ATMO 1 (Fanfare) 0'09

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Author: Bertold Kaufer
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Deutschlandradio Kultur, Nachspiel 25.12.2011 Wdh. vom 07. Februar 2010, 17.30 Uhr Kalter Krieg und große Sprünge - die deutschen Skisprung-Legenden Helmut Recknagel und Max Bolkart Von Wolf-Sören Treusch

ATMO 1 (Fanfare) 0'09 TAKE 1 (Richard Nixon/Heinz Mägerlein) 0'15 frei, dann drunter [0'20] I now declare open the olympic winter games of Squaw Valley, celebrating the eighth winter games. - Und jetzt hat Vizepräsident Nixon der Vereinigten Staaten die Olympischen Spiele von Squaw Valley für eröffnet erklärt. ... AUTOR 18. Februar 1960: nach zwei Wochen Sturm und Regen scheint erstmals die Sonne in Squaw Valley. In der für 20 Millionen US-Dollar errichteten Retortenstadt in der Sierra Nevada beginnen die achten Olympischen Winterspiele. Mit viel Pomp inszeniert Walt Disney die Eröffnungsfeier. TAKE 2 (Heinz Mägerlein) schon drunter, 0'09 hoch [0'33] ... dann jetzt genau unter uns die deutsche Mannschaft, Helmut Recknagel, der große Skispringer aus Thüringen trägt die Fahne, ... TAKE 3 (Helmut Recknagel) 0'13 War für mich eine ehrenvolle Aufgabe, aber auch eine erschwerte Arbeit, weil ich dann, wenn diese Generalproben und Übungen waren, konnte ich nicht trainieren. Da war ich benachteiligt. TAKE 4 (Heinz Mägerlein) 0'09 frei, dann als ATMO drunter [0'40] ... und dann kommen sie alle heran: die Mädchen in roten Mänteln mit blauen Mützen und die Männer mit grauen Mänteln und blauen Hosen, ... AUTOR Auch eine gesamtdeutsche Mannschaft tritt an - mitten im Kalten Krieg. Sie besteht aus 50 Athleten West und 24 Athleten Ost. Eingekleidet worden sind die Frauen von der Bundesrepublik, die Männer von der DDR. Zum Team gehören zwei der damals weltbesten Skispringer: Helmut Recknagel aus Steinbach-Hallenberg in Thüringen und Max Bolkart aus Oberstdorf in Bayern. (TAKE 4 weg) TAKE 5 (Max Bolkart) 0'21 Eine Olympiade oder eine Weltmeisterschaft oder selbst Holmenkollen vielleicht noch: das sind andere Kriterien als wie sonst ein Springen. Weil: man weiß da ganz genau, wenn du da irgendeinen Fehler machst, dann kommst du so schnell nicht mehr dran.

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TAKE 6 (Helmut Recknagel) 0'12 Ich hatte mir vorgenommen, dort in die Spitze einzugreifen und möglichst eine Medaille zu machen. Das ist eine Zielsetzung, die die haben, die sich ausrechnen, nach vorne zu kommen. TAKE 7 (Max Bolkart) 0'11 Und das geht dir natürlich schon in den Kopf, du weißt auch ganz genau, wenn einmal was schief geht, das darf nicht schief gehen. Weil: du kannst dich nicht mehr verbessern. Sprung ist Sprung.

AUTOR Bis wenige Wochen vor Beginn der Winterspiele in Squaw Valley ist jedoch gar nicht klar, ob die beiden am Spezialsprunglauf teilnehmen können. Die hohe Politik ist drauf und dran, den Start einer gesamtdeutschen Mannschaft zu verhindern. Rückschau: 24. März 1958. Es ist ein kalter, aber sonniger Frühlingstag in Oberstdorf. Auf der Heini-Klopfer-Schanze geht die Internationale Skiflugwoche zu Ende. "Fünf DDR-Springer kämpfen gegen die Weltelite" titelt das Deutsche Sportecho. Einer von ihnen ist ein junger, gut aussehender Mann aus Steinbach-Hallenberg in Thüringen. Ein Raunen geht durchs Publikum, als Helmut Recknagel, von der Westpresse als ,SkisprungSputnik' gefeiert, seinen Siegessprung landet: 135 Meter. Auf dem Marktplatz von Oberstdorf findet die Siegerehrung statt. TAKE 8 (Max Bolkart) 0'12 Passiert ist, dass der Helmut, der Recknagel das Skifliegen gewonnen hat. Wo eigentlich niemand gerechnet hat mit dieser Ehrung, dass er eben Sieger wurde. AUTOR Max Bolkart aus Oberstdorf ist schon damals einer der großen Rivalen Recknagels. TAKE 9 (Max Bolkart) 0'33 Mein Vater hat die Blasmusik geleitet, 23 Jahre lang übrigens, dann kam er ganz aufgeregt zu mir: ,stell dir vor, einer aus der DDR, der Helmut, der Recknagel hat das Skifliegen gewonnen. Ich habe keine Noten für die DDRHymne. Was soll ich machen'? - Na, da spielst halt das Deutschlandlied'. (lacht) Und fertig. Und der war ganz nervös, gell. Und so ergab sich das einfach, weil: eine Hymne muss man ja spielen, und da hat er das Deutschlandlied gespielt. TAKE 10 -ex 3 (Helmut Recknagel) 0'02 Ich habe das gar nicht mitgekriegt. AUTOR Helmut Recknagel hatte vier Tage zuvor seinen 21. Geburtstag gefeiert. TAKE 11 -ex 4 (Helmut Recknagel) 0'25 Ich stand vorne auf dem Podest. Ich wusste nur: ,wir rufen den Sieger Helmut Recknagel Deutsche Demo ..., DDR'. Und die sagen: ,Helmut Recknagel aus Thüringen', und dann kam mir zu Ehren das Deutschlandlied, da stand ich vorne, habe das gar nicht mitgekriegt in der Aufregung, wenn sie ausgerufen werden zum Sieger, vielleicht bei ein paar Tausend Zuschauern auf dem Marktplatz in Oberstdorf, da hören Sie gar nichts, wenn die Trommel schlägt. Verstehen Sie? TAKE 12

(Max Bolkart) 0'20

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Und plötzlich rege Aufregung, für die DDR waren Trainer und Funktionäre, alle da, plötzlich habe ich gehört: ,hat schon angerufen aus Berlin'. Irgendwie ist was durchgesickert oder hat man nach Berlin telefoniert? Auf jeden Fall ... TAKE 13 (Helmut Recknagel) 0'14 Und ich habe ein Signal bekommen von meiner Mannschaftsleitung. ,runter kommen, das Podest verlassen, das ist eine Provokation, wir sind DDR-Leute, auch Deutsche, aber DDR, wir wollen unsere Deutschland-, unsere DDR-Hymne haben'.

TAKE 14 (Max Bolkart) 0'09 Aber wir hatten sie nicht, gell. Und da haben wir ja schon ein bissel dumm aus der Wäsche geschaut, aber wir konnten ja auch nix ändern, und Null Komma nix war die Siegerehrung vorbei. AUTOR Der Bürgermeister von Oberstdorf entschuldigt sich in aller Form für den Vorfall, Helmut Recknagel jedoch lehnt den von Bayerns Ministerpräsidenten gestifteten Pokal ab. In seinem "heiligen jugendlichen Zorn", wie er später in seiner Biographie schreiben wird. TAKE 15 (Helmut Recknagel) 0'09 Pokal zurück, keine Urkunde, keinen Preis, die Preise waren immer klein, aber jeder wollte doch einen Preis. Also ich war ganz schön traurig, muss ich sagen. AUTOR Die verpatzte Siegerehrung auf dem Marktplatz von Oberstdorf im März 1958, dieser scheinbar banale Zwischenfall um das falsche Abspielen einer Nationalhymne ist der Auftakt zu einer deutsch-deutschen Politposse der besonderen Art. Im Spätherbst 1959 spitzt sich die Lage zu. Anlässlich des 10. Jahrestages der Staatsgründung erlässt die Volkskammer der DDR ein Gesetz, wonach das Staatswappen aus Hammer und Zirkel, umgeben von einem Ährenkranz, künftig auch auf der schwarz-rot-goldenen Nationalflagge abzubilden sei. Die Bundesrepublik reagiert sofort: das Zeigen der "Spalterflagge", so der Bonner Behördenjargon, wird zum Straftatbestand. Am 28. Oktober 1959 berichtet der RIAS, der Rundfunk im Amerikanischen Sektor. TAKE 16 (RIAS-Bericht) 0'24 Das Zeigen dieser Flagge auf dem Territorium der Bundesrepublik gilt als ein Verstoß gegen die Verfassung und die öffentliche Ordnung, gegen den mit polizeilichen Maßnahmen eingeschritten wird. In den nächsten Tagen werden im Bundesinnenministerium Richtlinien und Einzelbestimmungen beraten werden, die den örtlichen Polizeibehörden einen Handlungsrahmen für ihr Einschreiten geben sollen. AUTOR Das Internationale Olympische Komitee stellt unmissverständlich klar: bei den bevorstehenden Olympischen Winterspielen in Squaw Valley kann nur eine deutsche Mannschaft an den Start gehen. Eine gesamtdeutsche: mit neutraler Hymne - die Ode an die Freude von Ludwig van Beethoven - und mit gemeinsamer Fahne. IOC-Kanzler Otto Mayer, ein Schweizer, appelliert an die Streithähne - öffentlich: TAKE 17

(Otto Mayer) 0'35

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Liebe deutsche Sportler und besonders Dirigenten: seid vernünftig. Dies ist ein Rat des IOK. Redet Sport und nur Sport und bitte nicht Politik, was für uns und für euch kein Interesse hat. Und keine Befriedigung geben kann. Kommt zu den Olympischen Spielen mit einem sportlichen Geist, mit euren Farben schwarz-rot-gold und als Abzeichen einer Einigung zwischenwestlichen und östlichen Sportlern die weißen, wenn ich sagen darf, heilige Olympischen Ringe. AUTOR Bundeskanzler Konrad Adenauer lehnt den Vorschlag ab. Eher solle die Bundesrepublik keine Sportler zu den Olympischen Spielen schicken, sagt er. In einer offiziellen Presseerklärung teilt die Bundesregierung mit, sie halte es für unvereinbar mit der nationalen Würde, dass die deutsche

Mannschaft bei den Olympischen Spielen ein anderes Emblem auf der Bundesflagge zeige. Helmut Recknagel. TAKE 18 (Helmut Recknagel) 0'21 Adenauer war zunächst ganz verstimmt, er sagte, wenn wir in die Fahne die Olympischen Ringe rein machen, dann kommt vielleicht die Fleischerinnung und möchte den Schweinekopf in der Fahne haben, oder Zirkus Sarasani und möchte den Elefanten drin haben. AUTOR Willi Daume, der damalige Präsident des Deutschen Sport-Bundes, überzeugt den Bundeskanzler schließlich doch von der Notwendigkeit der Olympiateilnahme. TAKE 19 (Willi Daume) 0'37 Wir glauben, dass das in der ganzen Welt geachtete Symbol der fünf Völker verbindenden Olympischen Ringe auf unserer Nationalfahne von allen Übeln das kleinste ist. Um es so auszudrücken: die Alternative wäre nämlich, möglicherweise auf die Teilnahme an den Olympischen Spielen zu verzichten, die Mannschaft ganz der Zone zu überlassen, die dann in Squaw Valley und Rom ganz Deutschland repräsentieren würde, selbstverständlich mit ihrer Fahne, die dann von der ganzen Welt zur Kenntnis genommen, sogar salutiert würde vom diplomatischen Corps, und wir glauben, dass das politisch noch weit unglücklicher wäre als die jetzige Lösung. AUTOR Trotz des Flaggenkompromisses für Olympia: auf bundesdeutschem Boden bleibt die "Spalterflagge" weiterhin verboten. Bei der Vierschanzentournee zum Jahreswechsel 1959/60 kommt es zum Eklat. Der Deutsche Skiverband West untersagt dem deutschen Skiverband Ost, bei den beiden Springen in Oberstdorf und Garmisch die "Spalterflagge" hissen zu lassen und die neuen DDR-Embleme zu tragen. Das führt auch zu internationalen Verwicklungen. Der Sporthistoriker Volker Kluge. TAKE 20 (Volker Kluge) 0'44 Inzwischen hatte Ulbricht einen Brief an die Staatschefs der anderen sozialistischen Länder gesandt, in dem er darum gebeten hatte in dem Falle, dass die DDR-Symbole verhindert werden würden, die anderen sozialistischen Länder Solidarität beweisen und diese Wettkämpfe verlassen würden, das passierte zum ersten Mal bei dieser Vierschanzentournee 1959/60. Beim ersten Springen in Oberstdorf, als die Polizei verhinderte, dass die DDRSportler dort mit ihren Emblemen an den Start gingen, reisten nicht nur die DDR-Springer ab, sondern auch die Springer aus der Sowjetunion und der Tschechoslowakei, es gab wenige Tage später eine Gegenveranstaltung, die in Oberwiesenthal stattfand. AUTOR Prominentestes Opfer des Rückzugs der DDR-Springer von der Vierschanzen-

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Tournee: der Sieger der beiden Jahre zuvor - ,Skisprung-Sputnik' Helmut Recknagel. Stattdessen gewinnt die Tournee zum ersten Mal ein Springer aus der Bundesrepublik: Max Bolkart. TAKE 21 (Helmut Recknagel) 0'05 Wenn alle da gewesen wären, wäre er kein Sieger geworden, das ist auch klar, aber das macht nix. TAKE 22 (Max Bolkart) 0'14 Er hat mich schon ein bissle nicht gerade gefürchtet, aber er wusste: ich kann ihm sehr, sehr nahe kommen. Viel näher als wie die Norweger. Oder die Skandinavier. Weil er gesagt hat: ,du bist so unberechenbar, gell'.

AUTOR Endlich, am 6. Januar 1960, nur sechs Wochen vor Beginn der Olympischen Winterspiele in Squaw Valley einigen sich die Nationalen Olympischen Komitees beider deutscher Staaten auf die Entsendung einer gemeinsamen Mannschaft sowie die vom IOC vorgeschlagene Fahne. TAKE 23 (Helmut Recknagel) 0'04 Die Deutschlandfahne schwarz-rot-gold mit fünf olympischen Ringen. ATMO 2 (Olympiafanfare ARD) kurz frei, dann drunter AUTOR Squaw Valley, das ist eine Retortenstadt in den kalifornischen Bergen, die bis 1960 kein Mensch kennt, noch nicht einmal die US-Amerikaner selbst. Squaw Valley ist alles andere als mondän: eine kleine Siedlung mit bescheidenen Unterkünften, ein paar Liftanlagen, um die Sportler nach oben zu bringen, eine fast natürliche Sprungschanze. Doch zur Überraschung aller werden es sehr unterhaltsame und familiäre Spiele. Fast alle Sportstätten liegen nur wenige Minuten voneinander entfernt. 74 Athleten aus Ost und West starten für Deutschland. Helmut Recknagel und Max Bolkart sind gesetzt, wer die beiden anderen deutschen Teilnehmer am Spezialsprunglauf sein werden, sollen die Trainingsergebnisse zeigen. Max Bolkart schwant Böses, die ostdeutschen Springer sind besser vorbereitet. TAKE 24 (Max Bolkart) 0'45 Sie kamen schon mit wesentlich mehr Sprüngen, man hat denen drüben die Möglichkeit zum Spitzensport deshalb erleichtert, weil sie finanziell keine großen Sorgen hatten wie bei uns. Wir gingen halt zum Arbeiten, und dann plötzlich bekamst du Nachricht: Springerlehrgang da und da und da, von bis, und dann musstest du zuerst zum Chef gehen und fragen: ,ist es möglich'? ,Jawoll, es geht', Bezahlung: null. Und diese Sorgen hatten die ganzen DDRSpringer damals überhaupt nicht. TAKE 25 (Helmut Recknagel) 0'25 Zu meiner Zeit, von 1954 bis 1964, war ich noch berufstätig, acht Stunden, und habe zwei bis drei Stunden nach dem trainiert, und dann ab 1. Oktober frei gestellt vom Arbeitsprozess. Ein halbes Jahr haben wir trainiert ganztägig. Und das war dann die große Förderung des DDR-Staates und gleichzeitig, wenn ich mich definiere: Halbprofi. Wenn man so will. AUTOR Max Bolkart soll Recht behalten. Im Ausscheidungstraining einen Tag vor der Eröffnungsfeier setzen sich die beiden ostdeutschen Springer Lesser und Kürth durch, sein Freund Helmut Kurz scheitert. Bolkart ist der einzige Wessi im deutschen Springerteam.

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TAKE 26 (Max Bolkart) 0'17 Ja, und das war auch für mich ein bisschen ein Tiefschlag, weil ich gesagt habe: ,Menschenskind, jetzt bin ich allein auf weiter Flur'. Man verliert da ein bisschen, ich will nicht sagen, den Halt, aber es ist einfach nicht das, man ist irgendwie nicht so frei, gell. AUTOR In der Materialfrage hingegen haben die Westdeutschen Oberwasser. Gemeinhin gilt zu der Zeit der Gfäller-Ski aus Oberaudorf als robuster und anspruchsvoller im Vergleich zum Poppa-Ski aus Oberwiesenthal.

TAKE 27 (Max Bolkart) 0'14 Der Poppa, das war ein Brett, kein Ski, gell. Breit, wahnsinnig stark, habe ich geklopft und ,um Gottes Willen' habe ich gesagt, da falle ich ja nach dem Schanzentisch sofort runter. Der zieht mich sofort runter. Habe ich denkt: ,im Leben nie'. AUTOR Später wird zu lesen sein, Helmut Recknagel habe die Gfäller-Ski, die ihm Max Bolkart in Squaw Valley angeboten habe, mit den Worten abgelehnt, er wolle nicht "auf kapitalistischen Skiern" antreten. Eine Legende - wie beide bestätigen. TAKE 28 (Helmut Recknagel) 0'01 Habe ich nie gesagt. TAKE 29 (Max Bolkart) 0'01 Nee, nee, die gibt es nicht. AUTOR Dennoch: die Legende passt ins Bild. TAKE 30 (Helmut Recknagel) 0'42 Wir haben ja auch Spaß gemacht, und dann hat der Bolkart mal an irgendeiner Stelle gesagt und auch Gfäller selbst: ,dann spring doch mal den Gfäller wieder' oder ,der hat ja auch eine bessere Farbe' oder so. Gfäller machte mir damals ein Angebot: wenn ich 1960 mit seinem Ski - ist ja Werbung gewinne, gibt er mir als Geschenk ein Auto. Da sage ich, ,Max, das kann ich nicht machen'. Das geht nicht. Ich muss das so lassen, weil es nur Ärger gibt. Ich kriege Ärger mit meinem Trainer womöglich, mit dem Generalsekretär Skilaufverband, gibt nur Ärger. Er ist dann in dem Moment nicht besser der Ski. Ich hätte es gern gemacht, aber ich habe aus weiser Voraussicht das nicht gemacht. AUTOR Später wird ihm der Skifabrikant aus dem Westen einen Job in seiner Firma anbieten; Helmut Recknagel wäre nicht der erste Sportler aus dem Osten, der rüber machte. Doch Recknagel schlägt das Angebot aus: längst ist er ein Star in der jungen DDR, Parteimitglied, nicht so materiell eingestellt, wie er sagt - und Einzelkind: niemals würde er seine Eltern allein lassen. ATMO 2 (Olympiafanfare ARD) kurz frei, dann drunter AUTOR Für die Skispringer herrschen in Squaw Valley optimale Bedingungen. Seit Beginn der Spiele strahlt die Sonne mit dem Neuschnee um die Wette. Helmut Recknagel legt im letzten Training den weitesten Sprung hin. Der Tag der Entscheidung naht.

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TAKE 31 (Helmut Recknagel) 0'10 Am Vorabend haben wir uns getroffen in einem Zimmer. Mit den Langläufern und mit den Nordisch Kombinierten. Und da wurde richtig Debatte gemacht. AUTOR Egon Fleischmann, Skilangläufer vom SC Motor Zella-Mehlis, erinnert sich. TAKE 32 (Egon Fleischmann) 0'27 Da hat er uns als Läufer nicht schlafen lassen, also er ist die bei uns, ... hat rumgealbert und hat ,hier' gesagt und ,morgen, mein Tag', ,da wird gewonnen morgen', und da hat er Sprünge aus gemacht, wie sich das so gehört, und gegen 6.00 Uhr ist er dann

ganze Nacht das wird dem Stand aus dem

Zimmer raus und hat gesagt: ,so, und heute, da zeigen wir es mal richtig'. (Musik drunter) TAKE 33 (Helmut Recknagel) 0'08 Ich hatte gesagt an dem Abend, und das war ein bisschen verwegen: ,wenn morgen einer gewinnt, dann bin ich das und kein anderer'. AUTOR Der 28. Februar 1960 ist der Schlusstag der Olympischen Spiele in Squaw Valley. 30.000 Zuschauer sind zur Sprungschanze gekommen. Ohne Probedurchgang beginnt der Wettkampf. Jeder Sprung zählt. TAKE 34 (Max Bolkart) 0'37 Man ist natürlich bei einer solchen Konkurrenz, wo man eventuell die Chance sieht, mit ganz vorne zu sein, bedacht, dass man alles richtig macht. Und mein Trainer, Ewald Roscher, der kam kurz, bevor ich gestartet bin, bis zum Anlauf hoch und hat zu mir rüber gerufen: ,Max, es geht sehr weit. 90 Meter ist er schon gesprungen.' Steinegger, ein Österreicher. Von da weg irgendwie, der hat mich wirklich aus dem Konzept gebracht. TAKE 35 (Reporter Gerd Mehl) 0'19 Bolkart in der Spur und abgesprungen und weit in der Vorlage, aber sein Sprung hat nicht mehr diese Kraft und diese Dynamik, die wir von ihm kennen, er sprang 81 Meter, hält sich damit gut in der Konkurrenz und kann vielleicht noch auf einen Platz unter den ersten zehn gerade eben kommen. TAKE 36 (Max Bolkart) 0'12 Ja gut, ich weiß nimmer, was ich gesprungen bin damals, auf jeden Fall zu kurz. Dann habe ich natürlich erst einmal die Kurve gemacht und schon war er da, mein Trainer: ,Ja, was war'? AUTOR Während der Allgäuer verkrampft, lässt sich Helmut Recknagel nicht nervös machen. Nach dem ersten Durchgang liegt er mit einem Meter Vorsprung vor dem Finnen Halonen in Führung. Harry Valerien kommentiert den entscheidenden zweiten Sprung für die bundesdeutschen Radiostationen. TAKE 39 (Reporter Harry Valerien) 0'20 [0'59] Und nun kommt, sagen wir es, der große Favorit Helmut Recknagel. Der Mann, der jetzt die Chance hat, die Goldmedaille zu gewinnen. Er steigt noch mal, wartet, lässt sich Zeit, greift noch mal vor zu seinen Schaufeln, streift noch mal mit dem Handrücken darüber, nimmt den Schnee weg und jetzt mit einer ungeheuren Gewalt springt er in die Anlaufspur hinein, rast weg, ... TAKE 40 (Helmut Recknagel) 0'15

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Ja, es war notwendig, dass ich so in die Spur gegangen bin, weil hinter mir Halonen, Finnland, ein starker Mann war, und ich habe Gefahr gesehen und bin demzufolge auch kräftig abgesprungen, nachgezogen und einigermaßen gut hin gesprungen, das war der Grund. TAKE 39 (Reporter Harry Valerien) 0'17 ... jetzt vom Schanzentisch, streckt sich weit nach vorne, nicht zu schlagen, ich müsste oder besser wir müssten vom Springen nichts verstehen, wenn wir jetzt sagen, dass Helmut Recknagel, nachdem er schon im ersten Durchgang einen so großen Vorsprung hatte, noch geschlagen werden soll. Wie weit war die Weite, Gerd? - 84 einhalb Meter, aber wir wollen noch ein bisschen abwarten, ... AUTOR Im Rundfunk der DDR hört sich die Reportage vom Siegessprung Helmut Recknagels so an. TAKE 41 -ex 24 ("Reporter") schon drunter, 0'25 hoch, dann drunter [0'58] Schanze frei gegeben für Helmut Recknagel, jetzt steht Helmut in der Spur, jetzt will Helmut alles wissen, Helmut mach es gut! Der Absprung hat geklappt, die Haltung ist gut, gut, Helmut, gut. Eine gute Weite, 84 einhalb Meter wird angezeigt, Helmut hat eine einwandfreie Haltung, ich glaube, Helmut ist reif für die Goldmedaille hier in Squaw Valley, Helmut hat einen guten zweiten Sprung gezeigt. Die Zuschauer zollen ihm Beifall, Helmut winkt im Auslauf, er ist mit seiner Leistung zufrieden und sicher auch froh, dass er die schwierige Disziplin heute überstanden hat. Jetzt die Noten: ich sehe hier ein Mal die 18,5, ein Mal die 18, drei Mal die 18 und ein Mal die 17,5, ich glaube, eine solche Bewertung reicht für Helmut Recknagel, ...

darüber AUTOR Es kommentiert Ludwig Schröder, Generalsekretär des Skiläuferverbandes Ost. Journalisten aus der DDR war die Einreise in die USA nicht genehmigt worden. Doch noch muss der letzte Springer, der Finne Halonen über den Schanzentisch, aber wieder springt er einen Meter kürzer als der SkisprungSputnik aus Thüringen. TAKE 41 -ex 24 ("Reporter") wieder hoch 0'08 ... ich glaube, eine solche Bewertung reicht für Helmut Recknagel, reicht für die Goldmedaille, für die Goldmedaille für Helmut Recknagel, Deutsche Demokratische Republik. TAKE 42 (Helmut Recknagel) 0'17 Und ich freue mich außerordentlich, einen Olympiasieg für Deutschland und überhaupt für Mitteleuropa errungen zu haben im Spezialsprunglauf. Die Norweger und Finnen waren vorherrschend, und ich freue mich, dass man diese Nationen mal gebremst hat, weil andere Nationen auch mal gewinnen wollen. TAKE 43 (Reporter Heinz Mägerlein) 0'11 So, nun haben wir die genaue Reihenfolge: erster Helmut Recknagel, Note 224, zweiter Nils Halonen, Finnland, 219,4 und sechster Max Bolkart, 209,4. TAKE 45 (Stadionsprecher) 0'20 [0'26] Olympic victory ceremony. (Fanfare) The winner: Helmut Recknagel of Germany. (Jubel) TAKE 46 (Gerd Mehl) 0'29, ("Hymne") 0'10 frei, dann drunter [1'45] Mit unbändiger Willenskraft hat Helmut Recknagel seinen großen Wunsch erreicht, er hat das Ziel erreicht, er wurde Olympiasieger im Spezialsprunglauf, und nun geht am stählernen Siegesmast die schwarz-rotgoldene Flagge mit den olympischen Ringen im roten Feld hoch, flankiert von

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der finnischen Flagge und der österreichischen Flagge. (Hymne "Freude schöner Götterfunken") AUTOR In seiner Biographie, die Helmut Recknagel 2007 veröffentlicht, widmet er den Erinnerungen an Squaw Valley ein eigenes Kapitel. Über den heimlichen Besuch im Zimmer seines Springerkontrahenten aus dem Westen, Max Bolkart, findet man darin keine Zeile. TAKE 47 (Max Bolkart) 0'18 Zwar klopfts und auf einmal: ,hoj, hast dich verlaufen'? ,Nö, nö, aber du hast ein gutes Bier', hat er gesagt. Sage ich: ,Ja, das habe ich. Willst du es'? ,Ach nu klar', hat er gesagt, ,nu klar'. ,Ja, gut': Das waren so kleine Büchsenbierle, gell. TAKE 48 (Helmut Recknagel) 0'16 Das sind ja kleine Büchsen, und wir wissen ja: auch diese Flüssigkeit Bier ist diätetisch und bekömmlich und schafft etwas Ruhe, inneren Frieden. Ich glaube, das waren zwei, drei Dosen, Dosenbier habe ich ja bis dahin gar nicht gekannt. TAKE 46 ("Hymne") kurz hoch, Schlussakkord TAKE 49 (Helmut Recknagel) 0'21 Das war kein Wagnis, ein Zimmer zu besuchen zum Westkollegen, -sportler. Es wird vielleicht von der Mannschaftsleitung nicht so gern gesehen, wenn man sich privat beschäftigt, aber der große Speiseraum war international, viele Nationen, und da geht man schon mal an den Tisch und läuft da nicht vorbei. Der Sportfunktionär hat diese Alleingänge nicht so gern gesehen. TAKE 50 -ex 25 (Max Bolkart) 0'08 Da hat er gesagt, so ungefähr so: die Scheiß-Politik, die sollen doch uns Sportler sporteln lassen, und Politik soll Politik bleiben. TAKE 51 -ex 26 (Helmut Recknagel) 0'30 Und hätte sich Adenauer, der mit dieser Regelung schwarz-rot-gold mit den Olympischen Ringen nicht einverstanden war, nicht überzeugen lassen, dann wären in Rom die Spiele und Squaw Valley, USA, nordisch nicht zustande gekommen, und dann könnte ich jetzt sagen, Resümee: welch ein Schaden für den deutschen Sport: wir hätten die 10,0 von Armin Hary nicht gesehen, ich sage Ihnen nur, wie schwierig die Zeit war. Heute weiß man das alles gar nicht. TAKE 52 (Reporter "Augenzeuge") 0'17 frei, dann langsam weg [0'49] Wieder in der Heimat. In Berlin-Schönefeld wurden unsere Olympioniken von der Bevölkerung und den Vertretern unserer Regierung stürmisch begrüßt. Olympiasieger Helga Haase und Helmut Recknagel. Die Begeisterung kannte keine Grenzen. (Musik) AUTOR In der DDR wird Olympiasieger Helmut Recknagel nach seiner Rückkehr aus Squaw Valley wie ein Nationalheld gefeiert. TAKE 52 (Reporter "Augenzeuge") wieder hoch, 0'09 frei (Musik) In einem eindrucksvollen Bild wurde die Verbundenheit führender Persönlichkeiten unseres Staates mit unserer sozialistischen Sportbewegung demonstriert. AUTOR In der Bundesrepublik zieht DSB-Präsident Willi Daume, bezogen auf die gesamtdeutsche Olympiamannschaft, ein versöhnliches Fazit. TAKE 53 (Willi Daume) 0'13

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Ich zweifle auch jetzt wieder nicht daran, dass der Sport diese politische Gebundenheit überwinden wird, die Aktiven verstehen sich schnell, und auf dem eigentlichen Kampffeld haben ja dann die Funktionäre nichts zu sagen. AUTOR Bis zum Ende des Kalten Krieges, bis zum Mauerfall 1989 werden Politiker und Funktionäre das deutsch-deutsche Sportgeschehen in erheblichem Maße beeinflussen. Das Katz- und Maus-Spiel im Flaggenkrieg endet übrigens erst am 22. Juli 1969. An diesem Tag verfügt die Bundesregierung, dass die Polizei nirgendwo mehr gegen die Verwendung von DDR-Flagge und -Hymne auf bundesdeutschem Boden einschreiten solle. Fast zehn Jahre, nachdem sie das Zeigen der so genannten Spalterflagge zum Straftatbestand erklärt hatte. ATMO 3 (Harmonikaspiel) kurz frei, dann drunter [1'05] AUTOR Helmut Recknagel und Max Bolkart nehmen auch an den Olympischen Winterspielen 1964 in Innsbruck teil, danach beenden sie ihre Sportkarriere. Erst in den 90er Jahren, nach dem Fall der Mauer, treffen sie sich wieder. TAKE 54 (Helmut Recknagel) 0'30 Wir haben uns im Regelfall immer gut verstanden, Maxe Bolkart: er ist ja ein paar Jahre älter als ich, aber er ist ein toller Unterhalter, auch in den Restaurants oder im ,Tretter-Stüble' in Oberstdorf, Schifferklavier, und gesungen, ich bin ja nicht so heiter und lustig, kein Sänger, aber auch gemütlich. Im Birgsautal an der Skiflugschanze, haben wir uns immer getroffen. Und dann haben wir einen Glühwein getrunken oder Kaiserschmarrn, das habe ich so gerne gegessen. ATMO 3 (Harmonikaspiel) kurz hoch (Jodeln), dann langsam weg AUTOR Das letzte Treffen ist zwar viele Jahre her, aber Helmut Recknagel und Max Bolkart verbindet immer noch einiges: beide sind in den 70ern - Recknagel 72, Bolkart 77 - beide schlank und drahtig wie eh und je, beide hatten sich ein Geschäft aufgebaut, das sie nun an ihre Töchter abgegeben haben. Recknagel einen Sanitätsfachhandel mit insgesamt sieben Filialen in Berlin und Umgebung, Bolkart eine Ferienpension in Oberstdorf, die seine Tochter und ihr Ehemann zum Vier-Sterne-Hotel mit angeschlossenem Edel-Restaurant ausgebaut haben. Und als eine der Hauptattraktionen selbstverständlich den Herrn Papa, Pardon Schwiegerpapa präsentieren. TAKE 55 (Ludger Bolkart-Fetz) 0'24 Selbst ich - mein Name heißt nur Fetz - aber selbst ich melde mich hier am Telefon immer mit Bolkart-Fetz, weil der Name über die Grenzen hinaus noch einen sehr hohen Bestand hat. Und wenn die Leute hier an der Pokalwand stehen, dann sage ich immer: der hat 1960 die Vierschanzentournee gewonnen, da war der erste Preis ein Schnellkochtopf'. Das kann heute keiner mehr nachvollziehen.

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