Atmo 1: Marsch. Atmo 1: hoch und weiter unterlegen

1 NDR Info - Das Forum 06.04.2017 Patriotisch und Putin-freundlich – Die Jugend in Russland Feature von Isabel Lerch ------------------------------...
Author: Siegfried Acker
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NDR Info - Das Forum

06.04.2017

Patriotisch und Putin-freundlich – Die Jugend in Russland Feature von Isabel Lerch ------------------------------------------------------------------------------------

Atmo 1: Marsch

OT 1 Maria (0´23) Übersetzerin 1: „Tage wie dieser sind wichtig, um deutlich zu machen, dass wir alle miteinander verbunden sind. Wir sind uns einig in der Liebe zum Vaterland und der Bereitschaft, es zu verteidigen. Wir stehen geschlossen hinter Präsident Vladimir Putin, der uns repräsentiert und sich für die Interessen unseres Landes einsetzt.“

Atmo 1: hoch und weiter unterlegen

Erzählerin: Die

21-jährige

Maria

wirkt

entschlossen.

Am

Tag

der

„Einheit

des

Volkes“ marschiert sie mit mehreren tausend Menschen durch das Zentrum von Moskau. Es ist ein grauer und nasser Tag. Zahllose russische Fahnen flattern im Wind. Soldaten und Vertreter der politischen Parteien ziehen durch die Straßen. Auch viele junge Menschen sind dabei. Wie Maria. Die Politikerin gehört der 'Nationalen Befreiungsbewegung' an - einer rechtsradikalen und ultrapatriotischen Gruppierung. Wie viele ihrer Altersgenossen unterstützt sie Präsident Vladimir Putin.

OT 2 Maria (0´25) Übersetzerin 1: „Ich bewundere den Präsidenten. Er widmet sein Leben dem Dienst für das Land. Er war Mitarbeiter des Geheimdienstes und ist jetzt Präsident – das bedeutet, dass er

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kein Privatleben hat. Er verbringt seine Zeit im Staatsdienst. Es ist hart, wenn jemand das sein ganzes Leben lang macht und nicht nur ein paar Jahre lang. Das ist eine riesige Leistung.“

Erzählerin: Maria ist mit Präsident Putin aufgewachsen. Als er 2000 an die Macht kam, war sie gerade einmal vier Jahre alt. Auch der junge Journalist Kirill aus St. Petersburg ist mit Putin groß geworden.

OT 3 Kirill (0´21) Übersetzer 1: „Putin war in seinen ersten beiden Amtszeiten von 2000 bis 2008 sehr beliebt. Ich war damals ein Teenager. Ich habe mit 14 Jahren angefangen, politische Publikationen zu lesen. Ich habe Putin gemocht. Aber wer hat das damals nicht getan?“

Erzähler: Die meisten jungen Menschen in Russland tun das heute noch: Sie mögen ihren Präsidenten. Putin ist bei den jungen Russen beliebt - laut einer aktuellen Umfrage kommt er auf 91 Prozent Zustimmung bei den 18- bis 24-jährigen. Soziologen sprechen deshalb auch gern von der „Generation Putin“.

OT 4 Natalia Zorkaya (0´38) Übersetzerin 2: „Es stimmt, dass die jungen Leute Putin schon immer stärker unterstützt haben als andere. Natürlich sind sie fasziniert von so einem Heldentypen: Da ist ein taffer Politiker, ein Ex-Geheimdienstler, der viel Macht hat und einen Macho verkörpert. Aber das liegt vor allem an ihrer eigenen Schwäche, einem Mangel an Lebenserfahrung, weil sie gegen eine solche Art von Stärke und Aggression noch nicht immun sind. “

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Atmo 2: Lewada

Erzähler: Natalia Zorkaya ist Soziologin am Lewada-Zentrum in Moskau. Das renommierte Meinungsforschungsinstitut erhebt Statistiken über die Einstellungen der Russen zu bestimmten Themen. Auch die junge Generation wird regelmäßig vom LewadaZentrum befragt. Dabei zeigt sich seit Jahren derselbe Trend: Die überwältigende Mehrheit der jungen Russen ist patriotisch und systemtreu. Doch längst nicht alle von ihnen sind mit der politischen Führung des Landes zufrieden. Bei den überraschenden Massenprotesten vor gut einer Woche waren es vor allem junge Menschen, die auf die Straße gegangen sind. Das zeigt: Die junge Generation ist sehr facettenreich: OT 5 Benjamin Bidder ('21) – ohne VO „Es gibt die Opposition, es gibt die Kreml-Freunde, es gibt die Ultranationalisten, es gibt Unpolitische - und da gibt es wirklich sehr unterschiedliche Reaktionen auf, sagen wir mal, die Lesarten, die vom Kreml vorgegeben werden. Insgesamt ist es schon so, die große Linie sehen sie ähnlich. Also sie sind alle sehr patriotisch. Sie sind alle stolz auf ihr Land. “

Erzähler: sagt der deutsche Journalist Benjamin Bidder. Er hat lange in Russland gelebt und als Korrespondent

für das

Nachrichtenmagazin

„Der Spiegel“ gearbeitet. Im

vergangenen Jahr hat er ein Buch über die russische Jugend geschrieben und festgestellt, dass sie viel Wert auf materiellen Wohlstand legt. Das bestätigen die regelmäßigen Studien der Soziologin Zorkaya. Sie beschreibt die jungen Russen als egoistisch, unkritisch und passiv:

OT 6 Natalia Zorkaya (0´30) Übersetzerin 2: „Auf der einen Seite schauen die jungen Menschen zuallererst auf sich selbst, auf das

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eigene Wohlergehen, auf das Einkommen, den persönlichen Erfolg, die persönliche Leistungen und auf den Lebensstandard. Auf der anderen Seite unterstützen sie das politische System bedingungslos. Hinzu kommt, dass das soziale und politische Engagement unglaublich gering ist.“

Erzähler: Umso überraschender waren für Beobachter die kürzlichen Massenproteste der jungen Leute. Sie setzten sich über das Demonstrationsverbot hinweg und protestierten gegen die Korruption im Lande. Sie fordern grundlegende gesellschaftliche Veränderungen. Doch sie sind in der Minderheit: Die meisten ihrer Altersgenossen kümmern sich lieber um selbst und ihren beruflichen Erfolg. Das sieht auch der Journalist Benjamin Bidder so:

OT 7 Benjamin Bidder (0´ 25)– ohne VO „Das Materielle, die Karriere, die Selbstverwirklichung wird immer wichtiger. Also die sind eher ideologiefern, muss man tatsächlich sagen und sehr viel mehr am persönlichen Fortschritt, am persönlichen Vorankommen, an der Karriere und tatsächlich auch an materiellen Werten wie einem hohen Einkommen und der Möglichkeit eben zu reisen, sich Dinge zu kaufen, interessiert.“

Atmo 3: St. Petersburg

Erzählerin: Als der junge Journalist Kirill vor fünf Jahren mit einigen befreundeten Kommilitonen eine Online-Zeitung mit dem Namen „Bumaga“ - auf Deutsch „Papier“ - in St. Petersburg gründete, wollte er nicht reich werden. Er verwirklichte sich

mit

seiner

Online-Zeitung

vor

allem

den

Traum

vom

eigenen

Medienunternehmen. Gemeinsam steckten er und seine Freunde viel Arbeit und Enthusiasmus in ihr Projekt. Geld gab es am Anfang kaum. Doch es hat sich gelohnt: Ihre Online-Zeitung steht inzwischen auf einer stabilen finanziellen Grundlage, das

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Team junger Journalisten verdient durchschnittliche Löhne. „Bumaga“ hat sich auf dem lokalen Markt etabliert und wird von einer großen Leserschaft in St. Petersburg geschätzt.

OT 8 Kirill ('13) Übersetzer 1: „Wir arbeiten gern im Medienbereich. Um das tun zu können, müssen wir einen Weg finden, unser Unternehmen nachhaltig profitabel zu gestalten.“

Atmo 4: Redaktion

Erzählerin: Die Kosten für eine teure Büro-Ausstattung sparen sich die jungen Journalisten. Die hellen Redaktionsräume, in denen Chefredakteur Kirill und sein Team arbeiten, sind fast leer. Kahle, weiße Wände und ein paar schlichte Ikea-Tische stehen hier - mehr nicht. Die jungen Journalisten arbeiten an ihren eigenen Laptops. Sie konzentrieren sich auf das Wesentliche: interessante Geschichten für ihre Leser zu liefern. Die meisten Leser sind zwischen 20 und 35 alt. Wie auch das Team von „Bumaga“: Keiner ist über 30.

OT 9 Kirill (0´28) Übersetzer 1: „Der Journalismus in Russland ist ein Berufszweig für junge Leute – das hat vor allem wirtschaftlich Gründe. Das Geld, das Journalisten verdienen, reicht für einen jungen Menschen, aber nicht für jemanden, der eine Familie, Ausgaben und Kreditzahlungen und so weiter hat.“

Atmo 5: Müll

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Erzähler: Ein paar Kilometer weiter, in einem der Gebäude der staatlichen Universität St. Petersburg, stülpt sich die Studentin Dina gerade Einweghandschuhe über. Die 23jährige wühlt beherzt im Müll herum: Kaffeebecher, Plastikflaschen und allerlei Verpackungen fischt sie aus einer Tonne heraus und sortiert sie in die richtigen Container ein.

OT 10 Dina ('18) Übersetzerin 2: „Viele Sachen, die in diesem Container liegen, können wiederverwertet werden. Das ist zwar nicht hier in der Fakultät möglich, aber in der Stadt kann man das prinzipiell machen. “

Erzähler: Dina ist Umweltaktivistin. Neben ihrem Studium engagiert sie sich bei Greenpeace und widmet einen großen Teil ihrer Freizeit dem Umweltschutz. Vor einigen Wochen hat sie gemeinsam mit Kommilitonen Recyclingtonnen in ihrer Uni aufgestellt, um ein Bewusstsein für Mülltrennung und Wiederverwertung zu wecken. Dina möchte später zwar Geld verdienen, aber nicht mit jedem Job:

OT 11 Dina (0´27) Übersetzerin 2: „Das Interesse an Umweltthemen hat natürlich Auswirkungen auf meine Berufswahl. Wenn ich zwischen einer gut bezahlten Arbeit, die meinen Prinzipien widerspricht, und einer, die zwar nur meinen Lebensunterhalt sichert, mir dafür aber mehr am Herzen liegt, entscheiden muss, werde ich mich für letztere entscheiden. Das heißt, dass ich wahrscheinlich nicht für eine Firma arbeiten könnte, die ihre Kosmetikprodukte an Tieren testet. “

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Erzähler: Die Freiheit, ihren Beruf selbst zu wählen, ist Dina sehr wichtig. Auch viele ihrer Altersgenossen schätzen vor allem die persönliche Freiheit, wie der deutsche Journalist Benjamin Bidder festgestellt hat. Nicht ein freies, demokratisches System, sondern: OT 12 Benjamin Bidder ('22) – ohne VO „Freiheit definieren die vor allem als die Freiheit, ihr Leben selbst zu bestimmen. Das heißt, sie haben selber die Freiheit, Berufe zu wählen, ihre Laufbahn zu wählen, ihre Hobbys zu wählen, ihre Kleidung zu wählen, ihre Reisen zu wählen. Und auf der anderen Seite sehen sie das aber auch in gewisser Weise als Last, weil wie viele junge Leute im Westen auch nach Orientierung suchen, nach dem richtigen Weg suchen.“

Atmo 6: Eisiger Wind (Archiv)

Erzählerin: Das junge Ehepaar Maxim und Xenia haben für sich den richtigen Weg gefunden. Die Beiden streben eine Karriere in dem für Russland so bedeutsamen Öl- und Gassektor an. Maxim und Xenia leben und arbeiten in Ussinsk, einer kleinen Stadt im hohen Norden Russlands. Hier regiert die russische Ölindustrie: Giganten wie Lukoil, Rosneft und North Oil fördern jedes Jahr riesige Mengen. Knapp die Hälfte der Einnahmen des russischen Staatshaushalts kommt aus dem Erdöl- und Erdgassektor. Wer Karriere machen und viel Geld verdienen will, ist in dieser Branche richtig. Doch die Lebensbedingungen sind hart: neun Monate Frost, beißende Kälte, kaum Tageslicht. Ussinsk liegt rund 60 Kilometer vom Polarkreis entfernt. Die Kleinstadt entstand in den 60er Jahren, als man hier begann, das riesige Erdölvorkommen zu erkunden.

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OT 13 Maxim (0´10) Übersetzer 2: „Es ist eine kleine, gemütliche Stadt. Alles, was man braucht, ist in der Nähe. Im Winter ist es allerdings sehr kalt hier, und einen richtigen Sommer haben wir auch nicht.“

Erzählerin: sagt Maxim.

OT 14 Maxim (0´16) Übersetzer 2: „Wir haben uns aber an das Leben hier gewöhnt. Natürlich wäre es schön, für junge Leute mehr Möglichkeiten zu haben, mal abzuhängen. Aber wie sagt so man: 'Es ist, wie es ist'“

Erzählerin: Maxim ist 22 und studiert an der Universität Rohstoffkunde, er lernt also alles über die Nutzung von Öl und Gas. Im kommenden Sommer macht er seinen Abschluss, wie viele seiner Freunde auch. Seine ein Jahr ältere Ehefrau Xenia arbeitet bereits Vollzeit in der Ölbranche. Die Beiden haben sich vor fünf Jahren in der Schule kennengelernt und im vergangenen Jahr geheiratet. Ihre Woche ist voll verplant: Während Maxim studiert und bis spätabends lernt, arbeitet Xenia 36 Stunden.

Atmo 7: Fernsehen

Erzählerin: Jetzt, an einem normalen Freitagabend, entspannen sie in ihrem warmen Zuhause, während das Thermometer draußen minus 25 Grad anzeigt. Maxim und Xenia haben sich etwas Gemeinsames aufgebaut. Sie wissen, was sie vom Leben wollen:

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OT 15 Xenia ('24) Übersetzerin 1: „Für die nähere Zukunft planen wir Kinder. Aber zuerst wollen wir Karriere machen. Außerdem möchten wir die Welt kennenlernen und reisen. Bisher hatten wir dazu nicht die Möglichkeit, weil wir studiert haben. Doch endlich können wir uns finanziell selbst versorgen und das Leben ein bisschen genießen.“

Erzählerin: Xenia arbeitet für Lukoil, einem der größten russischen Ölkonzerne. Die Ölindustrie sei ein vielversprechender Arbeitgeber in ihrer Region, sagt sie. Beruflicher Erfolg und materieller Wohlstand sind Xenia und Maxim wichtig, wie vielen ihrer Altersgenossen. Doch Xenia blickt nicht nur auf ihren persönlichen Nutzen: Sie sieht ihre gut bezahlte Arbeit in der Ölindustrie auch als Dienst am Vaterland:

OT 16 Xenia ('18) Übersetzerin 1: „Die Förderung von Rohstoffen wie Öl und Gas gehört zur Geschichte unseres Landes. Die Ölindustrie leistet einen wichtigen Beitrag zum Wohlergehen unseres Vaterlands. Wirtschaftswachstum bedeutet Fortschritt für die gesamte russische Nation.“

Erzählerin: Auch ihr Mann Maxim denkt patriotisch:

OT 17 Maxim (0´14) Übersetzer 2: „Ich bin sehr stolz auf mein Land: auf die Größe des Landes, die Schönheit der russischen Frauen, auf die Energievorkommen, den Patriotismus der Menschen und auf die russische Geschichte.“

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Erzähler: Aber kennen junge Russen wie Maxim die Geschichte ihres Landes überhaupt? Die Sozialforscherin Natalia Zorkaya ist skeptisch. In ihren Umfragen beobachtet sie immer wieder mangelnde Geschichtskenntnisse.

OT 18 Natalia Zorkaya ('27) Übersetzerin 2: „Die Jungen kennen die Geschichte nicht. Sie können historische Ereignisse, insbesondere die sowjetischen Vergangenheit und die Stalin-Zeit, aber auch die 90er Jahre, nicht einordnen. Sie sind einfach nicht darin interessiert, was damals passiert ist. Wir erleben ein historisches Vakuum. Und das trägt zur Mystifizierung der Vergangenheit bei.“

Erzähler: Vielleicht wegen dieser fehlenden historischen Kenntnisse sind die meisten jungen Menschen sehr patriotisch. Und konservativ: Statt zu rebellieren und mit Neuem zu experimentieren, suchen viele junge Russen gerade bei den eigenen Eltern Halt und Orientierung.

OT 19 Bidder ('15) - ohne VO „Der Familienverband ist wirklich sehr, sehr wichtig. Das wichtigste Vorbild oder die wichtigste Orientierung der jungen Russen sind ihre Eltern. Obwohl sie sehr, sehr unterschiedlich sind, sind sie in ihren Ansichten ähnlich konservativ wie die Eltern.“

Erzähler: sagt der deutsche Journalist Benjamin Bidder. Diese konservativen Einstellungen ihrer Eltern und der gesellschaftlich weit verbreitete Patriotismus bieten vielen jungen Russen Orientierung – die sie in ihrem Alter dringend suchen.

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OT 20 Zorkaya ('30) Übersetzerin 2: „Junge Menschen brauchen Quellen des Selbstvertrauens. Deshalb unterstützen sie das aktuelle politische System auch viel stärker als andere Generationen. Junge Menschen sind viel anfälliger für die kriegerische, patriotische und aggressive Agenda, die den öffentlichen Raum in Russland bestimmt.“

Erzähler: sagt die Soziologin Zorkaya.

Erzählerin: Die 27-jährige Natasha ist sich der politischen Rhetorik und dem propagierten Patriotismus in Russland sehr bewusst. Sie kritisiert die Kreml-Politik, die bestimmte soziale Gruppen ausschließt.

OT 21 Natascha (0 ´30) Übersetzerin 1: „Kirche, Familie und Armee sind die drei Grundpfeiler, die die Politik bestimmen. Schwule, Lesben, bisexuelle und transsexuelle Menschen haben in der Gesellschaft keinen Platz. Die Kirche ist gegen sie, weil diese Menschen das Konzept der traditionellen Familie bedrohen, die aus einer Frau, einem Mann und Kindern besteht.“

Erzählerin: Natascha lebt in St. Petersburg. Die zweitgrößte Stadt Russlands gilt als liberal und nicht typisch russisch. St. Petersburg zieht besonders junge Menschen an, die persönliche Freiheit suchen.

Atmo 8: Festival

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Erzählerin: Einmal im Jahr findet hier das größte schwul-lesbische Filmfestival Russlands statt, das „Bok-O-Bok“. Natasha arbeitet im Organisationsteam. Heute Abend steigt die Preisverleihung, und der Abschlussfilm wird gezeigt. Nicht etwa in einem Kinosaal, sondern in einem Tagungsraum eines teuren Hotels. Die Besucher des Hotels, die in der Lobby Kaffee trinken, bekommen von der Veranstaltung kaum etwas mit. Die schwul-lesbische Szene ist nicht besonders sichtbar.

OT 22 Natascha ('18) Übersetzerin 1: „St. Petersburg ist so etwas wie die schwul-lesbische Hauptstadt Russlands. Hier kann man viele Schwule und Lesben auf der Straße sehen. Es gibt für sie verschiedene Clubs und Cafés. St. Petersburg zieht Menschen an, die nach einer neuen Erfahrung und nach Freiheit suchen.“

Atmo hoch und weiter unterlegen

Erzähler: Für Maria, die konservative Politikerin aus Moskau, sind Schwule und Lesben Perverse, die nicht zur russischen Gesellschaft gehören:

OT 23 Maria ('25) Übersetzerin 1: „Die russischen Werte beruhen auf unserer Kultur, unserer Religion und der Liebe zwischen Mann und Frau. Schwule und Lesben sind Abartige, die es in einer traditionellen Gesellschaft nicht geben darf. Ich möchte, dass mein Kind aufwächst und mich 'Mama' und seinen Vater 'Papa' nennt. Nicht 'Elternteil 1' und 'Elternteil 2'.“

Erzählerin:

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Natasha dagegen will nicht in einer solchen Gesellschaft nicht leben. Sie kämpft dafür, dass niemand in Russland diskriminiert wird.

OT 24 Natasha ('11) Übersetzerin 1: „Gerechtigkeit ist wichtig, insbesondere für Gruppen, die nicht dieselben Rechte wie die Mehrheit genießen.“

Erzähler: Was die beiden jungen Frauen in Moskau und St. Petersburg trotz aller Gegensätze eint: Sie engagieren sich politisch. Anders als die allermeisten ihrer Altersgenossen. Nach Angaben der Sozialforscherin Natalia Zorkaya setzen sich nur sehr wenige junge Russen für ihre Interessen ein. Anders als in vielen anderen Ländern, in denen gerade junge Menschen sich am meisten in der Gesellschaft engagieren. Sie ist deshalb davon überzeugt, dass die junge Generation die russische Gesellschaft nicht verändern wird:

OT 25 Natalia Zorkaya ('34) Übersetzerin 2: „Wir analysieren in unseren Studien seit fast 30 Jahren die russische Gesellschaft. Immer werden die jungen Menschen zunächst wahrgenommen als eine 'Generation der Möglichkeiten', die die Gesellschaft transformiert, demokratisiert und die Werte verändert. Es stellt sich aber stets heraus, dass das nicht stimmt. Die jungen Menschen werden das Land nicht in Richtung Demokratie und Modernisierung erneuern.“

Erzähler: Doch nicht alle teilen diese pessimistische Einschätzung. Die jüngsten Proteste zeigen, dass etliche jungen Russen politisch mobilisiert sind und Veränderungen

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fordern.

Der Journalist Bidder ist davon überzeugt, dass die Jugend einen

gesellschaftlicher Wandel anstoßen wird: OT 26 Bidder ('26) – ohne VO „Russland wird sich auf jeden Fall verändern. Wenn man sich allein mal in Umfragen anschaut, alle russischen Generation, die Großeltern, die ElternGeneration sagen eigentlich immer, wenn es um die wichtigsten Werte in ihrem Leben geht, kommt auf Position 1 eigentlich immer Sicherheit und auf Position fünf oder sechs kommt erst die Freiheit. Wenn man sich nun die jungen Leute anschaut, da ist es genau umgedreht. Auf Position 1 steht die Freiheit und irgendwo auf drei, vier, fünf kommt eben Sicherheit.“

Erzählerin: Die jungen Russen bewegen sich zwischen zwei Polen: zwischen der Sehnsucht nach einer offenen und freien Gesellschaft – und dem festen Halt, den ein patriotisches und konservatives Russland mit einem starken Präsidenten an der Spitze bietet. Wie sich die russische Gesellschaft entwickeln wird, hängt davon ab, wie die Jugend die ersehnte Freiheit definiert: bloß als Möglichkeit, Beruf, Freizeit und Konsum selbstbestimmt zu wählen - oder als Chance, die Gesellschaft neu zu gestalten und freie Wahlen, freie Medien und eine freie Zivilgesellschaft einzufordern.

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