Alles halb so schlimm? Warum eine sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet

SOZIOLOGIE DES MARKTES Die Wirtschaft als Thema soziologischer Forschung Wie sind Märkte möglich? Vertrauen als wirtschaftlicher Koordinationsmechanis...
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SOZIOLOGIE DES MARKTES Die Wirtschaft als Thema soziologischer Forschung Wie sind Märkte möglich? Vertrauen als wirtschaftlicher Koordinationsmechanismus Ideen, Interessen und Wohlfahrtstaat Standortverlagerungen und das Problem der Entbettung _S. XX ((Piotti)) Wie entstehen Märkte? Bildung und Ordnung von Märkten Handeln mit geistigem Eigentum Nachfragerverhalten und Verteilungswirkungen des Lotteriespiels Die politische Regulation im Weinmarkt Ungleichheit und der generationenübergreifende Aufbau großer Familienvermögen _S. XX ((Harrington)) INSTITUTIONELLER WANDEL IM GEGENWÄRTIGEN KAPITALISMUS Soziale Bedingungen und Folgen flexibler Arbeitsmärkte Das deutsche System der beruflichen Bildung _S. XX ((Busemeyer))

Die Einheit des Kapitalismus

Von internen zu informellen Arbeitsmärkten?

Die politische Logik juristischen Handelns

Berufliche Bildung im internationalen Vergleich

Die elektoralen Folgen der europäischen Integration*

Die Politik alternder Gesellschaften*

Alternde Gesellschaft und Politik*_S. XX ((Streeck))

FORSCHUNGSGRUPPE POLITIK UND POLITISCHE ÖKONOMIE

Die Entwicklung des internationalen Tourismus*

Gesetzgebungstätigkeit in Deutschland*

Die Finanzkrise des Staates im Kapitalismus der Gegenwart Demokratie im Zeitalter der Liberalisierung_S. XX ((Schäfer))

Insider, Outsider und die Politik der Unternehmens­ verfassung

Varianten des Kapitalismus im europäischen Mehr­ ebenensystem

Parteipolitischer Schwerpunkt in Europa*

Die parteipolitische Zusammensetzung von EU-Institutionen*

Reformblockade in Zweikammersystemen*

(Kein) Ausweg aus der Politikverflechtungsfalle?*

Kapitalentflechtung in Deutschland

Religion und der westliche Wohlfahrtsstaat*

Die politische Ökonomie der europäischen Integration

Die politische Repräsentation von Rentnern

Parteienpatronage in Italien und Deutschland*

Rechtsfortbildung als Quelle europäischer Liberali­ sierungs­politik

Liberalisierungspolitik im internationalen Vergleich

FORSCHUNGSGRUPPE EUROPÄISCHE LIBERALI­ SIERUNGSPOLITIK

Die Rechtswissenschaft und das deutsche Aktienrecht Organisierter Kapitalismus* Die Transformation des deutschen Korporatismus* Die Wirtschaftselite im Wandel*_S. XX ((Freye)) Transitionskorporatismus in Korea und Spanien* Gewerkschaften und Wohlfahrtsstaat*

Wie in vielen etablierten Demokratien sinkt auch in Deutschland die Wahlbeteiligung, wäh­ rend alternative Formen politischer Teilhabe zunehmen. Gemeinsam schaden beide Trends dem

demokratischen Ideal politischer Gleichheit, weil Wahlen weniger als andere Arten politischen Engagements sozial verzerrt sind.

Technische Neuerungen und der Schutz geistigen Eigentums

WISSENSCHAFT, TECHNIK UND INNO­VATIONSSYSTEME

Die Entwicklung transnationaler Standards in der Umweltund Arbeitspolitik _S. XX ((Maletz))

Zivilgesellschaftliche Akteure und die Regulierung von Arbeitsstandards

Streit um das Urheberrecht

Transnationale Gemeinschaften

Recht und Legitimität in der globalen Ökonomie

Entwicklung der International Financial Reporting Standards

FORSCHUNGSGRUPPE GRENZÜBERSCHREITENDE INSTITUTIONENBILDUNG

Mitbestimmung in den ein­ hundert größten deutschen Unternehmen

Vetospieler und die Liberali­ sierung von Wohlfahrtsstaaten

Der Kampf um „Golde­ne Aktien“ vor dem Hintergrund der europäischen Kapital­ verkehrs­frei­heit

Die europäische Liberali­ sierung des öffentlichen Bankenwesens

ARMIN SCHÄFER

Aus der Forschung: Übersicht über die Forschungsprojekte am MPIfG seit 2007

Internet und Biotechnologie*

Soziale Präferenzen in demo­ kratischen Entscheidungen

Globalisierung und Gover­nance Normative Grundlagen und Grenzen politischer Legitimität Legitimation jenseits des Nationalstaats* THEORIEN UND METHODEN Sozialwissenschaftliche Theorie und politische Praxis

Die Regulierung von Arbeitslosigkeit* Globale Regulierung von Wirtschaftssektoren*

Corporate-GovernanceReformen und juristische Ideen*

Beschäftigungsinstitutionen und projektartige Netzwerke* Methodenberatung laufender Projekte

Internationale Harmonisierung von öffentli­ chen Finanzstatistiken* Simulation als Forschungstechnik*

Emergenz und Reduktion*

Institutionelle Komplementaritäten und institutioneller Wandel*

Theorie des institutionellen Wandels

Die politische Repräsentation von Rentnern in Japan, Deutschland und Amerika

GLOBALE STRUKTUREN UND IHRE STEUERUNG

Politische Kapitalismen im Vergleich

Die Rückkehr religiöser Wohltätig­keitsorganisationen in die sozialpolitische Arena

Die Konstitution des Antiquitätenmarktes

Die politische Ökonomie des Bestattungsmarktes

DOKTORANDENPROGRAMM IMPRS-SPCE

Der Rückgang der Wahlbeteiligung hätte allerdings mehr Aufmerksamkeit verdient, handelt es sich doch um einen seit mehr als zwei Jahrzehnten anhaltenden, konsistenten Trend. Noch nie haben so wenige Bürger ihr Recht zu wählen genutzt wie heute. Abbildung 1 zeigt, dass die

Produktionsverlagerungen zwischen wirtschaftlichen Interessen und moralischen Appellen

Moderne Informations- und Kommunikationssysteme und das politische System*

Wissenschaft und Politik*

Bringing Technology Back In

Technologische Innovationen und sektoraler Wandel _S. XX ((Dolata))

Regierungsfähigkeit angesichts moderner Infor­ma­tions- und Kom­mu­nikations­techniken

In schöner Regelmäßigkeit lösen Wahlen in Deutschland eine Debatte Noch nie haben so über die sinkende Wahlbeteiligung aus. Bei solchen Gelegenheiten wird bezweifelt, dass eine Koalition beanspruchen kann, die Wähler wenige Bürger ihr Recht insgesamt zu repräsentieren, die sich wie beispielsweise in Hessen zu wählen genutzt. auf die Stimmen von weniger als einem Drittel der Wahlberechtigten stützt. Sinkt die Wahlbeteiligung unter fünfzig Prozent, repräsentiert selbst ein einstimmiger Parlamentsbeschluss nicht mehr eine Mehrheit der Wahlberechtigten. Eine derart geringe Wählermobilisierung ist bei Landtagswahlen in Brandenburg und SachsenAnhalt bereits vorgekommen und bei Kommunalwahlen keine Seltenheit mehr. Doch die an Wahlabenden aufflammende Erregung über die grassierende Wahlmüdigkeit erlischt ebenso regelmäßig binnen kürzester Zeit. * abgeschlossene Projekte kursiv: Beiträge in diesem Jahrbuch

5 Alles halb so schlimm? Aus der Forschung 4

Alles halb so schlimm? Warum eine sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet

Abb. 1 Wahlbeteiligung in Deutschland, 1945 bis 2009

Im Rückgang der Wahlbeteiligung erkennen diese Thesen keinen beunruhigenden Trend. Doch bei genauerem Hinsehen überzeugen sie nicht. Die Normalisierungsthese ist unbefriedigend, weil die Wahlbeteiligung in fast allen etablierten Demokratien sinkt. Geschieht dies anderswo schneller als in Deutschland, kann ein internationaler Spitzenplatz auch bei einer kontinuierlich sinkenden Wahlbeteiligung behauptet werden. Zwar lässt sich so zeigen, dass die deutsche Entwicklung keine Besonderheit ist, allerdings bleibt die Frage unbeantwortet, welche Wahlbeteiligung notwendig ist, um eine Regierung zu legitimieren. Noch gravierender sind die Einwände gegen die beiden anderen Thesen, da sie die negativen Konsequenzen einer sinkenden Wahlbeteiligung für das Ideal politischer Gleichheit übersehen.

Wahlbeteiligung in %

100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0

1946–1949

1950–1959

Bundestagswahlen

1960–1969

Landtagswahlen

1970–1979

Kommunalwahlen

1980–1989

1990–1999

2000–2009

Europawahlen

Datenquelle: Bundeswahlleiter

Wahlbeteiligung in den Siebzigerjahren ihren Höhepunkt erreichte. Bei Bundestagswahlen lag sie bei über neunzig Prozent. Seitdem ist die Wahlbeteiligung in jedem Jahrzehnt und bei allen Wahlarten gesunken. Zwar fällt der Rückgang bei den Bundestagswahlen moderat aus, doch bei allen anderen Wahlen ist die Beteiligung in den letzten drei Jahrzehnten eingebrochen.

Gibt eine niedrige Wahlbeteiligung Anlass zur Sorge? Ob und ab welchem Schwellenwert eine niedrige Wahlbeteiligung der Demokratie schadet, ist in der politikwissenschaftlichen Fachliteratur umstritten. Häufig wird argumentiert, dass sich in diesen Veränderungen weniger eine Krise als ein Wandel der Demokratie ausdrückt. Drei Thesen stehen im Vordergrund: 1__ Die Normalisierungsthese: Im internationalen Vergleich liegt die deutsche Wahlbeteiligung (bei Bundestagswahlen) noch immer im oberen Drittel. Eine im Vergleich zu den Siebzigerjahren niedrigere Wahlbeteiligung stellt eine Normalisierung und kein Krisensymptom der Demokratie dar. 2__ Die Zufriedenheitsthese: Bürger verzichten auf die Stimmabgabe, weil sie mit der Politik der Regierung einverstanden und mit der Funktionsweise der Demokratie zufrieden sind. 3__ Die Substitutionsthese: Eine wachsende Distanz zu Parlamenten, Parteien und Politikern ist Ausdruck des kritisch-aufgeklärten Bewusstseins der Bürger. Weder die Mitarbeit in Parteien und Verbänden noch das Wählen werden ihren pluralisierten Lebensstilen und politischen Präferenzen gerecht. Deshalb verlagert sich die politische Partizipation von Wahlen auf „unkonventionelle“ Beteiligungsformen wie Bürgerbewegungen, den direkten Kontakt zu Entscheidungsträgern, Unterschriftensammlungen oder politisch motivierte Produktboykotte.

6

Aus der Forschung

Zufriedenheits- und Substitutionsthese legen nahe, dass einerseits politisch Zufriedene und andererseits diejenigen, die unkonventioDemokratiezufriedene nelle Partizipationsformen nutzen, mit geringerer Wahrscheinlichkeit und politisch Aktive als die Unzufriedenen und Inaktiven wählen. Dies lässt sich statistisch wählen mit höherer überprüfen. Im ALLBUS (Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Wahrscheinlichkeit. Sozialwissenschaften) wird die Zufriedenheit mit der Funktionsweise der Demokratie abgefragt. Darüber hinaus wird erhoben, ob die Befragten bei der Bundestagswahl 2002 gewählt haben. Mit Hilfe dieser und weiterer, demografischer Angaben lässt sich bestimmen, von welchen Faktoren die Wahlteilnahme abhängt. Positiv wirken sich das Alter, die Herkunft aus Westdeutschland, das Haushaltseinkommen und das politische Interesse auf die Wahrscheinlichkeit zu wählen aus. Welchen Einfluss haben Demokratiezufriedenheit und unkonventionelle Partizipation? Ab­­bil­ dung 2 zeigt, dass die Wahrscheinlichkeit zu wählen bei den Zufriedenen wie auch bei den politisch Aktiven höher als bei den Unzufriedenen und Inaktiven liegt. Besonders ausgeprägt ist der Effekt der Demokratiezufriedenheit. Während die hochgradig Zufriedenen sicher wählen, liegt die Wahrscheinlichkeit bei den Unzufriedenen deutlich niedriger – selbst wenn sie sich weder im Bildungsgrad oder Einkommen noch im politischen Interesse unterscheiden. Die international vergleichende Forschung belegt zudem, dass Wahlen umso stärker sozial verzerrt sind, je niedriger die Wahlbeteiligung ist, da sich unter den Nichtwählern überproportional Menschen mit niedriger formaler Bildung und geringem Einkommen befinden. Bei einer niedrigen Wahlbeteiligung wählen vorwiegend sozial Bessergestellte, während jene zu Hause bleiben, die mangels individueller Ressourcen auf kollektives Handeln angewiesen sind, um ihre Lebensumstände zu ändern. Lernen Politiker, dass bestimmte Gruppen ohnehin nicht wählen, richten sie ihr Augenmerk auf wahlrelevante Milieus. Durch die soziale Ungleichheit der Nichtwahl wird die politische Kommunikation zwischen Wählern und Volksvertretern zulasten der sozial Schwachen verzerrt. Diese Schieflage wird durch den Trend verschärft, den die Substitutionsthese beschreibt. Während Wahlen an Bedeutung verlieren, breiten sich unkonventionelle Formen politischen Engagements aus. Mehr Menschen als früher arbeiten beispielsweise in Bürgerbewegungen mit, richten Petitionen an Parlamente, sammeln Unterschriften oder boykottieren Produkte aus politischen Motiven. Solche neuen Formen des politischen Engagements ersetzen althergebrachte, weil diese den Bedürfnissen der Wähler nicht mehr entsprechen. Der Trend zu unkonventionellem Engagement wird häufig

Alles halb so schlimm?

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Abb. 1 Wahlbeteiligung in Deutschland, 1945 bis 2009

Im Rückgang der Wahlbeteiligung erkennen diese Thesen keinen beunruhigenden Trend. Doch bei genauerem Hinsehen überzeugen sie nicht. Die Normalisierungsthese ist unbefriedigend, weil die Wahlbeteiligung in fast allen etablierten Demokratien sinkt. Geschieht dies anderswo schneller als in Deutschland, kann ein internationaler Spitzenplatz auch bei einer kontinuierlich sinkenden Wahlbeteiligung behauptet werden. Zwar lässt sich so zeigen, dass die deutsche Entwicklung keine Besonderheit ist, allerdings bleibt die Frage unbeantwortet, welche Wahlbeteiligung notwendig ist, um eine Regierung zu legitimieren. Noch gravierender sind die Einwände gegen die beiden anderen Thesen, da sie die negativen Konsequenzen einer sinkenden Wahlbeteiligung für das Ideal politischer Gleichheit übersehen.

Wahlbeteiligung in %

100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0

1946–1949

1950–1959

Bundestagswahlen

1960–1969

Landtagswahlen

1970–1979

Kommunalwahlen

1980–1989

1990–1999

2000–2009

Europawahlen

Datenquelle: Bundeswahlleiter

Wahlbeteiligung in den Siebzigerjahren ihren Höhepunkt erreichte. Bei Bundestagswahlen lag sie bei über neunzig Prozent. Seitdem ist die Wahlbeteiligung in jedem Jahrzehnt und bei allen Wahlarten gesunken. Zwar fällt der Rückgang bei den Bundestagswahlen moderat aus, doch bei allen anderen Wahlen ist die Beteiligung in den letzten drei Jahrzehnten eingebrochen.

Gibt eine niedrige Wahlbeteiligung Anlass zur Sorge? Ob und ab welchem Schwellenwert eine niedrige Wahlbeteiligung der Demokratie schadet, ist in der politikwissenschaftlichen Fachliteratur umstritten. Häufig wird argumentiert, dass sich in diesen Veränderungen weniger eine Krise als ein Wandel der Demokratie ausdrückt. Drei Thesen stehen im Vordergrund: 1__ Die Normalisierungsthese: Im internationalen Vergleich liegt die deutsche Wahlbeteiligung (bei Bundestagswahlen) noch immer im oberen Drittel. Eine im Vergleich zu den Siebzigerjahren niedrigere Wahlbeteiligung stellt eine Normalisierung und kein Krisensymptom der Demokratie dar. 2__ Die Zufriedenheitsthese: Bürger verzichten auf die Stimmabgabe, weil sie mit der Politik der Regierung einverstanden und mit der Funktionsweise der Demokratie zufrieden sind. 3__ Die Substitutionsthese: Eine wachsende Distanz zu Parlamenten, Parteien und Politikern ist Ausdruck des kritisch-aufgeklärten Bewusstseins der Bürger. Weder die Mitarbeit in Parteien und Verbänden noch das Wählen werden ihren pluralisierten Lebensstilen und politischen Präferenzen gerecht. Deshalb verlagert sich die politische Partizipation von Wahlen auf „unkonventionelle“ Beteiligungsformen wie Bürgerbewegungen, den direkten Kontakt zu Entscheidungsträgern, Unterschriftensammlungen oder politisch motivierte Produktboykotte.

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Aus der Forschung

Zufriedenheits- und Substitutionsthese legen nahe, dass einerseits politisch Zufriedene und andererseits diejenigen, die unkonventioDemokratiezufriedene nelle Partizipationsformen nutzen, mit geringerer Wahrscheinlichkeit und politisch Aktive als die Unzufriedenen und Inaktiven wählen. Dies lässt sich statistisch wählen mit höherer überprüfen. Im ALLBUS (Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Wahrscheinlichkeit. Sozialwissenschaften) wird die Zufriedenheit mit der Funktionsweise der Demokratie abgefragt. Darüber hinaus wird erhoben, ob die Befragten bei der Bundestagswahl 2002 gewählt haben. Mit Hilfe dieser und weiterer, demografischer Angaben lässt sich bestimmen, von welchen Faktoren die Wahlteilnahme abhängt. Positiv wirken sich das Alter, die Herkunft aus Westdeutschland, das Haushaltseinkommen und das politische Interesse auf die Wahrscheinlichkeit zu wählen aus. Welchen Einfluss haben Demokratiezufriedenheit und unkonventionelle Partizipation? Ab­­bil­ dung 2 zeigt, dass die Wahrscheinlichkeit zu wählen bei den Zufriedenen wie auch bei den politisch Aktiven höher als bei den Unzufriedenen und Inaktiven liegt. Besonders ausgeprägt ist der Effekt der Demokratiezufriedenheit. Während die hochgradig Zufriedenen sicher wählen, liegt die Wahrscheinlichkeit bei den Unzufriedenen deutlich niedriger – selbst wenn sie sich weder im Bildungsgrad oder Einkommen noch im politischen Interesse unterscheiden. Die international vergleichende Forschung belegt zudem, dass Wahlen umso stärker sozial verzerrt sind, je niedriger die Wahlbeteiligung ist, da sich unter den Nichtwählern überproportional Menschen mit niedriger formaler Bildung und geringem Einkommen befinden. Bei einer niedrigen Wahlbeteiligung wählen vorwiegend sozial Bessergestellte, während jene zu Hause bleiben, die mangels individueller Ressourcen auf kollektives Handeln angewiesen sind, um ihre Lebensumstände zu ändern. Lernen Politiker, dass bestimmte Gruppen ohnehin nicht wählen, richten sie ihr Augenmerk auf wahlrelevante Milieus. Durch die soziale Ungleichheit der Nichtwahl wird die politische Kommunikation zwischen Wählern und Volksvertretern zulasten der sozial Schwachen verzerrt. Diese Schieflage wird durch den Trend verschärft, den die Substitutionsthese beschreibt. Während Wahlen an Bedeutung verlieren, breiten sich unkonventionelle Formen politischen Engagements aus. Mehr Menschen als früher arbeiten beispielsweise in Bürgerbewegungen mit, richten Petitionen an Parlamente, sammeln Unterschriften oder boykottieren Produkte aus politischen Motiven. Solche neuen Formen des politischen Engagements ersetzen althergebrachte, weil diese den Bedürfnissen der Wähler nicht mehr entsprechen. Der Trend zu unkonventionellem Engagement wird häufig

Alles halb so schlimm?

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Abb. 3 Die soziale Verzerrung politischer Teilhabe

Abb. 2 Individuelle Wahlwahrscheinlichkeit Wahlwahrscheinlichkeit in %

Einkommen

100

Bildung

Einkommen & Bildung

80,5 76,4 72,4

80

93,6 92,6 97,3 46,7

46,7 52,1

60

76,7 80,9

37,5 15,5 13,7 13,6

Demokratiezufriedenheit sehr gering (0) bis sehr hoch (10)

40

0

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

23,5 28,9 21,2

55,4 12,9 15,6 18,3

12,4 17,3 10,8

60

0

1

Westdeutschland

2

3

4

5

6

Ostdeutschland

niedrig

Teilnahme an Unterschriftensammlungen (0,38)

Politiker kontaktieren (0,30)

29,3 33,1

Kritischer Konsum (0,24) 45,7

13,0 12,3 8,3

Partizipationsindex nicht aktiv (0) bis sehr aktiv (6)

40

Geld spenden oder sammeln (0,46)

Teilnahme an politischen Versammlungen (0,44) 43,1 43,2

7,0 8,4 5,4

100

80

19,1 26,0 30,9

Wählen (0,74)

21,2 32,6 36,1

Demonstrieren (0,23)

hoch

Datenquelle: Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) 2004, ZA-Nr. 3762, eigene Berechnung.

Datenquelle: Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) 2004, ZA-Nr. 3762, eigene Berechnung.

Die Zahlenwerte geben die mit dem statistischen Verfahren der logistischen Regression ermittelte Wahrschein­ Die Abbildung zeigt, wie sich die Demokratiezufriedenheit und der Grad politischer Aktivität auf die Wahr­

lich­keit an, die genannte Aktivität auszuüben. Der Beteiligungsquotient in Klammern gibt an, wie stark eine

schein­lichkeit zu wählen auswirken. Der Partizipationsindex setzt sich aus sechs Beteiligungsformen (Geld

Form politischen Engagements verzerrt ist: Je näher der Wert an eins liegt, desto gleicher ist die Partizi­pa­

spenden oder sammeln, Teilnahme an politischen Versammlungen, Teilnahme an Unterschriftensammlungen,

tions­wahrscheinlichkeit. Wahlen sind demnach am geringsten sozial verzerrt, während unkonventionelle

Politiker kontaktieren, kritischer Konsum, Demonstrieren) zusammen und gibt an, wie viele Arten politischer

Beteiligungsformen mit sehr viel größerer Wahrscheinlichkeit von gebildeten Personen mit überdurchschnittli­

Aktivitäten eine Person ausübt.

chem Einkommen ausgeübt werden.

als Beleg für eine intakte, lebendige Demokratie angesehen. Verdeckt wird dabei, dass diese Arten politischer Partizipation stärker noch als das Wählen sozial verzerrt sind. Um dies zu verdeutlichen, sind in Abbildung 3 unterschiedliche Formen politischer Teilhabe aufgeführt. Dargestellt wird, wie sich Unterschiede im Einkommen und der Bildung auf die Wahrscheinlichkeit auswirken, eine politische Aktivität auszuüben. Auf den beiden Seiten der Grafik werden zwei statistisch ermittelte Personen miteinander verglichen, die sich in nichts als den Merkmalen Einkommen (unteres versus oberes Einkommensdrittel) und Bildung (kein Schulabschluss oder Hauptschulabschluss versus Fachhochschulreife und höher) beziehungsweise einer Kombination aus diesen beiden Merkmalen unterscheiden. Allein der Unterschied in einem Merkmal sorgt für einen deutlichen Abstand in der Partizipationswahrscheinlichkeit, die sich in der unterschiedlichen Balkenlänge zeigt.

Form politischen Engagements verzerrt ist: Je näher der Wert an eins liegt, desto gleicher ist die Partizipationswahrscheinlichkeit. Wie sich leicht erkennen lässt, sind Wahlen am geringsten sozial verzerrt, während unkonventionelle Beteiligungsformen mit sehr viel größerer Wahrscheinlichkeit von gebildeten Personen mit überdurchschnittlichem Einkommen ausgeübt werden. Dieses Ergebnis bestätigt ein Vergleich der politischen Partizipation in sechzehn europäischen Ländern.

Im Fall der Kombination der Merkmale Einkommen und Bildung wächst der Abstand weiter an. Entscheidend ist der Beteiligungsquotient, der in Klammern angegeben ist. Er gibt das Verhältnis der jeweils hell- und dunkelorangefarbenen Balken an und zeigt, wie stark eine

8

Aus der Forschung

Führt man sich diese Befunde vor Augen, wird deutlich, weshalb eine sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet. Da Wahlen eine niederschwellige Beteiligungsform sind, sichern sie stärker als andere Arten politischen Engagements die gleiche Teilhabe. Zwar sind unkonventionelle Beteiligungsformen weit verbreitet, doch ist bei ihnen die Verzerrung zulasten der sozial Schwachen besonders ausgeprägt. Je anspruchsvoller das Beteiligungskriterium, desto niedriger ist deren Engagement. Wahlen sind weniger sozial verzerrt als andere Beteiligungsformen. Allerdings gilt dies nur, solange die Wahlbeteiligung hoch ist. Nimmt die Wahlbeteiligung flächendeckend ab, verliert jene Beteiligungsform an Bedeutung, die am stärksten die politische Gleichheit der Bürger wahrt.

Alles halb so schlimm?

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Abb. 3 Die soziale Verzerrung politischer Teilhabe

Abb. 2 Individuelle Wahlwahrscheinlichkeit Wahlwahrscheinlichkeit in %

Einkommen

100

Bildung

Einkommen & Bildung

80,5 76,4 72,4

80

93,6 92,6 97,3 46,7

46,7 52,1

60

76,7 80,9

37,5 15,5 13,7 13,6

Demokratiezufriedenheit sehr gering (0) bis sehr hoch (10)

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0

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4

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9

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23,5 28,9 21,2

55,4 12,9 15,6 18,3

12,4 17,3 10,8

60

0

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Westdeutschland

2

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5

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Ostdeutschland

niedrig

Teilnahme an Unterschriftensammlungen (0,38)

Politiker kontaktieren (0,30)

29,3 33,1

Kritischer Konsum (0,24) 45,7

13,0 12,3 8,3

Partizipationsindex nicht aktiv (0) bis sehr aktiv (6)

40

Geld spenden oder sammeln (0,46)

Teilnahme an politischen Versammlungen (0,44) 43,1 43,2

7,0 8,4 5,4

100

80

19,1 26,0 30,9

Wählen (0,74)

21,2 32,6 36,1

Demonstrieren (0,23)

hoch

Datenquelle: Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) 2004, ZA-Nr. 3762, eigene Berechnung.

Datenquelle: Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) 2004, ZA-Nr. 3762, eigene Berechnung.

Die Zahlenwerte geben die mit dem statistischen Verfahren der logistischen Regression ermittelte Wahrschein­ Die Abbildung zeigt, wie sich die Demokratiezufriedenheit und der Grad politischer Aktivität auf die Wahr­

lich­keit an, die genannte Aktivität auszuüben. Der Beteiligungsquotient in Klammern gibt an, wie stark eine

schein­lichkeit zu wählen auswirken. Der Partizipationsindex setzt sich aus sechs Beteiligungsformen (Geld

Form politischen Engagements verzerrt ist: Je näher der Wert an eins liegt, desto gleicher ist die Partizi­pa­

spenden oder sammeln, Teilnahme an politischen Versammlungen, Teilnahme an Unterschriftensammlungen,

tions­wahrscheinlichkeit. Wahlen sind demnach am geringsten sozial verzerrt, während unkonventionelle

Politiker kontaktieren, kritischer Konsum, Demonstrieren) zusammen und gibt an, wie viele Arten politischer

Beteiligungsformen mit sehr viel größerer Wahrscheinlichkeit von gebildeten Personen mit überdurchschnittli­

Aktivitäten eine Person ausübt.

chem Einkommen ausgeübt werden.

als Beleg für eine intakte, lebendige Demokratie angesehen. Verdeckt wird dabei, dass diese Arten politischer Partizipation stärker noch als das Wählen sozial verzerrt sind. Um dies zu verdeutlichen, sind in Abbildung 3 unterschiedliche Formen politischer Teilhabe aufgeführt. Dargestellt wird, wie sich Unterschiede im Einkommen und der Bildung auf die Wahrscheinlichkeit auswirken, eine politische Aktivität auszuüben. Auf den beiden Seiten der Grafik werden zwei statistisch ermittelte Personen miteinander verglichen, die sich in nichts als den Merkmalen Einkommen (unteres versus oberes Einkommensdrittel) und Bildung (kein Schulabschluss oder Hauptschulabschluss versus Fachhochschulreife und höher) beziehungsweise einer Kombination aus diesen beiden Merkmalen unterscheiden. Allein der Unterschied in einem Merkmal sorgt für einen deutlichen Abstand in der Partizipationswahrscheinlichkeit, die sich in der unterschiedlichen Balkenlänge zeigt.

Form politischen Engagements verzerrt ist: Je näher der Wert an eins liegt, desto gleicher ist die Partizipationswahrscheinlichkeit. Wie sich leicht erkennen lässt, sind Wahlen am geringsten sozial verzerrt, während unkonventionelle Beteiligungsformen mit sehr viel größerer Wahrscheinlichkeit von gebildeten Personen mit überdurchschnittlichem Einkommen ausgeübt werden. Dieses Ergebnis bestätigt ein Vergleich der politischen Partizipation in sechzehn europäischen Ländern.

Im Fall der Kombination der Merkmale Einkommen und Bildung wächst der Abstand weiter an. Entscheidend ist der Beteiligungsquotient, der in Klammern angegeben ist. Er gibt das Verhältnis der jeweils hell- und dunkelorangefarbenen Balken an und zeigt, wie stark eine

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Aus der Forschung

Führt man sich diese Befunde vor Augen, wird deutlich, weshalb eine sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet. Da Wahlen eine niederschwellige Beteiligungsform sind, sichern sie stärker als andere Arten politischen Engagements die gleiche Teilhabe. Zwar sind unkonventionelle Beteiligungsformen weit verbreitet, doch ist bei ihnen die Verzerrung zulasten der sozial Schwachen besonders ausgeprägt. Je anspruchsvoller das Beteiligungskriterium, desto niedriger ist deren Engagement. Wahlen sind weniger sozial verzerrt als andere Beteiligungsformen. Allerdings gilt dies nur, solange die Wahlbeteiligung hoch ist. Nimmt die Wahlbeteiligung flächendeckend ab, verliert jene Beteiligungsform an Bedeutung, die am stärksten die politische Gleichheit der Bürger wahrt.

Alles halb so schlimm?

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Was kann getan werden? Um die Menschen wieder zur Wahl zu animieren, gibt es eine Reihe von Vorschlägen. So könnte eine Wahlpflicht eingeführt oder ver- Elemente direkter sucht werden, Wahltermine besser aufeinander abzustimmen. Findet Demokratie bieten ein eine Landtagswahl am selben Tag wie die Bundestagswahl statt, unmittelbares politisches liegt die Wahlbeteiligung deutlich höher. Häufig wird zudem angeMitspracherecht. regt, Elemente direkter Demokratie einzuführen, um den Bürgern unmittelbares politisches Mitspracherecht einzuräumen. Auch soll die Möglichkeit ausgeweitet werden, Stimmen auf Kandidaten mehrerer Listen zu verteilen (Kumulieren und Panaschieren). Neben diesen seit Langem diskutierten Ideen, die teilweise auch umgesetzt werden, gibt es einige neue Vorschläge. Zum Beispiel wurde in einem Bericht für den Europarat empfohlen, dass Wähler bei der Stimmabgabe ein Los erhalten und die anschließend ermittelten Lotteriegewinner bei einem Teil der öffentlichen Ausgaben mitentscheiden dürfen. Mit diesen Reformen soll die tatsächliche Wahlmöglichkeit erweitert und das Wählen attraktiver werden. Dagegen ist nichts einzuwenden. Doch empirische Analysen über die Auswirkung von sozialer Ungleichheit auf politische Partizipation legen andere Schlussfolgerungen nahe: Möchte eine Gesellschaft das Ideal politischer Gleichheit verteidigen, muss sie sicherstellen, dass die soziale Ungleichheit nicht ausufert. Denn je ungleicher ein Land ist, desto weniger vertrauen die Bürger ihren Politikern und Parlamenten und desto unzufriedener sind sie mit der Demokratie. Wer sich über eine niedrige Wahlbeteiligung erregt, muss ebenfalls die sozialen Voraussetzungen politischer Partizipation in den Blick nehmen. Geschieht dies nicht, verkümmert die Erregung an Wahlabenden zum folgenlosen Ritual.

Zum Weiterlesen

Wie viel Erbschaftssteuern? Bemerkungen zur Erbschaftssteuerreform 2009 JENS BECKERT

Die neuen Regeln zur Erbschaftssteuer ab 2009 legen ein veraltetes Familienmodell zugrunde, erfordern zusätzliche bürokratische Kontrollen und begünstigen durch ihre geringe Progression

KOHLER, U.:

Die soziale Ungleichheit der

hohe Vermögen. Jens Beckert plädiert dafür, Erbschaften in die Einkommensteuer einzube­

Wahlabstinenz in Europa.

ziehen, aber gleichzeitig hohe Freibeträge zu gewähren. Erbschaften werden als Ausdruck

In: Alber, J. & Merkel, W. (Hg.):

einer intergenerationalen familiären Solidarität wahrgenommen und sind dadurch stark

Europas Osterweiterung: Das Ende der Vertiefung? WZB-Jahrbuch 2005.

symbolisch aufgeladen.

edition sigma, Berlin 2006, 159–179. ARMIN SCHÄFER

SCHÄFER, A.:

ist seit 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter am

Krisentheorien der Demokratie:

MPIfG. Er studierte Politikwissenschaft, VWL

Unregierbarkeit, Spätkapitalismus

sowie Friedens- und Konflikt­for­schung an der

und Postdemokratie.

Universität Marburg und der University of

MPIfG Discussion Paper 08/10. Max-Planck-

Kent at Canterbury und wurde 2004 an der

Institut für Gesellschaftsforschung, Köln 2008.

Universität Bremen promoviert. Forschungsinteressen: politische Ökonomie der europäischen Inte­gration, Demokratietheorie und vergleichende Institutio­nen­lehre.

SOLT, F.:

Economic Inequality and Democratic Political Engagement. American Journal of Political Science 52, 48–60 (2008).

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Mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Neuregelung der Erbschaftsbesteuerung und dessen Inkrafttreten zum 1. Januar 2009 fand eine mehrjährige politische Auseinandersetzung ihr vorläufiges Ende. Das Bundesverfassungsgericht hatte in einem Urteil von 2006 den Gesetzgeber zur Neuregelung der Erbschaftssteuer aufgefordert, da die bisherige Regelung aufgrund der Ungleichbehandlung verschiedener Vermögensarten mit dem Gleichheitsgrundsatz der Verfassung unvereinbar sei. Die niedrige Bewertung von Immobilienvermögen und Betriebsvermögen führte zu einer systematischen Bevorteilung dieser Vermögensarten bei der Erbschaftsbesteuerung.

Aus der Forschung

Die jetzt verabschiedete Neuregelung erfasst die Werte verschiedener Vermögensarten gleich. Zugleich wurde die dadurch zu erwartende höhere steuerliche Belastung von Immobilien und Betriebsvermögen durch neue Entlastungen und die Erhöhung der Grundfreibeträge für unmittelbare Familienangehörige (Ehepartner und Kinder) kompensiert. Zu den Entlastungen gehört zum einen die steuerfreie Vererbung selbstgenutzten Immobilieneigentums, wobei die

Wie viel Erbschaftssteuern?

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