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Jahrbuch für Patientinnen-Orientierte Medizinerinnenausbildung

Sexualität

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Jahrbuch für Patientlnnen-Orientierte Medizinerinnenausbildung

Ecce Homo

„Sind Sie Urin oder Blut?" Wollte die Stimme wissen Im Pathologie-Labor wo ich anrief um Testresultate „Ich bin eine Mischung aus beiden" gab ich zur Antwort und auch noch verunreinigt durch einiges mehr Erich Fried

Mabuse-Verlag Frankfurt am Main

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Sexualität

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Jahrbuch für Patientlnnen-Orientierte Medizinerinnenausbildung © 2005 Mabuse Verlag GmbH Kasseler Straße 1a

D-60486 Frankfurt/Main Tel. 069-70799613 Fax 069-70 41 52

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Inhaltsverzeichnis Zwischen Hoffen und Bangen Kontinuität und Kreativität

IN ULM...

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Kneipenbummel durch Ulm 13 Sexualität - Alltagsphänomen? 19 Sexual- und Partneranamnese 24 Das kann man doch nicht fragen! 32 Ein Fall von Nasenbluten und Psychosomatischer Unterricht 34 Herausgeber Die Marburger Anamnesegruppen Redaktion Katharina Obst, Alina Werth

...UM ULM...

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Zeichnungen Petra Happacher Layout Stefanie Alter Anschrift POM 22 Katharina Obst Barfüßer Str. 29 35037 Marburg E-mail: pom._marbu [email protected] Weitere Informationen unter www.anamnesegruppen.de Erscheinungsweise Jährlich mit wechselnder Redaktion

Druck Prisma Verlagsdruckerei, Frankfurt am Main ISSN 1435-540X ISBN 3-935964-66-8 Printed in Germany

Die außergewöhnliche Aachener Anamnesegruppe Lübeck lebt wieder! Berliner Anamnesegruppen - ein Situationsbericht Das Anamneseteleskop Erfahrungsbericht zur Anamnesegruppe Gesungene Gruppendynamik Städtebericht aus München

66 68 71 76 101 106 110

k Genau so!" (Eingefügt war ein Bild von George Clooney, mit welchem sie die Attraktivität unterstreichen wollte) FREITAG: Den letzten Anamnesetag wollte ich auf der Psychiatrie verbringen. Der leitende Stationsarzt vermittelte mir Frau T, eine 60- jährige Dame, die total antriebslos erschien und an Depressionen und Hysterie litt. Die Patientin berichtete, von ihrem ersten Mann direkt nach der Hochzeit vergewaltigt worden zu sein und ihr zweiter Mann hatte sie betrogen, weil sie mit diesem keinen Sex (mehr) haben wollte. Frau T legte allen Frauen ans Herz, dass wir „es", wenn der Mann Lust hat, über uns ergehen lassen sollten, denn ansonsten geht er zu einer anderen. Anfängliche Versuche der Frau zu erklären, dass wir „es" vermutlich auch wollten, scheiterten, denn sie unterstrich ihre Meinung nur heftiger und wurde lauter, also nahmen wir ihren Appell an uns irgendwann schweigsam hin.

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Sexualität Die Art und Weise und vor allem die Intensität mit der sie versuchte uns von ihrer Meinung zu überzeugen, brachte mich massiv zum Schmunzeln, und ich war in dem Moment sehr dankbar, dass sie mit dem Rücken zu mir saß und ich registrierte, dass alle in der Gruppe grinsen mussten. Der Appell wirkte einfach lustig, aber genau genommen hatte dieser einen sehr traurigen Hintergrund, der wohl das Leben der Frau so weit zerstörte, dass sie stationär in der Psychiatrie sein musste. Sexualität kann auch so verletzend sein, dass ein Leben dadurch ruiniert wird, denn als Lebensqualität würde ich einen stationären Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik nicht bezeichnen. SAMSTAG: Ich fuhr zu Media Markt, da meine Waschmaschine das Zeitliche gesegnet hat und ich eine neue brauchte. Im Media Markt angekommen suchte ich mir einen Herrn für die Beratung, zumal ich mich generell informieren wollte, da ich absolut keine Ahnung von Waschmaschinen hatte. Ein sehr netter und zuvorkommender Verkäufer erklärte mir alles, angefangen von den Billigmodellen über Durchschnittsmodelle bis hin zu MieleWaschmaschinen... auch sprachen wir von Waschtrockner, die erstaunlich viel Strom und Wasser brauchen bis hin zu Topladern. Fast waren wir nach zwanzig Minuten mit unserem Gespräch am Ende, als ich ihn fragte: „Was halten Sie von den Babys, die sind ja sehr teuer?" (Ich meinte die Eudora BadyWaschmaschinen) Er: „Babys will ich auch einmal haben und mit der richtigen Frau ist das sicher sehr schön!" und der Herr grinste über das ganze Gesicht. Da ich so vertieft in meine Waschmaschine war, überzuckerte ich das erst gar nicht. Flirtete er jetzt mit mir? Ich meinte dazu nur: „Zuerst sind meine Sorgen bei der Baby-Waschmaschine, dann in ein paar Jahren vielleicht bei der Babyschmutzwäsche:" Wir gingen noch zu den Baby- Eudora- Maschinen...

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l

Sexualität

SONNTAG: Ich saß zuhause um mich von der Woche zu erholen, als das Telefon klingelte. Eine Freundin von mir war am anderen Ende und erzählte mir von einem Mann, an dem sie Gefallen gefunden hätte, der sich einmal schon und einmal wieder nicht für sie interessierte und aus dem sie absolut nicht schlau zu werden schien... Was mir im Laufe meiner Woche auffiel, ist, wie präsent das Thema „Sexualität" praktisch jeden Tag ist und ich wunderte mich noch lange über mich selbst, dass ich es in all' den Jahren nicht intensiver wahrgenommen hatte! Judith Weinknecht, Innsbruck

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Sexualität Sexual- und Partneranamnese

„Sexualanamnese" - ein Wort, das ich unlängst auf einem vorgefertigten Status- und Anamneseblatt bei meiner Famulatur auf der Chirurgie gelesen habe. Gleich nach dem Schlagwort „Venera" und vor der Frage „Allergien". Krankenhausalltag, wie ihn viele von uns kennen und der mit unserem künftigen Beruf eine Menge zu tun hat. Als Praktikant tendiert man bekanntlich dazu, sich an der Arbeitsweise von Turnusärzten und AlPlern zu orientieren und möglichst den Routineablauf auf Stationen zu unterstützen: so versuchte auch ich Famulatur zu erfragen, wie die Turnusärzte denn diesen Punkt im Statusbogen angehen ... wie nicht anders zu erwarten begann die Lücke am Statusbogen schon bei „Venera" und erst beim Punkt „Allergien" wurde wieder mit Rotstift weitergearbeitet. Im folgenden Beitrag möchte ich der Frage nachgehen, wie man Patientengerecht das Thema Sexualität und Partnerschaft in der Allgemeinmedizin behandeln kann. Ich möchte dabei auf Erfahrungen aus Anamnesen und Pflegetätigkeit zurückgreifen und die eigenen Ideen sowie Befürchtungen ansprechen, die mit diesem Thema immer wieder auftauchen. Beginnen möchte ich damit, einen kurzen Abschnitt aus dem Leben von Erich L. zu schildern, den ich als Bewohnern der Pflegestation in einem Altersheim im Rahmen meines Zivildienstes kennen lernen durfte.

Sexualität Menschen

-

nicht

nur ein

Privileg

junger

Erich war als Halbseitengelähmter Bewohner in einem der zwölf Dreibettzimmer zu Hause und lebte dort die letzten fünf Jahre seines Lebens. Zwei davon

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Sexualität zusammen mit seiner Frau, Maria L., die drei Jahre nach ihrem Mann ihren letzten kurzen Lebensabschnitt in einem Frauenzimmer in eben demselben Heim verbrachte. Erich und seine Frau waren Russen, die nach dem Krieg hier in Österreich Fuß gefasst hatten und soweit ich mich erinnern kann drei Kinder großgezogen hatten. Eine Ehe die, wie heutzutage nicht gerade regelmäßig anzutreffen, bis ins hohe Alter diese beiden Menschen verband - mit all ihren Sonnen- und Schattenseiten, mit all ihren Höhen und Tiefen. Nicht selten wurden die Mitbewohner und Pflegekräfte Zeugen von sehr derben Streits, in denen die beiden mitunter sogar handgreiflich so manche Meinungsverschiedenheit austrugen. Beide waren eher als cholerische Persönlichkeiten bekannt und es gab angenehmeres, als den Zorn von Erich (der durchaus auch manchmal berechtigt war) über sich ergehen lassen zu müssen, denn dieser Mann lebte, so wie der Grossteil der Bewohner dieser Pflegestation, seine Emotionen sehr wohl aus und ließ sich so gut es ging nicht in den Käfig des Altenheims stecken, als welcher es oft empfunden wird1. Und genauso wenig wie seine Emotionen ließ dieses Paar auch seine Sexualität nicht mit der Aufnahme ins Altenheim sterben. Erich wollte sehr oft schon kurz nach dem Abendessen (das übrigens in Altenheimen meist schon um 16:30 kommt) ins Bett gebracht werden und teilte sein Diese Vorstellung ist übrigens meiner Meinung nach nicht von der Hand /u Weisen. Im Be/ug auf die Möglichkeiten seine eigenen Vorstellungen vom Leben um/uset/en schränkt das Altersheim nur all/u oft die Bewohner ein. Der Alt gewordene Körper allcinc macht schon viele Dinge schwer oder unmöglich. Wenn es dann dazu kommt, dass die Leute ihre verbliebenen Fähigkeiten {aber auch Gewohnheiten) nicht mehr ausleben können, weil das Altcnheim entsprechend schlecht konzipiert ist, dann ist für mich gut nachvoll/ichbar, dass es mitunter auch als Gefängnis empfunden wird.

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Sexualität Zimmer mit einem Altsheimerkranken und einem Blinden. - Seine Frau und er sahen insgesamt jeden falls kein Hindernis, sich miteinander ins Bett zu legen. Für sie war Zärtlichkeit nach wie vor ein wichtiger Teil ihrer Beziehung! Was die beiden dann tatsächlich unter der Bettdecke getan haben, das sei deren Privatsache. Nein es ist nicht unmöglich, dass alte Menschen (sogar im Altersheim) noch miteinander im Bett landen! Und dass ein gealterter Körper eine Windel oder eine Zahnprothese eine körperliche Beziehung undenkbar machen, das mag vielleicht in der Vorstellung junger Menschen so verankert sein, doch viele alte Menschen haben es im Laufe der Jahre gelernt sich an die Veränderungen des Körpers anzupassen und leben auf ihre Weise genauso ihre Sexualität 2 . Erich und seine Frau sind ein Beispiel dafür.3 Penetration ist meiner Meinung nach übrigens nicht Voraussetzung dafür um von Sexualität sprechen zu dürfen. Viel eher zeichnet es den Menschen ja gerade aus, dass seine Sexualität über die reine Triebhaftigkeit hinausgeht und ein wesentlicher Teil seiner Gesamtpersönlichkeit ist. Im Unterschied zum " in dem Buch: „Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken können" von Barbara und Allan Pease wird übrigens auf eine amerikanische Studie verwiesen, der /ufoige Pärchen /wischen 60 und 70 Jahren immer noch über 50 Mal pro Jahr miteinander Sex haben! Die Studie "Multinational Survcy of Aging Male" (MSAM) untersuchte die I läufigkeit des Geschlechtsverkehrs von Männern zwischen 50 und SO Jahren in 7 europäischen Ländern. Die Ergebnisse lagen ziemlich konstant bei 70 Mal Geschlechtsverkehr pro Jahr. ' Wer mehr /um Thema „Sexualität im Alter" lesen will, dem empfehle ich folgende Arbeit einer Krankenschwester: hiip://\vvvw.(Kgk\\atM-2/artik/sa()4-bleiberger.pdl' für Statistik interessierte: hllp://\vwvv.gyii.(jc/süx/scx_statisli.k.php3?lng=

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Sexualität Tier ist die menschliche Sexualität kontrollierbar und nicht nur auf Fortpflanzung ausgerichtet sondern geht z.B. in Form der Erotik über die reine Bedürfnisbefriedigung hinaus. Die

Bedeutung

der

Sexual-

und

Partneranamnese in der Medizin Dass die Liebe und dazugehörend auch die Sexualität in unserer Psyche eine ganz entscheidende Rolle spielt, das kennen die meisten von sich selbst. Eine besondere Bedeutung kommt ihr aber auch in der Medizin zu: •





• •

4

Laut einer Österreichischen Studie liegt das durchschnittliche Alter des ersten Geschlechtsverkehrs bei etwa 15 Jahren. Nur 2/3 davon verhüten. Vermehrte Partnerwechsel ziehen ein erhöhtes Risiko für Geschlechtskrankheiten (Venera) nach sich. - Hepatitis B wird klassischer Weise über sexuellen Kontakt übertragen. Etwa jeder zweihundertste Tiroler zwischen zwanzig und vierzig Jahren ist HIV positiv. Viele Frauen nehmen die Pille ein, was zusammen mit dem Zigarettenrauchen und der doch sehr häufig vorkommenden (bei etwa 3% der Bevölkerung 4 ) Faktor V Leiden Mutation das Thromboserisiko der Frau auf das dreißigfache erhöht. Impotenz ist keine Seltenheit. - Wer kennt die Differentialdiagnosen davon? Sildenafil (Viagra ®) ist eines der meist verschriebenen Medikamente von niedergelassenen Urologen und hat besonders

Harrisons's CD-ROM 15 27

Sexualität bei Herzkranken gefährliche unerwünschte Nebenwirkungen. In den Wechseljahren kommt der sexuellen Frustration eine besondere Bedeutung zu. Jährlich legen sich unzählige Frauen und Männer unters Messer um den Körper da und dort vom plastischen Chirurgen ein wenig verschönern zu lassen. Obige Punkte berücksichtigen aber nur die eine Seite der Medaille! Denn mit medizinischen Handlungen greift auch der Arzt indirekt in das Sexualleben der Patientinnen ein. Auch dazu einige Beispiele: • Betablocker sind bekannt dafür, dass sie zu Erektionsstörungen bei Männern führen können. Womöglich ist dies mit ein Grund für die schlechte Compliance bei solchen Antihypertensivern. (Ebenso: Antidepressiva, Diuretika, andere Herzmedikamente) • Operationsnarben können teils subjektiv, teils objektiv für Patientinnen sehr entstellend sein. Solch unvorteilhafte Körperstellen werden nicht selten zum seelischen Problem für den oder die „Behandelte(n)". • Vitamin A - Präparate (Rohacutan ®) zur Behandlung der Akne und andere Medikamente machen schwere teratogene Schäden und sollten nur mit geeigneter Verhütung eingesetzt werden. • Ablationes Mammae und Hysterektomien nehmen einer Frau Teile des Körpers, die sie als Frau auszeichnen. • Lange Behandlungen stellen auch Beziehungen auf eine Probe. Insbesondere dann, wenn bleibende Einschränkungen für die Patientinnen zu erwarten sind. 28

Sexualität Es gibt genug Gründe, warum die Sexualität und Partnerschaft der Patientinnen für den Arzt wichtig sind. - Doch mit dieser Feststellung alleine ist noch nicht die Frage geklärt, WIE man die Patientinnen nach dem Sexualleben fragen könnte und WAS man danach mit der bekommenen Information anfangen sollte. Eigene Ängste überwinden

Dass Sexual- und Partneranamnese nicht gerade zur Einleitung geeignet sind, bedarf keiner weiteren Erklärung. Sie sollten in einen entsprechenden Kontext eingebunden sein und nicht einfach so „nackt" im Raum ohne scheinbare Bedeutung oder Konsequenz stehen. Bei entsprechendem Vertrauensgewinn und ein wenig Feingefühl, wird sich in einer ausführlichen Anamnese aber durchaus ein Zeitpunkt finden, wo auch besonders intime Inhalte angesprochen werden können. Oft ist es unsere eigene Angst, die uns daran hindert die Frage nach Sexualleben und Partnerschaft zu stellen. Doch diese Angst dass der oder die Patientin z.B. argwöhnisch reagieren könnte ist wohl nur zum Teil berechtig. Menschen die sich ihrem Arzt anvertrauen und ob sie wollen oder nicht mit ihrem Leiden vom Arzt und dessen Fähigkeiten abhängig sind, wollen doch gerade in der Gesamtheit ihres Seins wahrgenommen werden und alle für sie wichtigen Dinge miteinbezogen wissen. Dies gibt dem Arzt außerdem die Chance den Patientinnen zu verstehen zu geben, dass er versucht seine Entscheidungen unter Berücksichtigung aller Lebensumstände zu treffen.

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Sexualität Wissen, warum man fragt

Doch selbst, wenn man sich dazu durchgerungen hat nach Sexualleben und Partnerschaft zu fragen und sich angemessen ausgedrückt hat, bleibt meines Erachtens immer noch die Aufgabe, dem oder der Patientin auch klar zu machen, warum ein solches Fragen auch für den Arzt von Interesse ist, so nicht von Seiten der Patientin selbst der Wunsch besteht einfach darüber zu reden (was wieder zu einem ganz anderen Kapitel gehört). Man sollte doch generell bei seinen Fragen im Idealfall auch wissen, warum man sie stellt. Ganz besonders dann sollte dies so sein, wenn es um Intimes geht. Eine ähnliche Situation besteht auch bei der Körperlichen Untersuchung: es sieht zwar gut aus, wenn man das Stethoskop auf das Herz legt, mach aber nur dann auch Sinn, wenn man weiß, was man dabei an Herzgeräuschen hören könnte! - Die Fragen sollten also von Hintergrundwissen geleitet sein ebenso die Untersuchungen. Die Patientinnen gewinnen durch kompetentes Fragen und Handeln außerdem Vertrauen und auch dem Arzt verleiht es eine gewisse Sicherheit, wenn er gezielt fragt und handelt.

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Sexualität Übung macht den Meister

Es ist schwierig so theoretisch über Sexualanamnese zu schreiben. Nach einer gewissen Anzahl von Anamnesen werden gewisse Dinge selbstverständlich und damit auch leichter. Wichtig finde ich, dass man an seinem eigenem Schamgefühl oder Angst arbeitet und nicht deshalb auf eine Sexualanamnese verzichtet. Anamnesegruppen stellen einen idealen Rahmen dafür da, sich auch in der Sexualanamnese zu üben und aus Eigen- und Fremdbeobachtung dazu zu lernen. So zu fragen, wie man selbst gefragt werden möchte, könnte dabei ein guter Beginn sein. Markus Glaeser, Innsbruck [email protected]

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Sexualität

Das kann man doch nicht fragen! Betretenes Schweigen im Raum. Die Patientin sitzt noch da, obwohl ihr Stuhl längst weggestellt ist, sie zurück auf Station, und wir uns seit einer halben Stunde im Nachgespräch befinden. Das kann man doch nicht fragen. Auch der ganze Rest der Gesellschaft hat sich mit meinem Ausruf in den Raum gezwängt. Man. Noch mal ohne geborgte Autorität: Das kann ich doch nicht fragen! Jetzt steht der Satz viel weniger unverrückbar im Raum. Die Patientin hat sich zurück gelehnt, und der Rest der Gesellschaft ist durch das gekippte Fenster hinausgeweht. Das kann ich doch nicht fragen. Kann ich das nicht fragen? Vom Beginn deiner Kindheit wirst zu erzogen, dich nicht in die Belange anderer einzumischen. Was ist denn das für ein komischer Mann da? Schhhh, Kind, man zeigt nicht mit dem nackten Finger auf angezogene Leute! Du lernst, dass Fragen wie Wie geht es dir oft nur als Floskeln gemeint sind, richtig wissen will es der Andere doch nicht. Wenn es um Fremde geht, lernst du zurückzuweichen. Du sollst dich nicht der Gefahr aussetzen, von einem Strudel fremden Leidens erfasst zu werden. Du lebst in einer Blase, zu der nur deine engen Verwandten und Freunde Zutritt haben. Für alle anderen ist die Blase ein stahlbewehrter Panzer, geschützt durch Schichten von Normen, Floskeln und höflich-abweisenden Verhaltensmustern. Jetzt sitzt du in der Anamnesegruppe, dir gegenüber ein Patient, und du willst dich einlassen auf ihn, ihn verstehen. Aber deine Gewohnheit hält dich zurück, du hast Angst, ihm zu nahe zu kommen. Das Gespräch bleibt an der Oberfläche.

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Sexualität Im Nachgespräch merkt ihr, dass etwas fehlt. Ihr wisst kaum etwas über die Patientin, was nicht auch in der Krankenakte steht. Dabei hat die Patientin ein ganzes schweres Bündel mit sich hinein geschleppt, es aber in der Ecke abgestellt, und keiner von euch hat sich getraut hinzuschauen. Die Blicke und Gedanken huschten schnell an der Ecke vorbei, und jetzt, wo ihr gucken wollt und fragen, ist das Bündel weg. Wieso hast du nicht gefragt? Ich hätte fragen können. Wieso habe ich nicht gefragt? Torsten Nahm, Bonn

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Sexualität Ein Fall von Nasenbluten und Psychosomatischer Unterricht Wolfram Schüffei, Klinik und Poliklinik für Psychosomatik, Zentrum für Innere Medizin der Philipps-Universität Marburg, Baidingerstraße, 35033 Marburg,Telefon 06421/2864012, Telefax: 06421/2866724 Email: [email protected] Ausgangspunkt: Sich wundern können Zum Ende des Psychosomatischen Praktikums im Wintersemester 2004/2005 sagte ein Mitglied der Praktikumsgruppe: „Wenn diese vier Patienten (des Praktikums) zufällig abgegriffene Patienten waren, dann merke ich, was es (an diesem 1200-Betten-Klinik der Philipps-Universität) für lange Krankengeschichten gibt." - Er setzte sinngemäß hinzu: „Ich staune, und ich wundere mich über den Inhalt des PsychosomatikPraktikums. Das also ist Psychosomatik ?" Der achtsemestrige Student hatte sein Wundern nicht nur ohne Widerspruch, sondern unter Zustimmung der elf anderen Mitstudentinnen geäußert. Die Gesamtgruppe der 12 Studentinnen des vierten Studienjahres bestand aus vier Kleingruppen zu je drei Mitgliedern. In jeder der Kleingruppen waren die Studenten auf einen der „zufällig abgegriffenen" Patienten (vgl. Diskussion) getroffen und hatten diesen in einem Zweitgespräch wieder getroffen. In der als Supervision bezeichneten Sitzung der Gesamtgruppe, also der vier Kleingruppen insgesamt, 34

Sexualität T

hatten sie über ihre Erfahrungen berichtet Diskussionen, Abschnitt Supervision).

(vgl.

Geleitet wurden die Gruppendiskussionen von einer studentischen Tutorin. Zur Supervision kam ich als eine Art graduierter Tutor bzw. Supervisor hinzu. Beide Personen, studentische Tutorin wie ärztlicher Tutor sind also gleichrangig, sie unterscheiden sich in ihren Funktionen. - Vier Wochen zuvor hatte sich eine andere Praktikumsgruppe desselben Jahrganges mit mir über eine 58jährige mit M. Osler und exzessivem Nasenbluten gewundert. Diese Patientin war seit 1986 vierzigmal (40 mal!) wegen Nasenblutens in verschiedenen HNO-Kliniken eingewiesen worden. Insgesamt hatte es sich immer wieder um notfallähnliche Zustände gehandelt. Die Blutungsherde waren vor der Laserzeit mit Fibrinunterspritzungen, Anfang der 90er Jahre beginnend mit Laserstrahlen behandelt worden. Diese Behandlungen waren äußerst schmerzhaft, insbesondere diejenigen mit Fibrinunterspritzung. Die Patientin sagte, sie habe sich streckenweise so gefühlt, als werde ihr „das Fell über den Ohren abgezogen." Nach einem erneuten Eingriff war sie zwei Tage zuvor verzweifelt, am Ende ihrer Kräfte stehend, zur stationären Behandlung in die Psychosomatik eingeliefert worden. Im Unterricht der Psychosomatik spielte sich nun eine Art klinisches Naturexperiment ab. In einer Seminarveranstaltung desselben Praktikums war Frau 0. mit mir gekommen und hatte ihre Anamnese berichtet. Nachdem sie ihre Fallgeschichte nicht nur erzählt, sondern ausführlich mit uns diskutiert hatte, war Frau 0. von den Studenten freundlich verabschiedet und auf die Station der Inneren Medizin bzw. der Psychosomatik, die Teil des Zentrums für Innere Medizin in Marburg ist, entlassen worden. 35

Sexualität Im Seminarraum herrschte Schweigen. Scheinbare Unverbindlichkeiten wurden ausgetauscht. Schließlich meinte eine der 24 anwesenden Studentinnen, ob Frau O. das Bluten nicht selbst erzeuge? - Vier Wochen später und am Ende ihrer stationärpsychosomatischen Behandlung stehend ging Frau O. in die gleiche Unterrichtsveranstaltung. Sie traf auf eine neue Gruppierung von 24 Studentinnen. Dozentin und graduierte Tutorin war diesmal die Oberärztin der Klinik. Die Studenten hatten zu diesem Zeitpunkt den ersten Patienten des Praktikums (vgl. Abschnitt 3.0, Herrn S.) getroffen und dessen Fallgeschichte in der Supervision bearbeitet. Sie hörten nun, dass ihre damals vermutenden Kommilitoninnen Recht gehabt hatten: Die jetzt von der Oberärztin vorgestellte Patientin hatte sich im Verlaufe ihrer Behandlung dazu bekannt, die nahezu unerträglichen Belastungen des Nasenblutens selbst verursacht zu haben. Studenten hatten also zu Beginn einer psychosomatischen Behandlung Ereignisse im Leben eines Patienten angesprochen, die ihre Behandler noch nicht angesprochen hatten. Auch im Verlaufe des jetzigen Praktikums würden Studenten unter studentischer (Tutorinnen-)Anleitung Dinge ansprechen, die bis dahin trotz intensiver medizinischer Eingriffe noch nicht besprochen worden waren. Die Frage, die sich nachträglich, d. h. nach Abschluss des Praktikums mir stellte, war: Wie wurde es möglich, dass tiefe und unvermutete Einsichten formuliert wurden und welche Schlüsse waren hieraus für den studentischen Unterricht unter Einsatz studentischer Tutoren ziehbar?

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1.0

Sexualität l Das Problem: Der Student soll sich nicht wundern, sondern er soll wissen - und empfindet nichts

Mitglieder von Anamnesegruppen kennen die Erfahrungen, dass es nicht nur „lange Krankengeschichten" gibt. Sie unterziehen sich darüber hinaus während mindestens zweier Semester der regelmäßigen Erfahrungen, sich wundern zu dürfen. Noch weiter: Sie unterziehen sich der Erfahrung, dass sie das Wundern auch kritisch hinterfragen können. Das geschieht unter der engen und oft originellen Mitwirkung von Peers. Peers sind im Angelsächsischen die Gleichgestellten, die Gleichrangigen, mit denen man sich austauscht, kooperiert aber auch streitet. Hierdurch entstehen neue Einsichten. Erst hiernach wird es möglich, mitgebrachtes medizinisches Wissen patientenzentriert einzusetzen. Mitglieder von Anamnesegruppen ziehen also Grunderfahrungen aus ihrer Gruppentätigkeit heran, z. B. ein Bewusstsein für Grenzziehung (Maitreffen Dresden 2004), für Problematik der Sexualität (Maitreffen Ulm 2005). Sie merken, wie sie im Zusammenwirken von Klinikern und Vorklinikern ihr Wissen zusammentragen und so ein Bild vom Patienten erstellen. Sie machen die Erfahrung, dass sie als Einzelne viel weniger, als Mitglieder einer Gesamtheit, eines Kollektivs, eines Teams oder einer Gruppe mehr und anderes wissen. Im regulären medizinischen Unterricht darf man sich weder wundern noch auf ein Gruppenwissen zurückgreifen. Wundern darf man sich deshalb nicht, weil medizinisches Wissen üblicherweise Fakten und nicht Prozesse zu erklären sucht und im Falle versagender Erklärung einfach weiter diagnostiziert werden soll. Im unklaren Falle ist damit die 37

Sexualität vorherrschende Erwartung, zusätzliches zu untersuchen statt zuzuwarten. Hierzu ist zu sagen: Nur in wenigen, d. h. in der Regel lebensbedrohlichen Situationen sind wir als Ärzte verpflichtet, möglichst schnell und dann ggf. aufwendig zu untersuchen. Ansonsten könnten wir die Entwicklung der Krankheit oder derjenigen Ressourcen abwarten, die zu Gesundheit führen. Man wird sich also auf das „alltägliche Wunder" einstellen. Im Unterricht kann es mit Hilfe eines studentischen Tutors herbeigeführt werden. Ich will zeigen, wie es möglich wird, ein zugrundeliegendes Einlassen auch im üblichen Unterricht eines medizinischen Curriculums zu üben. Ergebnis ist der oben zitierte Ausspruch des achtsemestrigen Studenten: „Psychosomatik ist überall dort, wo es eine lange Krankengeschichte gibt." Ergänzend ist hinzuzufügen: „Psychosomatik ist überall dort, wo die Krankengeschichte als aus der Lebensgeschichte erwachsend gesehen und in Richtung Gesundheit führend betrachtet wird." Ein solcher Perspektivenwechsel wird durch das Einlassen ermöglicht. Ist dieses Einlassen einmal hergestellt, dann erlaubt sich der einlassende Student, dem Patienten wirklich zuzuhören, sich selbst zuzuhören und seinen Mitstudenten zuzuhören. Wirkliches Zuhören ist aber sinnliches Empfinden. Die anderen vier Sinne des Sehens, des Tastens, des Schmeckens und des Riechens und schließlich ein transmodaler Sinn werden angesprochen. Es kann bis zu extrasensorischen Wahrnehmungen gehen wie bei Herrn K.E.S. in seiner mehr halluzinatorischen Form (SCHÜFFEL, 2004), oder bei einer „Kloßpatientin" in der extrasensorischen Weise des „sechsten Sinnes" (vgl. Anmerkung...). Damit ist die Überschrift dieses Abschnittes außer Kraft gesetzt: „Nicht wundern,

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Sexualität sondern wissen soll man - und empfindet nichts." Es heißt statt dessen: „Ich wundere mich bewusst über soviel Wahr-genommenes, weiss es in Abstimmung mit mir und meinen Mitstudenten zu ordnen und empfinde mein Vorgehen (als Student oder Arzt) als stimmig. 2.0 Stimmung und Situation; Einstellung und Umgang Die Stimmung

Der Titel des zweiten Abschnittes könnte auch formuliert werden: Die Stimme finden und Position beziehen; hierbei sich wundern und fragen dürfen, wie drücke ich mich aus und stelle mich bereit und führe einen Nächsten Schritt herbei? Stimmung und stimmig sind abgeleitet von dem Wort Stimme. Ich äußere mich mit meiner Stimme, ich habe eine Stimme und meine Äußerung ist stimmig und gewinnt hierdurch Gewicht, in mir wie beim anderen. Ich stimme mich mit dem anderen ab und schließlich werden Musikinstrumente gestimmt. - Wir leben ständig in einer Welt, in der wir uns und unsere Stimmung überprüfen, ob wir übereinstimmen, abstimmen, nicht zustimmen, in ein Stimmungshoch, in ein Stimmungstief kommen. Im Extrem geht das Stimmungshoch in vermehrte Aktivität, in Aggression und Angst über; das Stimmungstief kann über Passivität, Rückzug zu Depression führen. Beide Zustände mögen schließlich in totaler Erschöpfung und Aufgabe, schließlich den Tod einmünden. - Doch sind das die Extreme. Was wir im Alltag stimmungsmäßig spüren, das sind Empfindungen, in denen wir uns zuwenden, abwenden, oder sie in gleichmäßiger Distanz halten. In der Stimmung gehe ich Empfindungen nach. 39

Sexualität Die Situation

Immer ist es eine umschriebene Situation, in der ich empfinde. Ich empfinde eine bestimmte Situation. Situation ist gleichbedeutend mit Lage, Stellung und mit räumlicher Ausbreitung. Der Arzt kennt den Situs in der Anatomie, in der Chirurgie, den Situs inversus etc.. In diesem Sinne gibt es keine Situation ohne Körperliches. Die Situation ist immer durch Zwischenkörperlichkeit, durch Interkorporalität gekennzeichnet. Wäre ich in der Sahara oder am Nordpol oder im All, immer spürte ich etwas, das ich auf frühere Sinneseindrücke im Umgang mit anderen bezöge. Das geht soweit, dass ich weder in der Sahara noch am Nordpol oder im All ausschließlich den anderen, also bipersonal oder dyadisch empfände. Ich würde auch dort einen dritten wahrnehmen, also triadisch empfinden. Beziehe ich mich auf die Situation, bin ich also daran interessiert, meine Beziehungen zum anderen, dann zum Dritten und schließlich die Beziehung zum dritten als getrennt von mir zu verfolgen. Die Situation lässt mich mein Einbezogensein empfinden und wissen und Position beziehen.

Einstellung Es ist eine gemeinsam mit anderen erfolgende Stellung, die ich innerlich einnehme. Resultierende Einstellungen ermöglichen Aussagen dazu zu treffen, wie ich mich gegenüber bestimmten Personen und Empfindungen verhalte. Werden sie problematisch oder gar konflikthaft aufgeladen, so ermöglichen Einstellungen eine Aussage dazu, wie ich mich in einer bestimmten Situation gerade so verhalte, wie ich es tue. Ich frage, wieso und unterlasse möglichst weitgehend, das Warum als Frage zu stellen. 40

Sexualität Einstellungen sind eng mit Werten verknüpft. Ich erwerbe sie frühzeitig in meiner primären Sozialisation, d. h. wenn ich in meine Familie und in die Gruppe der ganz jungen Peers einschließlich die der Geschwister, der Krippen- und Kindergartenkinder hineinwachse. Einstellungen erwachsen aus den frühesten Empfindungen des Kinderwagens (Abschnitt 3.0 Pat. E., und aus unserem Einbezogensein ins Elternhaus, in die Kinderkrippe und in den Kindergarten. Umgang Umgang heißt, ich habe eine (wiederum) bestimmte, mir eigene Weise, mit dem anderen zu gehen, mit ihm zugleich um ein Problem oder einen Konflikt herum zu gehen, es zu besichtigen. Mein Gehen drückt sich in habituiertem, also erworbenen und im beschreibbaren und in einer für mich kennzeichnenden Weise meines interkorporal empfindbaren Ganges aus. - Immer ist Umgang ein Umgang miteinander. Der andere und ich gehen miteinander um. Wir haben uns aufeinander eingestellt, und wir stellen uns immer wieder neu im Umgang miteinander auf den anderen ein. - Umgang miteinander ist der gemeinsame Gang von mir und dem anderen, um einer dritten Person oder einem Dritten zu begegnen, sich auf ihn zu beziehen. Hier fließt meine persönliche Geschichte und die meiner Umwelt ein. Umgang ist ein Begriff, der eng mit der Anthropologischen Medizin verbunden ist, die sich schwerpunktmäßig in Heidelberg über Generationen entwickelt hat. Ich werde hierauf in der Diskussion zurückkommen. Umgang umfasst auch das englische Wort Approach, wie er im Angelsächsischen etwa im Sinne des Begriffes „Clinical Approach" verwendet wird, Er geht aber weit über dessen Inhalt hinaus, indem er das Einlassen auf den anderen und den

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Sexualität Dritten in deren Gleichrangigkeit betont. Im Angelsächsischen tritt stärker die Beqwegung des Betreibers in Richtung des Betriebenen, also des Piloten Richtung Flughafen, des Steuermannes Richtung Hafen etc. in den Mittelpunkt. Stimmung, Situation, Einstellung und Umgang stellen ein Bedingungsgefüge dar. Ich werde zunächst zeigen, wie sich dieses Bedingungsgefüge prozessartig und im Verlauf einer Woche in einer Praktikumgruppe unter Anleitung einer studentischen Tutorin entwickelte. Hiernach werde ich diskutieren, wie dieses Bedingungsgefüge seinerseits in der Auseinandersetzung mit den Problemen einer Patientin und ihrer Ärzte eine neue Gestalt gewann. Diese Person ist Frau O., die erwähnte Patientin mit ausgeprägtem Nasenbluten, das zu bedrohlichen Blutverlusten führen konnte. Sie hatte einen Morbus Osler, also eine angeborene Schwäche der Gefäßwände, wie sie erstmals von dem amerikanischbritischen Internisten Osler in Oxford Anfang des 20. Jahrhunderts beschrieben wurde. Im Hinblick auf diese Patientin und ihre eigene Entwicklung werde ich zeigen, wie es den Studenten gelang, sich vier äußerst differenzierter Patienten innerhalb des Praktikums anzunehmen und damit ihrer eigenen Umgangsweise als zukünftige Ärzte näherzukommen. 3.0

3.1

Die vier Patienten des Praktikums

Der Mann mit Seminom, der so viel auf seine Frau gab

Es handelte sich um den ersten Patienten, Herrn S. in den späten 30ern. Er war wegen eines Seminoms behandelt worden. Er betrat den Unterrichtsraum mit einer blauen Tasche passend zum Bademantel. Hierin trug er den Urinbeutel. Er war wegen eines Seminoms

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Sexualität operiert worden, hatte sich der Chemotherapie unterzogen und musste nun wegen Inkontinenz einen Urinkatheter benutzen. - Herr S. berichtete, wie er getrennt lebte, sich aber nicht scheiden lassen wollte. Er wollte dies auch nicht tun, obwohl es mit der Ehe nicht mehr klappen würde. Seine Frau hatte ihn verlassen, doch hatte sie ihn ins Krankenhaus gebracht. Er meinte: „Ich will keine Scheidung, ich will in eine Psychotherapie gehen." Seine junge Tochter lebte bei der Mutter. Doch war sie unglücklich, und sie hatte sich an den Schulpsychologen gewandt. Der Patient war stolz hierauf. - Auch mit der Stieftochter, die von der Frau in die Ehe eingebracht worden war, kam er gut zurecht. Die Mutter beschrieb er als „herzlich", weitab von Marburg lebend. Es war nicht zu hören, dass sie ihn besucht hatte. Auch war nicht zu erfahren, ob zwischen ihr und den Enkeln Kontakt bestand. - Der Vater war an Apoplex gestorben, als der Patient in den 30ern gewesen war. Die unmittelbare Reaktion der Studenten war gewesen: Er war doch sehr jung, diesen Verlust ertragen zu müssen. -; Er war als Einzelkind aufgewachsen, ohne Kontakte zu Cousinen und Cousins zu haben. Meine Interpretation (die ich für mich behielt) war, dass die Studenten die Einsamkeit des Patienten spürten. Ich fühlte mich durch die anschließend erfolgende Mitteilung bestätigt. Die Studenten hatten sich zur Aufgabe gemacht, von ihnen so bezeichnete „Wohlfühlmomente" zu erfragen. Es sollten Situationen benannt werden, die die Patienten als angenehm und wohltuend empfanden. Herr S. hatte nach einigem Nachdenken gemeint, dass er sich wohlgefühlt hatte, als ihm der Arzt im Aufwachraum mitteilte, dass man bei den paraaortalen Lymphknoten keine Metastasierung gefunden habe. In

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Sexualität der studentischen Gruppe hatte das Betroffenheit, Nachdenken und Wundern ausgelöst. Eine Studentin sagte: „So wenig Wohlfühlelemente? - Wenn ich an mich denke, es gibt so viele schöne Elemente in meinem Leben." Sie setzte hinzu, dass der Patient so erstaunlich viel auf seine Frau gebe. Der Mann mit Fixateur

Herr F. war ein Mann Ende der 30er. Zunächst sah die Gruppe nur ein Bein mit Fixateur. Ihm folgte im selben Rollstuhl der Mann, der den Fixateur mit seinen Augen fixierte. Er trug ein schwarzes T-Shirt, hatte schwarze Hosen an. Die unbedeckten Körperteile zeigten eine braune Hautfärbung, die an ein Sonnenstudio erinnerten. Er antwortete kurz und einsilbig und sagte, er sei nervös. Er hatte Angst, sich zu blamieren. Als das Gespräch tatsächlich sehr kurz wurde, war er über dessen Kürze und schnelles Ende überrascht. - Er ärgerte sich über sich selbst, dass es schon wieder zu einer Fraktur des linken Beines und damit im letzten Jahr zu einem mehrwöchigen Chirurgieaufenthalt gekommen war. Jetzt war das linke Bein verkürzt und er musste täglich mit Hilfe des Fixateurs dieses Bein dehnen. Er hatte aber keine Schmerzen wie er hinzufügte und sagte unaufgefordert, dass er auch keine Schmerzmittel oder andere Medikamente nehme. - Im Jahre 2002 war es zu einem schweren Unfall mit multiplen Frakturen beider Beine, des Beckens und der Arme gekommen. Er hatte in einer zweistündigen Unternehmung aus seinem Auto herausgeschnitten werden müssen. Er konnte sich an den Ablauf dieser zwei Stunden nicht mehr erinnern, obwohl die Retter sagten, er habe mit ihnen durchgehend gesprochen. Daraufhin sei er sieben Monate in der Chirurgie (einschließlich eines künstlichen Komas auf der Intensivstation) und 2004

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Sexualität zu einem stationären sechsmonatigen Alkoholentzug weg gewesen. Immer wieder seien sowohl die Nägel wie die Stahlplatten „gebrochen." Er sei jetzt insgesamt 25 mal operiert worden. - Früher sei er nie krank gewesen, habe freilich über Jahre Kokain und auch vor dem Unfall Schlaf- und Schmerzmittel genommen. Jetzt wolle er nichts mehr hiermit zu tun haben. Er war als einziges Kind seiner Eltern aufgewachsen, wobei die Mutter eine Tochter in die Ehe mitgebracht hatte. Sie trennten sich vor zwanzig Jahren, lebten aber jetzt seit kurzer Zeit wieder zusammen. Die Mutter war zum Vater zurückgekommen, nachdem dieser einen Apoplex erlitten hatte. Sie wollte sich, wie er sagte, ein „kleines Taschengeld" hinzu verdienen. Der Vater hatte ihn bereits als kleines Kind häufig und heftig geschlagen. Er war mehrfach in Heimen gewesen. Mit 15 Jahren lief er wegen des schlagenden Vaters davon. Seine Freundin wurde schwanger. Aus der Schwangerschaft stammt ein jetzt ca. 20jähriger Sohn, der in der Schilderung blass blieb. Er heiratete die Mutter des Sohnes mit 18 Jahren und beide ließen sich zwei Jahre später scheiden. Bis vor wenigen Monaten hatte er die Wohnung seiner ehemaligen Frau bezahlt, in der er sie regelmäßig besuchte und wohl wissend, dass sie einen festen Freund hatte. Jetzt war der Vater wie ein Kind geworden, so dass er ihn nach dem Apoplex zu sich nahm und ihn bis zum Zeitpunkt des eigenen Unfalles versorgte. - Der Patient beschrieb, wie er immer hart gearbeitet hatte und sich mehrere Häuser, darunter einen Nachtclub erarbeitete. Es kamen unüberhörbare Hinweise auf Rotlichtmilieu. Zweifel kamen hoch, wie Stahlnägel und -platten „einfach zerbrechen" können. Wie eine

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Sexualität Zusammenfassung formulierte eine Studentin: „Das ist schon schlimm: Er ist ein geprügeltes Kind und die Heimatmosphäre zieht sich hindurch. Jetzt kriegt er seinen Vater - als müsste er sich entgangene Liebe und Beziehung erkaufen." Die Freundin bzw. geschiedene Frau habe sich aushalten lassen. Er definierte sich über Arbeit und war mit knapp 40 Jahren ein komplettes Wrack geworden. Eigentlich wurde ihm hier der Vater auch wieder weggenommen, indem die Mutter sich um ihn kümmerte. Das waren die Kommentare dieser einsichtigen Studentin. Als die „Wohlfühlphase" seines Lebens gab er die Zeit an, in der er den apoplektischen Vater 1998 zu sich nehmen konnte. Eine ganz normale Patientin mit Arrhythmien

Frau A. war eine mitsechziger, etwas älter wirkende Frau in „ganz normaler" Straßenkleidung. Sie war beim Eintritt in den Unterrichtsraum vollauf mit ihrem Heparintropf beschäftigt, für den sie sofort eine Steckdose suchte. Es ginge ihr sehr gut, so meinte sie, lediglich die Sonde ihres Herzschrittmachers habe sich verschoben. Deshalb hatte sie vor fünf Monaten und jetzt nochmals am 24.12.04 (!) das Krankenhaus aufgesucht. Sie war, so betonte sie, immer gesund gewesen. - Bei genauem Nachfragen stellten sich andere Dinge heraus: Die Herzbeschwerden fingen 2000 in Form von Atemnot (belastungsabhängig) an, als sie mit ihrem Manne unterwegs war, der einen Morbus Bechterew hatte. Sie hatte damals eine Grippe gehabt. - Bei genauem Nachfragen hörte ich: Ja eigentlich habe sie 2003 eine Darmperforation gehabt. Aber wegen des damaligen „Blähbauches" habe sie nicht zum Arzt gehen wollen: Genauso wenig habe sie jetzt wegen der Herzbeschwerden ins Krankenhaus

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Sexualität gehen wollen. bestanden.

Ihr

Hausarzt

hatte jedoch hierauf

Obwohl sie einen Bruder und zwei Schwester hatte, hatte sie den elterlichen Bauernhof übernommen, das war ja „normal", da die Geschwister eine Übernahme abgelehnt hatten. Die Eltern (der Vater hatte bereits eingeheiratet wie es später ihr eigener Mann tat) seien „ganz normal" im hohen Alter, d. h. in ihren 90ern gestorben. Sie fügte hinzu, sie habe „ganz natürlich" die Mutter über sechs Jahre hin bis zu deren Tode gepflegt. Einer der eigenen Söhne hatte bereits vor Beginn der Herzbeschwerden den Hof übernommen. So könnten sie und ihr Mann „eigentlich" ihr Leben viel mehr als früher an ihren Bedürfnissen ausrichten. Als Wohlfühlzeit gab sie das Zusammensein mit der Selbsthilfegruppe ihres Ehemannes an. - Als Kommentar formulierte ich für mich: „Sie nahm alles in die Hand; sie gab alles aus der Hand und wurde hiernach krank." Die Frau mit Endometriose Entwicklungssprung vom Baby zur Greisin

und

Es handelte sich um Frau E., eine Patientin Ende der 30er. Sie kam in den Seminarraum „in der Ecke ihres Rollstuhles sitzend". Den Gehstock hatte sie im Rollstuhl untergebracht. Sie sah wesentlich älter als ihr biologisches Alter aus. - Mitte 2004 hatte der letzte Krankheitsschub begonnen: Sie erbrach, hatte Druckgefühle retosternal und hatte zugleich Verstopfung. Sie verlor 8 kg Gewicht. Es wurden Stenosen im Duodenum festgestellt. Man operierte sie. Es kam zum Lungenödem, Tracheotomie und zu einer dreiwöchigen Behandlung auf der Intensivstation. Man hatte sie geduldig in Marburg „aufgepäppelt". Begonnen hatte alles mit einer verunglückten 47

Sexualität Intubation, so war ihre Formulierung sinngemäß, als sie 1986 wegen eines Nasen-Rachenpolypen operiert werden sollte. Der Schaden war nicht zu beheben. Sie konnte den Mund nur l cm öffnen und rnusste sich sechs Jahre lang von Babykost ernähren. Bereits zu dieser Zeit machte sich ihre Endometriose bemerkbar, von der sie innerlich praktisch „verklebt" war. Eine Operation folgte der anderen. Seit 1986 hatte sie 50 Operationen hinter sich gebracht. Sie wuchs gemeinsam mit einem Voll- und einem wesentlich älteren Halbbruder auf, den die Mutter mit in die Ehe gebracht hatte. Die Mutter erzählte ihr, wie ihr Bruder sie wiederholt aus dem Kinderwagen geworfen hatte. Der habe sich an den großen (Halb-) Bruder angelehnt und mit diesem zusammen auch den Vater bedroht. Die Mutter war vor 14 Jahren, der Vater vor 5 Jahren gestorben.. Auch die beiden Elternteile waren in Pflegeheimen untergebracht gewesen. Die Mutter hatte sich im Pflegeheim nicht wohlgefühlt, wohl der Vater. Nach dem Tod des Vaters wurde die Kriminalität beider Brüder deutlich. Sie konnte in der Begegnung mit den Studenten die Vornamen der beiden Brüder nicht erinnern: Sie war seit langem ohne Kontakte. Anders als zu diesen Brüdern hatte sie eine „total schöne" Beziehung zur Mutter. Sie hatte im Sterbejahr der Mutter geheiratet. Ihren Mann hatte sie als Mitpatienten im Krankenhaus kennengelernt. Sie hatten sich beide abgesprochen, keine Kinder haben zu wollen. Sie war so stark mit ihrem Schicksal beschäftigt. Sie wirkte so viel älter. Das Leben schien an ihr vorbeigezogen zu sein, ehe sie es im Kinderwagen hatte festhalten können. Nach ihrem Wohlgefühl gefragt: Das komme zustande, wenn sie James Last-Platten hören könne. Dann

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Sexualität beschrieb sie, wie es ihr gut gehe, wie sie sich wohlfühle, wenn ihr Mann ihr vorliest. - Ich formulierte zu ihrem Schicksal als Kommentar: Die scheinbar Nächsten warfen sie aus dem Kinderwagen. Das Krankenhaus war heute ihr Kinderwagen geworden eine lebenserhaltende und lebensbedrohliche Einrichtung zugleich. 4.0

Diskussion: Wie im Unterricht aus vier Einzel Vorstellungen des Praktikums eine verbindliche Einsicht in den Stellenwert von Beziehungen in der Medizin erwächst. Wie kann aus dem Ablauf dieser vier Fallgeschichten innerhalb des Unterrichtes ein Gesamtprozess erwachsen? Wie kann hieraus eine lebende Gestalt werden? Schließlich: Wie erwachsen hieraus für den zukünftigen Arzt Bedeutung und Sinn in der Medizin? Wir alle brauchen Vorstellungen von unserem Leben, um dieses Leben zu gestalten. Die vorgestellten vier Patienten waren Ausschnitte aus dem bevorstehenden ärztlichen Berufsleben. Nichts anderes war die erfahrene Gruppenarbeit, nämlich ein Ausschnitt aus dem bevorstehenden Berufsleben. - Schließlich waren die sich erweiternden Perspektiven, die sich im Laufe der Unterrichtswoche abzeichneten, ein Ausschnitt aus diesem Berufsleben. Ich möchte von dieser dritten Feststellung ausgehen, die sich auf die erweiterten und gleichzeitig qualitativ veränderten Perspektiven beziehen. Sie kommen dadurch zustande, dass sich die Gruppe über die affektive Arbeit findet, sich der einzelne in seiner Einstellung öffnet, während die Stimmung in wachsend intensiver und präziser Form aufgespürt wird, die Situation in entsprechend schärferer Weise erfasst wird. Alles drängt nun auf einen veränderten Umgang. Dieser veränderte Umgang ist dadurch

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Sexualität gekennzeichnet, dass zunehmend salutogenetische Faktoren wahrgenommen und den pathogenetischen gegenübergestellt werden. 4.1

Das Bedingungsgefüge Begonnen hatte alles mit Fragen nach WohlfühlMomenten. Jetzt entstand die Frage, wie erwächst aus den Wohlfühl-Momenten ein probehalber so bezeichnetes „Wohlfühl-Leben"? Es erwächst meiner Erfahrung und meiner Überzeugung nach aus den vier Begriffen der Stimmung und Situation, der Einstellung und des Umganges. Jedoch muss es beispielhaft, auf einen individuellen Patienten bezogen dargestellt werden. Hier nun kommt die Erfahrung mit Frau 0, zum Tragen. Diese Patientin gab uns durch das beschriebene Naturexperiment die Möglichkeit, ihren Behandlungsverlauf von Beginn an zu verfolgen und ihre natürliche Einwirkung auf den Unterricht zu registrieren. Zunächst zeichne ich ihren Behandlungsverlauf anhand des dargestellten Gefüges Stimmung und Situation, Einstellung und Umgang auf. Es wird dann deutlich, wie hieraus neuartige Perspektiven erwachsen, die ich entsprechend ärztlichphänomeno-logischer Vorgehensweise als Bühne, Kontext, Hintergrund und Rhythmus bezeichne. Die Stimmung

Ausgangspunkt i s t d i e S t i m m u n g (UEXKÜLL, 1962). Ich treffe einen Patienten und lasse mich auf die Stimmung ein, die aus diesem Treffen erwächst. An anderer Stelle (SCHÜFFEL, 2004) beschreibe ich, wie aus der Stimmung das Symptom, die Verbindung des Symptoms mit der Jetzt-Anamnese und mit der Gesamtanamnese erwächst. Es erwächst eine

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Sexualität Gesamtgestalt, die eine starke Aussagekraft hinsichtlich des anstehenden Symptoms hat und die unter lebensgeschichtlicher Betrachtung als N a r r a t i v bezeichnet wird. Symptom, Anamnese und Narrati v erwachsen also aus einer jeweils beschreibbaren Stimmung heraus. Frau O., die den damaligen Studenten vor vier Wochen und den jetzigen Studenten im zweiten Seminarblock am zweiten Tage ihres Unterrichtes gegenüber gesessen hatte, hatte gleichermaßen eine Stimmung der Verzweiflung wie des Aufbruches vermittelt: In zeitweise hoffnungsloser, depressiver Stimmung hatte sie geschildert, wie sie von unstillbarem Nasenbluten überrascht wurde. Sie hatte dann die beschriebenen strapaziösen Eingriffe über sich ergehen lassen müssen. Sie hatte in bestimmten Konstellationen für die Zuhörer nachvollziehbar in einer nasal betonten Weise gesprochen, als würde die Nase nicht mehr durchgängig sein, als müsste sie um Luft kämpfend den Mund weit aufreißen. Eine Stimmung des Aufbruchs war auf die Zuhörer übergegangen, als sie anfänglich sagte, sie wolle sich nun in die Psychosomatik zur Behandlung begeben und wie sie kürzlich darstellte, wie es unter ihrem Zutun immer wieder zu Blutungen gekommen war. Die Situation

In dieser S i t u a t i o n hatten die Teilnehmer sie körperlich und zwischen-körperlich, also im erwähnten interkorporalen Sinne empfinden können. Zunächst hatten sie empfinden können, wie schwer es war, über 100 km aus dem osthessischen Raum kommend rechtzeitig die HNO-Klinik von Marburg erreichen zu können. Jeder hatte nach vollziehen können, wie glücklich sie war, in diesen Notfällen auf ihren Mann zurückgreifen zu können.

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Sexualität Einem ßühnenspie\ vergleichbar wurde deutlich, welches die vier Bedeutungen des Symptoms waren und beschrieben wurden mit wünschen, wegschieben, aufschieben und auflösen. Darunter war in ihrem Falle und ist allgemein zu verstehen: Der Patient wünscht in bewusster Weise mit dem Symptom ein Ziel zu erreichen, hier das Ziel der unbedingten Verlässlichkeit des Ehepartners. - Wegschieben heißt, einen im Unbewussten angesiedelten Konflikt wegzuschieben: Im Falle von Frau O. war es die Verselbständigung von den Eltern, in derem Hause sie weiterhin lebte

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Sexualität

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Sexualität

Patientensicht und Beobachtersicht Stellung zu seinem Gespräch nehmen. Danach erhält der Interviewer Feedback vom Simulationspatienten und dann von der Gruppe. Im Anschluss bleibt Zeit einige Themen während der Diskussion zu bearbeiten. Für Gespräch, Feedback und Nachgespräch stehen maximal 50 Minuten zur Verfügung, da die Simulationspatienten in mehreren Kursen an einem Tag ihren „Auftritt" haben, entsprechend bestellt werden und da im Kursraum üblicherweise direkt im Anschluss der nächste Kurs anlaufen muss. Die verpflichtende Teilnahme an diesem Kurs brachte die Berliner Anamnesegruppen in eine schwierige Lage. Das Dilemma liegt darin, dass dieser Kurs die Hauptzielgruppe der potentiellen Anamnesegruppenteilnehmer involviert. Da die neue Studienordnung außerdem eine erhebliche Zunahme der Pflichtstunden für die Studenten und eine deutliche Zunahme von Klausuren und Prüfungen mit sich brachte, verhallte die Werbung der Berliner Anamnesler weit gehend ungehört. Es kam zur Bildung einer Gruppe. Allein hieraus ließe sich ableiten, dass die Anamnesegruppen in Berlin schwierigen Zeiten entgegengehen. Der Pflichtkurs zur Gesprächsführung als Konkurrenzveranstaltung ist allerdings nicht das einzige Problem der Berliner Gruppen. Als ich mich auf dem letzten Maitreffen in Dresden aus dem Fenster lehnte und verkündete, dass Berlin wohl ein Tutorentraining veranstalten könne, war ich davon ausgegangen, dass sich genügend aktive Tutoren und ambitionierte Teilnehmer fänden, die zur Organisation beitragen könnten. Die momentane Situation in Berlin stellt sich so dar, dass drei Tutoren selbst am Training teilnehmen müssten, um nach Berliner Hausregeln später eigenverantwortlich eine Gruppe leiten zu 73

Sexualität dürfen. Daneben verbleibt am Ende dieses Semesters eine solcherart qualifizierte Tutorin, wo ich in Dresden noch von dreien ausgegangen war. Wie wir aus früheren Erfahrungen wissen, ist es eine nicht zumutbare Aufgabe gleichzeitig zu organisieren und am Training teilzunehmen, so dass einfach nicht genügend Menschen zur Organisation zur Verfügung standen. So musste die Entscheidung zur Absage des Trainings fallen. Bleibt die Frage wie es mit den mit den Berliner Anamnesegruppen weitergeht. Die Tutoren müssten wohl für sich und untereinander klären, ob sie unter den jetzigen Bedingungen in Berlin eine Fortführung der Anamnesegruppen für sinnvoll und für möglich halten. Danach sollte eine Diskussion über Inhalte und die Art der Vermittlung erfolgen. Von außen sehe ich für die Gruppen nur die Chance einer Schärfung ihres Profils. Damit meine ich, dass es einer klaren Aussage über die Vorteile der Anamnesegruppen gegenüber dem Pflichtkurs bedarf. Was ist also an den Gruppen besser, als am Pflichtkurs. Hier ist sicherlich viel zu tun und es sind starker Wille und viel Engagement gefragt.

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Sexualität

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Sexualität Das Anamneseteleskop

Eine prozessorientiertes Setting in Anamnesegruppen Michael Hunze (München) & Thomas Köglsperger (Freiburg)

Hintergrund: Anamnesegruppen sind freiwillige Gruppen, in denen sich Medizinund Psychologiestudenten im Umgang mit Kranken erfahren und das Gespräch mit Patienten erlernen können. Die Gruppen fokussieren dabei in ihrer Arbeit ganz besonders auf die Art der Beziehungsgestaltung zwischen Student und Patient. Das Gruppensetting soll dabei Aspekte dieser Beziehung möglichst gut greifbar und somit bearbeitbar werden lassen. Ziel & Fragestellung: Ziel dieser Arbeit ist es ein Setting vorzustellen, dass dieser Notwendigkeit Rechnung trägt und dass für die Anwendung in Anamnesegruppen dabei zugleich gut geeignet ist. Es handelt sich dabei um das sogenannte Anamneseteleskop. Methode & Durchführung Die vorgelegte Arbeit beschreibt Aufbau und Durchführung dieser Methode und erörtert Erfahrungen in der Umsetzung anhand von Fallvignetten.

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Sexualität Das Reflektierende Team Das Anamneseteleskop bedient sich in seinen Strukturelementen einer Methode aus der Systemischen Therapie, die man das Reflektierende Team oder liejlecting Team

(RT) bezeichnet. Diese

Methode entstand zu Beginn der 80er Jahre um den norwegischen Sozialpsychiater Tom Andersen aus einem Therapieuntall heraus: Ein Familiengespräch wurde von einem Team von Therapeuten hinter einem Einwegspiegel beobachtet. Nachdem das Gespräch beendet war tauschten sich die Therapeuten, noch immer von der Familie durch den Einwegspiegel getrennt untereinander über ihre Wahrnehmungen und Ansichten aus im Glauben, die Familie würde davon nichts mitbekommen. (Un-) glücklicherweise war aber die Gegensprechanlage eingeschaltet und die Familie konnte der Unterhaltung der Therapeuten folgen. Wenngleich dieser Unfall zunächst Besorgnis auf Seiten der Therapeuten auslöste, stellte das Team um Anderson bald fest, dass diese Begebenheit äußerst gewinnbringend

und

ergiebig

für

das

Vorankommen

im

Therapieprozess gewesen war und entwickelte daraus ein Methode: das RT.

Grundprinzip dieser Methode ist, dass eine Gruppe A einer anderen Gruppe B zusieht, wie sie etwas tut und sich dann in Anwesenheit der Gruppe B, die beobachtet wurde, über ihre Beobachtungen spricht ohne aber zu diesem Zeitpunkt mit der Gruppe B zu sprechen. Die Gruppe A wird dabei das RT

genannt.

Das RT

erfüllt dabei, wie der Name anklingen la'sst, die Funktion der Reflexion. Während die Gruppe B Prozess zu Tage fördert, übernimmt es das RT diesen Prozess sozusagen

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Sexualität in einem Zwischenschritt und mit Abstand vor /.u verstehen, bevor ein Durcharbeiten in der Gruppe A möglich wird. Das RT ist dabei vor allem dabei deshalb geeignet, weil es zunächst außen vor bleibt und dabei die Hauptvoraussetzung erfüllt, um einen Prozess zu begreifen, nämlich eine entsprechende Distanz und somit genügend Überblick über das Geschehen zu haben •!•

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Sexualität Einführung Die Ausbildung von Medizinstudenten in Deutschland fokussiert besonders auf eine Vermittlung naturwissenschaftlich-medizinischer Kenntnisse und klinisch-technischer Fertigkeiten. Die Vermittlung von Kompetenzen in den Bereichen Kommunikation und Arzt-Patient-Beziehung nimmt dagegen in den meisten Curricula nur wenig Raum ein. Sowohl (Junior-) Balintgruppen wie auch Anamnesegruppen können diese Lücke teilweise schließen. Anamnesegruppen sind freiwillige Gruppen, in denen sich Medizin- und Psychologiestudenten im Umgang mit Kranken erfahren und das Gespräch mit Patienten erlernen können. Diese Gruppen kommen ohne Dozenten aus und werden stattdessen von Studenten, sogenannten Tutoren, geleitet. Bereits vor über 20 Jahren konnten Forschungsarbeiten zeigen, dass Studenten in Anamnesegruppen wichtige Fähigkeiten und Fertigkeiten für ihren Beruf erlernen, und somit die Effektivität dieser Gruppen grundsätzlich bestätigen. [1,2]. Dabei geht es in Anamnesegruppen weniger um das Erlernen von Gesprächsalgorithmen. Statt dessen versuchen die Gruppen Studenten die Möglichkeit zu bieten sich im Gespräch mit Kranken zu erfahren und betonen dabei den Aspekt der Selbsterfahrung, die in Anamnesegruppen themenzentriert stattfinden soll. Um dieses Ziel zu erreichen bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen, wozu ganz entscheidend das Gruppensetting gehört. Darunter verstehen wir den strukturellen und zeitlichen Ablauf einer Gruppenstunde, also die Übereinkunft über Inhalt und Abfolge von Strukturelementen wie Blitz, Feedback etc. Ein solches Setting muss folgende Eigenschaften erfüllen, damit es den Lernzielen von Anamnesegruppen förderlich ist: a) Es muss die Möglichkeit für die Entfaltung von Prozess bieten,

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Sexualität

womit die „Art der Beziehung zwischen miteinander interagierenden Individuen" gemeint ist. Anders formuliert: Es muss Raum bieten, in denen Aspekte der Arzt-Patient-Beziehung sichtbar werden. Alle Faktoren, die die Prozessentfaltung grob behindern sind dabei zu vermeiden wie beispielsweise die übermäßige Konzentration auf die Tutoren (Frontalunterricht ist nicht prozessorientiert etc.). Das Gruppensetting soll nicht zu stark strukturiert werden. b) Das Gruppensetting muss die Möglichkeit bieten den erlebten Prozess zu verstehen und durchzuarbeiten. Es muss Strukturelemente geben, die eine Distanzierung vom Prozess zulassen und sogar fördern und eine Auseinandersetzung damit ermöglichen. [3] Zusammenfassend muss das Setting somit die beiden Komponenten Erleben und Erlebtes verstehen ermöglichen um die Voraussetzung für das zu erfüllen, was wir Affektives Lernen bezeichnen wollen. Schließlich erscheint uns noch die Übertragbarkeit der Situation in Anamnesegruppen auf die Praxis bedeutsam. Die Praxis steht dabei für die Struktur in der Arbeitssituation von Ärzten. Diese Arbeitssituation spielt sich für die meisten zunächst einmal im Krankenhaus ab, so dass geschlussfolgert werden kann, dass das Setting von Anamnesegruppen dieser Arbeitsituation der meisten Mediziner am Beginn ihrer Berufslaufbahn Rechnung tragen muss, will es die künftigen Ärzte gut auf diese Situation vorbereiten. Es erscheint uns daher sinnvoll, Überlegungen über Aufbau und Struktur eines Settings anzustellen, das die oben genannten Bedingungen besonders gut erfüllt und für die Arbeit in Anamnesegruppen daher gut geeignet ist: das sogenannte Anamneseteleskop.

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Sexualität Das Anamneseteleskop

Der Begriff Anamneseteleskop ist teilweise der Optik entlehnt und bezieht sich auf das Ineinanderschieben von Linsen bei einem Teleskop. Im Kontext der Anamnesegruppe meinen diese Linsen die unterschiedlichen Gruppenebenen im Verlauf einer Anamnesegruppe, die bei dieser Methode integriert werden, ineinandergeschoben werden sollen. Unter Gruppenebenen verstehen wir in diesem Zusammenhang ganz besonders die Ebenen abgestufter Distanz (Prozessebene - Ebene der Reflexion - Ebene der Reflexion der Reflexion). Die Methode integriert dabei a) ein Patientengespräch zwischen einem Patienten und einer Gruppe von Interviewern, b) ein Nachgespräch innerhalb der Gruppe der Interviewer, das durch c) ein Reflektierendes Team unterstütz wird und schließlich in d) ein Nachgespräch mit einem Aussenkreis mündet. Abb. l gibt einen Überblick über den Gruppenablauf. a) Das Patientengespräch. In einem ersten Schritt findet wie gewöhnlich ein Gespräch mit einem Patienten aus der Klinik statt. Dieser wird zuvor befragt, ob er sich bereit erklärt, ein Gespräch mit einer Gruppe von Studenten von etwa 30-45 Min, Dauer zu führen. (Mach einer Blitzrunde wird der Patient abgeholt und die Interviewergruppe beginnt das Gespräch. Die Anamnese soll sich grob am bekannten Schema von ENGEL orientieren. Sonst sind die Interviewer dabei in der Gestaltung völlig frei. Die Gruppe der Interviewer bildet wie gewöhnlich für das Gespräch einen Kreis, indem sich auch der Patient befindet. Der Rest der Gruppenteilnehmer bildet einen Aussenkreis und hört nur zu. An drei Stellen im Gespräch wird das Interview für etwa 5 Min. unterbrochen und die Interviewer tauschen sich nun bewusst untereinander über das

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Sexualität Gespräch aus, ohne mit dem Patienten zu sprechen. Der Patient ist dabei anwesend. Der Inhalt dieses Gespräches innerhalb der Interviewer ist zwar grundsätzlich frei, soll sich jedoch die Metaebene nicht völlig ausschließen. Nach diesen Unterbrechungen nehmen die Interviewer das Gespräch mit dem Patienten wieder auf. b) Das Nachgespräch innerhalb der Interviewer inkl. RT. Nach Abschluss des Gespräches verlässt der Patient die Gruppe und wird wieder zurück auf die Station verbracht. Die Interviewer tauschen sich nun, nach einer Pause von etwa 5 Min. untereinander über das Gespräch aus. Dazu sind etwa 30-45 Min. vorgesehen. Inhalt der Unterhaltung und deren Verlauf sind frei. Das Gespräch ist ungeleitet. Jedoch wird dieses Gespräch von einem RT unterstützt. Während der Patient noch anwesend war, war das RT Bestandteil des Außenkreises, wovon es sich nun in Abständen von etwa 15 Min. absetzt, um seinerseits einen Innen kreis im Innen kreis zu bilden. Die Interviewer rücken dazu ein Stück zurück und machen damit Platz für das RT, das sich nun über das Gespräch innerhalb der Gruppe der Interviewer austauscht. Nach Ablauf der 5 Min. rückt das RT wieder zurück (in den Außenkreis} und das Gespräch innerhalb der Interviewergruppe wird fortgeführt. c) Das Nach-Nachgespräch. Nachdem das Gespräch innerhalb der Interviewer geendet hat, stehen erneut 5 Min. Pause zur Verfügung, wonach sich alle Gruppenteilnehmer einschließlich der Tutoren in der Großgruppe versammeln und dazu einen Kreis bilden. Die nächsten 30-45 Min. stehen nun für ein abschließendes Nachgespräch der vergangenen Gruppenstunde zur Verfügung. Dieses Nachgespräch soll von zwei oder drei (je nach Gruppengröße) Tutoren, entsprechend einer Anamnesegruppe, geleitet werden und dabei eine gedankliche und affektive Integration ermöglichen.

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Sexualität Ziel und Sinn der Methode Anamnesegruppen bieten Studenten die Möglichkeit zu themenzentrierter Selbsterfahrung. Dazu muss ein Gruppensetting geschaffen werden, das diese Art des Lernens unterstützen kann. Daneben soll sich die Situation in Anamnesegruppen auch nicht zu weit vom Kontext der Alltagssituation von Ärzten entfernen, die zumeist zu Beginn im Krankenhaus spielt. Weiter gilt: Affektives Lernen besteht stets aus zwei Komponenten: Erleben und Erlebtes verstehen. Wie werden diese Bereiche in dem von uns vorgeschlagenen Setting umgesetzt und inwieweit entsprechen sie der Realität im Kontext des Krankenhausalltags ? Das Anamneseteleskop gliedert sich zunächst mal grundsätzlich in zwei Komponenten, nämlich in die Abschnitte a) Prozess erleben (Patientengespräch) und b) Prozess verstehen (Nachgespräch mit RT und NachNachgespräch). Somit ist die Grundvoraussetzung von oben strukturell erfüllt. Es muss jedoch auch darauf geachtet werden, dass die Strukturelemente ihrer Aufgabe gerecht werden können, wozu uns folgende Anmerkungen von Bedeutung scheinen: Zu a) Das Patientengespräch, Das Patientengespräch repräsentiert in Analogie zum Krankenhausalltag die Situation einer Visite: eine Gruppe von Ärzten/Studenten/Pflegern führt ein Gespräch mit einem Patienten. Das Patientengespräch ist die unmittelbare Ebene der Wahrnehmung. Dieses Strukturelement soll ganz wesentlich Prozess fördern. Da sich Prozess und Struktur bekanntermaßen invers verhalten, ist es von Bedeutung dieses Gespräch so wenig wie möglich zu strukturieren. Es erscheint uns in diesem Zusammenhang vorteilhaft, keine Anweisungen zu geben, was Inhalt und Ablauf dieses Gespräches betrifft. Die Interviewer sehen sich somit einer zunächst strukturlosen Situation gegenüber (Wer

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/PO

Sexualität

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beginnt das Gespräch ? Wer fragt was ? Wer reagiert wie auf den Patienten ?) und diese Strukturlosigkeit lässt viel Raum für Prozessgeschehen, was ausdrücklich erwünscht ist. Auch was den Austausch innerhalb der Interviewergruppe anbelangt, soll auf Anweisungen verzichtet werden, da der Patient u.E. nach Inhalt und Verlauf dieses Gespräches ganz entscheidend mit beeinflusst und somit Material und Erkenntnisse über diesen Patienten gewonnen werden können, die sonst verloren gehen, ähnlich wie das im psychoanalytischen Setting geschieht [5] Innerhalb dieses Gespräches haben die Interviewer bereits die Möglichkeit, sich über den Prozess klar zu werden, indem sie sich darüber austauschen. Somit wird bereits angesprochen, was die Interviewer in dieser Situation beschäftigt: Wie gehen wir miteinander um ? Wie gehen wir mit unserem Patienten um ? Welche Gedanken und Gefühle begleiten uns dabei ? Diese und ähnliche Fragen sollen Thema dieser Unterredung sein, die die Interviewer in Anwesenheit des Patienten führen. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass damit der Gefahr begegnet werden kann, dass die Interviewer aneinander vorbei arbeiten: Jeder hat an das Gespräch möglicherweise unterschiedliche Erwartungen und Ziele, die kommuniziert und somit integriert werden sollen. Eine Gruppe, die diese Gelegenheit nicht hat, hat es üblicherweise schwer, ein für alle zufriedenstellendes Gespräch zu führen. Darüber hinaus wird mit diesem Austausch auch der Forderung nach Basisdemokratie in der Arzt-Patient-Beziehung Rechnung getragen, die SCHÜFFEL im Kontext der Anamnesegruppen fordert [6]. Schließlich ist die Frage, was die Interviewer sich trauen zu besprechen und was sie zu dieser Zeit zurückhalten auch Prozessbestandteil. Die Prozesskomponente überwiegt in diesem Moment möglicherweise sogar noch, sind die Interviewer doch auf sich gestellt und noch Bestandteil des Geschehens.

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Sexualität Ganz besonders gewinnbringend scheint uns dabei gerade die Erfahrung zu sein, wie viel die Interviewer der nachfolgenden Reflexion vorgreifen können, was sich davon im Nachhinein bestätigen und was fallen gelassen werden wird. Wir halten diese Erfahrung für überaus wirksam, seine Gefühle im Sinne eines Diagnostikums zu schulen [7] Zu b) Das Nachgespräch innerhalb der Interviewer inkl. RT. Dieses Strukturelement repräsentiert die 2. Metaebene innerhalb dieser Methode (nach der Unterhaltung innerhalb der Interviewer in Anwesenheit des Patienten). Beispielhaft kann man sich nun etwa vorstellen, das Visitenteam hat die Visite abgeschlossen und ist nun im Stationszimmer zu einer Nachbesprechung zusammengekommen. Dabei sind auch Kollegen anwesend, die die Visite nur beobachtet, nicht aber daran teilgenommen haben (das RT). Somit wird deutlich, wie in unserem Setting eine patientenorientierte Praxis im Krankenhausalltag vorweggenommen wird, eine Praxis, die die konsequente Reflexion von Gefühlen und Einstellungen in die Arbeit auf Station mit einbezieht. Es besteht dabei die Möglichkeit, Prozessgeschehen auf einer Metaebene zu ergründen und somit zu bergreifen. Dieses Verstehen geschieht live und stellt eine besonders effektive Möglichkeit für die Interviewer dar, ihr Erleben im Spiegel des RT durchzuarbeiten. Die Gruppenteilnehmer im RT sollen dabei ihre Gefühle und Gedanken ausdrücken, die während der Unterhaltung der Interviewer entstanden sind. Es soll darauf geachtet werden, dass das RT bewusst über die Interviewer spricht und sich auch räumlich von ihnen abgrenzt, indem es einem geschlossenen Kreis bildet. Interviewer und Aussenkreis hören dabei nur zu. Auch zu diesem Zeitpunkt sind die Ebenen Erleben und Erlebtes verstehen parallel geschaltet bzw. gehen langsam in einander über: Die Unterhaltung der Interviewer in Abwesenheit des Patienten ist

Sexualität Prozessbestanteil und steht noch unmittelbar in Zusammenhang mit diesem Patienten: Was denke wir über das Gespräch ? Sind wir mit uns zufrieden ? Wie geht es uns untereinander ? Mit den Interventionen des RT gewinnt die Komponente der Reflexion nun zunehmend an Bedeutung. Somit wird das Erleben zunehmend in ein Verstehen überführt. Es ist strukturell eine äußerst wirksame Voraussetzung für Selbsterfahrung geschaffen, die unmittelbar erfolgt und die wir daher für besonders wirksam halten. Zu c) Das Nach-Nachgespräch im Außenkreis. Nach Abschluss des Gespräches innerhalb der Interviewergruppe werden alle Gruppenteilnehmer von ihren Aufgaben befreit und kommen in der Großgruppe zusammen. Ziel dieser Großgruppe ist die Integration der vorausgegangenen Abschnitte in ein zusammenfassendes Verstehen. Somit wird in diesem Strukturelement nun ganz überwiegend die Komponente der Reflexion betont. Beispielhaft lässt sich hierbei etwa die Analogie zu einer Supervisionsoder Balintgruppe ziehen, an der das Stationsteam teilnimmt. Die Distanz zum Prozess ist nun maximal, wenngleich auch diese Gruppe nicht vollständig verschont bleiben wird von Prozessgeschehen. Daher sollte diese Gruppe von zwei oder drei Tutoren geleitet werden, die eine Integration versuchen müssen. So weit das möglich ist, soll dabei der Prozess aufgelöst werden, ähnlich wie das am Ende einer Anamnesegruppe geschieht. Zusammenfassen lässt sich: Im Verlauf der Gruppe findet eine ständige Verlagerung vom Erleben zum Verstehen statt: Patient und Interviewer inszenieren am Beginn Prozess und sind somit unmittelbar am Geschehen. Dabei haben sie bereits die Möglichkeit, vor-zu- verstehen, wenn sie sich untereinander austauschen. In einem nächsten Schritt soll ihr Bemühen, sich über ihre Gefühle und Gedanken klar zu werden durch ein RT unterstützt werden. Auch 86

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_ Sexualität ^ ^ dieses Element wird abschließend einer Integration im Aussenkreis zugeführt. Die Analogie zum Krankenhausalltag (der möglichst patientenorientiert gestaltet sein soll), die wir eingangs vorausgesetzt haben wird erfüllt, wenn ein Team von Studenten a) ein Visitengespräch führt, in das bereits das Bemühen um ein Verstehen von Prozessgeschehen einbezogen ist, sich dann b) untereinander austauscht und dabei auch den Dialog mit Kollegen sucht und schließlich c) Supervisionsangebote nützt. Mögliche Modifikationen und Varianten

Die oben beschriebene Struktur stellt eine Möglichkeit dar, wie das Anamneseteleskop benutzt werden kann. Wir sind der Auffassung, dass dieses Methode aber auch genügend interessante Variationen zulässt und somit eine Anpassung an unterschiedliche Situationen erlaubt. Wir haben ausgeführt, dass das Setting grundsätzlich auf etwa 15-25 Gruppenteilnehmer ausgelegt ist und damit eine Gruppenstärke eingeführt, die für Anamnesegruppen ungewöhnlich ist. Ist eine Benutzung auch für Kleingruppen (6-10 Teilnehmer) denkbar ? a) Mann kann auf einen Außenkreis verzichten. Wenngleich dadurch die Ebene der Integration zwar verloren geht, so kann das Setting auch ohne Außenkreis durchgeführt werden. Das RT ist dann RT und Außenkreis in einem. Der Ablauf bleibt der gleiche mit der Variation, dass es dann keine Gruppenteilnehmer gibt, die bis zum Schluss unbeteiligt bleiben. Es ergibt sich dabei beispielsweise auch die Möglichkeit auf das RT direkt im Patientengespräch einzuschalten. Diese Variante bietet darüber hinaus noch die höchst spannende Möglichkeit für die Interviewer, live Feedback zu bekommen und kann u.E. das Setting insgesamt intensivieren. So können etwa 3 Teilnehmer das

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Sexualität Gespräch führen während 3 Teilnehmer das RT bilden. Die Struktur heißt dann: 1) Patientengespräch, unterbrochen vom RT (3 x 5 Min.) und im Anschluss Nachgespräch in der Großgruppe. Erfahrungen aus der Praxis der Anamnesearbeit Das Anamnesetelskop ist mittlerweile bereits fast ein Jahr alt und wir blicken auf erste Erfahrungen mit dieser Methode zurück, die wir bei unterschiedlichen Gelegenheiten damit sammeln konnten, u.a. in Dresden, München, Wien und Freiburg. Entgegen der Befürchtung mancher ist es bisher noch nicht vorgekommen, dass Patienten sich im Anschluss der Teilnahme aus dem Fenster gestürzt oder Gruppenteilnehmer ihr Studium abgebrochen haben. Wenngleich es auch nicht immer einfach war mit dieser Methode zu arbeiten, möchten wir dennoch alle Tutoren und Gruppenteilnehmer ermutigen sich diesem Versuch zu stellen, da unsere Erfahrungen stets das Potential dieser Methode unterstrichen haben, Prozess in Anamnesegruppen zu fördern und zu verstehen, bisweilen ausgeprägter als das in Anamnesegruppen normalerweise möglich ist. Wir möchten im folgenden einige ausgewählte Aspekte der Anwendung dieser Methode in der Praxis der Anamnesearbeit ansprechen, die wir damit gemacht haben. Somit wollen wir auf Bereiche hinweisen, die u.E. nach ganz besonderer Aufmerksamkeit bedürfen, um mit der Methode erfolgreich arbeiten zu können. Um die Methode auch in der Praxis greifbar werden zu lassen, besprechen wir die meisten Bereiche im Kontext von Fallvignetten. 1) Der Umgang mit unterschiedlichen Gruppenebenen. Zwar ist die Methode daraufhin konzipiert, die Ebenen von Erleben und Verstehen zu trennen, dennoch entspricht es unserer Erfahrung, dass der Umgang mit

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Sexualität unterschiedlichen Gruppenebnen auch ganz praktisch nicht immer leicht möglich ist. Das liegt einerseits an der Komplexität der Methode (Struktur und Zeit) und andererseits auch am Prozessgeschehen, womit umzugehen etwas Übung nötig macht. Zunächst einmal wird es notwendig sein, genügend Zeit einzuplanen, wenn die Methode erstmals versucht wird. Die Tutoren sollten dabei sicherstellen, dass alle Gruppenteilnehmer Struktur und Ablauf der Methode sicher verstanden und verinnerlicht haben. Fragen sollen vorneweg geklärt werden. Ganz besonders wichtig scheint uns in diesem Zusammenhang, dass die Tutoren dann darauf achten, die Trennung der Ebenen, die für das Funktionieren der Methode bedeutsam ist, unbedingt aufrecht zu erhalten. Der Außenkreis soll sich nicht in das Gespräch der Interviewer einmischen. Die Interviewer sollen, wenn sie sich in Anwesenheit des Patienten besprechen nur untereinander unterhalten und ggf. über den Patienten sprechen, ihn aber zu diesem Zeitpunkt ausschließen, wenngleich auch der Inhalt dieser Unterredung im Anschluss im Dialog mit dem Patienten selbstverständlich wieder aufgegriffen werden kann. Das RT soll dann ebenfalls stets über die Interviewer, aber nie mit ihnen sprechen. In einer Modifikation der Methode, wobei das RT bereits teilnimmt, während der Patient noch anwesend ist, illustriert das Problem: Eine Patientin bewegt sich während des Gespräches nicht von der Stelle. Auch dann nicht als das RT an der Reihe ist. Das RT seinerseits will nicht unfreundlich sein und den Patienten nicht einfach ausgrenzen und bildete einen Kreis, der den Patienten aufgrund der Gegebenheiten im Raum mit einschließt. Die Interventionen des RT sind dann durchweg sehr vorsichtig und in Übereinstimmung mit der Haltung der Interviewer und wenig Prozess wurde direkt angesprochen, wenngleich er doch bemerkt wurde. 89

Sexualität Das RT kämpft in dieser Situation mit der Abgrenzung vom Geschehen. Das RT kann seine Aufgabe aber nur dann erfüllen, wenn ein Abstand vom unmittelbaren Prozess innerhalb der Gruppe der Interviewer gelingt und somit eine Supervision dieses Prozesses möglich wird. Verstrickt sich das RT aber in Übertragungs- und auch Abwehrprozesse, die zwischen Patient und Interviewergruppe bestehen, hat es sein Potential aufgegeben. Um diesem Problem zu begegnen empfehlen wir daher, auf eine Trennung zwischen RT und Interviewergruppe zu achten: a) Das RT soll sich mit dem Geschehen im Innenkreis wirklich auseinandersetzen und das heißt wörtlich getrenntsetzen. Das bedeutet, es soll darauf geachtet werden, dass das RT wirklich einen eigenen Kreis bildet, der weder Interviewer (noch Patienten) mit einschließt, b) Das RT soll sich dann stets darauf konzentrieren über und niemals mit den Interviewern zu sprechen. Eine andere Problematik, die sich aus der Pluralität der Ebenen ergibt, ist die Überlagerung der Ebene der Reflexion mit Prozessgeschehen: Ein Patient kommt in die Gruppe. Er ist sichtbar aggressionsgehemmt und berichtet nahezu flüsternd von seiner Krankengeschichte. Das Interviewerteam bemerkt diese (vom Patienten abgespaltene) Aggression zwar, wehrt sie aber ab und thematisiert diese Gegenübertragungsgefühle nicht. Erst im RT wird die Aggression sichtbar, wenn sich die Teilnehmer im RT untereinander in eine Auseinadersetzung verwickeln, sich gegenseitig angreifen und somit die Aggression des Patienten greifbar werden lassen. An dieser Stelle hat eine Verschiebung stattgefunden: eigentlich sollte die Interviewergruppe Prozess lebendig werden lassen. Aufgrund der entsehenden Dynamik reichen die Interviewer aber sozusagen den Kelch weiter und das RT inszeniert die Dynamik unter sich ohne eine Position der Distanz zu finden. Erst im

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Sexualität Aussenkreis kann die Dynamik teilweise angesprochen und aufgelöst werden. Das Weitergeben von Prozess von Ebenen zu Ebene ist eine Beobachtung, die wir nahezu stets machen konnten. Prozess dieser Art unterstreichen die Bedeutung der Tutoren, die unbedingt darauf achten müssen, sich nicht ebenfalls verwickeln zu lassen und versuchen sollen, wann immer möglich eine Integration zu gewährleisten [8] 2) Der Zeitrahmen. Das Anamneseteleskop ist insgesamt auf einen Zeitrahmen von etwa drei Stunden ausgelegt, was für die Praxis der Anamnesearbeit schon relativ lang ist. Das kann die Anwendbarkeit der Methode einschränken, muss aber nicht a priori limitierend sein. Wichtig dabei scheint es uns von Beginn an eine Zeitstruktur vorzugeben und die Gruppenteilnehmer darüber zu informieren. Somit kann von Beginn an eine Verbindlichkeit geschaffen werden, was die Dauer der Strukturelemente betrifft. Das ist aus zwei Gründen von Bedeutung: a) Das Anamneseteleskop ist, wenn man erstmals damit zu tun hat nicht immer einfach zusammen zu halten. Durch die Menge an Strukturelementen verliert man leicht den Überblick und eine konsequent eingehaltene Zeitstruktur kann Konfusion vermeiden helfen, sowohl für die Tutoren, wie auch für die Gruppenteilnehmer (s.o.). b) Die Zeitstruktur -wird sie konsequent umgesetzt- begrenzt zwar, wie das jede Form von Struktur tut, das Prozessgeschehen (Struktur und Dynamik verhalten sich invers !), sichert aber auch allen Untergruppen genügend Raum zu für ihre Aufgabe: Eine Patientin kommt in eine Gruppe. Das Gespräch mit den Interviewern wird geradezu absurd überzogen, so dass die Tutoren, die das Gespräch nicht von außen beenden wollten, nun vor einem Problem stehen: Sollen sie die Zeit des Nachgespräches innerhalb der Interviewer (inkl. RT) oder das Nachgespräch in der Großgruppe zeitlich

Sexualität beschneiden oder aber beide zu gleichen Teilen. Die Tutoren entscheiden sich, die überzogenen Zeit vom Nachgespräch in der Großgruppe abzuziehen und provozieren damit eine Krise im Gruppenprozess. Der Außenkreis fühlt sich völlig unzufrieden und um die Zeit betrogen, die ihm zugekommen wäre und einige Teilnehmer dekompensieren dabei. Die Tutoren haben sich in dieser Situation für den Prozess und gegen die Struktur entschieden (Motto: Das Gespräch dauert so lange wie es dauert. Wir lassen alles kommen, was der Patient zu uns in die Gruppe trägt). Somit verschieben sie die Dynamik stetig immer weiter von Gruppe zu Gruppe, von Interviewergruppe über das RT bis in den Außenkreis. Der Außenkreis ist nun schließlich die „letzte Wiese" und muss die Dynamik aufnehmen. Dabei bricht sich die gesamte Aggression an der Struktur, nämlich dem Zeitlimit und führt die Krise herbei, die vermeidbar gewesen wäre, hätten sich die Tutoren nicht vollständig für den Prozess entschieden. Beachte: Prozess erleben und Prozess verstehen sind zwei Bestandteile, die beide Raum haben sollen. Eine Überbetonung eines Bestandteiles führt entweder zu unkontrollierbar regressiven Prozessen oder zu Langeweile innerhalb der Gruppe. Der Prozess allein rechtfertigt nichts ! Eine Erkenntnis, die wir H. LUSCH verdanken und die wir für gewinnbringend für diese Methode halten [9]

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Abb. l: Das Anamneseteleskop im ÜberblickiZu Beginn bilden die Interviewer mit dein Patienten einen Kreis. Der Rest bildet einen Aussenkreis. Wenn der Patient die Ciruppe verlassen hat, behalten die Interviewer ihren Kreis bei. Vorn Aussenkreis set/t sieh in regelnlässigen Abständen das KT ab und kehrt nach etwa !> min. wieder dorthin zurück, Schliesslich bilden alle Teilnehmer eine Grossgruppe.

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Sexualität Ausblick und Diskussion

Anamnesegruppen sind Gruppen, in denen sich Medizin- und Psychologiestudenten im Umgang mit Kranken erfahren können. Diese Definition betont den Aspekt der Selbsterfahrung in der Anamnesearbeit . Selbsterfahrung integriert stets zwei Abschnitte: Erleben und Erlebtes verstehen, ein Prozess, den wir Affektive Lernen bezeichnen. Von dieser Erkenntnis haben wir in dieser Arbeit abgeleitet, dass Anamnesearbeit dann am besten funktioniert, wenn auch die notwendigen Rahmenbedingungen für diese besondere Art und Weise zu lernen geschaffen werden. Wir schlagen dafür das sogenannte Anamneseteleskop vor. Unsere Methode halten wir für die Anwendung in Anamnesegruppen ausgezeichnet geeignet, sehen aber auch Schwierigkeiten: a) Der Zeitrahmen. Das Anamneseteleskop ist auf einen Zeitrahmen von etwa drei Zeitstunden ausgelegt und damit über der Zeit einer gewöhnlichen Anamnesegruppe von etwa zwei Stunden. Wir haben im Abschnitt über Modifikationen und Varianten Möglichkeiten ausgeführt, dieser Schwierigkeit zu begegnen, b) Die Anwendbarkeit für die Tutoren. Über die Zeitstunden hinaus bedeutet das Anamneseteleskop u.E. nach aber auch eine intensive Beschäftigung mit uns selbst, die emotional fordert. Tutoren müssen sich dieser Herausforderung bewusst sein, wenn sie mit dieser Methode arbeiten und sollten im Umgang mit Problemsituationen in der Anamnesegruppe nicht völlig unerfahren sein. Eine Bemerkung verdient schließlich noch die Frage nach der Zumutbarkeit für die Patienten, die an diesem Prozess teilnehmen. Es wurden dieser Methode oft Bedenken entgegen gebracht und Befürchtungen, der Patient könne Schaden nehmen, wenn er an der Unterredung der Interviewer bzw. am RT teilnimmt.

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Sexualität Man könne Prozesse lostreten, die a) nicht bemerkt werden und b) nicht aufgefangen werden könnten, da sich im Anschluss niemand um die Patienten kümmert. Wir halten diese Befürchtung aber für unbegründet und sehen darin ein Problem , das Anamnesegruppen regelhaft ausgiebig beschäftigt: Wie viel kann einem Patienten zugemutet werden ? Welche Fragen nimmt der Patient möglicherweise übel ? Wie weit kann man gehen ? Wir denken, dass sich in diesen und ähnlichen Fragen überwiegend auch die eigene Befürchtung spiegelt und die Frage: Wie viel kann ich selbst ertragen ? Von der Befürchtung, die Anamnesegruppe würde Patienten ausnutzen, berichten bereits SCHUFFEL aus der Gründerzeit der Anamnesegruppen. SCHUFFEL setzt diese Beobachtung gewinnbringend und folgerichtig in eigenen Settingvarianten um [6].Wir möchten daher ganz besonders im Kontext dieser Methode dazu ermutigen, eigene Befangenheit kritisch zu reflektieren, mutig zu sein und Patienten an unseren Gedanken und Phantasien teilhaben zu lassen. Das Anamneseteleskop bietet eine ausgezeichnete Möglichkeit zu erkennen, dass Probleme von Patienten niemals entstehen, weil sie angesprochen werden, auch wenn wir vermutlich alle dazu neigen, dieser Phantasie nachzuhängen.

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Sexualität Literatur 1. SCHÜFFEL, W. (1983b; Hg.): Sprechen mit Kranken, Urban&Schwarzenberg, München/Wien/Baltimore. 2. SCHÜFFEL, W.; EGLE, U.;SCHNEIDER, A. (1983): Studenten sprechen mit Kranken, Muench Med Wochenschr (39): 845-848 . 3. YALOM I. (1995): The Theory and Practice of Group Psychotherapy, Basic books, A Division of Harper Collins Publishers Inc., New York. 4. ANDERSEN T. (1991): Das reflektierende Team, Modernes Lernen, Dortmund. 5. HEIGL-EVERS,A.;HEIGL,F.;OTT,J. (1997): Lehrbuch der Psychotherapie, Gustav-FischerVerlag, Stuttgart/Jena. 6. SCHÜFFEL, W. (2002): Eine neue Anamnesegruppe: Off broadway 2001-Im Virchow-Klinikum beim 21. Maitreffen. In: POM (19): 31-44 , Jahrbuch für Patientinnenorientierte Medizinerinnenausbildung, Mabuse-Verlag, Frankfurt a. M. 7. VON UEXKÜLL/T. (1999), Der Arzt als diagnostisches und therapeutisches Instrument. In: POM (16): 13-16, Jahrbuch für Patientinnenorientierte Medizinerinnenausbildung, Mabuse-Verlag, Frankfurt a. M. 8. KÖGLSPERGER T. (2004): Sollten wir uns einmischen oder halten wir uns besser raus ? Ein Versuch über die Abgrenzung der Tutoren von ihrer Gruppe. In: POM (21): 5-17, Jahrbuch für Patientinnenorientierte Medizinerinnenausbildung, Mabuse-Verlag, Frankfurt a.M. 9. LUSCH H. (2004): Persönliche Mitteilung, Wiener Tutorentraining 2004.

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Sexualität Bericht über meine Erfahrungen mit Anamnesegruppen

Wie ich dazu kam, an einer Anamnesegruppe teilzunehmen: Während einer Veranstaltung innerhalb der OE-Woche hat ein Student Werbung für eine Anamnesegruppe gemacht und es hörte sich sehr vielversprechend an, was er zu berichten hatte. Vor allem machte es insofern Mut, als das Studium, in welchem ja schließlich der Mensch im Mittelpunkt stehen soll, hier die Chance bietet, auch wirklich etwas mit diesem zu tun zu haben. Vorher wurde uns nämlich stark das Gefühl vermittelt, dass man innerhalb der nächsten Semester (zumindest bis zum Physikum) nichts mit Menschen zu tun haben würde. Es sollte nämlich vielmehr um so genannte Grundlagen gehen, aber eben auf naturwissenschaftlicher Basis. Es machte den Anschein, als sollte somit kein Platz für die „menschlichen" und emotionalen „Basics" bestehen. Doch genau das scheint mir sehr wichtig zu sein. Gerade das Heranführen an den Umgang mit kranken Menschen sollte gelernt sein. Zumindest habe ich diese Erfahrung durch meine Anamnesegruppe machen dürfen. Vor allem nämlich die Sicherheit im Umgang mit Kranken kann ausschlaggebend für den Verlauf eines Gesprächs sein und genau diese Sicherheit kann man durch Wiederholen von derartigen Gesprächen erlangen. Es geht darum, innerhalb eines Anamnesegespräches dem Patienten das Gefühl einer gewissen Vertrautheit entgegenzubringen, damit er so viel wie möglich erzählt und insbesondere emotional etwas von sich preisgibt. Denn es ist bekanntermaßen keine Seltenheit, dass psychische Probleme die Ursache von

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Sexualität Erkrankungen sind. Und wenn sie es nicht sein sollten, kann man dem Patienten dennoch durch derartige Gespräche helfen, indem man ihm das Gefühl gibt, dass man ihm wirklich zuhört. Außerdem kann man noch dazu einen recht authentischen Eindruck über den Patienten bekommen Sehr gut fand ich ganz einfach, dass man mal neben der ganzen Theorie, die man sich innerhalb dieses Studiums aneignen muss, auch noch die Möglichkeit hat, in Form solcher Anamnesegruppen etwas Praktisches zu tun, was einen auf das spätere Berufsleben eher vorbereitet. Die Umsetzung von all dem, was man so während der Studienzeit lernt, wird einem nämlich leider zum Großteil nicht im Rahmen der Uni vermittelt. Eine der besten Erfahrungen, die ich durch die Anamnesegruppe machen durfte, war, dass man seine Grenzen ( gerade die emotionalen) austesten kann und im Falle, dass man mal an sie stoßen sollte, nicht allein damit gelassen wird! Man kann dadurch dann auch vor allem lernen, mit eigenen Erfahrungen, welche sich natürlich ebenfalls auf die eigene Gesprächsführung auswirken, besser umzugehen, sie und sich selbst zu verstehen und sie vielleicht auch als Folge eines Lernprozesses zu modifizieren. Für mich stellt die Anamnesegruppe so was wie meinen „Fallschirm" dar, der mir eine gewisse Form von Halt gibt, die Vorklinik emotional gut zu überstehen. Sie führt mir immer wieder vor Augen, dass es der

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Sexualität

Moderne Wege zum Wissen Informationssicherheit für Studium und Forschung

- Medizin - Pharmazie - Naturwissenschaften - Informatik/EDV - Diagnostik-Artikel

FACHBUCHHANDLUNG Steinweg 35a • 35037 Marburg Telefon: 06421/5901-20 « Fax: 06421/5901-23 e-mail: [email protected] • Internet: www.LOB.de Mo-Fr 9.00-18.30 Uhr • Sa 10.00-14.00 Uhr

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richtige Beruf für mich ist. Man kann nämlich immer wieder zwischendurch den Eindruck bekommen, dass das Studium recht wenig mit dem Beruf des Arztes zu tun hat. Ein weiterer positiver Punkt besteht darin, dass man auch die Leute innerhalb dieser Gruppe ziemlich gut kennen lernt und sich ein gegenseitiges Verständnis füreinander aufbaut, das es dann auch ermöglicht, mit Kritik durch die anderen umzugehen, da sie in diesem Falle nämlich sehr konstruktiv ist. Und genau derartige Kritik kann einen enorm weiter bringen. lsabel Budiner, Marburg

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Erfahrungsbericht zur Anamnesegruppe

e kommt man zur Anamnesegruppe? Das Medizinstudium begann für mich mit einer ziemlich demotivierenden Einführungswoche. Bis dahin hatte ich zwar schon liebe, nette Menschen kennen gelernt und Kontakte geknüpft, aber die OE ( = Qrientierungseinheit) verlief ganz anders als ich gedacht hatte. Der Einblick ins Studium bestand für mich zum größten Teil aus Horrorgeschichten über ungerechte Profs, Durchfaliquoten bei Klausuren und Testaten und durchlernte Nächte. Ganz so schlimm hatte ich mir das Medizinstudium eigentlich nicht vorgestellt. Sollte ich wirklich bis zum Physikum keinen Kontakt zu Patienten haben, nichts über verschiedene Krankheiten erfahren, nichts Praktisches lernen? Dann erfuhr ich von den Anamnesegruppen und war sofort dabei! Mein Bericht beginnt mit der Frage „Wie kommt man zur Anamnesegruppe", denn genau wie ein Anamnesegespräch wird mein Bericht aus Fragen und Antworten bestehen, wobei die Fragen die Richtung angeben und die Antworten die Inhalte. Dabei handelt es sich vorwiegend um Fragen, die ich mir vor unserem ersten Anamnesegespräch selbst gestellt hatte und keine genaue Antwort darauf wusste. Wie „besorgt" man einen Patienten? Einen Patienten „besorgen", das war am Anfang die Aufgabe, die jeder eher ungerne auf sich nahm. Bis auf wenige Ausnahmen hat sich aber gezeigt, dass alle

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Sexualität Bedenken unnötig waren. Die meisten Patienten sind sehr offen und nehmen gerne an einem Gespräch teil. In der Uniklinik ist man schließlich auch an Studenten gewöhnt. Nur einmal habe ich es erlebt, dass eine Patientin zu traurig war, um immer wieder verschiedenen Menschen, egal ob Ärzten, Studenten oder Angehörigen, von ihrer Krankheit zu erzählen. In der Regel dauerte es nicht lange, einen für ein Gespräch aufgeschlossenen Patienten zu finden. Aber es gibt immer Ausnahmen. Beispielsweise kann es in der Hautklinik schon mal eine knappe halbe Stunde dauern einen Arzt zu finden, der einen dann zu einem anderem Arzt schickt, der wiederum erklärt, dass die Klinik Patientengespräche von Studenten geführt prinzipiell ablehnt. So wendet man sich an die benachbarte HNO-Klinik und landet als erstes auf der Station, die Anamnesegespräche zwar prinzipiell befürwortet, jedoch nur Patienten habe, die im Umgang sehr schwierig seien. Eine Etage tiefer muss man wieder einmal alles von vorn erklären, wobei es sich bei einer Anamnesegruppe handelt. Natürlich erklärt man dies einmal den Schwestern, die dann an die Ärzte verweisen, dann erklärt man es den Ärzten und dann schließlich - von Patientenzimmer zu Patientenzimmer gehend, einer Menge von Patienten. Es kann passieren, dass erst im letzten Zimmer sich ein Patient oder eine Patientin zum Anamnesegespräch bereit erklärt.. Ein dutzend mal hat man manchmal an einem Nachmittag sein „Sprüchlein" aufgesagt und es perfektioniert. Schließlich braucht man sich nicht mehr fragen, wie man einen Patienten besorgt, man hat es ja schon so oft gemacht...

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Sexualität Wie beginnt man das Gespräch? Basis eines guten Gespräches ist ein gelungener Einstieg. Aber wie fängt man an? Müssen nicht erst einmal alle Fakten geklärt werden, bevor das Gespräch richtig beginnen kann? Da ich selbst nur ungern ausgefragt werde, sondern lieber frei erzähle, stelle ich mich zunächst selbst vor und frage dann nach dem Namen des Patienten. Dann stelle ich eine offene Frage, wie sie viele von uns bevorzugt haben. Z.B. „Warum sind sie jetzt im Krankenhaus?" So erhält man durch eine einzige Frage schon viele wichtige Informationen. Allerdings gibt es etliche - meist ältere - Patienten, die von sich aus gar nicht mehr aufhören möchten zu erzählen. Somit kommen wir gleich zur nächsten Frage: Wie lenke ich das Gespräch? Kann ich einen Patienten einfach unterbrechen, wenn ich merke er kommt vorn Thema ab? Das ist eine von den Fragen, die immer wieder in unserer Abschlussdiskussion des Seminars vorkam. Manchmal ist es gut, wenn der Patient frei erzählt, denn dadurch wird man oft auf viele Faktoren aufmerksam, die man sonst nicht bedacht hätte. Denn die meisten Fragen ergeben sich ja erst durch die Antworten. Jedoch kann es auch passieren, dass man bei langen Antworten den Faden verliert und hinsichtlich mancher Sachverhalte nicht mehr nachfragt. Aber genau das empfand ich eigentlich immer am spannendsten. Auf der einen Seite ist man gezwungen aufs Genauste zuzuhören und man muss lernen, an den richtigen Stellen genau nachzuhaken oder durch geschickte Zwischenfragen auf ein bestimmtes Thema zu kommen. In jedem Gespräch lernt man etwas

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Sexualität dazu, auch in den Gesprächen, die man selbst gar nicht geführt hat, sondern ein anderes Mitglied der Anamnesegruppe. Somit kann es auch nie langweilig werden. Interessant ist auch, dass verschiedene Zuhörer sich ganz verschiedene Aspekte merken, die der Patient erwähnt hat. Wie beende ich ein Gespräch? Wann ist der richtige Zeitpunkt gekommen ein Gespräch zu beenden? Was mache ich, wenn mir keine Fragen mehr einfallen? Über solche Fragen hatte ich mir noch nie Gedanken gemacht. Mir war auch nicht bewusst, dass es schwieriger ist ein Gespräch zu beenden als zu beginnen. Beispielsweise hatte ich bei einer schwangeren Patienten ins sehr kurzer Zeit alle Informationen erhalten und gesammelt. Ich empfand es als sehr unangenehm, keine weiteren Fragen mehr zu haben und eigentlich das Gespräch mehr oder weniger abrupt beenden zu müssen. Schließlich fragte ich die werdende Mutter, ob sie schon das Geschlecht des Kindes weiß und sich schon einen Namen überlegt hat. Danach konnte ich das Gespräch beenden. Andere in unserer Gruppe haben bei wortkargen Patienten am Ende danach gefragt, ob sie noch etwas hinzufügen möchten. Bevor man das Gespräch beendet, sollte man alle wichtigen Informationen gesammelt haben, die für die Anamnese notwendig sind.

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Sexualität Wie kann ich einschätzen, ob ein Gespräch gelungen ist? Wenn ich nach dem Gespräch ein gutes Gefühl hatte, fiel auch die Kritik der Gruppe überwiegend positiv aus. Wichtig ist vor allem auch, dass man eine gute Gesprächsebene gefunden und der Patient Vertrauen gewonnen hat. Die Gespräche waren eigentlich immer gelungen, da wir immer nur dadurch lernen konnten. Was man „falsch" gemacht hat, wird nicht nur bei einem selbst, sondern meist auch bei den anderen der Anamnesegruppe das nächste mal besser. Manchmal ärgert man sich, wenn man ein interessantes Detail, das der Patient angedeutet hat, nicht näher erfragt hat. Oder man hat nicht alles erfahren können. Dennoch war das Ergebnis immer positiv. Und abschließend kann ich nur sagen, dass die Anamnesegruppe mir in vielerlei Hinsicht viel gebracht und ich viel gelernt habe. Außerdem kam der Spaß, trotz der ernsten Themen, auch nie zu kurz. Anja Lohmann, Marburg

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Sexualität

SELBST EER KLEINSTE LASCHT :DEM GocfSEN

Gesungene Gruppendynamik

Phänomene der Kommunikation sind vielfältig, und es gibt weitaus mehr Dimensionen, in denen man kommunizieren kann, als die rein verbale Ebene. Die Beschäftigung mit diesen Dimensionen ist mindestens genauso wichtig wie die inhaltliche Ebene. Ein Versuch, Kommunikation in einer Gruppe einmal nicht primär als verbalen Informationsaustausch zu erleben, wurde beim 2. Süddeutschen Treffen der Anamnesegruppen in München (11.12.2004) unternommen. Christian Stähr, Kirchenmusikstudent aus Stuttgart, führte mit den Teilnehmern eine Einheit "Chorische Vokalimprovisation" durch. Vokalimprovisation heißt, mit der eigenen Stimme zu gestalten, zu agieren und zu reagieren, ohne Bindung an Noten oder Vorbilder. 106

Sexualität Chorisch bedeutete in diesem Fall, dies in einer Gruppe zu tun, in der alle Teilnehmenden prinzipiell die selbe musikalische Rolle spielen konnten. Der Ablauf des Seminars gliederte sich in zwei Teile: In den ersten 90 Minuten wurden einzelne Improvisationen durchgeführt, wobei vom Leiter Gestaltungsimpulse und einige wenige Regeln vorgegeben wurden. In den letzten 45 Minuten wurde das Erlebte - nun wiederum auf der verbalen Ebene besprochen. Ein Teil unserer Zielsetzung war, Kommunikationsund Gruppenphänomene zu erleben. In den Improvisationen wurde auf verbale Kommunikation verzichtet. Statt dessen wurde sichtbar, wie viele Inhalte bereits durch klanglichen Ausdruck, Mimik und Körpersprache vermittelt werden; der Blick auf diese Kommunikationsebenen wurde nicht durch die - in unserer gewöhnlichen Kommunikation dominierenden - Worte verstellt. Die Gruppenprozesse wurden auf eine andere Weise und unvermittelt erfahrbar, indem sie sich vorwiegend in Lautäußerungen abbildeten. Ebenso wichtig war uns das musikalische Ergebnis des Experiments. Inhalt, Struktur und Vorgaben richteten sich hauptsächlich nach musikalischen Gesichtspunkten, und unter diesen wurden einzelne Improvisationen direkt nachbesprochen. Bewusst war die Einheit jedoch so konzipiert, dass stimmliche oder musikalische Erfahrungen nicht Voraussetzungen waren. Da Improvisation in der klassischen Musik meist eine untergeordnete bis gar keine Rolle spielt, waren die Mittel und die Ergebnisse auch für die aktiv Musik Betreibenden unter den Teilnehmern Neuland. Ein stimmliches und körperliches Aufwärmen weckte das Bewusstsein für die eigenen phonetischen Möglichkeiten - spätestens, als "HARIBO" durch den Raum geworfen, gekegelt und geschossen wurde, war der eigene Ausdrucks- und Kommunikationswille gefordert. Die Vorgabe dazu

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Sexualität lautete, bei jedem Wurf das Wort "HARIBO" auszurufen, jeweils in einer dem Werfenden überlassenen Einfärbung. Bereits bei dieser Übung wurde deutlich, dass auch ohne (sinnvolle) Worte Inhalte plastisch und unmittelbar spürbar transportiert werden können. Eine erste Improvisation mit der Vorgabe, einen gemeinsamen Klangraum zu entfalten, führte zu einem intensiven Klang- und Gruppengefühl, das (wie sich in der Rückmeldung zeigte) für viele zu der dichtesten Erfahrung des Vormittags überhaupt wurde, wohl deshalb, weil der individuelle Freiraum und die klangliche Einbindung in die Gruppe in idealer Balance zueinander standen und ein wohliges Gefühl auslösten. Die Gestaltungsimpulse und Vorgaben des Leiters in den folgenden Improvisationen hatten die Aufgabe, die Vielzahl der phonetischen Gestaltungsmöglichkeiten einzuschränken und durch die Beschränkung die Möglichkeit zur Intensivierung zu schaffen. Die Mittel und Ziele waren letztlich ein Ausschnitt aus der Vielfalt menschlichen Ausdrucksund Kommunikationsvermögen und -Unvermögen. So wurde ein sprachlicher Satz so oft wiederholt, bis sich seine eigentliche Bedeutung auflöste und zu phonetischer Musik wurde; absurdes Theater gab Raum, aus sich herauszutreten (und - viel stärker als bei den rein klanglichen Übungen - die Sogwirkung einer Gruppe zu erfahren); ein Vulkanausbruch brauchte zwei Anläufe, um - von allen getragen hörbar zu werden. In der Nachbesprechung zeigte sich, dass die scheinbar harmlosen (weil rein musikalischen und spielerischen) Aktionen bei vielen Teilnehmern eine innere "Unruhe" ausgelöst hatten, die sich schnell in einen Austausch über die Erfahrung in und mit der Gruppe entlud. Zu der stimmlichen und körperlichen Anstrengung des ersten Teils war auch eine emotionale Anstrengung hinzugetreten, die wohl 108

Sexualität keiner erwartet hatte. Vielfach angesprochen wurde die besondere Erfahrung, als Gruppe weitgehend ohne Worte, aber intensiv interagiert zu haben und sich als Gruppe verstanden zu haben. Dies war möglich, obwohl sich die Teilnehmer nicht alle untereinander kannten. Die Einheit zur chorischen Vokalimprovisation vermittelte einen guten Eindruck von Kommunikationsprozessen, die sich im Rahmen eines sehr freien Spiels mit Klang, Stimme und Kreativität in einer Gruppe darstellen lassen. Nachdem durch Verbalisierung und Austausch viele Punkte bewältigt worden waren, die die chorische Vokalimprovisation freigelegt hatte, legte sich die Anspannung und hinterließ trotz Müdigkeit einen wachen Geist und das besondere Gefühl, in einer ungewohnten und besonderen Weise miteinander verbunden gewesen zu sein. Christian Stähr, Stuttgart fchristianstaehrtaomx.de) Michael Hunze, München (michael. [email protected])

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Sexualität Städtebericht aus München In München haben die Anamnesegruppen ihre Arbeit in den vergangenen beiden Semestern erfolgreich fortgesetzt. Orientiert an den guten Erfahrungen aus Wien und Dresden haben auch wir begonnen, Studierende der Psychologie in die Anamnesegruppenarbeit einzubeziehen. Das Angebot wurde von zahlreichen motivierten Psychologinnen und Psychologen angenommen, und wir erleben die Arbeit in den "interdisziplinären" Gruppen als interessanter und differenzierter. Es gab im vergangenen Wintersemester bereits eine Gruppe, die von einem gemischten medizinisch-psychologischen Tutorenpaar geleitet wurde; auch damit haben wir gute Erfahrungen gemacht. Außerdem fand im Dezember 2004 das 2. Süddeutsche Treffen der Anamnesegruppen statt. Im Jahr zuvor hatten die Ulmer eingeladen, dieses Jahr war München der Gastgeber für Teilnehmer aus Ulm und Freiburg. Gemeinsam verbrachten wir einen Tag mit Seminaren. Es gab eine Einheit "Chorische Vokalimprovisation" (vgl. gesonderter Artikel) sowie experimentelle Anamnesegruppen: zum einen ein "Anamneseteleskop" (vgl. gesonderter Artikel), zum anderen eine "Patient-plus"-Runde, also eine Anamnesesitzung, in der der Patient im Nachgespräch anwesend ist und in bestimmter Weise einbezogen wird. Das Treffen endete - stillos - in einer "Bad Taste"-Party. Neben den normalen Anamnesegruppen haben wir in den vergangenen beiden Semestern auch die "Freitagsreihe" fortgesetzt, eine lockere Veranstaltungsreihe zu Themen aus dem Bereich der psychosozialen Medizin. Die Seminare befassten sich dieses Mal mit der Balint-Arbeit, mit den Auswirkungen von sexueller Gewalt auf

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Sexualität Schwangerschaft und Geburt und mit Drogensucht im Jugendalter; daneben waren ein Besuch auf der Palliativstation und ein Filmabend Bestandteil des Programms. Michael Hunze fmichael.hunzegiweb.de)

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Sexualität

...UND UM ULM HERUM

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Sexualität Kommunikationshürden im „Ausland" - ein sprachlicher Rückblick auf das Tutorentraining in Wien

Ihr denkt, Österreicher und Deutsche sprechen die gleiche Sprache? Das dachte ich auch, bevor ich nach Wien kam... Ich hatte ja schon einige Tücken der Österreichischen Sprache kennen gelernt, nachdem ich beim Maitreffen in Dresden mit zwei Studentinnen aus Wien zusammen gewohnt hatte. Da wusste ich dann nach vier Tagen, dass das taugt ma so viel heißt wie das gefällt mir und den Ausdruck streichfähig für fix und fertig fand ich auch super! Aber in Wien wurde es komplizierter. Schon die Begrüßung Grüß Gott fiel mir schwer. Dazu muss natürlich gesagt werden, dass dies nicht nur in Österreich so ist, sondern auch in Süddeutschland und dass ich als Norddeutscher ( = rund-um-die-UhrMo/n-sager) ein besonderer Fall bin. Beim Frühstück ging es weiter, denn was soll man tun, wenn jemand nach einem Häferl fragt? Meine erste Assoziation war Hefeweizen, aber das passt nicht so gut zum Frühstück. Nein, es ging einfach nur um einen Becher. Die Straßenbahn heißt Bim und das Brötchen Semmel, das sind einfache Begriffe, die ich auch durchaus schon mal gehört hatte. Das Bestellen der Apfelschorle mit dem Ausdruck g'spritzt fiel mir bis zum Schluss schwer. Sehr verwirrend finde ich auch die Bezeichnungen für rauf und runter; aufi für rauf ist verständlich, aber wer würde bei obi wohl an runter denken? Wenn jemand verschwinden soll, sagt man geh doni und wenn etwas nervt, benutzt man deis zipft mi an (mein persönlicher Lieblingsausdruck!). Gewöhnungsbedürftig war für mich auch die Wendung das geht sich aus, wenn etwas noch passt und abends

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Sexualität liegen zu gehen, statt schlafen zu gehen kam mir auch etwas komisch vor. Bei einer Freundin gab es Kommunikationsschwierigkeiten zwischen den verschiedenen Landsleuten beim Ausdruck wurlert, der sich scheinbar nicht besonders gut übersetzen lässt, aber mit aufgewühlt/kribbelig konnten wir schon eher etwas anfangen. Auch während eines Anamnesegesprächs, bzw während des Nachgesprächs gab es ein sprachliches Missverständnis. Denn ich begrüßte den Patienten nicht mit Guten Tag!, sondern mit Hallo!. Als dann im Nachgespräch die Diskussion über das Duzen oder Siezen von Patienten aufkam, redeten wir eine Weile aneinander vorbei, bis ich begriff, dass es in Österreich üblich ist, nur die Leute, die man duzt, mit Hallo zu begrüßen. Dabei war es absolut nicht meine Absicht gewesen, den Patienten zu duzen, auch wenn er nicht viel älter war als ich. Aber auch trotz (und auch wegen) der kleinen sprachlichen Hindernisse, war ich sehr froh, dass ich in Wien dabei war, denn die Woche hat mir unheimlich viel Spaß gemacht und mich auch anamnestisch weitergebracht! An dieser Stelle noch mal ein herzliches Dankeschön nach Wien! Außerdem muss ich sagen, dass sich, was die Sprache angeht, schon innerhalb einer Woche Lernfortschritte gezeigt haben, denn am Anfang musste meine Gastgeberin sich Mühe geben, einigermaßen Hochdeutsch zu sprechen (oder ich habe ständig nachfragen müssen) und am Ende konnte ich so gut wie alles in schönstem steirischen Dialekt verstehen. Für einen Norddeutschen schon eine Leistung. Dafür kann sie jetzt einen Plattdeutschen Trinkspruch ©!

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Sexualität PS: Es ist durchaus möglich, dass einige Ausdrücke, die ich verwendet habe, entweder anders geschrieben werden sollten oder gar nicht typisch Österreichisch sind. Es sind alles nur subjektive Eindrücke! Lisa Mantel, Lübeck

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Sexualität

Sicherheit bei der Untersuchung!

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