Quelle: Lilly/bmp

von Annette Porcher-Spark Ärztin und Systemische Familientherapeutin

Die Häufigkeit funktioneller Bauchschmerzen bei Kindern und Jugendlichen hat nach Beobachtungen von Experten in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. In den Industriestaaten liegt die Prävalenz nach Angaben des pädiatrischen Gastroenterologen Dr. Andreas Krahl von den Kinderkliniken Prinzessin Margaret in Darmstadt zwischen fünf und 15 Prozent. Mit zunehmendem Alter der Kinder werden auch abdominelle Beschwerden häufiger und Mädchen sind etwas öfter betroffen als Jungen, so Krahl. In der Literatur sind sehr unterschiedliche Werte zur Prävalenz funktioneller Bauchschmerzen zu finden – abhängig von Land, Studiendesign und untersuchten Stichproben reichen die Angaben zur Prävalenz von zehn bis 46 Prozent [1]. Laut einer aktuellen italienischen bevölkerungsbasierten Studie klagen 28 bis 46 Prozent aller Schulkinder mindestens einmal pro Woche über Bauchschmerzen [2]. Auffallend ist allgemein eine zunehmende Tendenz vor allem bei Kindern im Schulalter. Dies kann auch der niedergelassene Pädiater Dr. Markus Landzettel aus Darmstadt aufgrund der Erfahrungen in seiner kinderärztlichen Praxis bestätigen: Eine Zunahme von Bauchund auch Kopfschmerzen ohne organische Ursachen sei in den vergangenen Jahren auch in

seiner Praxis zu beobachten. Gleichzeitig werden die betroffenen Kinder immer jünger und immer häufiger treten die Beschwerden schon bei Erstklässlern auf, so Landzettel. Als Ursachen stehen aus Sicht des Kinderarztes psychosoziale Belastungen im Vordergrund. Vor allem zunehmender Leistungsdruck, Stress in der Schule und Mobbing durch Gleichaltrige führen schon bei Kindern zu psychosomatischen Beschwerden. Aber auch familiäre Belastungen wie Trennung und Arbeitsplatzverlust der Eltern spielen eine Rolle. Bei älteren Kindern und Jugendlichen besteht nach Landzettels Erfahrung häufig ein Zusammenhang zwischen den Symptomen und der subjektiv erlebten Perspektivlosigkeit. Auch Studien weisen vermehrt auf den Zusammenhang zwischen Schulstress und psychosomatischen Beschwerden wie Bauch- und Kopfschmerzen hin. In schwedischen Studien wurde Mobbing durch Mitschüler als ein ganz entscheidender Risikofaktor für die Entstehung psychosomatischer Beschwerden und auch psychischer Symptome wie Depressionen und erhöhte Ängstlichkeit identifiziert [3, 4]. 95 Prozent aller Kinder mit Bauchschmerzen werden nach Angaben des Klinikers Krahl von niedergelassenen Pädiatern behandelt und nur fünf Prozent kommen zu einer weiteren AbkläPädiatrix 6/2009

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Invasive Untersuchungen meist nicht nötig Bei persistierenden Bauchschmerzen gehören Blutbild, Atemtests, Stuhluntersuchungen und Sonografie zur Basisdiagnostik. Entbehrlich sind nach den Erfahrungen von Krahl Endoskopie oder andere invasive Diagnostik ohne entsprechende Hinweise auf mögliche organische Veränderungen – sogenannte „Red Flags“. Dazu gehören beispielsweise die Lokalisation der Schmerzen in Distanz vom Nabel, nächtliches Erwachen aufgrund der Schmerzen, assoziiertes Erbrechen, rezidiverendes Fieber, starke Müdigkeit, Apathie, Gewichtsverlust. Neben der Eigenanamnese, in der Vorerkrankungen, Ess- und Stuhlgewohnheiten und auch besondere psychosoziale Belastungen erfragt werden sollten, geben im Rahmen der Familienanamnese gewonnene Informationen oft wichtige Hinweise. Dazu gehören Berichte über Erkrankungen, vor allem des MagenDarm-Traktes, und der Umgang des Patienten und der Familie mit den Schmerzen. Als typische Zeichen für Bauchschmerzen ohne organische Ursachen im Sinne eines Reizdarmsyndroms gelten nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Gastroenterologie rekurrierende Bauchschmerzen, die mindestens dreimal monatlich während der letzten drei Monate aufgetreten, mit Stuhlunregelmäßigkeiten verbunden sind und sich bei Defäkation bessern [5]. In manchen Fällen steht eine Obstipation im Vordergrund und die Schmerzen sind meist periumbilikal lokalisiert und treten nur tagsüber auf.

Heterogene Beschwerden – viele Erklärungsansätze Unter funktionellen gastrointestinalen Beschwerden wird eine heterogene Gruppe chronischer Störungen des Magen-Darm-Traktes zusammengefasst (siehe Tabelle). Bezüglich der Entstehung sind jedoch noch viele Fragen offen und entsprechend vielfältig sind die Forschungsansätze zum Verständnis der Pathophysiologie: In zahlreichen Studien wurden die Veränderungen gastrointestinaler Partialfunktionen wie Motilität und viszerale Sensitivität Pädiatrix 6/2009

untersucht – meist jedoch mit dem Ergebnis, dass sich damit allein die funktionellen Bauchschmerzen nicht erklären lassen [6, 7]. Weitere Untersuchungen ergaben Hinweise auf eine bei Reizdarmpatienten auffällig veränderte Interaktion zwischen Gehirn und Verdauungstrakt (brain-gut interaction, HirnDarm-Interaktion). Da der Neurotansmitter Serotonin sowohl im Gehirn als auch im Gastrointestinaltrakt zentral an der Regulation der viszeralen Motilität und Sensitivität beteiligt ist und 95 Prozent des körpereigenen Serotonins im Magen-Darm-Trakt zu finden sind, werden Substanzen, die das serotoninerge System beeinflussen, als Therapieoption für funktionelle abdominelle Schmerzen intensiv untersucht. Auch eine genetische Disposition wurde als Faktor bei der Genese diskutiert, aber in einer Studie mit 4 480 Zwillingspaaren kamen Wissenschaftler vielmehr zu dem Ergebnis, dass Umweltfaktoren und erlernte Verhaltensweisen bei der Entwicklung eines Colon irritabile dominieren [8]. Als weitgehend akzeptiert gilt deshalb das biopsychosoziale Modell, bei dem von einem Zusammenspiel biologischer, psychischer und sozialer Faktoren für die Entstehung der Symptome ausgegangen wird [9]. Daher werden funktionelle Bauchschmerzen heute

Bauchschmerzen

rung in die Klinik. Krahl berichtet, dass viele der betroffenen Kinder – und ihre Eltern – eine lange Untersuchungsodyssee hinter sich haben, bis sie einem Spezialisten vorgestellt werden.

Tabelle: Rom-III-Kriterien für funktionelle gastrointestinale Störungen Quelle: modifiziert nach [18]

Funktionelle Störungen bei Neugeborenen und Kleinkindern • Regurgitation • Rumination • Zyklisches Erbrechen • Koliken • Funktionelle Diarrhoe • Dyschezie • Funktionelle Obstipation

Funktionelle Störungen bei Kindern und Jugendlichen • Erbrechen und Aerophagie • Rumination • Zyklisches Erbrechen • Aerophagie • Funktionelle gastrointestinale Störungen mit Schmerzen • Funktionelle Dyspepsie • Reizdarm • Abdominale Migräne • Funktioneller kindlicher Bauchschmerz • Kindliches abdominales Schmerzsyndrom • Obstipation und Inkontinenz • Funktionelle Obstipation • Fäkale Inkontinenz

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zu den psychosomatischen oder somatoformen Störungen gerechnet. Entsprechend vielfältig sind auch die therapeutischen Ansätze, die sowohl auf körperlicher als auch auf psychischer Ebene ansetzen.

Chronifizierung verhindern Nach der Diagnose steht die ausführliche Aufklärung der Eltern und des betroffenen Kindes über dieses Krankheitsbild an erster Stelle. In der Praxis erfordert dies vom Kinderarzt die Fähigkeit, den Eltern trotz des Fehlens von organischen Veränderungen die Bedeutung der Schmerzen als wichtiges Signal der kindlichen Seele plausibel zu machen, ohne bei diesen Abwehrreaktionen gegen die Etikettierung „psychosomatisch“ auszulösen und ihnen das Gefühl zu geben, dass sie und die Symptome ihres Kindes ernst genommen werden. Das Hauptanliegen muss laut Prof. Boris Zernikow, Chefarzt des Vodafone Stiftungsinstituts für Kinderschmerztherapie und Pädiatrische Palliativmedizin, Vestische Kinder- und Jugendklinik, Universität Witten/Herdecke, sein, eine (weitere) Chronifizierung der Beschwerden und der damit zusammenhängenden Beeinträchtigungen zu verhindern oder zu reduzieren [10]. Denn als Folgen chronischer Schmerzzustände können bei Kindern erhebliche Störungen der normalen Entwicklung und starke Beeinträchtigungen im täglichen Leben auftreten. Schmerzbedingt können sich Schlaf- und Essprobleme entwickeln. Häufige Fehlzeiten in der Schule sowie Einschränkungen der Freizeitaktivitäten erhöhen zudem das Risiko für psychische Störungen. Bereits bekannt ist, dass chronische Schmerzen im Kindesalter als ein Risikofaktor für gesundheitliche Probleme im Erwachsenenalter gelten.

Neue Studien zu alten Hausmitteln Nach den Erfahrungen des Klinikers Krahl reicht in den meisten Fällen eine symptomatische Behandlung – eventuell in Verbindung mit Ernährungstipps – aus. Wichtig sei eine individuelle Therapie für jedes Kind und „keine Therapie von der Stange“, betont der pädiatrische Gastroenterologe.

Auch wenn die Wirksamkeit traditioneller Mittel wie Spasmolytika, Ballaststoffe und Pfefferminzöl bei funktionellen Schmerzen im Magen-Darm-Trakt nicht eindeutig ist, kommen im Rahmen einer neueren Metaanalyse britische Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass für einige dieser Mittel durchaus statistisch signifikante Wirksamkeitsnachweise bei der Behandlung von Erwachsenen mit Colon irritabile vorliegen [11]. Die besten Behandlungserfolge wurden demnach mit Pfefferminzöl erzielt, das das Risiko für persistierende Beschwerden um 57 Prozent senkte. Ein Wirksamkeitsnachweis spezieller Ernährungsstrategien – wie zum Beispiel die Nahrungsergänzung mit Laktobazillen – konnte allerdings bisher nicht erbracht werden [12].

Psychotherapie nur bei weiteren Symptomen Eine Indikation für Psychotherapie besteht nach Ansicht von Experten bei Kindern mit funktionellen Bauchschmerzen nur beim Vorliegen von zusätzlichen psychischen Symptomen. Dazu gehört eine erhöhte Ängstlichkeit, die bei durchschnittlich 50 Prozent der betroffenen Kinder festgestellt wurde [13, 14]. Wie Dr. Adrian Kamper vom Psychosomatik Department für Säuglinge, Kinder und Jugendliche der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde der Paracelsus Medizinische Privatuniversität in Salzburg auf der 104. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin in München berichtete, ist eine Psychotherapie indiziert: • je größer die Funktionalität des Schmerzsymptoms ist, • je weniger eigene Lösungskompetenz (individuell, familiär) vorhanden ist, • je mehr Problemorientierung erkennbar wird, je stärker psychiatrische Komorbiditäten erhebbar sind • je größer die Rolle der Psychodynamik bei der Entstehung und Aufrechterhaltung der Symptome ist. Neben Entspannungstechniken, progressiver Muskelentspannung und Biofeedback können verschiedene psychotherapeutische Ansätze wie Tiefenpsychologie, Verhaltenstherapie, Hypnotherapie und systemische Familientherapie verfolgt werden. Elterliche Sorgen und damit verbundene Verhaltensweisen spielen bei der Aufrechterhaltung symptombezogener Interaktionen Pädiatrix 6/2009

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Bauchschmerzen

eine wesentliche Rolle [15]. Die systemische Familientherapie hält Methoden vor, um dieses Muster zu unterbrechen und lösungs- und ressourcenorientierte Sichtweisen einzuführen. Sie bietet sich daher für die Behandlung von Kindern mit psychosomatischen Beschwerden an. Dass die systemische Familientherapie wirkt, konnte bereits bei Kindern mit Kopfschmerzen nachgewiesen werden [16]. Für die Wirksamkeit von Hypnotherapie bei funktionellen Bauchschmerzen liegen ebenfalls aktuelle Studien vor, die eine signifikante Verbesserung der Symptome und eine deutliche Zunahme der Lebensqualität belegen [17].

17. Galili O et al.: Treatment of chronic recurrent abdo-

18. Rasquin A et al.: Childhood Functional Gastrointes-

Castilloux J et al.: Is visceral hypersensitivity corre-

tinal Disorders: child/adolescent. Gastroenterology

lated with symptom severity in children with func-

2006; 130: 1527-1537

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