ALLES ZAHLEN. Wie berechenbar ist die Welt?

Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie / Carl von Linde-Akademie ALLES ZAHLEN Wie berechenbar ist die Welt? Prof. Dr. Klaus Mainzer Lehr...
Author: Joseph Scholz
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Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie / Carl von Linde-Akademie

ALLES ZAHLEN Wie berechenbar ist die Welt?

Prof. Dr. Klaus Mainzer Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie Carl von Linde-Akademie Technische Universität München

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1. Kurze Geschichte von Zahl und Unendlichkeit 2. Von den natürlichen zu den unerreichbaren Zahlen 3. Von den berechenbaren zu den unberechenbaren Zahlen 4. Zahl, Zeit und Ewigkeit

Klaus Mainzer: Alles Zahlen

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1.

Kurze Geschichte von Zahl und Unendlichkeit

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Zählen und Unendlichkeit Seitdem Menschen zählen können, erfahren sie das Unendliche als unbegrenzten Zählprozess: Beginnend mit einer Einheit (z.B. 1), wird in jedem Zählschritt eine Einheit hinzugefügt. In der griechischen Mathematik wird daher das Unendliche nicht als Größe verstanden. Beweise werden nur für endliche Größen durchgeführt. Über das Unendliche gibt es nur indirekte Schlüsse.

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Es gibt unendlich viele Primzahlen Euklid (300 v. Chr.) beweist die Existenz unendlich vieler Primzahlen indirekt ((Elemente IX,, 20): Angenommen, es gäbe nur endlich viele Primzahlen {p1,…,pr}. Dann ist die Zahl n = p1 p2 ··· pr+1 verschieden von diesen Primzahlen und daher keine Primzahl Primzahl.



Dann gibt es eine Primzahl p als Teiler von n. p kann aber nicht eine der Primzahlen p1, ..., pr sein. Sonst wäre p ein Teiler des Produkts p1 p2 ‧‧‧ pr und von n und damit auch von n-p1p2 ‧‧‧ pr = 1, also der Einheit 1, was unmöglich ist. Also gibt es eine Primzahl p, die nicht zur Menge {p1, … pr} der Primzahlen gehört. Also war die Annahme falsch, dass es eine endliche Menge von Primzahlen gibt.

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Alles ist Zahl und rational Die Harmonie der Welt drückt sich nach Pythagoras in rationalen Verhältnissen ((„Brüche Brüche“)) ganzer Zahlen aus, die arithmetischen, geometrischen, musikalischen und astronomischen Proportionen (λογοζ) entsprechen. In diesem Sinn ist der Logos der Zahlen der Maßstab alles Seienden. Seienden Musikalisch sind am Monochord aus 12 Einheiten die Hälfte 6 (Oktav), Zweidrittel 8 (Quinte) und Dreiviertel (Quarte) ausgezeichnet. Analog sollen sich nach pythagoreischer Auffassung alle Größenverhältnisse durch Verhältnisse ganzer Zahlen ausdrücken lassen, um die Harmonie der Welt zu garantieren.

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Irrationalität und Unendlichkeit Die Diagonalen des Pentagons bilden das Pentagramm als Ordenssymbol der Pythagoreer. Dort gilt: Diagonale : Seite = Seite : (Diagonale-Seite), d.h. die Diagonalen schneiden sich im Verhältnis des Goldenen Schnitts. Diagonale a0 und Seite a1 des Pentagons haben kein gemeinsames Maß (Inkommensurabilität), d.h. kein ganzzahliges Verhältnis („irrationale Zahl“): Bei einem gemeinsamen Maß würde der Euklidische Algorithmus der Wechselwegnahme a0 = n1 · a1 + a2 mit a2 < a1 a1 = n2 · a2 + a3 mit a3 < a2 …

nach endlich vielen Schritten mit ak-1 = nk ak abbrechen. In einem Pentagon lassen sich unbegrenzt viele kleinere Pentagons konstruieren.

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Reelle Zahlen und Proportionenlehre nach Euklid Die Entdeckung inkommensurabler Proportionen galt zunächst als Einbruch des „„Maßlosen“ aß ose u und d „„Irrationalen“ at o a e in die Harmonie der Welt. Im V. Buch von Euklids Elementen wird jedoch eine geometrische Proportionenlehre (Eudoxos von Knidos) eingeführt, die auch „irrationale“ Verhältnisse erfasst und modern der Theorie reeller Zahlen entspricht. t i ht Unter Voraussetzung von Additions-, Assoziativ-, Kommutativ- und Anordnungsgesetzen für gleichartige Größen wie z.B. Strecken a, b, … oder Flächen A, B, … wird a:b = A:B definiert, wenn für alle natürlichen Zahlen n und m gilt: n·a < m·b genau dann, wenn n·A < m·B, n·a = m·b genau dann wenn n·A = m·B, n·a > m·b genau dann, wenn n·A > m·B.

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Exhaustion des Unendlichen

Mit der euklidischen Proportionenlehre können Verhältnisse krummliniger Flächen und d Volumen V l exakt kt bestimmt b ti t werden. d Beispiel: Die Flächen zweier Kreise verhalten sich wie ihre Durchmesserquadrate. Die Griechen führen dazu die Annahme des Gegenteils zum Widerspruch.

Um z.B. Kreisflächen durch reguläre Vielecke wachsender Kantenzahl bis ins Unendliche „auszuschöpfen auszuschöpfen“ (Exhaustion), (Exhaustion) setzen sie aber nicht wie die heutige Integralrechnung einen infinitesimalen Grenzprozess voraus, sondern beweisen wieder indirekt: Wenn von einer beliebigen Größe a ein Teil nicht weniger als die Hälfte abgezogen und vom Rest wieder ein Teil nicht weniger als die Hälfte abgezogen und dieses Verfahren fortgesetzt werden kann, dann bleibt ein Rest weniger als irgendeine angenommene Größe derselben Art übrig, d.h. modern n 1

lim a (1 − r ) = 0 für 2 ≤ r ≤ 1 n →∞

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Zenons Paradoxie von Bewegung und Unendlichkeit Eine Schildkröte startet mit einem Vorsprung. Wenn Achilles bei diesem Punkt ankommt, hat die Schildkröte wieder einen kleineren Vorsprung gewonnen, ad infinitum: Achilles kommt ihr zwar immer näher, ohne sie einholen zu können. Die Infinitesimalrechnung löst das Problem: Reduziert sich der Anfangsabstand der Schildkröte von 1m nach 0,9s auf 0,1m, nach 0,99s auf 0,01m etc., dann ist die Schildkröte nach 1s eingeholt, da die unendliche Summe 0,9 + 0,09 + 0,009 + … gegen 1 und die unendliche Folge 0,1; 0,01; 0,001; … gegen 0 konvergiert.

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Leibniz: Rechnen mit unendlich kleinen Größen In seiner Infinitesimalrechnung führte G.W. Leibniz (1646 – 1716) Rechenregeln für unendlich kleine Größen (z.B. Infinitesimalien dx, dy, Differentialquotient dx/dy) ein. Geometrisch entsprechen sie unendlich kleinen Strecken bzw. Streckenverhältnissen (z.B. Tangentensteigung an einer Kurve). Wegen Unklarheiten (z.B. dx = 0 oder dx ≠ 0?) wurden die Infinitesimalien im 19. Jhd (z.B. Jhd. (z B K K. Weierstraß) durch reelle Grenzwerte ersetzt. In der modernen Non-standard Analysis wird Leibnizens Infinitesimalrechnung axiomatisch gerechtfertigt, indem die Menge der reellen Zahlen durch infinitesimal kleine Zahlen (hyperreelle Zahlen) erweitert wird.

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Unendlich kleine Größen in der Physik Grundlegende Begriffe der Mechanik wie z.B. g , BeschleuGeschwindigkeit, nigung und Kraft konnten mathematisch erst durch die Infinitesimalrechnung (also durch Berücksichtigung des Unendlichen) präzisiert werden. Auf der Grundlage von Leibnizens Kalkül und Newtons physikalischen Begriffen definierte P. Varignon den Begriff der Momentangeschwindigkeit v = dx/dt als Geschwindigkeit für die Dauer eines Augenblicks dt, während dessen der infinitesimal kleine Weg dx durchlaufen wird (d.h. 1. Ableitung des Weges x(t) nach der Zeit t). Die Momentanbeschleunigung, die nach Newtons 2. Mechanikaxioms der momentan beschleunigenden Kraft entspricht, wird als Änderung der Momentangeschwindigkeit v für die Dauer eines Augenblicks dt definiert, d.h. b = dv/dt = d²x/dt² (d.h. 2. Ableitung des Weges x(t) nach der Zeit t).

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2.

Von den natürlichen zu den unerreichbaren Zahlen

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Natürliche Zahlen … 0

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Der Vorgang des Zählens entspricht mathematisch einer Abbildung S (Nachfolgerfunktion, engl. successor), die jeder Zahl n die nachfolgende Zahl S(n) zuordnet, d.h. 1 := S(0), 2:= S(1), 3:= S(2), ... Daher werden die natürlichen Zahlen als eine Menge N mit einem ausgezeichneten Element 0 ∈ Գ (Null) und einer Selbstabbildung S: Գ → Գ definiert, die folgende Axiome erfüllt:

(S1) S ist injektiv. (S2) 0 ∉ S (Գ). (S3) Wenn eine Teilmenge M ⊂ Գ die Null enthält und durch S in sich abgebildet wird, dann ist M = Գ. (Prinzip der vollständigen Induktion)

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Ganze Zahlen …

… -6

-5

-4

-3

-2

-1

0

1

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Die Substraktion als Umkehrung der Addition ist im Bereich der natürlichen Zahlen nicht unbeschränkt ausführbar, z.B. 2 – 3 = x. Auf dem Zahlenstrahl wird daher die Menge Գ+ der natürlichen Zahlen 1, 2, 3, … rechts von 0 durch die Menge -Գ+ der inversen Elemente -1, -2, -3, … links von 0 ergänzt.

Die Menge der ganzen Zahlen wird als disjunkte Vereinigung Ժ = -Գ+ ⋃{0} ⋃ Գ+ definiert, die bezüglich der Addition und der Multiplikation Axiome eines Integritätsrings (d.h. M l i lik i die di A i i I iä i (d h kommutativer, nullteilerfreier Ring mit Einselement) erfüllt. Die Anordnung in Ժ wird definiert durch a ≤ b genau dann, wenn b – a ∈ Գ.

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Rationale Zahlen …

-3

-6

-2 -5

-1

-4

-3

-2

0 -1

0

1 1

2

2 3

4

3 5



6

±

m 1

±

m 2





... Die Division als Umkehrung der Multiplikation ist im Bereich der ganzen Zahlen nicht unbeschränkt ausführbar, z.B. 2x = 1. Dazu werden die Bruchzahlen m mit ganzen n Zahlen m als Zähler und von Null verschiedenen natürlichen Zahlen n als Nenner eingeführt. Auf der Zahlengerade lassen sie sich nacheinander als n-tel Zahlen ...,− 3 ,− 2 ,− 1 ,− 0 , 1 , 2 , 3 ,... ergänzen. n

n

n

n

n

n

n

Die Menge Է der rationalen Zahlen („Brüche ( Brüche“)) bildet die disjunkte Vereinigung -Է+ ⋃ {0} ⋃ Է+, die bezüglich Addition und Multiplikation die Axiome eines Körpers erfüllt. Die Anordnung in Է wird definiert durch r ≤ s genau dann, wenn s – r ∈ Է+ ⋃ {0}.

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Reelle Zahlen lim rn



… r1

r3

r5

r7 r8

r6

r4

r2

Das Wurzelziehen als Umkehrung des Potenzierens ist im0Tm9 647.94 reW nBT7.32 0 0 7.32 383.16 648.8604 Tm

Allgemein lässt sich eine reelle Zahl als Grenzwert einer Folge von rationalen Zahlen auffassen, bei der die Differenzen der Folgeglieder mit wachsenden Indizes

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Hamiltonsche und Cayleysche Zahlen

W.R. Hamilton 1805 - 1865

Nach den 1-dimensionalen und 2-dimensionalen Zahlenräumen Թ und ԧ = Թ² stellt sich die Frage nach höher dimensionalen Zahlenräumen. W. R. Hamilton d fi i t das definierte d 4-dimensionale 4 di i l Zahlensystem Z hl t H = Թ4 der d Quaternionen, A. Cayley das 8-dimensionale Zahlensystem O = Թ8 der Oktaven.

A. Caley 1821 - 1895

Die hyperkomplexen Zahlenräume H und O sind keine Körper mehr: Bei Quaternionen ist das Kommutativgesetz, bei Oktaven zusätzlich das Assoziativgesetz der Multiplikation verletzt. verletzt Allerdings bleibt die Division eindeutig ausführbar (Divisionsalgebren).

Nur in den Dimensionen 1, 2, 4 und 8 sind Divisionsalgebren möglich (Satz von M. A. Kervaire und J. W. Milnor). In diesem Sinn sind die Zahlensysteme mit den Oktaven algebraisch abgeschlossen:

Գ⊂Ժ ⊂Է⊂Թ ⊂ԧ⊂H⊂O

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Mengenlehre und Unendlichkeit Der Aufbau der Zahlensysteme zeigt, wie sich mathematische Objekte als immer komple komplexere ere Mengen aus a s bereits vorliegenden Mengen einführen lassen. E. Zermelo (1871 - 1953) begründet daher eine axiomatische Mengenlehre, deren Axiome (z.B. Komprehension) angeben, wie Mengen aus bereits vorliegenden Mengen zu bilden sind. Um die Existenz unendlicher Mengen zu sichern, fordert das Unendlichkeitsaxiom die Existenz induktiver Mengen, die die leere Menge ∅ und den Nachfolger x ∪ {x} für jedes ihrer Elemente x enthalten. Damit wird J. von Neumanns mengentheoretische Konstruktion der natürlichen Zahlen möglich: 0:= ∅, 1:= {∅}, 2:= {∅, {∅}}, …

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Transfinite Ordinalzahlen Die von Neumann Folge der natürlichen Zahlen lässt sich zu den transfiniten Zahlen ausweiten: 0, 1, 2, …, ω ≔ {0, 1, 2, …}, ω+1 ≔ ω ∪{ω}, ω+2 ≔ (ω+1) ∪{ω+1}, …, ω+ω ≔ {1, 2, …, ω, ω+1, ω+2, …}, … Die Zuordnungsrelation < und Elementrelation ‫ א‬fallen bei dieser Definition zusammen. Eine Ordinalzahl lässt sich als Klasse aller wohlgeordneten Mengen desselben Ordnungstyps auffassen, d.h. die Wohlordnung der Mengen bleibt bezüglich einer umkehrbareindeutigen (bijektiven) Abbildung ihrer Elemente erhalten: z.B. {0, 1, 2, …, ω} und {1, 2, 3, …, 0} repräsentieren dieselbe Ordinalzahl.

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Expandierendes mengentheoretisches Universum und Ordinalzahlen Die Komplexität von Mengen expandiert in der von Neumannschen Hierarchie von Universen Vα für Ordinalzahlen α mit

V0 := Ø,, V1 := P (Ø ) = {Ø},

für den allgemeinen Nachfolger

Vα +1 := P (Vα )

als Potenzmenge (= Menge aller Teilmengen) des Vorgängeruniversums Vα , für die Grenzordinalzahl (z.B., ω oder ω + ω) als Vereinigung von allen Vorgängern Vβ .

Die Hierarchie ist kumulativ, da jedes Vα eine Teilmenge von allen Vb mit b > a ist. Jede Menge ist ein Element eines Vα , d.h. sie hat einen Grad mengentheoretischer Komplexität .

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Mächtigkeit von Mengen und Kardinalzahlen Zwei Mengen M und N heißen gleichmächtig, wenn es eine umkehrbar-eindeutige Abbildung von M auff N gibt. ibt Eine Ei Menge M heißt h ißt endlich, wenn sie gleichmächtig zu einem Element von ω = {0, 1, 2, …} ist. Sie heißt abzählbar unendlich, falls sie gleichmächtig zu ω ist, und überabzählbar, falls sie weder endlich noch abzählbar-unendlich ist. Zwei verschiedene Elemente von w sind nicht gleich mächtig. Daher repräsentieren die von Neumannschen Zahlen eindeutig die endlichen Mengen. Sie heißen endliche Kardinalzahlen. Die Menge ω ist die kleinste unendliche Kardinalzahl. Die Potenzmenge einer Menge ist mächtiger als die Menge selber.

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Abzählbare Zahlenmengen Die Mengen der natürlichen, ganzen und rationalen Zahlen sind abzählbar unendlich.

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Überabzählbare Zahlenmengen Die Menge der reellen Zahlen ist überabzählbar, da bereits die Teilmenge des offenen Intervalls ]0, 1[ auf dem Zahlenstrahl überabzählbar ist: Wären die (unendlichen) Dezimalbrüche aus ]0, 1[ abzählbar, dann ließe sich aus der Diagonalzahl 0,u11u22u33u44u55 … der Abzählung die Zahl 0,u11*u22*u33*u44*u55* … bilden, die an jeder Stelle von der Diagonalzahl verschieden ist. Sie kann definitiv nicht Element der Abzählung sein. Nach G. Cantor (1845 – 1918) haben auch alle n-dimensionalen Räume Թn dieselbe Mächtigkeit wie Թ. Daher sind auch die komplexen Zahlen, Quaternionen und Oktaven überabzählbar.

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Überabzählbare Kardinalzahlen und Kontinuumshypothese Die kleinste unendliche Kardinalzahl ω wird nach G. Cantor mit bezeichnet. Zu jeder Kardinalzahl gibt es größere Kardinalzahlen (z.B. Potenzmenge), deren kleinste Zahl kardinaler Nachfolger heißt und mit bezeichnet wird. Die Menge der reellen Zahlen Թ (Kontinuum) hat dieselbe Mächtigkeit wie die bezeichnet wird. Nach Potenzmenge P (Գ), die (in Analogie zum endlichen Fall) mit

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Transfinite Kardinalzahlen Die Vereinigung der Kardinalzahlen ist wieder eine Kardinalzahl , die größer als alle diese Zahlen ist. Bildet man deren transfinite Nachfolger, ergibt sich eine transfinite Folge von Kardinalzahlen entlang den (abzählbaren) Ordinalzahlen:

Schließlich kommt die erste Kardinalzahl ℵℵ1 mit überabzählbarem Index, der alle Kardinalzahlen mit überabzählbaren Kardinalzahlen als Index folgen:

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Unerreichbare und unbeschreibbare Kardinalzahlen

) Teilmengen g Գ: natürliche Zahlen P ((Գ): der natürlichen Zahlen

P (P (Գ)): Teilmengen von P (Գ)

Sind Kardinalzahlen nicht mehr durch die üblichen Mengenbildungsprozesse wie z.B. Vereinigungsmenge und Potenzmengenbildung zu erzeugen („erreichen“), handelt es sich um „unerreichbare“ und schließlich „unbeschreibbare“ Kardinalzahlen. Ihre Existenz muss durch eigene Existenzaxiome der Mengenlehre gesichert werden.

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3.

Von den berechenbaren zu den unberechenbaren Zahlen

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Turings Theorie der Berechenbarkeit Kontrollbox enthält endliche Programme Band-ScannerDruckerVerschieber

Band

Eine Turingmaschine ist ein formales Verfahren, bestehend aus a) einer Kontrollbox mit einem endlichen Programm, b) einem i abzählbar b ählb unendlich dli h langen Band, das in Felder zerlegt ist, c) Befehlen zum Drucken von Symbolen (z.B. Zahlen) in einzelne Felder, zum Verschieben des Bandes um ein Feld vor- und zurück und zum Stoppen des Bandes unter Kontrolle des Programms.

Jedes berechenbare Verfahren (Algorithmus) kann durch eine Turingmaschine realisiert werden (Churchsche These). Jedes Turingprogramm läßt sich durch eine universelle Turingmaschine simulieren (general purpose computer).

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Berechenbarkeit von Funktionen

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Die Ackermann-Funktion Die Ackermann-Funktion A ist berechenbar, aber nicht primitiv-rekursiv:

A(0,n) = n+1 A(m,0) = A(m A(m-1,1) 1,1) A(m,n) = A(m-1, A(m,n-1)) Beispiel: Die Berechnung von A(2, 2) erfordert ein Suchverfahren, das nach Iterationsschritten für die Haltebedingung A(0, n) stoppt. Daher kann die Berechnung nicht mit einer FOR-Schleife programmiert werden. bekanntes Resultat A(2,1) = 5

angenommen (1,2) = 4 ist bekannt

Haltebedingung für Iteration

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µ-rekursive Funktionen: Berechenbarkeit mit Unendlichkeit Eine Funktion f ist µ-rekursiv genau dann, wenn f primitiv-rekursiv mit A Anwendung d d des µ-Schemas S h i ist, d.h. f(x) = µ y g(x, y) = 0. Das µ-Schema entspricht einem Suchverfahren g(x, 0), g(x, 1), g(x, 2), …, das für das erste (kleinste) y stoppt, das die Haltebedingung g(x, y) = 0 erfüllt. Eine µ-rekursive Funktion ist berechenbar, da sie mit einer WHILE-Schleife berechenbar ist. Für WHILE-Schleifen werden Iterationen solange wiederholt, bis die Haltebedingung erfüllt ist. Es lässt aber nicht voraussagen, ob und wann das Suchverfahren stoppt: Die Maschine könnte für unendlich lange Zeit laufen.

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Turings nicht-berechenbare reelle Zahl P

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Reelle Zahlen wie z.B. π = 3,1415926… erscheinen zwar zufällig, sind aber schrittweise durch einen Algorithmus (d.h. auch Turingmaschine) berechenbar.

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Komplexitätsgrade der Rechenzeit Komplexitätsgrade der Berechenbarkeit können auch bezüglich der Rechenzeit unterschieden werden: Die Rechenzeit wird durch eine Funktion gemessen, mit der die elementaren Rechenschritte gezählt werden, die während eines Rechenverfahrens angewendet werden, das von der Länge n der Imputs abhängt (z.B. lineare, quadratische, polynomiale, exponentiale Funktion der Rechenzeit).

P-Probleme sind durch eine deterministische Turingmaschine in polynomialer Zeit berechenbar. NP-Probleme NP P bl sind i dd durch h eine i nicht-deterministische i ht d t i i ti h Turingmaschine T i hi in i polynomialer Zeit berechenbar.

Offenes Problem: P ≠ NP ? (P ⊂ NP, aber NP ⊂ P ?)

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Gödels Grenzen der Beweisbarkeit: Keine Selbstgarantie des Denkens

Es g gibt p prinzipiell p keinen Computer, p , der alle logisch-mathematischen Wahrheiten beweisen könnte. K. Gödel (1931) zeigte, daß in einer (widerspruchsfreien) Formalisierung der Arithmetik niemals alle wahren arithmetischen Aussagen ableitbar sind (1. Unvollständigkeitssatz). Daraus ergibt sich, daß für ein widerspruchsfreies formales Axiomsystem, in dem (wenigstens) die Arithmetik formalisiert ist, niemals ihre Widerspruchsfreiheit mit den Mitteln dieser Theorie beweisbar ist (2. Unvollständigkeitssatz).

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Unvollständigkeit und Unerschöpflichkeit der Mathematik Nach Gödels Unvollständigkeitssatz enthält thält jjede d widerspruchsfreie id h f i formale f l Theorie der Mathematik eine unentscheidbare Aussage. Erweitern wir eine Theorie um diese unentscheidbare Aussage als Axiom, so lässt sich in der Erweiterung wieder eine unentscheidbare Aussage finden etc. Kein Computerprogramm kann also alle und nur die wahren Aussagen beweisen, aber es lassen sich immer reichhaltigere Computerprogramme erzeugen. Computerprogramme sind also im Werden begriffen wie die Evolution, können aber mathematische Wahrheiten nie vollständig ausschöpfen.

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Unvollständigkeit und Gentzen‘s transfinite Induktion G. Gentzen (1909 – 1945) entdeckte, dass Gödels Hindernis beim Widerspruchfreiheitsbeweis der Z hl th Zahlentheorie i überwunden üb d werden d kann, wenn transfinite Induktion bis zu einer genügend großen Ordinalzahl angewendet wird: Cantor’s ε0, die erste Ordinalzahl größer als alle ω, ωω, ωωω, … bzw. die kleinste ε-Zahl mit ωξ = ξ .

Alle möglichen Beweise der Zahlentheorie werden durch ordinale Induktionszahlen in einer Anordnung wohlgeordnet, in der sie bewiesen werden – analog wie die natürlichen Zahlen als Induktionszahlen bei einem Beweis durch vollständige Induktion benutzt werden.

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Berechenbarkeitstiefe und Komplexität der Evolution Wie mathematische Objekte mit Algorithmen (z.B. (z B Zahlen und Funktionen) haben auch natürliche Organismen der Evolution eine mehr oder weniger komplexe Entstehungsgeschichte. Die Berechenbarkeitstiefe mathematischer Objekte wird als Rechenzeit definiert, die Computerprogramme unterschiedlicher Komplexität zu ihrer Erzeugung benötigen.

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4.

Zahl, Zeit und Ewigkeit

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Jakobs unendliche Leiter zur Ewigkeit Jakobs Traum von Engeln, die unendliche Leitern zum Himmel herauf und herab laufen, ist eine Metapher des menschlichen hli h Geistes G i auff seinem i W Weg zur göttlichen Unendlichkeit. Analog können wir auf den unendlichen Leitern der Ordinal- und Kardinalzahlen Stufe für Stufe ersteigen (ordinaler Nachfolger) oder zur nächsten unendlichen Leiter springen (ordinaler Grenzwert), schließlich zu unendlichen S t Systemen von unendlichen dli h Leitern L it etc. t bis zu den unerreichbaren und unbeschreibbaren Kardinalzahlen, an deren Existenz wir durch Zusatzaxiome „glauben“ können (oder nicht).

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Cusanus‘ geometrische Folge zur Ewigkeit Ende des Mittelalters und am Anfang der Neuzeit untersuchte der Mathematiker, Philosoph p und Theologe g Nikolaus von Kues (1401 – 1464) den Begriff der Unendlichkeit (z.B. Approximation der Zahl π durch Exhaustion der Kreisfläche). Als Astronom postulierte er zum ersten Mal die Unendlichkeit der Welt. Als Philosoph lehrte er die „wissende Unwissenheit“ (docta ignorantia) als erkenntnistheoretischen Grenzwert. Gott ist für ihn ein mathematischer Grenzwert (z.B. Kreis), der durch schrittweise Erweiterung des menschlichen Wissens wie eine unendliche Folge von endlichen Größen (z.B. reguläre Vielecke) bei der Exhaustion approximiert wird, ohne ihn zu erreichen.

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Leibniz’ Kosmos aus Zahlen und Automaten Nach Leibnizens Mathesis Universalis lässt sich alles Wissen formalisieren, Symbole durch Zahlencodes ersetzen und Zahlen im einfachsten Ziffernsystem der Binärzahlen (Bits) 0 und 1 darstellen, die durch Automaten berechenbar sind: Die digitale Information der Welt ist auf Computer zurückführbar. Leibniz illustriert seine revolutionäre Entdeckung auf einer Medaille (1697) als „Bild der Schöpfung“ mit Tafeln der Binärzahlen und dem Motto „Einer [Gott] hat alles aus nichts gemacht“ symbolisiert mit 1 und 0. Die Zentralmonade Gott ist der alles wissende und könnende Automat, der die Welt erschaffen hat.

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Gödels transfinite Zahlenfolgen zur Transzendenz Die heutige Grundlage der Mathematik ist ein Axiomensystem der Mengenlehre (z.B. ZF). Nach Gödel ist Unvollständigkeit von Axiomensystemen unvermeidlich. Der alles wissende und könnende Computer ist ein widersprüchliches Konzept.

In Analogie zu Cusanus‘ unendlicher Folge von Vielecken kann die Unvollständigkeit nur in einer transfiniten Folge von erweiterten Systemen verbessert werden: Wissen transzendiert sich selber, ohne vollkommen zu werden!

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Das Universum als expandierende Gödel-Maschine? Wie Gödels unvollständige Systeme erweitert und vervollständigt werden können, so entstehen auch in der Expansion des Universums immer komplexere Objekte, deren Entwicklung durch Computerprogramme simulierbar sind (Churchsche These). Expansion des Universums und Evolution des Lebens entsprechen dann einer Art „GödelM Maschine“, hi “ die di immer i k komplexere l Computerprogramme erzeugt, ohne über ein vorher festgelegtes Gesamtprogramm zu verfügen und eine alles berechnende Supermaschine werden zu können.

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