben die Kinder hier, am Lycée Nobel in Clichy sous Bois, ein lebendiges, buntes und aktuelles Deutschlandbild. Der Ort gehört zu den so genannten quartiers chauds – den heißen Vierteln. Gemeint ist: den gefährlichen Vierteln. Die Stelle, an der im Herbst 2005 zwei Jungen auf der Flucht vor der Polizei ums Leben kamen, ist nur ein paar Kilometer entfernt. Der Vorfall hatte wochenlange Unruhen ausgelöst, welche sich auf andere Vorstädte, ja sogar auf die Vorstädte anderer Städte übertragen hatten. Wie sind die Schüler damals damit umgegangen? Hake ich vorsichtig nach. Die meisten waren wohl genauso schockiert wie wir auch, antwortet Julia. Die couragierte Deutsche arbeitet seit fünf Jahren am Lycée Nobel. Das sind ja ganz normale Kinder hier, die haben natürlich nicht verstanden, warum plötzlich Autos in den Straßen brennen und gleichzeitig die ganze Welt auf ihr Zuhause schaut. Mit einem Mal ist die ganze Schule voller Kameras. Jede Menge Projekte werden aus dem Boden gestampft. Kunst, Natur, Austausch. Politiker kommen und versprechen Geld. In einem unglaublichen Kraftakt versuchen Lehrer und Schüler gemeinsam die ehrgeizige Agenda umzusetzen. Viel wurde investiert. Einiges kam auch bei den Schülern an, zum Beispiel ein gemeinsames Projekt des Lycée Nobel mit einem Gymnasium in Neukölln. Kein Austausch im herkömmlichen Sinne. Die Schüler hier können niemanden bei sich zuhause aufnehmen. Vielleicht ist das in Neukölln ähnlich. Stattdessen soll es ein Treffen irgendwo in der Mitte zwischen Paris und Berlin geben. Vielleicht in Köln. Finanziert wird das ganze vom Deutschen Bundestag. Ein tolles Projekt, welches Julia und ich gemeinsam mit den Schülern vorbereiten werden. Wir träumen davon, einen kleinen Film zu drehen, in dem sich die Schule vorstellt. Aber was ist sonst geblieben von den Millionen, die in die Vorstädte gepumpt wurden? Julia zuckt die Schultern. Wir alle haben das ganze letzte Jahr wie die Verrückten gearbeitet, um die Pläne der Regierung umzusetzen. Das schweißt natürlich zusammen, aber es laugt auch aus. Zwei Jahre nach den Krawallen ist wieder Ruhe eingekehrt in den Straßen von Clichy sous Bois. Die Reporter sind weiter gezogen, und die meisten Fördermaßnahmen waren nur für ein Jahr vorgesehen und laufen nun aus. Von außen wirkt die Schule wie ein Gefängnis. Durch zwei Eisentore gelangt man in ihr Inneres, das überraschend hell und freundlich gestaltet ist. Schüler sitzen in der Cafeteria und unterhalten sich oder machen Hausaufgaben. Wonach sehnen sie sich jetzt am meisten? Was wünschen sie sich für die Zukunft – ihre eigene und die ihrer Stadt? Ezra bringt es auf den Punkt: Das >sogar< soll verschwinden. Die zierliche Schülerin wirkt nun überraschend energisch, und die anderen nicken zustimmend. In einer Fernsehreportage über die Grandes Écoles – die renommierten Pariser Unis – war extra hervorgehoben worden, dass auch Schüler aus Clichy sous Bois die anspruchsvolle Aufnahmeprüfung bestanden hätten. Sogar Schüler aus Clichy sous Bois – hatte der Reporter gesagt – wurden an der Sorbonne aufgenommen. Was hat dieses >sogar< da zu suchen? Fragen sich die Schüler aus ebendiesem Ort. Wir sind genauso gut oder schlecht wie alle anderen auch. Wir wollen keine Sonderbehandlung.

Nachdruck aus ‚eiskraut und sauerbein’ – Zeitschrift für Kunst und Leben zwischen den Kulturen