Alter und Behinderung

Alter und Behinderung Ergebnisse einer gemeinsamen bayernweiten Studie der Landesarbeitsgemeinschaft Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie in Bayer...
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Alter und Behinderung Ergebnisse einer gemeinsamen bayernweiten Studie der Landesarbeitsgemeinschaft Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie in Bayern (LAG CBP Bayern) und des Fachverbandes Evangelische Behindertenhilfe und Sozialpsychiatrie in Bayern e.V. (FEBS)

Impressum

Fachverband Evangelische Behindertenhilfe und Sozialpsychiatrie in Bayern e.V. Pirckheimerstraße 8 · 90408 Nürnberg Tel. 0911 / 9354 316/317 Fax 0911 / 9354 470 [email protected] [email protected] [email protected] www.sozialpsychiatrie-bayern.de www.behindertenhilfe-bayern.de Geschäftsführung: Gudrun Mahler 1. Vorsitzender: Jürgen Zenker Der Fachverband Evangelische Behindertenhilfe und Sozialpsychiatrie in Bayern e.V. ist dem Diakonischen Werk der Evangelisch-Lutherischen Kirche Bayern angeschlossen. Diakonisches Werk Bayern der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern - Landesverband der Inneren Mission e.V. Pirckheimerstraße 6 · 90408 Nürnberg Tel. 0911 / 9354 0 Fax 0911 / 9354 269 [email protected] www.diakonie-bayern.de Präsident und 1. Vorsitzender des Vorstandes: Pfarrer Dr. Ludwig Markert

Landesarbeitsgemeinschaft Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie in Bayern (LAG CBP Bayern) Lessingstraße 1 · 80336 München Tel. 089 / 54497 151 Fax 089 / 54497 188 hilde.rainer-mü[email protected] [email protected] [email protected] www.caritas-bayern.de Geschäftsführung: Herbert Borucker 1. Vorsitzender: Prälat Karl Heinz Zerrle Die Landesarbeitsgemeinschaft Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie in Bayern ist eine Arbeitsgemeinschaft der Träger von Einrichtungen und Diensten der Behindertenhilfe und der Psychiatrie im Deutschen Caritasverband, Landesverband Bayern e.V. Deutscher Caritasverband, Landesverband Bayern e.V. Lessingstraße 1 · 80336 München Tel. 089 / 54497 0 Fax 089 / 54497 188 [email protected] www.caritas-bayern.de Landescaritasdirektor: Prälat Karl Heinz Zerrle Fotos: CAB Caritas Augsburg Betriebsträger gGmbH, Regens-Wagner-Stiftungen Dillingen Gestaltung: Werbeagentur gmg, Altötting Druck: Druckerei Gebr. Geiselberger GmbH

Inhaltsverzeichnis

Alter und Behinderung Untersuchungsdesign Allgemeiner Teil Wohnheime Betreutes Wohnen Werkstätten Offene Behindertenarbeit Sozialpsychiatrische Dienste Tagesstätten Schlussfolgerungen

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Alter und Behinderung Bayernweite Studie von Caritas und Diakonie

Die Zahl der Menschen mit Behinderung im höheren Lebensalter wird in den nächsten Jahrzehnten steigen. Sie erhöht sich entsprechend zum wachsenden Anteil der Bevölkerung insgesamt, die ins Rentenalter eintritt. Zugleich steigt auch die Lebenserwartung von Menschen mit Behinderung und gleicht sich immer mehr derjenigen von Menschen ohne Behinderung an. Mit dem höheren und hohen Lebensalter nimmt auch die Wahrscheinlichkeit zu, dass Menschen der pflegerischen Unterstützung bedürfen. Diese Entwicklungen sind für alle Träger der Behindertenhilfe von großer Bedeutung. Wie sich diese Entwicklungen bei Caritas und Diakonie in Bayern – den beiden großen kirchlichen Verbänden in der Behindertenhilfe – darstellen, war Gegenstand einer quantitativen Erhebung, die im Jahre 2009 durchgeführt wurde. Die Landesarbeitsgemeinschaft Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie in Bayern (LAG CBP Bayern) und der diakonische Fachverband Evangelische Behindertenhilfe und Sozialpsychiatrie in Bayern e.V. (FEBS) haben die Studie beim Freiburger Zentrum für Zivilgesellschaftliche Entwicklung (zze) in Auftrag gegeben. Die vorliegenden Ergebnisse bilden nicht nur eine einrichtungsbezogene Bestandserhebung ab, sondern treffen auch Aussagen über notwendige Anpassungen oder Neuentwicklungen von Versorgungsstrukturen – zumal dann, wenn alters- oder behinderungsbedingte Pflegebedürftigkeit wächst. Die Ergebnisse sprechen deshalb langfristig auch für eine stärkere Verzahnung von Leistungen der Eingliederungshilfe (SGB XII) und der Pflege (SGB XI), wobei die im Vergleich zu anderen Organisationen bei Caritas und Diakonie höhere Präsenz älterer Menschen mit Behinderungen besonders auffällt.

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Die Voraussetzungen für Individualisierung und Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft müssen dabei gesichert bleiben. Das ist für Caritas und Diakonie in der aktuellen Diskussion um die Neuordnung der Eingliederungshilfe unerlässlich. Ebenso wichtig ist die Frage, welche Fortschritte in der Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen bzw. im daraus folgenden Nationalen Aktionsplan erzielt werden können. Die beiden Verbände LAG CBP Bayern und FEBS unterstreichen mit der Studie „Alter und Behinderung“ nicht nur ihre gesellschaftliche und kirchliche Bedeutung, sondern sind dadurch auch in politische Entwicklungen von höchster Aktualität eingebettet. Viele haben sich an der Studie beteiligt und mit nicht geringem Aufwand die komplexen Fragebögen beantwortet. Ihnen danken wir sehr herzlich für ihre verdienstvolle Mitarbeit – ebenso dem zze als durchführendem Institut. Es bleibt der Wunsch aller Beteiligten, mit den gewonnenen Erkenntnissen dazu beizutragen, dass Menschen mit Behinderungen in ihrer jeweils konkreten Lebenssituation Würde und Teilhabe tagtäglich erleben. München/Nürnberg, November 2010

Untersuchungsdesign

Um die Situation in den Einrichtungen der Landesarbeitsgemeinschaft Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie in Bayern (LAG CBP Bayern) und des Fachverbandes Evangelische Behindertenhilfe und Sozialpsychiatrie in Bayern e.V. (FEBS) abbilden zu können, wurde in der Zeit von März bis Juli 2009 eine quantitative Befragung durchgeführt. Die Inhalte der Befragung bezogen sich zum einen auf eine Bestandserhebung, d. h. auf die Anzahl der in den Einrichtungen lebenden Personen und ihre Situation einschließlich Krankheiten, Pflegestufe etc., zum anderen aber auch auf den für die Zukunft erwarteten Bedarf bzw. in Zukunft geplante Angebote.

Insgesamt bestehen inhaltlich große Unterschiede zwischen Einrichtungstypen, Trägern und Bezirken. Unter anderem war vor diesem Hintergrund der Anspruch an eine Vollerhebung schwer zu erfüllen. Bei der Präsentation der Ergebnisse wird in Fußnoten an verschiedenen Stellen auf Schwierigkeiten oder Uneindeutigkeiten bei der Befragung hingewiesen. Insgesamt wurden 260 Fragebögen aus 218 Einrichtungen ausgewertet und somit eine solide Datenbasis erreicht, die Aussagen zu Trends zulässt.

Bei den befragten Personen handelt es sich um die Leitungen der einzelnen Einrichtungen. Für die einzelnen Einrichtungstypen • Tagesstätten/Förderstätten • Wohnheime im Sinne des SGB XII • Werkstätten • Offene Behindertenarbeit (OBA) • Sozialpsychiatrische Dienste (SPDI) • Ambulant betreutes Wohnen wurden unterschiedliche Fragebögen erstellt, um deren spezifischer Situation gerecht zu werden. Die Inhalte und Formulierungen der Fragen wurden in einem Beirat diskutiert, der sich aus Mitgliedern der LAG CBP Bayern und des FEBS sowohl aus der Praxis als auch aus dem Verband zusammensetzte sowie aus zwei Mitarbeiterinnen des die Untersuchung durchführenden Zentrums für zivilgesellschaftliche Entwicklung (zze). Aufgrund der Komplexität der Materie fanden mehrere Treffen zur Besprechung der Strukturierung der Einrichtungstypen sowie zum Vorgehen bei der Befragung (Verteilung der Fragebögen etc.) statt. Danach wurden die Fragebögen in der Praxis getestet, vom zze entsprechend überarbeitet und dann erneut im Beirat abgestimmt.

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Allgemeiner Teil

Neben Angaben zur aktuellen Altersstruktur wurden die Einrichtungen gebeten, Schätzungen1 für die Altersstruktur 2015 abzugeben. Die Schätzungen gründen sich auf Erfahrungswerte bezüglich der Zu- und Abgänge der letzten Jahre, Hochrechnungen anhand der Sterberate, der Anfragesituation in den Einrichtungen, sowie der konzeptionellen Ausrichtungen der Einrichtungen.

Der Anstieg verteilt sich nicht gleichmäßig über alle Altersgruppen: Besonders stark wird die Altersgruppe der über 45-Jährigen wachsen (35%). Ob der Anstieg in der jüngsten Alterskategorie (30 bis 34 Jahre) wirklich so stark wie dargestellt ausfallen wird, ist unsicher. Diese Zahlen könnten auch teilweise darauf zurückzuführen sein, dass Menschen jüngeren Alters (jünger als 30 Jahre) mit in die Schätzung aufgenommen wurden und das Ergebnis verzerren.

Über alle befragten Einrichtungen2 hinweg wird in den kommenden fünf Jahren von einem Anstieg der Bewohner/ innen, Beschäftigten bzw. Teilnehmer/innen ausgegangen (28%). Dieser Anstieg gründet auf der Aufnahme weiterer Menschen in den Einrichtungen und in der unterstellten steigenden Lebenserwartung (also einem längeren Verbleib der Bewohner/innen, Beschäftigten bzw. Teilnehmer/ innen).

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 inrichtungen der OBA, SPDI und Betreutes Wohnen wurden nicht nach zukünftigen Teilnehmerzahlen befragt und werden hier deE mentsprechend nicht berücksichtigt.

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 m die Vergleichbarkeit der Daten zu gewährleisten, wurden bei der Gegenüberstellung der Altersstrukturen nur jene Einrichtungen U berücksichtigt, die Angaben zu der aktuellen und der künftigen Altersstruktur gemacht haben.

Der Anteil der Männer (55%) in den Einrichtungen übersteigt den der Frauen (45%). Der Unterschied fällt in den jungen Jahrgängen deutlich stärker aus. Mit zunehmendem Alter gleicht sich das Verhältnis einander an und verkehrt sich gar. So ist bei den vor 1939 geborenen Bewohner/innen, Beschäftigten bzw. Teilnehmer/innen ein leichter Frauenüberhang zu verzeichnen, was generell für die Kohorten typisch ist.

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Bei der Hälfte der Menschen in den befragten Einrichtungen wird von einer Erhöhung bzw. Anerkennung einer Pflegestufe ausgegangen. Die Erhöhung des Pflegebedarfs trifft alle Altersgruppen etwa gleich stark. Dieses Ergebnis zeigt sich konsistent in allen Einrichtungstypen.

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Bei der Mehrheit der Bewohner/innen und Teilnehmer/innen in den befragten Einrichtungen steht eine kognitive Behinderung im Vordergrund. Allein auf diese Kategorie entfallen 60% der Fälle. In weiteren 16% der Fälle lag eine psychische Behinderung vor. Andere im Einzelnen spezifizierbare Behinderungen wurden deutlich seltener genannt.

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Aktuell werden in 93% der Einrichtungen Angebote (unter anderem) durch Sozialhilfe nach dem SGB XII finanziert. Auch bei der Finanzierung zusätzlicher Angebote spielt die Sozialhilfe eine wichtige Rolle. In 40% der Einrichtungen werden Angebote durch Spendengelder ergänzend finanziert. Spenden sind damit die zweithäufigste Finanzierungsform. In diesem Zusammenhang ist es jedoch unerlässlich, darauf hinzuweisen, dass nicht Höhe und Umfang der Spenden erfasst wurde, sondern lediglich das Vorkommen von Spenden im vorhandenen Finanzierungsmix. Während die Leistungen der Pflegeversicherung und der gesetzlichen Krankenkassen momentan in nur wenigen Einrichtungen einen Beitrag zur Finanzierung der Angebote leisten, werden diese künftig an Bedeutung zunehmen.

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Wohnheime

An der Befragung haben 71 Wohnheime der LAG CBP Bayern und des FEBS teilgenommen3. In diesen Einrichtungen leben 9641 Menschen mit Behinderung4. Die Frage nach der bestehenden Altersstruktur zeigt, dass in den Wohnheimen insgesamt der Anteil der Männer (54% Männer zu 46% Frauen) überwiegt. Bei einer nach Altersgruppen differenzierten Betrachtung wird deutlich, dass dieses Verhältnis sich mit zunehmendem Alter umdreht; in der Altersgruppe der über 60-Jährigen sind nur noch 48% der Bewohner männlich. Bei den über 80-Jährigen sind es nur noch 32% Männer gegenüber 68% Frauen. Demographische Phänomene, die in der Gesamtbevölkerung zu beobachten sind, treten in vergleichbarem Maß auch bei Menschen mit Behinderung in den Wohnheimen auf.

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 a in einem Wohnheim mehrere Leistungstypen angeboten werden können und für jeden Leistungstyp ein separater Fragebogen ausD gefüllt wurde, sind bei den Grafiken die Anzahl der Fragebögen angegeben, die aber nicht mit der Anzahl an Einrichtungen identisch sind.

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 icht immer wurden über die weitere Differenzierung der Bewohner (Geschlecht, Altersgruppen) Angaben gemacht. Daher variiert die N Bezugsgröße (n) zwischen den Schaubildern. 11

Um Zahlen zur künftigen Entwicklung der Altersstruktur zu erheben, wurden die Einrichtungsleiter/innen gebeten, Angaben der aktuellen Altersstruktur Schätzungen zur Altersstruktur in 2015 gegenüber zu stellen. Diese Schätzungen basieren auf den Erfahrungen aus der Vergangenheit unter Berücksichtigung derzeit wahrgenommener Trends (Bsp.: Verbesserung der physischen und psychischen Konstitution der Bewohner/innen). Insgesamt wird von einem absoluten Anstieg an Heimbewohner/innen ausgegangen. Sind aktuell 5.834 Menschen mit Behinderung in Wohnheimen der LAG CBP Bayern und des FEBS untergebracht, so rechnet man in fünf Jahren mit etwa 7.062 Menschen5. Dies entspricht einem Anstieg von 21%.

Differenziert man nach Altersgruppen wird deutlich, dass kein über alle Gruppen gleichförmiger Anstieg erwartet wird, sondern die Zunahme bei den älteren Altersgruppen stärker ausgeprägt ist. • Die Altersgruppe der 30- bis 49-Jährigen wächst kaum (3%). • Die Altersgruppe der 50- bis 74-Jährigen nimmt hingegen mit 36% besonders stark zu. Dieser Anstieg ist einerseits durch das Altern besonders starker Jahrgänge, andererseits durch die Aufnahme weiterer Bewohner dieses Alters zu erklären. • Auch die Gruppe der über 74-Jährigen wird um etwa 25% ansteigen. In dieser Altersgruppe werden zwar kaum noch Neuzugänge erwartet, jedoch wird der gesundheitliche Zustand als gut unterstellt und somit von einem längeren Verbleib der Bewohner/innen im Wohnheim ausgegangen.

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Berücksichtigt wurden nur Einrichtungen, in denen Schätzungen für das Jahr 2015 vorlagen.

Die Anforderung an die Begleitung von Menschen mit Behinderung im Alter wird die Wohnheime in den nächsten Jahren vor neue Herausforderungen stellen. Tagesstrukturierende Maßnahmen werden in einem weit größeren Umfang erforderlich werden. Mit dem Trend der Angleichung der Lebenserwartung von Menschen mit Behinderung an den der allgemeinen Bevölkerung steigt die Lebenserwartung – davon ist zumindest auszugehen. Insofern müssen sich Einrichtungen der Behindertenhilfe auf eine durchaus längere Lebensphase von Menschen mit Behinderung im Alter einstellen.

Es kann davon ausgegangen werden, dass jüngere Jahrgänge von Erwachsenen mit einer Behinderung zu etwa 25% einen Pflegebedarf aufweisen, der damit wesentlich höher liegt als der der Nichtbehinderten. Mit zunehmendem Alter tritt mit einer ähnlichen Wahrscheinlichkeit wie bei der allgemeinen Bevölkerung eine altersbedingte Pflegebedürftigkeit auch bei Menschen mit Behinderung auf. Insofern ist davon auszugehen, dass sowohl die Zahl als auch die Intensität der Pflegebedürftigkeit im Laufe des höheren Erwachsenenalters bei Menschen mit Behinderung steigt. Spezifische personenbezogene Hilfebedarfe der Pflege verlangen sowohl nach entsprechend qualifiziertem Personal als ggf. auch nach baulichen Rahmenbedingungen, die heute nicht überall in den Einrichtungen für Menschen mit Behinderung vorgehalten werden. Auch darf das Thema der Begleitung in der Sterbephase nicht ausgeklammert werden, zumal hier seltener Angehörige zur Verfügung stehen: Damit erlangt das Thema Palliative Care auch in Einrichtungen der Behindertenhilfe eine größere Bedeutung.

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Zahlreiche Angebote, die sich speziell an ältere Menschen richten, sind in den Wohnheimen bereits vorhanden. Künftig sollen jedoch noch weitere Angebote aufgebaut werden. Diese werden vor allem in Bereichen entstehen, die momentan noch nicht so stark ausgebaut sind; wie z. B. in der (Weiter-)Bildung, bei speziellen palliativ-medizinischpflegerischen Angeboten, in der Hospizarbeit und bei der Förderung von Anreizen zu freiwilligem Engagement. Damit werden neue Schwerpunkte in der Ausrichtung der Wohnheime gesetzt.

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Betreutes Wohnen

An der Befragung haben 22 Einrichtungen für Betreutes Wohnen teilgenommen, in denen insgesamt 297 Menschen mit Behinderung leben. Es handelt sich hier um eine schmalere Datengrundlage, da die Anzahl dieser Einrichtungen im Vergleich zu den stationären Einrichtungen geringer ist. Der große Anteil der Bewohner/innen (92%) ist nach 1949 geboren. Im Vergleich mit den Wohnheimen zeigt sich ein deutlich geringerer Anteil an Menschen über 60 Jahren, die in den Einrichtungen für betreutes Wohnen leben (Wohnheim: 30% / Betreutes Wohnen 8%).

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Pflegebedürftigkeit spielt in den Einrichtungen für Betreutes Wohnen keine so bedeutende Rolle wie in anderen Einrichtungstypen. Hier wohnen tendenziell junge und selbstständige Menschen mit Behinderung.

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In fast der Hälfte der Einrichtungen finden sich Angebote zur Alltagsbegleitung. Diese sind auch und gerade für betagte Menschen mit Behinderung von Bedeutung. Für diese Personengruppe können sie gerade dann, wenn andere Angebote außerhalb des Wohnheims nicht mehr in gleicher Weise wie früher zur Verfügung stehen, existenziell werden. Entsprechend haben sich die Einrichtungen des betreuten Wohnens auf die spezifischen Bedürfnisse älterer Menschen neu auszurichten. Das gilt in besonderer Weise dann, wenn zusätzlich zu dem allgemeinen Unterstützungsbedarf und den Notwendigkeiten der Alltagsbegleitung ein Pflegebedarf hinzutritt, der eine personenbezogene Unterstützung in pflegerischen Belangen erforderlich macht. Wie die Kontinuität des Wohnens bei Eintritt von Pflegebedürftigkeit gesichert werden kann und ob sie dieses soll, entwickelt sich zu einer wichtigen Frage für Einrichtungen der Behindertenhilfe. Wenn sich auch demenzielle Veränderungen im höheren Erwachsenenalter bei Menschen mit Behinderung einstellen – bei manchen Gruppen früher als bei anderen – ergeben sich auch hieraus besondere Betreuungsbedarfe, die ggf. in bisher bestehenden bisherigen Einrichtungen, insbesondere denen des betreuten Wohnens, so nicht vorgehalten werden.

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Der Veränderungsbedarf, der daraus resultiert, dass auch diese Personen im Alter andere Angebote benötigen, wird erkannt. Künftig sollen die Angebote vom Umfang her erweitert werden, aber auch vor allem weitere Angebote entstehen; wie z. B.: „ABW-Wohngemeinschaften”, „Ambulante betreute Wohnformen speziell für ältere Menschen mit Behinderung und ggf. mit Pflegebedarf”, „Ambulant betreute gemeindeintegrierte Wohngemeinschaften”, „Betreute Fahrdienste”, „(ambulante) Beschäftigungsangebote z. B. Laden, Café”, „tagesstrukturierende Angebote nach Renteneintritt”, „ambulante pflegerische Versorgung”, „Palliativversorgung in der eigenen Wohnung”. Der Veränderungsbedarf bezieht sich nicht ausschließlich auf Ältere, sondern auch auf die veränderten Bedarfe und neue Möglichkeiten und Kooperationen, die modellhaft erprobt werden. Das Thema Alter und Behinderung legt neue Kooperationen zwischen Eingliederungshilfe und Pflege ebenso nahe, wie die Erweiterung der Formen des Wohnens und der Tagesbeschäftigung und -gestaltung. Dabei kommen unterschiedliche Wohnformen und Betreuungskonzepte in Betracht, für die eine entsprechende konzeptionelle Flankierung vor Ort sozialrechtlicher Zuordnung gefunden werden muss. 18

Werkstätten

An der Befragung haben 43 Werkstätten teilgenommen, in denen insgesamt 9.279 Menschen mit Behinderung beschäftigt sind. In den Werkstätten zeigt der Vergleich der heutigen Altersstruktur mit der Altersstruktur von 2015, dass der Anteil älterer Beschäftigter steigt: Heute sind 34% der Werkstattbeschäftigten über 49 Jahre, 2015 werden 40% über 49 Jahre sein. Gleichzeitig nimmt die absolute Anzahl an Werkstattbeschäftigten von 8.100 auf 11.092 zu, das entspricht einer Zunahme von 37%.

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Mit steigendem Alter nimmt der Anteil der Beschäftigten ab, die bei Angehörigen leben. Gleichzeitig nimmt der Anteil der in Wohnheimen lebenden Beschäftigten zu. Dies ist im Wesentlichen dadurch zu erklären, dass die Eltern der Beschäftigten sich aus gesundheitlichen Gründen im höheren Alter nicht mehr um die Kinder kümmern können. Dieser Trend wird sich künftig noch verstärken, da das Alter der Eltern bei Geburt des Kindes steigt.

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Von den 9.042 Beschäftigten, zu denen Angaben zum Arbeitsumfang vorliegen, sind nur 594 in Teilzeit beschäftigt. Das entspricht einem Anteil von 7%. Bei den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen liegt der Anteil der Teilzeitbeschäftigten bei 19% Prozent (Männer 6% / Frauen 35%). Geht man davon aus, dass Menschen mit Behinderung mehr Ruhephasen benötigen, erstaunt dieser geringe Anteil an Teilzeitbeschäftigten.

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Eine Notwendigkeit, die Angebote zu verändern, wird von 23 Werkstätten gesehen. In 16 Einrichtungen sollen weitere Angebotsformen entstehen, in 13 Einrichtungen soll der Umfang bestehender Angebote erweitert werden.

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In 32 Werkstätten wird bereits speziell auf die Gruppe der älteren Beschäftigten eingegangen. Am häufigsten genannt wurde dabei die altersgerechte Gestaltung des Arbeitsplatzes und die Veränderung der Ruhezeiten. Auch die Gestaltung des Übergangs von der Werkstattarbeit in den Ruhestand wurde oft genannt. Unter „Sonstiges” fallen beispielsweise: • „Individuell angepasste Gestaltung der Arbeitssituation” • „Sofern erforderlich, Stundenreduzierung” • „Beruhigter Bereich mit Angeboten für ältere Menschen mit Behinderung” • „Tagesstätte für ältere Menschen”

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Offene Behindertenarbeit

Innerhalb eines Jahres nahmen 3.656 Menschen mit Behinderung die Angebote der 20 Einrichtungen der Offenen Behindertenarbeit wahr, die an der Bestandsaufnahme „Alter und Behinderung” teilgenommen haben.6 Zwei Drittel der Teilnehmer/innen an der offenen Behindertenarbeit sind nach 1959 geboren und damit vergleichsweise jung.

Da die vorliegende Datenstruktur der Einrichtungen nicht ersichtlich ist, ist es möglich, dass Menschen, die bei mehreren Angeboten teilgenommen haben, auch mehrfach gezählt wurden und somit die absolute Teilnehmerzahl zu hoch eingeschätzt wird.

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Die Klient/innen der Offenen Behindertenarbeit weisen im Vergleich zu anderen Einrichtungstypen eher selten die Pflegestufe 0 auf. Die Pflegestufe 0 ist nur im Bereich der stationären Altenhilfe von Bedeutung, da sie dort zur Inanspruchnahme bestimmter Leistungen berechtigt. Der geringe Anteil an Klient/innen mit Pflegestufe 0 kann ein Hinweis darauf sein, dass viele Teilnehmer/innen der Angebote der offenen Behindertenarbeit noch zu Hause bzw. selbstständig wohnen und nicht stationär untergebracht sind.

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In den Einrichtungen der offenen Behindertenarbeit ist eine Reihe von Angeboten, die sich speziell an die Gruppe älterer Teilnehmer/innen richtet, bereits vorhanden. Trotzdem wird eine starke Notwendigkeit gesehen, diese zu erweitern. Dazu zählen auch das Entstehen weiterer Angebote wie „Selbstbestimmte Freizeitangebote für Senior/innen mit Behinderung”, „ambulante Pflege älterer Menschen mit geistiger Behinderung” oder „Angebote für Senioren, die noch zu Hause wohnen, auf ein Leben ohne Eltern/Familie”.

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Sozialpsychiatrische Dienste

Die Angebote der hier dargestellten Sozialpsychiatrischen Dienste werden jährlich von 2.389 Teilnehmer/innen genutzt.7 Nähere Angaben zu den Teilnehmer/innen liegen jedoch nur in wenigen Fällen vor, da diese von den Einrichtungen nicht systematisch festgehalten werden. Vier Sozialpsychiatrische Dienste machen Angaben über das Geschlecht. Von den 273 Teilnehmenden sind 164 weiblich (60%) und 109 männlich (40%).

7 Aufgrund der vorliegenden Datenstruktur kann nicht ausgeschlossen werden, dass Menschen, die bei mehreren Angeboten teilgenommen haben, auch mehrfach gezählt wurden und somit die absolute Teilnehmerzahl zu hoch eingeschätzt wird. Die dargestellten Tendenzen behalten dennoch ihre Gültigkeit.

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Es werden insbesondere Angebote in Bereichen aufgebaut, in denen bislang nur wenige SPDI-Angebote bestanden.

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Die Notwendigkeit zur Erweiterung der Angebote wird klar erkannt, und in der Konsequenz sollen diese sowohl im Umfang als auch inhaltlich ausgebaut werden. Es zeigt sich, dass gerade für die Altersgruppe der über 70-Jährigen wenig angeboten wird. Bedarf wird bei „Altersadäquaten Kontaktangeboten” und „Freizeitmöglichkeiten”, bei „Mobilitätshilfen und Fahrdiensten” oder aber auch in dem Ausbau von Teilzeitstellen in den Werkstätten gesehen.

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Tagesstätten

An der Befragung haben 62 Tagesstätten teilgenommen, deren Angebote von 3.578 Teilnehmenden wahrgenommen werden. Da sich das Angebot der 18 pauschal finanzierten Tagesstätten, die an der Befragung teilgenommen haben, grundlegend von dem der anderen Einrichtungstypen (T-EFS/BG, T-E-K-FS/BG, T-ENE8) unterscheidet, werden die Teilnehmer/innen dieses Einrichtungstyps bei den folgenden Berechnungen nicht berücksichtigt. Die Altersstruktur in den Tagesstätten verhält sich komplementär zu der Altersstruktur in den Werkstätten. Hier sind häufiger junge Menschen (vor Werkstatteintritt) und ältere Menschen (nach Werkstattaustritt) zu finden. Das Angebot der T-ENE richtet sich explizit an eine ältere Altersgruppe.

T-E-FS/BG: Teilstationäre Angebote zur Tagesbetreuung für körperlich, geistig und seelisch behinderte Erwachsene in Förderstätten, Förderund Betreuungsgruppen; T-E-K-FS/BG: Teilstationäre Angebote zur Tagesbetreuung für körperlich behinderte Erwachsene in Förderstätten, Förder- und Betreuungsgruppen; T-ENE: Teilstationäre Angebote zur Tagesbetreuung für Erwachsene nach dem Erwerbsleben

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Mit 1.056 Frauen (54%) zu 914 Männern (46%) überwiegt insgesamt der Anteil weiblicher Teilnehmender leicht. Während das Verhältnis zwischen Männern und Frauen in den jüngeren Jahrgängen sehr ausgeglichen ist (in einzelnen Jahrgängen überwiegen sogar die männlichen Teilnehmenden), nimmt mit zunehmendem Alter der Anteil der Frauen deutlich zu.

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Ältere Teilnehmer/innen weisen niedrigere Stufen der Pflegebedürftigkeit auf als jüngere Teilnehmende. Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass die Pflegebedürftigkeit durch den Alterungsprozess abnimmt. Zwar haben die jüngeren Teilnehmer/innen mit Pflegebedürftigkeit aufgrund physischer und medizinischer Bedingungen die Wahrscheinlichkeit, ein hohes Alter zu erreichen. Jedoch wird ihre Behinderung im Laufe ihres Lebens tendenziell zunehmen (vgl. die Zahlen zur erwarteten Anerkennung und Erhöhung der Pflegestufe S. 8).

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In 76% der Tages- und Förderstätten gibt es Angebote zur Freizeitgestaltung speziell für ältere Menschen. Auch Angebote in anderen Bereichen sind in den Einrichtungen weit verbreitet. Weniger häufig sind Angebote zur (Weiter-) Bildung und zur Förderung von Anreizen zum FreiwilligenEngagement. Diese beiden Bereiche sind gleichzeitig aber auch jene, die künftig mit am stärksten ausgebaut werden sollen.

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Angebote, die sich speziell an die Gruppe Älterer richten, sind in der Psychiatrie kaum ausgebaut. Hier stehen die persönliche Betreuung und ein zielgerichtetes individuelles Angebot im Vordergrund.

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Schlussfolgerungen

Das Thema Alter und Behinderung gehört zu den zentralen Herausforderungen für die Eingliederungshilfe. Es ist in hohem Maße erfreulich, dass Menschen mit Behinderung auch die Perspektive auf eine eigene Altersphase haben, und sie an der Erweiterung der Lebenserwartung teilhaben. Für sie eine nachberufliche Lebensphase zu gestalten, ihren Pflegebedarf zu beantworten und ihnen unter den Bedingungen des Alters Teilhabe zu sichern, gehört zu den Aufgaben der Behindertenhilfe. Die Untersuchung macht deutlich, dass die Anzahl der Erwachsenen mit Behinderung in den nächsten Jahren deutlich zunehmen wird. Die Ergebnisse der Studie stimmen mit denen anderer Studien aus anderen Bundesländern weitgehend überein. In den stationären Wohnheimen der Behindertenhilfe werden im Jahre 2030 fast die Hälfte der Bewohner/innen über 65 Jahre alt sein, bisher sind es deutlich weniger. So besteht Zeit, sich auf die zukünftigen Herausforderungen einzustellen und auch die Notwendigkeit, tragfähige konzeptionelle Antworten auf die künftigen Herausforderungen zu finden. Die Antworten unterscheiden sich nach den unterschiedlichen Gruppen von Menschen mit Behinderung.

Mit der Studie liegen nun für die beiden großen kirchlichen Verbände in Bayern Daten vor, es werden Einschätzungen und Prognosen dokumentiert. Damit werden wichtige Grundlagen für eine realistische Planung gelegt, insbesondere dann, wenn man noch andere Zahlen über die Altersentwicklung von Menschen mit Behinderung hinzunimmt. Die Studie hat auch zu einer verstärkten Sensibilität für das Thema Alter und Behinderung in den Einrichtungen geführt. Den sich heute schon und verstärkt in der Zukunft zeigenden An- und Herausforderungen gilt es nun kreativ, professionell und realistisch zu begegnen.

Qualifikationen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern müssen angepasst werden und spezielle Strategien der Teilhabesicherung sind zu verfolgen. Es ist bedeutsam, gerade auch den Pflegebedarf in den Blick zu nehmen, der sich zum einen sowohl bei denjenigen, die schon länger auf pflegerische Unterstützung angewiesen waren, verstärkt als auch bei anderen neu hinzutritt. Bei der Beantwortung von pflegerischen Bedarfen ist auf die besondere Lebenssituation, die Biografie und die Lebenszusammenhänge von betagten Menschen mit Behinderung besonders acht zu geben. Sie bleiben Menschen mit Behinderung und dürfen nicht auf ihren Pflegebedarf reduziert werden.

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